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Victor Hugo

Die Elenden - Les Misérables

Überarbeitung der Erstübersetzung

Victor Hugo

Die Elenden - Les Misérables

Überarbeitung der Erstübersetzung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Dr. G. A. Volchert, Jürgen Schulze
3. Auflage, ISBN 978-3-954185-62-7

www.null-papier.de/hugo

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Über die­ses Buch

Über den Au­tor

Über die­se Fas­sung

Ers­ter Teil – Fan­ti­ne

Ers­tes Buch. Ein Ge­rech­ter

Zwei­tes Buch. Der Fehl­tritt

Drit­tes Buch. Im Jah­re 1817

Vier­tes Buch. In schlech­ten Hän­den

Fünf­tes Buch. Dem Ab­grund zu

Sechs­tes Buch. Ja­vert

Sie­ben­tes Buch. Der Fall Champ­ma­thieu

Ach­tes Buch. Der Rück­schlag

Zwei­ter Teil – Co­set­te

Ers­tes Buch. Wa­ter­loo

Zwei­tes Buch. Der Ori­on

Drit­tes Buch. Das ein­ge­lös­te Ver­spre­chen

Vier­tes Buch. Das Gor­be­au­sche Haus

Fünf­tes Buch. Eine stum­me Meu­te

Sechs­tes Buch. Das Klos­ter Pe­tit-Pic­pus

Sie­ben­tes Buch. Eine Par­en­the­se

Ach­tes Buch. Die Kirch­hö­fe neh­men, was man ih­nen gibt

Drit­ter Teil – Ma­ri­us

Ers­tes Buch. Ein Atom von Pa­ris

Zwei­tes Buch. Ein Mann von al­tem Schrot und Korn

Drit­tes Buch. Groß­va­ter und En­kel

Vier­tes Buch. Die Freun­de des A-B-C

Fünf­tes Buch. Die Vor­tei­le des Un­glücks

Sechs­tes Buch. Die Zu­sam­men­kunft zwei­er Ster­ne

Sie­ben­tes Buch. Pa­tron-Mi­net­te

Ach­tes Buch. Der böse Arme

Vier­ter Teil – Eine Idyl­le und eine Epo­pöe

Ers­tes Buch. Ein we­nig Ge­schich­te

Zwei­tes Buch. Epo­ni­ne

Drit­tes Buch. In der Rue Plu­met

Vier­tes Buch. Hil­fe, die von un­ten aus­geht und von oben an­kommt

Fünf­tes Buch. Schlech­ter An­fang, gu­tes Ende

Sechs­tes Buch. Der klei­ne Ga­vro­che

Sie­ben­tes Buch. Die Gau­ner­spra­che

Ach­tes Buch. Freud und Leid

Neun­tes Buch. Wo­hin?

Zehn­tes Buch. Am 5. Juni 1832

Elf­tes Buch. Eine Win­zig­keit, die sich mit dem Or­kan ver­brü­dert

Zwölf­tes Buch. Co­rin­the

Drei­zehn­tes Buch. Ma­ri­us un­ter den In­sur­gen­ten

Vier­zehn­tes Buch. Die Groß­ta­ten der Verzweif­lung

Fünf­zehn­tes Buch. Die Rue de l’ Hom­me-Armé

Fünf­ter Teil – Jean Val­jean

Ers­tes Buch. Eine Schlacht zwi­schen vier Wän­den

Zwei­tes Buch. Das In­ne­re des Le­wia­than

Drit­tes Buch. In den Re­gio­nen des Kots

Vier­tes Buch. Ja­vert ge­rät aus sei­nem Ge­lei­se

Fünf­tes Buch. En­kel und Groß­va­ter

Sechs­tes Buch. Eine schlaflo­se Nacht

Sie­ben­tes Buch. Der letz­te Trop­fen des Kel­ches

Ach­tes Buch. Es nach­tet schwär­zer

Neun­tes Buch. Durch Nacht zum Licht

Nach­trag

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
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Über dieses Buch

Vic­tor Hugo be­en­de­te die­ses Meis­ter­werk, das zu den wich­tigs­ten Wer­ken der fran­zö­si­schen Li­te­ra­tur ge­hört, im Jah­re 1862, als er im Exil weil­te. Es schil­dert das be­drücken­de Da­sein der Un­ter­schicht, der Elen­den, der Verzwei­fel­ten, der Men­schen, de­nen man selbst eine zwei­te Chan­ce ver­wehrt.

Der Ro­man trug durch sei­ne The­men- und Sprach­wahl we­sent­lich zur Her­aus­bil­dung der rea­lis­ti­schen Li­te­ra­tur im 19. Jahr­hun­dert bei. Kein an­de­rer Au­tor von Wel­trang hat­te es zu­vor ge­wagt, in sei­nen Tex­ten zu flu­chen oder die Le­ben­sum­stän­de der Ge­schun­de­nen so dras­tisch dar­zu­stel­len.

Haupt­per­son ist der Ex-Häft­ling Jean Val­jean, der es dank ei­nes mild­tä­ti­gen Bi­schofs schafft, in eine nor­ma­le und so­gar er­folg­rei­che Exis­tenz zu­rück­zu­keh­ren. In sei­ner neu­en Iden­ti­tät setzt er al­les dar­an, die tod­kran­ke Ar­bei­te­rin Fan­ti­ne und de­ren klei­ne Toch­ter Co­set­te zu ret­ten. Doch holt ihn sei­ne Ver­gan­gen­heit ein; der Po­li­zei­in­spek­tor Ja­vert lässt ihn nicht in Frie­den, er will Val­jean un­be­dingt wie­der hin­ter Git­tern se­hen.

Die­ses Ge­sche­hen bil­det den Rah­men für zahl­rei­che Ne­ben­hand­lun­gen und aus­führ­li­che Schil­de­run­gen der da­ma­li­gen Miss­stän­de, mit ei­nem De­tail­reich­tum, wie es in der eu­ro­päi­schen Li­te­ra­tur sonst nur Charles Di­ckens ver­moch­te.

„Die Elen­den ist ein Buch der Nächs­ten­lie­be, ein auf­peit­schen­der Mahn­ruf an eine selbst­ge­fäl­li­ge Ge­sell­schaft, die sich nicht um die ewi­gen Ge­bo­te der Brü­der­lich­keit küm­mert.“ (Charles Bau­de­laire)

Der Stoff war Grund­la­ge für zahl­rei­che Ver­fil­mun­gen, ver­schie­de­ne Thea­ter­stücke und ein Mu­si­cal, die letz­te Ad­ap­ti­on er­blick­te 2012 mit Hugh Jack­man in der Rol­le des Val­jean und Rus­sell Cro­we als In­spek­tor Ja­vert das Licht der Welt.

»Die Ent­las­sung be­deu­te­te noch nicht die Frei­heit. Kommt man aus dem Zucht­haus her­aus, so hat man da­mit noch nicht die Ver­ur­tei­lung ab­ge­schüt­telt.«

Über den Autor

Die Fol­gen der Re­vo­lu­ti­on be­schäf­ti­gen Frank­reich, als Vic­tor Hugo am 26. Fe­bru­ar 1802 in Be­sançon ge­bo­ren wird, zwei Jah­re, zwei Mo­na­te und zwei Tage nach der Ver­ab­schie­dung der Kon­su­lats­ver­fas­sung, die Na­po­le­on Bo­na­par­te prak­tisch zum recht­mä­ßi­gen Al­lein­herr­scher al­ler Fran­zo­sen be­stimm­te.

Der jun­ge Roya­list

In die­ser ge­sell­schafts­po­li­tisch auf­ge­la­de­nen At­mo­sphä­re wächst der jüngs­te Sohn von So­phie Tré­bu­chet und Ge­ne­ral Jo­seph Léo­pold Si­gis­bert Hugo auf. Prä­gen­de Kind­heits­er­fah­run­gen dürf­ten so­wohl das un­har­mo­ni­sche Ver­hält­nis der El­tern sein als auch das Feh­len fes­ter Be­zugs­per­so­nen, weil Va­ter Hugo sel­ten da­heim ist und die Mut­ter ihr Herz ei­nem an­de­ren Mann schenkt.

Victor Hugo

Vic­tor be­tei­ligt sich früh an Dich­ter­wett­be­wer­ben und grün­det als Ju­gend­li­cher eine roya­lis­ti­sche Li­te­ra­tur­zeit­schrift, die er ge­mein­sam mit sei­nen Brü­dern be­treibt. Zu je­ner Zeit, im Al­ter von 17 Jah­ren, nimmt er ein Ju­ra­stu­di­um in Pa­ris auf, wo er gleich­zei­tig Zu­tritt zu den städ­ti­schen Li­te­ra­tur­krei­sen fin­det. Im Jahr 1820 er­hält er sei­ne ers­te Gra­ti­fi­ka­ti­on für die „Ode sur la mort du duc de Ber­ry“. Zwei Jah­re spä­ter er­scheint sein ers­ter Ge­dicht­band, des­sen voll­kom­men roya­lis­ti­sche Hal­tung ihm eine jähr­li­che Pen­si­on von 1000 Fran­cs ein­bringt.

Li­te­rat und Po­li­ti­ker

Sei­ne li­te­ra­ri­schen Er­fol­ge sind groß ge­nug, um dem hoff­nungs­fro­hen Schrift­stel­ler ein be­schei­de­nes Aus­kom­men zu er­mög­li­chen. Pri­vat sind die frü­hen 1820er Jah­re eine Zeit des Er­wach­sen­wer­dens, als Vic­tor Hugo die jun­ge Adèle Fou­cher zur Frau nimmt. Sie schenkt ihm fünf Kin­der, von de­nen nur die jüngs­te Toch­ter ih­ren Va­ter über­le­ben wird.

