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Wuschig im Kopf

ICH GLAUB, ES HACKT!

George Milare

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2021.

Covergestaltung : © George Milare

Lektorat + Bearbeitung: CAT creativ - cat-creativ.at

ISBN: 978-3-96074-518-1 - Taschenbuch (illustriert)

ISBN: 978-3-96074-514-3 - E-Book

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Inhalt

Prolog

1. Mittwoch, 13. Juni

2. Mittwoch, 20. Juni

3. Mittwoch, 27. Juni

4. Samstag, 14. Juli

5. Sonntag, 22. Juli

6. Kurz nach 15 Uhr

7. Gegen 18 Uhr

8. Samstag, 28. Juli

9. Montag, 30. Juli

10. Gegen 8 Uhr

11. Um 13 Uhr

12. Kurz nach 18 Uhr

13. Dienstag, 31. Juli

14. Mittwoch, 1. August

15. Donnerstag, 2. August

16. Freitag, 3. August

17. Am späten Nachmittag

18. Samstag, 4. August

19. Montag, 6. August

20. Beim Abendessen

21. Mittwoch, 22. August

22. Mittwoch, 29. August

23. Sonntag, 2. September

24. Was sonst noch?

25. Kurz vor Mitternacht

26. Dienstag, 4. September

27. Sonntag, 7. Oktober

28. Beim Mittagessen

29. Mittwoch, 10. Oktober

30. Später am Abend

31. Mittwoch, 17. Oktober

32. Freitag, 26. Oktober

33. Einige Stunden später

34. Sonntag, 4. November

35. Mittwoch, 7. November

36. Freitag, 7. Dezember

37. Freitag, 21. Dezember

38. Prosit Neujahr, Januar

39. Sonntag, 20. Januar

40. Montag, 21. Januar

41. Mittwoch, 30. Januar

42. Samstag, 2. Februar

43. Sonntag, 3. Februar

44. Auf glühenden Kohlen

Epilog

Danksagung

Der Autor

*

Träume sind das eine, Leben ist was anderes.

*

Prolog

Ist es nicht einfach unglaublich, wie das Schicksal außergewöhnliche Umwege nimmt, nur um ein bestimmtes Ziel zu erreichen? Dabei ändert es skrupellos den Ablauf der bereits formulierten Pläne und ordnet die Prioritäten neu. Denn wer hätte es sich erträumen lassen, dass sich so viel ändern würde, wenn man sich in ein Mädchen verguckt?

Also Tyron sicherlich am allerwenigsten! Dass er unerklärliche, wuschige Gefühle für ein Mädchen entwickeln würde, dem er zufällig begegnete, konnte er sich beim allerbesten Willen nie vorstellen. Okay, vielleicht doch schon! Schließlich ist man sozusagen gezwungen, sich das Geschnulze anzuschauen, wenn man eine ältere Schwester hat, die diese Sendungen im Fernsehen immer wieder einschaltete.

Aber bis zu diesem verrückten Ausmaß, bei dem dieses unbeschreibliche Gefühl im Handumdrehen auftaucht und den Körper ganz in Besitz nimmt …

„Never ever!“, dachte sich Tyron.

Er lag voll daneben!

Aber wie?

Es stellte sich als ein gigantischer Entwicklungssprung heraus, für jemanden, der die engere Bekanntschaft mit einem Mädchen erst einmal an die letzte Stelle seiner Prioritätenliste gesetzt hatte.

Er hatte nicht den blassesten Schimmer, was das Schicksal für ihn bereithielt. Selbst nachdem sich die ersten Indizien abzuzeichnen begannen, wollte ihm das einfach nicht in den Schädel.

Doch das Schicksal hatte das volle Programm für ihn parat.

Ziemlich radikal.