Mit Glück und Un­glück der Fa­mi­lie geht der li­te­ra­ri­sche Auf­stieg Hu­gos ein­her, dem es ge­lingt, sei­nen Lie­ben eine vor­erst ge­nüg­sa­me Exis­tenz zu er­ar­bei­ten, als er für sein 1823 ver­öf­fent­lich­tes Ro­man­de­büt „Han d'Is­lan­de“ Be­zü­ge von jähr­lich 2000 Fran­cs be­kommt. Im fol­gen­den Jahr kün­di­gen sich zar­te Knos­pen ei­nes Ge­sin­nungs­wan­dels an, als er in den Kreis der Ro­man­ti­ker um Charles No­dier auf­ge­nom­men wird. Noch bleibt Hugo der Roya­list, als der er auf­ge­wach­sen ist, ab 1826 voll­zieht er einen ra­di­kal er­schei­nen­den Ge­sin­nungs­wan­del zum Li­be­ra­len. Schon ab 1827 gilt Vic­tor Hugo als maß­geb­lich für die ro­man­ti­sche Li­te­ra­tur, zwei Jah­re spä­ter er­schei­nen sei­ne zu­nächst ge­mä­ßig­ten, spä­ter ein­deu­tig re­gi­me­kri­ti­schen Ro­ma­ne und Dra­men.

Das Jahr 1833 kenn­zeich­net einen neu­en Le­bens­ab­schnitt Hu­gos, als die Schau­spie­le­rin Ju­li­et­te Drou­et zu sei­nem neu­en pri­va­ten Glück wird. Spä­tes­tens seit 1838 ist der Schrift­stel­ler ein wohl­ha­ben­der Mann, denn ein Ver­lag er­wirbt für eine statt­li­che Sum­me sämt­li­che Rech­te an Hu­gos Wer­ken. Fünf Jah­re spä­ter wird der Au­tor zum Mit­glied der Aca­dé­mie françai­se ge­wählt, 1845 schließ­lich er­nennt ihn „Bür­ger­kö­nig“ Louis-Phil­ip­pe zum Pair. Sei­ne Kol­le­gen im Ober­haus ver­un­si­chert der Au­tor durch li­be­ra­le Stel­lung­nah­men, die von ei­nem kon­ser­va­ti­ven Ab­ge­ord­ne­ten in die­ser Wei­se nicht zu er­war­ten sind.

Sein un­ab­hän­gi­ges Den­ken trägt ihm im Jahr 1852 Ver­haf­tung und an­schlie­ßen­de Ver­ban­nung ein, als er ge­gen den Staats­s­treich Bo­na­par­tes de­mons­triert. Sein Exil in Saint Pe­ter Port nutzt der miss­lie­bi­ge Schrift­stel­ler, um „Na­poléon le Pe­tit“ aus der Fer­ne zu at­ta­ckie­ren und um so­zi­al­kri­ti­sche Schrif­ten zu ver­fas­sen. Im Jahr 1871, Na­poléon III. ist ge­stürzt und die Drit­te Re­pu­blik aus­ge­ru­fen, kehrt Hugo nach Pa­ris zu­rück, wo er 1876 in den Se­nat ge­wählt wird. Als er 1885 stirbt, ist der lei­den­schaft­li­che Li­te­rat und Homo po­li­ti­cus eine in­tel­lek­tu­el­le In­sti­tu­ti­on Frank­reichs. Vic­tor Hugo wird in der zum Pan­théon um­ge­wid­me­ten Kir­che der Hei­li­gen Ge­no­ve­va in ei­nem Ehren­grab bei­ge­setzt.

Be­deu­tung und Schaf­fen des Mon­sieur Hugo

Die Trau­er der Fran­zo­sen um ih­ren Na­tio­nal­schrift­stel­ler – sei­ne Be­deu­tung ist mit der­je­ni­gen Goe­thes für Deutsch­land ver­gleich­bar – war enorm, das Be­dürf­nis über­wäl­ti­gend, ihn an­ge­mes­sen zu eh­ren. Die Pa­ri­ser Kir­che St. Ge­no­ve­va war be­reits wäh­rend der Re­vo­lu­ti­ons­jah­re zum Pan­théon um­ge­wid­met, spä­ter er­neut ge­weiht und nun, an­läss­lich Hu­gos Be­stat­tung, wie­der zur Ehren­hal­le er­nannt wor­den. Der Au­tor war nach ei­nem Schlag­an­fall im Jahr 1878 we­ni­ger ak­tiv ge­we­sen als zu­vor, den­noch galt er zum Zeit­punkt sei­nes To­des als le­ben­de Le­gen­de, als eine der be­deut­sams­ten Berühmt­hei­ten sei­ner Zeit.

Das lag selbst­ver­ständ­lich an sei­nem mu­ti­gen po­li­ti­schen En­ga­ge­ment ei­ner­seits, an­de­rer­seits be­saß Hugo ge­wal­ti­gen kul­tu­rel­len Ein­fluss: In den spä­ten 1820er Jah­ren, als er sti­lis­tisch und po­li­tisch ge­wis­ser­ma­ßen er­wach­te, präg­te er so­wohl Thea­ter als auch Li­te­ra­tur der Ro­man­tik, als de­ren Kopf er seit 1827 galt. Un­ter an­de­rem lös­te sein Stück „Her­na­ni“ bei der Pre­mie­re im Jahr 1830, hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen im Pub­li­kum aus.

Ei­nes der be­kann­tes­ten Wer­ke Hu­gos ist der im fol­gen­den Jahr ver­öf­fent­lich­te his­to­ri­sche Ro­man „Notre-Dame de Pa­ris“ (Der Glöck­ner von Notre-Dame), der viel mehr ist als das heu­te häu­fig auf­ge­grif­fe­ne Lie­bes­dra­ma um den ver­krüp­pel­ten Qua­si­mo­do und sei­ne schö­ne Es­me­ral­da. Bei der un­glück­li­chen Ver­eh­rung Qua­si­mo­dos für die an­geb­li­che Zi­geu­ne­rin han­delt es sich le­dig­lich um einen der vie­len Hand­lungs­strän­ge, die Hugo erst am Ende zu­sam­men­führt. Das Buch ist glei­cher­ma­ßen so­zi­al- und re­gi­me­kri­tisch; dar­über hin­aus spricht es kul­tu­rel­le Wer­te an, die sei­ner­zeit kaum Be­ach­tung fan­den, in­dem es sich bei­spiels­wei­se für den Er­halt his­to­ri­scher Bau­sub­stanz ein­setzt. Der Ro­man stieß be­reits kurz nach Er­schei­nen auf au­ßer­or­dent­li­chen An­klang, Schrift­stel­ler­kol­le­gen wür­dig­ten ihn als epo­chal – La­mar­ti­ne er­klär­te Hugo gar zum „Sha­ke­s­pea­re des Ro­mans“.

Wie kein Zwei­ter ver­stand es Vic­tor Hugo, die­ser zu­tiefst po­li­ti­sche Li­te­rat, Pri­va­tes mit Ge­sell­schaft­li­chem zu ver­knüp­fen. Auch in „Notre-Dame de Pa­ris“ schlägt sich sein per­sön­li­ches Füh­len nie­der, wenn er einen sei­ner Pro­tago­nis­ten ins Un­glück stürzt, in­dem er ihn ver­hei­ra­tet: Der Au­tor selbst ver­lor sei­ne ers­te Gat­tin an einen Freund und Schrift­stel­ler-Kol­le­gen, der Af­fä­re stand er hilf­los dul­dend ge­gen­über. Erst nach­dem er sei­ne neue Le­bens­ge­fähr­tin Ju­li­et­te Drou­et ken­nen­lern­te, wich die Bit­ter­keit wie­der aus sei­nen Schrif­ten.

Nach der Ju­li­re­vo­lu­ti­on von 1830 ver­fass­te Hugo zu­nächst ex­trem kri­ti­sche Wer­ke. Nach­dem er aber den „Bür­ger­kö­nig“ Louis-Phil­ip­pe per­sön­lich ken­nen­ge­lernt hat­te, ver­lor sich die­se Di­stanz vor­erst. An­fangs muss­te der Li­te­rat da­mit le­ben, dass Stücke ver­bo­ten wur­den, „Le roi s'amu­se“ (Der Kö­nig amü­siert sich) aus dem Jahr 1832 bei­spiels­wei­se. Die we­ni­ger auf­rüh­re­ri­schen oder gänz­lich un­kri­ti­schen Wer­ke der fol­gen­den Jah­re, „Lu­crè­ce Bor­gia“, „Ma­rie Tu­dor“, „An­ge­lo“ und „Ruy Blas“ wur­den hin­ge­gen öf­fent­lich gou­tiert. Gleich­zei­tig schrieb Hugo meh­re­re Ge­dicht­bän­de, in de­nen sich nicht sel­ten Per­sön­li­ches nie­der­schlug. Das än­der­te sich ab 1848 und wäh­rend der Jah­re des Exils auf Jer­sey und Gu­ern­sey, denn hier ent­stan­den so­wohl bis­si­ge po­li­ti­sche Ge­dich­te als auch das im Jahr 1862 vollen­de­te „Les Misé­ra­bles“ (Die Elen­den), wor­an der Au­tor be­reits seit 1847 ge­ar­bei­tet hat­te. In ge­wis­ser Wei­se flie­ßen in die­sem Buch die Per­sön­lich­keits­an­tei­le des großen Fran­zo­sen wie in ei­nem Schmelz­tie­gel in­ein­an­der: sein kri­ti­scher Ver­stand, sei­ne Ur­teils­kraft und sei­ne Fä­hig­keit zur An­teil­nah­me.

Über diese Fassung

Zwei di­cke Bän­de, mit zu­sam­men mehr als 1500 Sei­ten in Frak­tur­schrift, um 1910 erst­ma­lig ver­öf­fent­licht, form­ten die ers­te Ver­öf­fent­li­chung von Die Elen­den auf dem deut­schen Markt.

Na­tür­lich kann man die­se Ori­gi­nal­über­set­zung nicht ohne Über­ar­bei­tung ver­öf­fent­li­chen, zu schwer, zu hol­pe­rig wäre der Le­se­ge­nuss. Da­her habe ich es mir er­laubt, den Text ei­nem Deutsch an­zu­pas­sen, wie es ein heu­ti­ger Le­ser er­war­ten darf.

»Rhät­sel« wird zu »Rät­sel«, »Ca­pi­tel« zu »Ka­pi­tel«, »Dis­cus­si­on« zu »Dis­kus­si­on«. Dazu gibt es dut­zen­de Kor­rek­tu­ren der di­rek­ten Rede oder der will­kür­li­chen – zu­min­dest für uns un­ge­wohn­ten – Apostro­phie­rung.

Als eine fran­zö­si­sche Ge­schich­te, habe ich na­tür­lich die ge­läu­figs­ten Aus­drücke be­las­sen: »Tri­cot« bleibt »Tri­cot«, wird nicht zu »Tri­kot«; eben­so über­le­ben »Cour­ti­sa­ne«, »Fla­con«, »Cou­leur«, »Cou­sin« usw.

Aber man­che miss­glück­te Ur-Über­set­zung wur­de von mir kor­ri­giert: Das »Büf­fet« wur­de wie­der zu dem auch in Deutsch­land ge­bräuch­li­chen »Buf­fet«.

Dazu kom­men noch ei­ni­ge er­klä­ren­de Fuß­no­ten für hüb­sche Wör­ter, die ich ein­fach nicht er­set­zen woll­te, wie das an­hei­meln­de »in­ter­pel­lie­ren« oder der »Oheim«, der ja auch bei uns durch den pro­fa­ne­ren »On­kel« er­setzt wird.

Wenn es Sie in­ter­es­sie­ren soll­te, wie ein E-Book er­zeugt wird, so kön­nen Sie hier eine klei­ne Ge­schich­te aus mei­ner Werk­statt le­sen: http://null-pa­pier.de/sto­ry

Ich hof­fe, Sie ha­ben Freu­de an die­ser Ge­schich­te.

Jür­gen Schul­ze

Erster Teil

Fantine

So lan­ge kraft der Ge­set­ze und Sit­ten eine so­zia­le Ver­damm­nis exis­tiert, die auf künst­li­chem Wege, in­mit­ten ei­ner hoch ent­wi­ckel­ten Zi­vi­li­sa­ti­on, Höl­len schafft und noch ein von Men­schen ge­woll­tes Fa­tum zu dem Schick­sal, das von Gott kommt, hin­zu­fügt; so lan­ge die drei Pro­ble­me des Jahr­hun­derts, die Ent­ar­tung des Man­nes durch das Pro­le­ta­ri­at, die Ent­sitt­li­chung des Wei­bes in­fol­ge ma­te­ri­el­ler Not und die Ver­wahr­lo­sung des Kin­des, nicht ge­löst sind; so lan­ge in ge­wis­sen Re­gio­nen eine so­zia­le Er­sti­ckung mög­lich sein wird, oder in an­de­ren Wor­ten und un­ter ei­nem all­ge­mei­ne­ren Ge­sichts­punkt be­trach­tet, so lan­ge auf der Erde Un­wis­sen­heit und Elend be­ste­hen wer­den, dürf­ten Bü­cher wie die­ses nicht un­nütz und un­nö­tig sein.

Erstes Buch. Ein Gerechter

I. Myriel

Im Jah­re 1815 war Charles François Bi­en­ve­nu Bi­schof von Dig­ne. Er zähl­te da­mals fünf­und­sieb­zig Jah­re und hat­te sein ho­hes Amt seit 1806 inne.

Letz­te­rer Um­stand steht ei­gent­lich in kei­ner we­sent­li­chen Be­zie­hung zu dem In­halt un­se­rer Er­zäh­lung, aber viel­leicht ist es nicht über­flüs­sig, – wäre es auch nur der Ge­nau­ig­keit we­gen – hier zu be­rüh­ren, was über ihn bei sei­ner An­kunft in der Di­öze­se er­zählt und ge­mut­maßt wur­de. Was man von ei­nem Men­schen sagt, spielt ja, gleich­viel ob es wahr oder falsch ist, in sei­nem Le­ben oft eine eben­so wich­ti­ge Rol­le wie sei­ne Ta­ten und Hand­lun­gen. My­ri­el war der Sohn ei­nes Par­la­ments­rats der Stadt Aix, ge­hör­te also zu dem Be­am­te­na­del. Man er­zähl­te sich, sein Va­ter, der ihm sein Amt ver­er­ben woll­te, habe ihn schon, als er erst acht­zehn oder zwan­zig Jah­re alt war, ver­hei­ra­tet, wie dies bei dem Par­la­ment­sadel ge­bräuch­lich war. Trotz die­ser Hei­rat hät­te aber Charles My­ri­el viel von sich re­den ge­macht. Er war gut ge­wach­sen, wenn auch von klei­ner Sta­tur, hielt sehr auf sein Äu­ße­res, hat­te fei­ne Ma­nie­ren und viel Geist und brach­te den ers­ten Ab­schnitt sei­nes Le­bens mit welt­li­chen Zer­streu­un­gen und Lie­bes­aben­teu­ern hin.

Da brach die große Re­vo­lu­ti­on von 1789 aus, und als bald wur­den auch die Fa­mi­li­en des Par­la­ment­sadels in den Stru­del hin­ein­ge­ris­sen und de­zi­miert, aus dem Lan­de ge­jagt, ver­folgt, aus­ein­an­der ge­sprengt. Auch Charles My­ri­el emi­grier­te gleich zu An­fang der Re­vo­lu­ti­on nach Ita­li­en. Hier starb sei­ne Frau an ei­ner Brust­krank­heit, an der sie schon seit Jah­ren ge­lit­ten hat­te. Kin­der hat­ten sie nicht. War es der Zu­sam­men­bruch der al­ten Wel­t­ord­nung, der Nie­der­gang sei­ner Fa­mi­lie, die Dra­men des Schre­ckens­jah­res 1793, die den Emi­grier­ten aus der Fer­ne noch ent­setz­li­cher er­schie­nen als sie in Wirk­lich­keit wa­ren, kurz, wa­ren es die äu­ßer­li­chen Um­wäl­zun­gen, die ihn der Welt und ih­ren Freu­den ent­frem­de­ten? Oder traf mit­ten in dem Stru­del sei­ner Ver­gnü­gun­gen ihn per­sön­lich ein Un­glück, das die tiefs­ten Tie­fen sei­nes Her­zens auf­wühl­te und sei­nem Den­ken eine an­de­re Rich­tung wies? Die­se Fra­gen wuss­te nie­mand zu be­ant­wor­ten; nur so viel stand fest, dass er, aus Ita­li­en zu­rück­ge­kehrt, Pries­ter war.

Im Jah­re 1804 war My­ri­el Pfar­rer von Bri­gnol­les, wo er ein sehr zu­rück­ge­zo­ge­nes Le­ben führ­te. Zu die­ser Zeit, kurz nach Na­po­le­ons Kai­ser­krö­nung, kam er ein­mal be­hufs Er­le­di­gung ei­nes Amts­ge­schäf­tes nach Pa­ris und muss­te un­ter an­de­rem auch dem Kar­di­nal Fesch sei­ne Auf­war­tung ma­chen. Wäh­rend nun un­ser wa­cke­rer Pfar­rer im Vor­zim­mer war­te­te, kam zu­fäl­lig auch der Kai­ser um den Kar­di­nal, sei­nen Oheim,1 zu be­su­chen. Ihm fiel ein ge­wis­ser Aus­druck von Neu­gier­de auf, mit dem die Au­gen des Pfar­rers ihm folg­ten, und, sich um­wen­dend, frag­te er barsch:

»Wer ist denn der gute Mann, der mich so an­sieht?«

»Ma­je­stät, sag­te My­ri­el, se­hen einen gu­ten, und ich einen großen Mann. Bei­de Tei­le kön­nen pro­fi­tie­ren.«

Der Kai­ser frag­te nach­her den Kar­di­nal so­fort nach dem Na­men die­ses Pfar­rers, und kur­ze Zeit dar­auf er­fuhr My­ri­el zu sei­ner großen Ver­wun­de­rung, dass er auf den Bi­schofs­sitz von Dig­ne be­ru­fen sei.

Im Üb­ri­gen wuss­te nie­mand, ob an den Gerüch­ten, die über My­ri­els Vor­le­ben in Um­lauf wa­ren, et­was Wah­res sei. Nur we­ni­ge hat­ten sei­ne Fa­mi­lie ge­kannt.

Selbst­re­dend ging es My­ri­el wie je­dem Neu­an­ge­kom­me­nen in je­der Klein­stadt, wo je­der­mann einen Mund zum Re­den, aber nur We­ni­ge ein Hirn zum Den­ken ha­ben. Er muss­te die Leu­te re­den las­sen, ob­gleich und weil er Bi­schof war. Was man sich über ihn er­zähl­te, wa­ren nur Re­den, nur lee­res Wort­ge­klin­gel, und als er neun Jah­re in Dig­ne re­si­diert hat­te, war all der Klatsch, der an­fangs alle klei­nen Geis­ter in die­ser klei­nen Stadt in große Auf­re­gung ver­setzt hat­te, der Ver­ges­sen­heit an­heim­ge­fal­len. Nie­mand wag­te mehr da­von zu spre­chen, nie­mand ihn zu ge­häs­si­gen Zwe­cken aus­zu­beu­ten.

My­ri­el brach­te nach Dig­ne ein al­tes Fräu­lein na­mens Bap­tis­ti­ne, mit, die sei­ne Schwes­ter und zehn Jah­re jün­ger war als er. Die gan­ze Die­ner­schaft der bei­den Ge­schwis­ter be­stand in ei­ner Magd des­sel­ben Al­ters wie Fräu­lein Bap­tis­ti­ne, na­mens Frau Mag­loi­re, die ehe­dem nur die »Magd des Herrn Pfar­rers« ge­we­sen und nun zu­gleich als Kam­mer­frau des Fräu­lein Bap­tis­ti­ne und als Wirt­schaf­te­rin Sr. Bi­schöf­li­chen Gna­den fun­gier­te.

Fräu­lein Bap­tis­ti­ne war eine hoch ge­wach­se­ne, blas­se, ha­ge­re Dame von sanf­tem We­sen, eine Ver­kör­pe­rung al­les des­sen, was ein weib­li­ches We­sen ach­tungs­wert macht; denn auf Ehr­furcht An­spruch ma­chen darf ja­wohl nur das Weib, das Mut­ter ist. Hübsch war sie nie ge­we­sen, aber da ihr gan­zes Le­ben mit Wer­ken from­mer Lie­bes­tä­tig­keit aus­ge­füllt wor­den war, so war jetzt über ihre äu­ße­re Er­schei­nung eine Art lich­ter Klar­heit aus­ge­gos­sen, et­was, das man die Schön­heit des Ge­müts nen­nen kann. Was in ih­rer Ju­gend Ma­ger­keit ge­we­sen, hat­te sich jetzt zu en­gel­haf­ter Durch­sich­tig­keit ver­klärt. Sie war mehr See­le noch als jung­fräu­li­ches Weib, gleich­sam ein Schat­ten mit so viel Kör­per, dass man ihm noch ein Ge­schlecht bei­le­gen konn­te; ein we­nig Stoff, der einen lich­ten Glanz ein­hüll­te. Dazu große Au­gen, die sie im­mer zur Erde ge­senkt hielt, als su­che die­se See­le einen Vor­wand noch hie­nie­den zu ver­wei­len.

Frau Mag­loi­re war eine klei­ne, di­cke Alte, die im­mer keuch­te, weil sie sich im Hau­se tüch­tig tum­mel­te, und zwei­tens, weil sie eng­brüs­tig war.

Als My­ri­el sei­nen Ein­zug in Dig­ne hielt, wur­de er mit den üb­li­chen ho­hen Ehrun­gen, ge­mäß den kai­ser­li­chen De­kre­ten, laut de­nen die Bi­schö­fe im Ran­ge un­mit­tel­bar den Bri­ga­de­ge­nerä­len fol­gen, in dem bi­schöf­li­chen Palast in­stal­liert. Der Maire und der Prä­si­dent mach­ten ihm zu­erst ihre Auf­war­tung, und er sei­ner­seits be­such­te zu­erst den Ge­ne­ral und den Prä­fek­ten. Dann, nach­dem die In­stal­la­ti­on voll­zo­gen war, war­te­te die Stadt, wie ihr neu­er Bi­schof sei­nes Am­tes wal­ten wür­de.


  1. On­kel  <<<

II. Herr Myriel wird der Herr Bischof Bienvenu

Der bi­schöf­li­che Palast in Dig­ne lag ne­ben dem Ho­spi­tal. Es war ein großes, schö­nes Ge­bäu­de, das zu An­fang des 18. Jahr­hun­derts von Hen­ri Pu­get, Dok­tor der Theo­lo­gie und 1712 Bi­schof von Dig­ne, er­rich­tet wor­den war. Al­les in die­sem wahr­haft fürst­li­chen Schloss war in großem Sti­le an­ge­legt: die Wohn­zim­mer des Bi­schofs, die Säle, die Kam­mern, der große Ehren­hof nebst den Wan­del­gän­gen, die sich, von alt­flo­ren­ti­ni­schen Ar­ka­den über­wölbt, um ihn her­um­zo­gen, die mit herr­li­chen Bäu­men be­pflanz­ten Gär­ten. In dem Spei­se­saal, ei­ner lan­gen und pracht­vol­len Ga­le­rie, die im Erd­ge­schoss be­le­gen war und sich nach den Gär­ten hin­aus öff­ne­te, hat­te einst Hen­ri Pu­get sie­ben hohe Wür­den­trä­ger der Kir­che fei­er­lichst be­wir­tet. Die Bild­nis­se die­ser sie­ben ehr­furcht­ge­bie­ten­den Präla­ten schmück­ten den Saal, und das denk­wür­di­ge Da­tum, der 29. Juli 1714, war mit gold­nen Buch­sta­ben auf ei­ner wei­ßen Mar­mor­ta­fel ein­ge­gra­ben.

Das Ho­spi­tal war ein en­ges, nied­ri­ges, ein­stö­cki­ges Haus mit ei­nem klei­nen Gar­ten.

Drei Tage nach sei­ner An­kunft be­sich­tig­te der Bi­schof das Ho­spi­tal. Nach Been­di­gung der Vi­si­ta­ti­on ließ er so­fort den Di­rek­tor zu sich be­schei­den.

»Herr Di­rek­tor, re­de­te er ihn an, wie viel Pa­ti­en­ten ha­ben Sie ge­gen­wär­tig?«

»Sechs­und­zwan­zig, Ew. Bi­schöf­li­che Gna­den.«

»So­viel habe ich auch ge­zählt«, be­merk­te der Bi­schof.

»Die Bet­ten«, hob der Di­rek­tor wie­der an, »ste­hen recht dicht an­ein­an­der.«

»Das ist mir auch auf­ge­fal­len.«

»Statt Säle ha­ben wir nur Stu­ben, die schwer zu lüf­ten sind.«

»Das scheint mir auch so.«

»Und fällt ein­mal ein Son­nen­strahl in den Gar­ten, so ist er zu klein, die vie­len Re­kon­va­les­zen­ten zu fas­sen.«

»Das habe ich mir auch ge­sagt.«

»Wenn Epi­de­mi­en um­ge­hen, wie z.B. die­ses Jahr der Ty­phus und vor zwei Jah­ren Frie­sel und Schweiß­fie­ber, ha­ben wir bis­wei­len an die hun­dert Kran­ke und wis­sen dann nicht, wo wir mit ih­nen hin sol­len.«

»Der Ge­dan­ke ist mir auch in den Sinn ge­kom­men.«

»Aber al­len die­sen Übel­stän­den ist nun ein­mal nicht ab­zu­hel­fen«, sag­te der Di­rek­tor. »Man muss sich fü­gen.«

Die­ses Zwie­ge­spräch fand in dem Spei­se­saal des Erd­ge­schos­ses statt.

Der Bi­schof schwieg einen Au­gen­blick und wand­te sich dann wie­der an den Di­rek­tor mit der has­ti­gen Fra­ge:

»Herr Di­rek­tor, wie viel Bet­ten, mei­nen Sie, wür­de wohl die­ser Saal al­lein schon fas­sen?«

»Der Spei­se­saal Ew. Bi­schöf­li­chen Gna­den?« rief der Di­rek­tor in maß­lo­sem Er­stau­nen.

Der Bi­schof über­schau­te den Saal und schi­en mit den Au­gen Mes­sun­gen an­zu­stel­len.

»Zwan­zig Bet­ten wür­den hier wohl Platz fin­den«, flüs­ter­te er lei­se, als spre­che er für sich. Dann, zu dem Di­rek­tor ge­wen­det, fuhr er laut fort:

»Ich will Ih­nen was sa­gen, Herr Di­rek­tor. Es liegt of­fen­bar ein Irr­tum vor. Ihr seid sechs­und­zwan­zig Men­schen in fünf bis sechs win­zi­gen Zim­mer­chen. Un­se­rer sind hier drei, und wir ha­ben Platz für sech­zig. Da liegt ein Irr­tum vor, sage ich Ih­nen noch ein­mal. Sie ha­ben mei­ne Woh­nung, und ich die Ih­ri­ge. Ge­ben Sie mir mein Haus wie­der. Sie ge­hö­ren hier­hin.«

Am fol­gen­den Tage wa­ren die sechs­und­zwan­zig ar­men Kran­ken in dem Palast des Bi­schofs un­ter­ge­bracht und der Bi­schof in das Kran­ken­haus über­ge­sie­delt.

My­ri­el hat­te, da sei­ne Fa­mi­lie durch die Re­vo­lu­ti­on rui­niert war, kein Ver­mö­gen. Sei­ne Schwes­ter be­zog eine Lei­b­ren­te von fünf­hun­dert Fran­ken, die sei­ner Zeit im Pfarr­hau­se für ihre per­sön­li­chen Be­dürf­nis­se aus­ge­reicht hat­ten. My­ri­el er­hielt vom Staa­te als Bi­schof ein Ge­halt von fünf­zehn Tau­send Fran­ken. Über die­se Sum­me ver­füg­te My­ri­el laut ei­ner von ihm sel­ber auf­ge­stell­ten Rech­nung, de­ren Ori­gi­nal uns vor­liegt, ein für alle Mal fol­gen­der­ma­ßen:

Aus­ga­ben für mei­nen Haus­halt. - -
Für das klei­ne Se­mi­nar 1500 Fran­ken
Für die Mis­si­ons­kon­gre­ga­ti­on 100
Für die La­za­ris­ten zu Mont­di­dier 100
Für das Se­mi­nar der aus­wär­ti­gen Mis­sio­nen in Pa­ris 200
Für die Kon­gre­ga­ti­on des Hei­li­gen Geis­tes 150
Für die re­li­gi­ösen An­stal­ten im Hei­li­gen Lan­de 100
Für die Frau­en­ver­ei­ne zur Un­ter­stüt­zung ar­mer Wöch­ne­rin­nen 300
Für den Ve­rein in Ar­les au­ßer­dem noch 50
Für die Ver­bes­se­rung der Ge­fäng­ni­sein­rich­tun­gen 400
Zur Un­ter­stüt­zung und Be­frei­ung Ge­fan­ge­ner 500
Für die Be­frei­ung von Fa­mi­li­en­vä­tern aus dem Schuld­ge­fäng­nis 1000
Zu­schuss zu den Ge­häl­tern der ar­men Schul­leh­rer der Di­öze­se 2000
Für das Ge­trei­dema­ga­zin der Obe­ral­pen 100
Für die Kon­gre­ga­ti­on der Da­men von Dig­ne, Ma­nos­que und Sis­te­ron zur Er­tei­lung von un­ent­gelt­li­chem Un­ter­richt an be­dürf­ti­ge Mäd­chen 1500
Für die Ar­men 6000
Für mei­ne per­sön­li­chen Aus­ga­ben 1000
- - --------
Sum­ma 15.000 Fran­ken

An die­ser Ein­rich­tung »sei­nes so­ge­nann­ten Haus­hal­tes« än­der­te er nichts, so lan­ge er den Bi­schofs­sitz zu Dig­ne inne hat­te.

Die­ser An­ord­nung un­ter­warf sich auch Fräu­lein Bap­tis­ti­ne ohne den ge­rings­ten Wi­der­spruch. Für die­se from­me Dame war My­ri­el nicht al­lein ihr Bru­der, son­dern auch ihr Bi­schof, ein Freund, den die Na­tur ihr zu­ge­sellt, und ein Vor­ge­setz­ter, den die Kir­che ihr über­ge­ord­net hat­te. Sie brach­te ihm nur Lie­be und Ehr­furcht ent­ge­gen. Al­len sei­nen Wor­ten pflich­te­te sie bei; was er tat, hieß sie gut. Nur die Magd, Frau Mag­loi­re, murr­te ein we­nig. Hat­te doch, der Herr Bi­schof, – wie aus der oben an­ge­führ­ten Rech­nung er­hellt,– sich nur tau­send Fran­ken vor­be­hal­ten, was mit Fräu­lein Bap­tis­ti­nes Pen­si­on fünf­zehn Hun­dert Fran­ken jähr­lich er­gab. Mit die­sen fünf­zehn Hun­dert Fran­ken be­strit­ten die bei­den Frau­en und der alte Herr ih­ren gan­zen Le­bens­un­ter­halt.

Und wenn ein Dorf­pfar­rer nach Dig­ne kam, brach­te es der Bi­schof noch fer­tig ihn an­stän­dig zu be­wir­ten, dank Frau Mag­loi­res großer Spar­sam­keit und Fräu­lein Bap­tis­ti­nes wei­ser Haus­hal­tungs­kunst. Ei­nes Ta­ges – er war da­mals seit etwa drei Mo­na­ten in Dig­ne – sag­te der Bi­schof: »Mei­ne Ein­künf­te wol­len doch gar nicht recht zu­lan­gen!«

»Das woll­te ich mei­nen! rief Frau Mag­loi­re. Wenn Bi­schöf­li­che Gna­den sich we­nigs­tens noch das Geld aus­zah­len lie­ßen, das Ih­nen das De­par­te­ment als Ver­gü­tung für Equi­pa­ge1 und Rei­seun­kos­ten schul­dig ist. Die Vor­gän­ger Ew. Bi­schöf­li­chen Gna­den ha­ben’s doch im­mer so ge­hal­ten!«

»In der Tat, Sie ha­ben recht, Frau Mag­loi­re«, stimm­te ihr der Bi­schof bei und reich­te ein Ge­such bei der Stadt­ver­wal­tung ein.

Der Ge­ne­ral­rat zog auch das Ge­such in Er­wä­gung und warf einen Pos­ten von drei­tau­send Fran­ken jähr­lich aus, als Ver­gü­tung der Un­kos­ten, die der Herr Bi­schof für sei­ne Equi­pa­ge in der Stadt und für sei­ne Rei­sen mit der Post zu be­strei­ten habe.

Na­tür­lich er­ho­ben die Frei­den­ker ein Ze­ter­ge­schrei und ein Se­na­tor na­ment­lich, ein ehe­ma­li­ges Mit­glied des Ra­tes der Fünf­hun­dert, der dem Staats­s­treich vom 18. Bru­maire zu­ge­stimmt und von Na­po­le­on ein bei Dig­ne ge­le­ge­nes großes Gut als Do­ta­ti­on er­hal­ten hat­te, er­ließ an den Kul­tus­mi­nis­ter Bi­got de Préa­me­neu einen ent­rüs­te­ten Schrei­be­brief, dem wir fol­gen­de Zei­len ent­neh­men:

»Wozu eine Equi­pa­ge in ei­ner Stadt, die kei­ne vier­tau­send Ein­woh­ner hat? Und Un­kos­ten für Run­drei­sen? Was sol­len denn sol­che Run­drei­sen für einen Zweck ha­ben? Und wie reist man denn per Post in ei­nem Ge­birgs­lan­de? Wir ha­ben hier ja über­haupt kei­ne Chaus­seen. Man reist hier nur zu Pfer­de. Kaum dass die Brücke über die Du­ran­ce bei Cha­teau-Ar­noult ein Och­sen­fuhr­werk tra­gen kann! Aber so sind die Pries­ter alle! Geld­gie­rig und gei­zig. Der hier hat sich An­fangs auf den Hei­li­gen aus­ge­spielt. Jetzt macht er’s wie die an­de­ren. Er muss in ei­ner Equi­pa­ge fah­ren und in ei­ner Post­kut­sche rei­sen! Er braucht Lu­xus wie die Bi­schö­fe des al­ten Re­gime. O über die­ses Pfaf­fen­ge­schmeiß! Glau­ben Sie nur, Herr Graf, ehe uns der Kai­ser die Schwarz­rö­cke nicht vom Hal­se schafft, wer­den die Zu­stän­de nicht bes­ser. Nie­der mit dem Papst! (Frank­reich stand da­mals mit Rom auf ge­spann­tem Fuße). Ich für mein Teil bin da­für, dass Cäsar al­lein re­giert. U.s.w. U.s.w.«

De­sto mehr freu­te sich Frau Mag­loi­re.

»So ist’s recht, sag­te sie zu Fräu­lein Bap­tis­ti­ne. Se. Bi­schöf­li­che Gna­den ha­ben bis jetzt nur für an­de­re ge­sorgt, aber schließ­lich ha­ben Sie doch end­lich auch an sich den­ken müs­sen. Die Ar­men sind nun ver­sorgt, und die drei­tau­send Fran­ken blei­ben für uns. Es war auch Zeit, dass wir was krieg­ten!«

An dem Abend des­sel­ben Ta­ges stell­te der Bi­schof wie­der eine Rech­nung auf und gab sie sei­ner Schwes­ter. Sie lau­te­te fol­gen­der­ma­ßen:

Un­kos­ten für Equi­pa­ge und Amts­rei­sen. - -
Zu Bouil­lon für die Kran­ken un­se­res Ho­spi­tals 1.500 Fran­ken
Für den Frau­en­ver­ein zu Ar­les 250
Für den Frau­en­ver­ein zu Dra­gu­i­gnan 250
Für die Fin­del­kin­der 500
Für die Wai­sen­kin­der 500
- - --------
Sum­ma 3.000 Fran­ken

Das war My­ri­els Bud­get.

Was die Ne­ben­ein­künf­te an­be­langt, die Ein­nah­men für Ab­kauf von Auf­ge­bo­ten, für Dis­pen­sa­ti­ons­schei­ne, Not­tau­fen, Pre­dig­ten, Ein­wei­hun­gen von Kir­chen und Ka­pel­len, Hoch­zei­ten u.s.w., so trieb der Bi­schof die­se Gel­der von den Rei­chen mit umso grö­ße­rer Stren­ge ein, da er sie sämt­lich den Ar­men zu­wand­te.

Nach Ver­lauf ei­ner kur­z­en Zeit flos­sen ihm denn auch Lie­bes­ga­ben in rei­cher Men­ge zu. Be­gü­ter­te und Be­dürf­ti­ge, alle klopf­ten an My­ri­els Tür, die einen um Spen­den bei ihm zu hin­ter­le­gen, die an­de­ren um sie in Empfang zu neh­men. Aber so be­trächt­li­che Sum­men ihm auch durch die Hän­de gin­gen, so fand er sich doch nicht ver­an­lasst sei­ne Le­bens­hal­tung in ir­gend ei­nem Punk­te zu än­dern und sich au­ßer dem Not­wen­di­gen auch Über­flüs­si­ges zu ge­stat­ten.

Im Ge­gen­teil. Da in der mensch­li­chen Ge­sell­schaft all­zeit un­ten mehr Elend als oben Wohl­tä­tig­keits­sinn vor­han­den ist, so war al­les schon weg­ge­ge­ben, ehe er es be­kom­men hat­te, so fiel al­les wie ein Trop­fen auf einen hei­ßen Stein. Man konn­te ihm noch so viel Geld ge­ben, nie hat­te er et­was. In sol­chen Fäl­len gab er noch mehr von dem Sei­ni­gen her.

Der dank­ba­re In­stinkt des Vol­kes wähl­te denn auch un­ter den Vor­na­men, die sein Bi­schof dem Brau­che ge­mäß in sei­nen Er­las­sen und Hir­ten­brie­fen voll­stän­dig auf­zähl­te, den­je­ni­gen her­aus, der einen be­deu­tungs­vol­len Sinn dar­bot. Die ar­men Leu­te nann­ten ihn nur den Bi­en­ve­nu (Will­kom­men, Se­gens­reich). Wir wol­len die­sem Bei­spiel fol­gen und ihn ge­le­gent­lich gleich­falls so nen­nen. Ihm sel­ber sag­te üb­ri­gens die­se neue Be­zeich­nung zu. »Der Name ge­fällt mir«, ließ er sich ver­neh­men. »Er mil­dert, was der Ti­tel Bi­schöf­li­che Gna­den zu Stol­zes hat.«

Dass die­se Schil­de­rung, die wir hier ent­wer­fen, die Wahr­schein­lich­keit für sich habe, wa­gen wir nicht zu be­haup­ten, wohl aber ist sie der Wahr­heit ge­mäß.


  1. Ge­päck  <<<

III. Ein tüchtiger Arbeiter findet viel zu tun

Der Bi­schof hat­te zwar sei­ne Equi­pa­ge in Al­mo­sen um­ge­wan­delt, be­reis­te aber gleich­wohl flei­ßig sei­nen Amtss­pren­gel, was mit er­heb­li­chen Stra­pa­zen ver­bun­den war. Die Di­öze­se Dig­ne ist ein Land mit we­nig Ebe­nen und viel Ber­gen, da­bei fast ohne Chaus­seen, wie schon er­wähnt. Sie um­fasst zwei­und­drei­ßig Pfar­rei­en, ein­und­vier­zig Vi­ka­ria­te und zwei­hun­dert fünf­un­dacht­zig Fi­li­al­kir­chen. Dies al­les zu be­wäl­ti­gen, er­heisch­te kei­ne ge­rin­ge Sum­me von Ar­beits­kraft, die aber un­ser Bi­schof auf­zu­brin­gen ver­stand. War der be­tref­fen­de Ort in der Nach­bar­schaft ge­le­gen, so ging er zu Fuß; in den ebe­nen Ge­gen­den fuhr er in ei­ner Halb­kut­sche, im Ge­bir­ge ritt er auf ei­nem Maul­tier. Die bei­den Frau­en be­glei­te­ten ihn ge­wöhn­lich, au­ßer wenn die Stra­pa­zen das bil­li­ge Maß über­stie­gen. In die­sem Fall reis­te er al­lein.

Ei­nes Ta­ges ritt er in Se­nez, ei­ner al­ten Bi­schofs­stadt, auf ei­nem Esel ein. Ein an­de­res Trans­port­mit­tel hat­te er we­gen der star­ken Ebbe, die in sei­ner Bör­se auf­ge­tre­ten war, nicht ge­neh­mi­gen kön­nen. Als er nun von sei­nem Esel ab­stieg, maß ihn der Bür­ger­meis­ter, der sich zu sei­nem Empfan­ge vor dem Bi­schof­spa­lais ein­ge­fun­den, mit Bli­cken, aus de­nen tie­fe sitt­li­che Ent­rüs­tung sprach, und ei­ni­ge Vor­über­ge­hen­de, die ih­rer Klei­dung nach zu ur­tei­len den bes­se­ren Stän­den an­ge­hör­ten, blie­ben ste­hen und lach­ten.

»Mei­ne Her­ren, sag­te der Bi­schof, ich kann mir das Mo­tiv Ihres Un­wil­lens den­ken: Sie fin­den es an­maß­lich, dass ein ar­mer Pries­ter sich des Reit­tie­res Jesu Chris­ti be­dient. Ich ver­si­che­re Sie aber, ich tue es aus Not, nicht aus Ei­tel­keit.«

Wo­hin er auch bei ei­ner sol­chen Run­drei­se kam, stets zeig­te er sich mil­de und nach­sich­tig ge­gen sei­ne Un­ter­ge­be­nen und in sei­nen Pre­dig­ten schlug er vor­zugs­wei­se einen ge­müt­li­chen Ge­spräch­ston an. Weit­her ge­hol­te Grün­de und Bei­spie­le lieb­te er nicht. Da­ge­gen er­mahn­te er die Leu­te an ei­nem Ort sich die Be­woh­ner ei­nes an­de­ren, be­nach­bar­ten, zum Vor­bild zu neh­men. Wo man hart ge­gen die Be­dürf­ti­gen war, sag­te er z.B.: »Nehmt Euch Eure Nach­barn in Briançon zum Vor­bild. Sie ha­ben den Ar­men, den Wit­wen und Wai­sen die Er­laub­nis er­teilt, ihre Wie­sen drei Tage vor den an­de­ren ab­mä­hen zu las­sen und re­pa­rie­ren ih­nen ihre Häu­ser, wenn sie bau­fäl­lig ge­wor­den sind, un­ent­gelt­lich. Des­halb hat aber auch der lie­be Gott das Land ge­seg­net, denn vol­le hun­dert Jah­re lang ist da­selbst kein Mord vor­ge­kom­men.«

Zu Leu­ten, die bei der Ern­te zu ge­nau ver­fuh­ren, sag­te er. »Seht Euch mal an, wie sie’s in Em­brun ma­chen. Hat ein Fa­mi­li­en­va­ter Söh­ne beim Mi­li­tär oder Töch­ter, die in der Stadt die­nen, und kann er we­gen Krank­heit oder aus ei­nem an­de­ren Hin­de­rungs­grun­de die Ein­brin­gung sei­ner Ern­te nicht be­sor­gen, so emp­fiehlt ihn der Pfar­rer der Ge­mein­de, dann kom­men am Sonn­tag alle Leu­te aus dem Dor­fe, die Män­ner, die Frau­en, die Kin­der, mä­hen ihm sein Ge­trei­de und schaf­fen es ihm, Korn und Stroh, in sei­ne Scheu­ne.« – Zu den Fa­mi­li­en, die we­gen Geld- und Erb­schafts­an­ge­le­gen­hei­ten un­ei­nig wa­ren sag­te er: »Schaut mal, wie sie’s in De­volny an­fan­gen. Es ist das eine raue Ge­birgs­ge­gend, wo man den Ge­sang der Nach­ti­gall kaum ein­mal in fünf­zig Jah­ren zu hö­ren be­kommt. In die­sem Lan­de also ge­hen die Söh­ne, wenn der Va­ter stirbt, in die Frem­de, und über­las­sen das Erbe ih­ren Schwes­tern, da­mit die­se sich ver­hei­ra­ten kön­nen.« – In den Kan­to­nen, wo viel pro­zes­siert wur­de, sag­te er: »Nehmt Euch die bra­ven Bau­ern in Quey­ras zum Vor­bild. Es sind ih­rer drei­tau­send See­len, und die Leu­te le­ben dort ein­träch­tig, als bil­de­ten sie eine klei­ne Re­pu­blik für sich. Rich­ter und Exe­ku­tor gib­t’s dort nicht. Der Schul­ze be­sorgt da al­les. Er ver­an­lagt die Steu­ern, schätzt je­den ein, wie er’s vor sei­nem Ge­wis­sen ver­ant­wor­ten kann, schlich­tet un­ent­gelt­lich Strei­tig­kei­ten, teilt Erb­schaf­ten ohne Ho­no­rar zu for­dern, fällt Ur­teilss­prü­che ohne den Leu­ten Un­kos­ten zu ver­ur­sa­chen, und er fin­det Ge­hor­sam, weil er ein ge­rech­ter Mann ist und un­ter ein­fa­chen Leu­ten lebt.« In den Dör­fern, wo kein Schul­leh­rer war, ver­wies er wie­der auf das Bei­spiel der Bau­ern in Quey­ras: Wisst Ihr, wie die’s ma­chen? »Da ein Dorf mit nur zwölf bis fünf­zehn Häu­sern nicht im­mer die Mit­tel be­sitzt einen Ma­gis­ter zu er­näh­ren, so tun sich die Be­woh­ner des gan­zen Ta­les zu­sam­men und hal­ten sich Schul­meis­ter. Die ge­hen von Dorf zu Dorf und ge­ben hier acht, dort zehn Tage lang Un­ter­richt. Die­se Ma­gis­ter fin­den sich ein, wo Jahr­markt ist, und ich habe sel­ber wel­che ge­se­hen. Sie sind an den Schreib­fe­dern, die sie in ei­ner Schnur­schlei­fe am Hute tra­gen, zu er­ken­nen. Die nur Un­ter­richt im Le­sen er­tei­len, ha­ben eine Fe­der; die im Le­sen und Rech­nen un­ter­rich­ten, zwei; die Le­sen, Rech­nen und La­tein leh­ren, drei. Die­se letz­te­ren sind große Ge­lehr­te. Aber wel­che Schan­de un­wis­send zu sein! Ahmt den Leu­ten in Quey­ras nach.«

In die­ser ein­dring­li­chen und vä­ter­li­chen Aus­drucks­wei­se pfleg­te er mit den Leu­ten zu re­den. Und die Er­mang­lung von Bei­spie­len er­fand er Gleich­nis­se, hob deut­lich das her­vor, wor­auf es an kam, und brauch­te we­nig Re­dens­ar­ten, aber de­sto mehr bild­li­che Wen­dun­gen, wie Je­sus Chris­tus, des­sen Be­red­sam­keit zu Her­zen ging, weil sie aus dem Her­zen kam.

IV. Übereinstimmung von Taten und Worten

Im Ge­spräch war er leut­se­lig und hei­ter. Er pass­te sich dem Ver­ständ­nis der bei­den Frau­en an, die bei ihm leb­ten. La­chen konn­te er so herz­lich wie ein Schul­kna­be.

Frau Mag­loi­re nann­te ihn gern Ho­her Herr. Ei­nes Ta­ges nun er­hob er sich von sei­nem Ses­sel, um ein Buch zu ho­len, konn­te es aber, da es auf ei­nem obe­ren Re­gal lag und er zu klei­ner Sta­tur war, nicht lan­gen. Da rief er Frau Mag­loi­re: »Brin­gen Sie mir doch einen Stuhl. Die Ho­heit des ho­hen Herrn reicht nicht bis an das Brett da.«

Eine ent­fern­te Ver­wand­te von ihm, die Grä­fin von Lô, ließ es sich sel­ten ent­ge­hen, in sei­ner Ge­gen­wart die »Hoff­nun­gen« ih­rer drei Söh­ne aus­führ­lich auf­zu­zäh­len, näm­lich all die Glücks­gü­ter und Vor­tei­le, die sie von rei­chen al­ten Ver­wand­ten bin­nen vor­aus­sicht­lich kur­z­er Zeit er­ben wür­den. Der jüngs­te Sohn er­war­te­te von ei­ner Groß­tan­te ein Jah­res­ein­kom­men von nicht we­ni­ger als hun­dert­tau­send Fran­ken; dem zwei­ten muss­te der Her­zogs­ti­tel sei­nes Oheims zu­fal­len; der Äl­tes­te hat­te An­wart­schaft auf die Pai­rie sei­nes Groß­va­ters. Die­sen un­schul­di­gen und ver­zeih­li­chen Prah­le­rei­en der zärt­li­chen Mut­ter hör­te meis­ten­teils der Bi­schof mit mus­ter­haf­tem Still­schwei­gen zu. Bei ei­ner Ge­le­gen­heit in­des hing er sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken nach, wäh­rend die Grä­fin sich in weit­schwei­fi­gen Er­ör­te­run­gen al­ler die­ser Suk­zes­sio­nen und »Hoff­nun­gen« er­ging. Plötz­lich brach sie un­ge­dul­dig ab und frag­te är­ger­lich: »Aber, Vet­ter, wor­an den­ken Sie denn?« »An einen son­der­ba­ren Auss­pruch, ver­setz­te er, der, wenn ich nicht irre, sich in den Wer­ken des heil. Au­gus­tin fin­det: Set­zet Eure Hoff­nung auf Den, dem nie­mand suk­ze­diert.«1

Ein an­de­res Mal, als er eine To­des­an­zei­ge mit ei­nem lang­at­mi­gen Ver­zeich­nis der Wür­den des Ver­stor­be­nen und der Adels­ti­tel al­ler Ver­wand­ten des­sel­ben er­hal­ten hat­te, rief er aus: »Was für einen star­ken Rücken Freund Hein ha­ben muss, dass man ihm so­viel ge­wich­ti­ge Ti­tel auf­pa­cken kann, und wie ge­scheit die Men­schen sind, da sie so­gar in ei­nem Gra­be Ge­le­gen­heit zur Be­frie­di­gung ih­rer Ei­tel­keit fin­den!«

Er ver­stand auch zu spot­ten, in harm­lo­ser Wei­se, aber fast im­mer mit ei­nem erns­ten Hin­ter­ge­dan­ken. So kam ein­mal wäh­rend der Fas­ten­zeit ein jun­ger Vi­kar nach Dig­ne und hielt eine recht be­red­te Pre­digt über die Mild­tä­tig­keit. Er for­der­te die Rei­chen auf den Ar­men zu ge­ben, um der Höl­le zu ent­ge­hen, de­ren Schreck­nis­se er ih­nen in den grells­ten Far­ben aus­mal­te, und sich das Him­mel­reich zu er­obern, das er als über­aus lieb­lich und er­stre­bens­wert hin­stell­te. Die­se Schil­de­rung mach­te auf einen sei­ner Zu­hö­rer, der im Han­del zwei Mil­lio­nen zu­sam­men­ge­rafft hat­te, einen so nach­hal­ti­gen Ein­druck, dass er von sei­ner Ge­pflo­gen­heit nie­mals Al­mo­sen zu ge­ben abließ und von der Zeit an je­den Sonn­tag an der Kir­chen­tür eine klei­ne Kup­fer­mün­ze für sechs Bett­le­rin­nen spen­de­te. Ei­nes Ta­ges nun, als er wie­der die­sen Akt hoch­her­zi­ger Mild­tä­tig­keit voll­zog, sah ihn der Bi­schof und be­merk­te lä­chelnd zu sei­ner Schwes­ter: »Sieh mal, da kauft sich Herr Ge­bo­rand für einen Sou ewi­ge Se­lig­keit.«

Han­del­te es sich um Mild­tä­tig­keit, so ließ er sich selbst durch eine ab­schlä­gi­ge Ant­wort nicht ab­schre­cken und ver­stand es mit ei­ner tref­fen­den, geist­rei­chen Ent­geg­nung den Wi­der­spens­ti­gen an­de­ren Sin­nes zu ma­chen. Ein­mal sam­mel­te er in ei­ner Ge­sell­schaft für die Ar­men. Un­ter den An­we­sen­den be­fand sich der Mar­quis von Champ­ter­cier, ein rei­cher al­ter Geiz­hals, der das Kunst­stück fer­tig ge­bracht hat­te zu­gleich ul­tra­roya­lis­tisch und ul­tra­vol­tai­ria­nisch ge­sinnt zu sein. Denn es hat auch sol­che Käu­ze ge­ge­ben. Als der Bi­schof zu ihm ge­langt war, be­rühr­te er ihn am Arm und sag­te: »Herr Mar­quis, Sie müs­sen mir et­was ge­ben.« Der Mar­quis wand­te sich um und ant­wor­te­te tro­cken: »Bi­schöf­li­che Gna­den, ich habe schon mei­ne Ar­men.« »Dann ge­ben Sie mir die«, ent­geg­ne­te der Bi­schof.

Ei­nes Ta­ges hielt er im Dom fol­gen­de Pre­digt: »Teu­ers­te Brü­der, lie­be Freun­de, es gibt in Frank­reich 1.320.000 Bau­ern­häu­ser mit nur drei, 1.817.000 mit zwei Öff­nun­gen, der Tür und ei­nem Fens­ter, und end­lich 346.000 Hüt­ten mit ei­ner ein­zi­gen Öff­nung, der Tür. Schuld dar­an ist et­was, das man die Tür- und Fens­ter­steu­er nennt. Denkt Euch nun arme Fa­mi­li­en, alte Frau­en, klei­ne Kin­der in sol­chen Be­hau­sun­gen und stellt Euch vor, was für Fie­ber, was für Krank­hei­ten da herr­schen müs­sen! Gott schenkt, das Ge­setz ver­kauft den Men­schen die Luft. Ich kla­ge das Ge­setz nicht an, aber Got­tes Güte prei­se ich. In den De­par­te­ments Isé­re, Bar, Ober- und Un­te­r­al­pen ha­ben die Land­leu­te nicht ein­mal Schub­kar­ren und tra­gen den Dün­ger auf dem Rücken; kei­ne Talg­lich­ter, und bren­nen Kien­spä­ne oder mit Harz be­stri­che­ne Stri­cke. So macht man es in dem gan­zen Ober-Dau­phiné. Das Brot ba­cken sie auf ein hal­b­es Jahr und hei­zen den Back­ofen mit ge­trock­ne­tem Kuh­mist. Im Win­ter zer­schla­gen sie dies Brot mit der Axt und las­sen es vier­und­zwan­zig Stun­den in Was­ser wei­chen, um es es­sen zu kön­nen. Seid barm­her­zig, lie­be Brü­der; be­denkt, wie viel Elend Euch um­gibt!«

Als ge­bor­ner Pro­ven­za­le war es ihm leicht ge­wor­den sich mit al­len süd­fran­zö­si­schen Dia­lek­ten gründ­lich ver­traut zu ma­chen. Das ge­fiel dem ge­mei­nen Volk sehr und trug nicht we­nig dazu bei, dass er sei­ne Ge­dan­ken dem Ver­ständ­nis al­ler nä­her brin­gen konn­te. Er war in der Hüt­te und im Ge­bir­ge zu Hau­se. Er ver­stand es, die er­ha­bens­ten Din­ge mit­tels der tri­vi­als­ten Re­de­wen­dun­gen aus­zu­drücken, und da er Je­der­manns Spra­che re­de­te, so fand er auch Mit­tel und Wege sei­nen Ide­en Ein­gang in Je­der­manns Herz zu schaf­fen.

Üb­ri­gens be­nahm er sich gleich ge­gen die Vor­neh­men und Ge­rin­gen.

Nie über­eil­te er sich mit Ver­dam­mungs­ur­tei­len, son­dern zog stets die Um­stän­de in Er­wä­gung. »Erst wol­len wir uns den Weg an­se­hen, pfleg­te er zu sa­gen, den das Ver­ge­hen ent­lang ge­kom­men ist.«

Als »Ex­sün­der«, wie er sich im Scherz nann­te, trug er kei­ne Stren­ge zur Schau und lehr­te mit großem Frei­mut und ohne sei­ne Stirn nach Art der Tu­gend­hel­den in fins­te­re Fal­ten zu le­gen, Grund­sät­ze, die man in fol­gen­den Wor­ten zu­sam­men­fas­sen könn­te:

»Der Mensch ist ein Geist, der mit Fleisch be­klei­det ist. Die­ses Fleisch ist eine Last und eine Ver­su­chung. Der Mensch trägt es und gibt ihm nach.«

»Er soll es im Auge be­hal­ten, es zu­rück­drän­gen, es nie­der­hal­ten und ihm nur im äu­ßers­ten Not­fall will­fah­ren. Solch ein Ge­hor­sam kann mit Schuld be­haf­tet sein, aber solch eine Schuld fin­det Ver­ge­bung. Wer so nach­gibt, fällt, aber auf die Knie und kann sich mit Ge­bet los­kau­fen.«

»Ein Hei­li­ger zu sein ist die Aus­nah­me, ein Ge­rech­ter zu sein ist die Re­gel. Ir­ret, feh­let, sün­di­get, aber seid Ge­rech­te.«

»So we­nig Sün­de wie mög­lich, lau­tet das Ge­setz für den Men­schen. Gar nicht zu sün­di­gen ist das Ide­al des En­gels. Al­les Ir­di­sche ist der Sün­de un­ter­wor­fen. Wir kön­nen uns von ihr eben­so we­nig frei ma­chen wie von dem Ge­setz der Schwe­re.«

Hör­te er ein all­ge­mei­nes Ze­ter­ge­schrei, sah er die große Men­ge ein has­ti­ges Ta­dels­vo­tum ab­ge­ben, so spot­te­te er: »Hier liegt ge­wiss eine Sün­de vor, die je­der­mann be­geht. Sonst wür­den die Heuch­ler es nicht so ei­lig ha­ben zu pro­tes­tie­ren, um den Ver­dacht von sich ab­zu­len­ken.«

Ge­gen die Frau­en und die Ar­men, auf de­nen mit ih­rer gan­zen Wucht die mensch­li­che Ge­sell­schaft las­tet, war er nach­sich­tig: »An den Ver­ge­hen der Frau­en, der Kin­der, des Ge­sin­des, der Schwa­chen, der Be­dürf­ti­gen und Un­wis­sen­den sind die Män­ner, die El­tern, die Herr­schaf­ten, die Star­ken, Rei­chen und Ge­lehr­ten Schuld.«

Fer­ner: »Die Un­wis­sen­den be­leh­ret, so gut Ihr es ver­mö­get; die Ge­sell­schaft ist zu ta­deln, dass sie nicht den öf­fent­li­chen Un­ter­richt un­ent­gelt­lich er­tei­len lässt; sie ist ver­ant­wort­lich für die Fins­ter­nis, der sie die Ent­ste­hung gibt. Ist eine See­le um­nach­tet, so schleicht sich die Sün­de in sie hin­ein. Nicht der­je­ni­ge ist der Schul­di­ge, der die Sün­de be­geht, son­dern der die Nacht ge­schaf­fen hat.«

Man sieht, er hat­te eine ab­son­der­li­che und ei­ge­ne Art die Din­ge zu be­ur­tei­len. Ich habe ihn stark in Ver­dacht, dass er die­se Ge­dan­ken dem Evan­ge­li­um ent­nom­men hat­te.

Ei­nes Ta­ges war er ge­ra­de zu­ge­gen, als in ei­ner Ge­sell­schaft von ei­nem Kri­mi­nal­pro­zess ge­spro­chen wur­de, der da­mals die Ge­rich­te be­schäf­tig­te. Ein ar­mer Mensch hat­te sich aus Lie­be zu ei­ner Frau und zu dem Kin­de, das sie ihm ge­bo­ren, der Falsch­mün­ze­rei schul­dig ge­macht, da er sie auf an­de­re Wei­se vor dem Hun­ger­to­de nicht zu be­wah­ren wuss­te. Die­ses Ver­bre­chen wur­de da­mals noch in Frank­reich mit der To­dess­tra­fe ge­ahn­det. Die Frau war bei dem ers­ten Ver­such ein von dem Man­ne fa­bri­zier­tes Geld­stück in Um­lauf zu set­zen, ver­haf­tet wor­den, aber Be­wei­se um sie ei­ner Schuld zu über­füh­ren, hat­te man nicht. Sie al­lein konn­te ge­gen ih­ren Lieb­ha­ber aus­sa­gen und durch ein Ge­ständ­nis sei­ne Ver­ur­tei­lung er­mög­li­chen. Sie leug­ne­te aber aufs hart­nä­ckigs­te. Da hat­te der Staats­an­walt einen ge­schei­ten Ein­fall. Er leg­te der Un­glück­li­chen ge­schickt aus­ge­wähl­te Bruch­stücke aus Brie­fen des Man­nes vor und brach­te sie auf die­se Wei­se zu dem Glau­ben, sie habe eine Ne­ben­buh­le­rin, mit der er sie hin­ter­ge­he. Da klag­te sie, ge­trie­ben von sinn­lo­ser Ei­fer­sucht, ih­ren Ge­lieb­ten an, und lie­fer­te die nö­ti­gen Be­wei­se. Nun war der Mann ver­lo­ren und nächs­ter Tage soll­te ihm, samt sei­ner Mit­schul­di­gen in Aix der Pro­zess ge­macht wer­den. Die­ser Vor­fall also bil­de­te den Ge­gen­stand der Un­ter­hal­tung, und alle be­zeig­ten das höchs­te Ent­zücken über die Schlau­heit des Staats­an­walts. Da­durch, dass er die Ei­fer­sucht ins Spiel ge­zo­gen, auf die Rach­sucht der ge­kränk­ten Ei­tel­keit spe­ku­liert, habe er der Wahr­heit und Ge­rech­tig­keit zum Sie­ge ver­hol­fen. Al­len die­sen Lo­bes­he­bun­gen hör­te der Bi­schof bis zu Ende schwei­gend zu. Dann frag­te er:

»Vor wel­ches Ge­richt wer­den die bei­den ge­stellt wer­den?«

»Vor die As­si­sen.«

»Und der Staats­an­walt?«

Wir müs­sen hier noch einen an­de­ren tra­gi­schen Vor­fall er­wäh­nen, der sich in Dig­ne zu­trug. Es wur­de ein Mann we­gen Mor­des zum Tode ver­ur­teilt, ein Un­glück­li­cher, der nicht ge­ra­de ein ge­bil­de­ter Mann, aber auch nicht ganz un­wis­send war, und der sich als Akro­bat und öf­fent­li­cher Schrei­ber sein Brot auf den Jahr­märk­ten ver­dien­te. Der Pro­zess er­reg­te große Sen­sa­ti­on. An dem Tage vor der Hin­rich­tung wur­de der Ge­fäng­nis­geist­li­che krank, und da man einen Pries­ter brauch­te, der den ar­men Sün­der auf sei­nem letz­ten Gan­ge be­glei­ten soll­te, so schick­te man nach dem Stadt­geist­li­chen. Die­ser aber wei­ger­te sich, wie es heißt, mit rück­sichts­lo­ser Deut­lich­keit: »Das geht mich nichts an«, ließ er sich ver­neh­men, »ich wer­de es blei­ben las­sen, mich mit dem Hans­wurst zu be­fas­sen. Au­ßer­dem bin ich sel­ber krank, und es ist über­haupt nicht mein Be­ruf.« Sei­ne Äu­ße­run­gen wur­den dem Bi­schof hin­ter­bracht, und die­ser sag­te: »Der Herr Pfar­rer hat recht. Es ist nicht sein Be­ruf. Aber es ist der mei­ni­ge.«

Er be­gab sich auch un­ver­züg­lich in das Ge­fäng­nis, ließ sich in die Zel­le des »Hans­wurs­tes« füh­ren, re­de­te ihn mit sei­nem Na­men an, er­griff sei­ne Hand und sprach zu ihm. Den gan­zen Tag blieb er bei ihm, ver­sag­te sich Es­sen, Trin­ken und Schlaf, be­te­te zu Gott für die See­le des Ver­ur­teil­ten und er­mahn­te den Un­glück­li­chen sei­nes See­len­heils zu ge­den­ken. Er pre­dig­te ihm die bes­ten Wahr­hei­ten, näm­lich die ein­fachs­ten. Er sprach mit ihm wie ein Va­ter, ein Bru­der, ein Freund; und kehr­te den Bi­schof nur her­vor, um ihn zu seg­nen. Er un­ter­wies ihn, in­dem er ihn be­ru­hig­te und trös­te­te. Der Mann sah sei­nem letz­ten Au­gen­blick mit Verzweif­lung ent­ge­gen. Der Tod war ihm ein Ab­grund, an des­sen Rand er schau­dernd zu­rück­beb­te. Er war nicht so roh, dass er völ­lig stumpf hät­te sein kön­nen. Sei­ne Ver­ur­tei­lung hat­te ihn bis in sein In­ners­tes er­schüt­tert und ge­wis­ser­ma­ßen jene Schran­ke hie und da nie­der­ge­ris­sen, die das Ge­heim­nis der Din­ge un­se­ren Bli­cken ent­zieht, und die wir das Le­ben nen­nen. Durch die Bre­schen blick­te er ohne Un­ter­lass über die­se Welt hin­aus und sah nur Fins­ter­nis. Der Bi­schof aber zeig­te ihm ein Licht.

Am an­de­ren Tag als der arme Sün­de ge­holt wur­de, war der Bi­schof ge­gen­wär­tig. Er ging ne­ben ihm und zeig­te sich den Au­gen der Men­ge im vio­let­ten Man­tel, mit dem Bi­schofs­kreu­ze am Hal­se ne­ben ei­nem mit Stri­cken ge­fes­sel­ten Ver­bre­cher.

Er stieg mit ihm auf den Kar­ren, stieg mit ihm auf das Schaf­fot. Der De­lin­quent, der tags zu­vor nie­der­ge­drückt und ver­zwei­felt ge­we­sen, sah ge­fasst aus. Er hat­te das Ge­fühl, dass sei­ne See­le Er­lö­sung ge­fun­den und bald mit ih­rem Gott ver­ei­nigt sein wer­de. Der Bi­schof um­arm­te ihn und sag­te in dem Au­gen­blick, als das Fall­mes­ser der Guil­lo­ti­ne her­ab­stür­zen soll­te: »Wen Men­schen tö­ten, den lässt Gott wie­der­au­fer­ste­hen; wen sei­ne Brü­der ver­ja­gen, der fin­det den Va­ter. Bete, glau­be, gehe in das ewi­gen Le­ben ein: der Va­ter ist da, dich auf­zu­neh­men.« Als er vom Schaf­fot wie­der her­un­ter­stieg, lag in sei­nem Blick ein Et­was, vor dem die Men­ge ehr­furchts­voll zu­rück­wich. Man wuss­te nicht, was man mehr be­wun­dern sol­le, die Bläs­se oder die Hei­ter­keit sei­nes Ant­lit­zes. In der be­scheid­nen Woh­nung an­ge­langt, die er scher­zend sei­nen Palast nann­te, sag­te er zu sei­ner Schwes­ter: »Ich habe ein fei­er­li­ches Hochamt ge­hal­ten.«

Da das Er­ha­bens­te oft am we­nigs­ten Ver­ständ­nis fin­det, so leg­ten man­che Leu­te das Ver­hal­ten des Bi­schofs als Af­fek­ta­ti­on2 aus. Frei­lich nur Leu­te aus den bes­se­ren Stän­den. Das Volk, das Wer­ke der rech­ten Fröm­mig­keit nicht miss­deu­tet, war ge­rührt und be­wun­der­te sei­nen Bi­schof.

Was den Bi­schof an­be­trifft, so hat­te ihn der An­blick aufs hef­tigs­te er­schüt­tert, und es währ­te lan­ge, ehe er die­sen Ein­druck ver­wand.

Das Schaf­fot weckt in der Tat, wenn man es vor sich auf­ge­rich­tet sieht, in der Fan­ta­sie un­heim­li­che Ge­dan­ken und Bil­der. Man kann gleich­gül­tig den­ken über die To­dess­tra­fe, sich je­des Ur­teils ent­hal­ten, Ja und Nein sa­gen, so lan­ge man die Guil­lo­ti­ne nicht mit Au­gen ge­se­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­