Trotz der Tatsache, dass das Glück ganz und gar auf seiner Seite zu sein schien, und dank seines Charakters gehörte er den Jungs an, die ein brennendes Verlangen, einen Wettkampf genauso wie ein Argument um jeden Preis gewinnen müssen – und das wurde noch verschärft durch die verrücktspielenden Hormone, die an pubertären Jugendlichen zerren. Dennoch fühlte er sich seit geraumer Zeit wie ein Champion. Ein Gefühl, das durch seinen großen Ehrgeiz, sein Engagement und Erfolg bei verschiedenen Aktivitäten, vor allem beim Schach, verschärft wurde. Eigentlich war er fest davon überzeugt, der nächste große Star zu werden.

Bis das hübsche Mädchen in sein Leben trat …

Im Rückblick auf ihre erste Begegnung würde Tyron verkünden, dass das Leben ihn verspotten wollte, indem es eine alternative Szene wie in Die Schöne und das Biest schuf. Nur war die Kreatur diesmal nicht unbedingt hässlich, sondern voll verschwitzt und vermodert nach einem Fußballspiel. Das makellose Mädchen umgarnt von einer Schönheit, die hochgradig einschüchternd war.

Aber so was von!

Flüchtig kam es ihm sogar in den Sinn wie einer dieser versteckten Kamerastreiche. Dass jemand versuchte, ihn auf die Probe zu stellen: „Tja, Tyron, lass uns mal sehen, wie du die Situation mit deiner lästigen besserwisserischen Art und deiner allzu großen Klappe bewältigst.“

Er konnte die Zähne nicht auseinanderbekommen, nachdem dieses Kunstwerk Gottes ihn ansprach. Aus irgendeinem unbegreiflichen Grund hörte sein vernünftiger Verstand auf, uneingeschränkt zu funktionieren. Und das war erst der Beginn einer Kettenreaktion.

Unkontrollierbar.

Entschlussfreudig.

Unveränderlich.

Im Nachhinein hätte man fairerweise behaupten können: Das Mädchen regierte, Tyron reagierte. Demzufolge begann sein geregeltes Alltagsleben einen völlig unverständlichen Lauf zu nehmen. Dabei hüllten ihn verschiedene verwirrende Emotionen ein. Zwingende Entscheidungen, die er treffen musste, belasteten ihm immer mal wieder.

Tyron, der voll fokussierte Kämpfer, verlor seine Orientierung.

Doch irgendwie musste er wieder zur Besinnung gelangen.

Nur wie?

Unfähig, eigenständig einen Weg aus diesem Dilemma zu finden, wandte er sich erst einmal an seine Berater – wenn nur ihre Ratschläge nicht so heftig voneinander abweichen würden!

Berater Nummer eins: sein bester Freund Norman – ein berüchtigter Klugscheißer, viel schlimmer als er selbst, der kein Blatt vor dem Mund nahm. Er war gefühlsbeherrscht, eingebildet und hatte die Neigung, regelmäßig vulgäre Sprache zu verwenden.

Berater Nummer zwei: seine zweieinhalb Jahre ältere Schwester Yolly, mit einer Dickfelligkeit vom Feinsten. Ihre Stimmungen verändern sich schlagartig, als ob man eine Münze werfen würde.

Berater Nummer drei: sein Vater – sein Versuch-und-Irrtum-Trainer beim Schach, dessen ständiger Verweis auf alte weise Sprüche, zur Unterstützung seiner Argumente, legendär waren. Dennoch trieben Tyron diese überbewertenden Sprüche oft auf die Palme. Für ihm hätte ein einfaches Emoji völlig ausgereicht.

Last but not least – die unheimliche innere Stimme in seinem Kopf. Fordernd. Herausfordernd. Mal impulsiv, mal vernünftig. Und so hartnäckig wie eine Mücke.

Mmhh … Ob dies das absolute Mega-Team ist, um eben ein Weltmeister in allen seinen Lebensbereichen zu werden …

*

1. Mittwoch, 13. Juni

„Ach du heiliger Bimbam!“, schrie es unbarmherzig in mir, als ich sie plötzlich an der Bushaltestelle sah. Also, sie würde ohne jegliche Mühe jedem Single den Verstand rauben.

Komisch! Vielleicht war ich ein Spätzünder, der den Mädchen nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Jetzt war ich dabei, mich in die Kategorie der Singles einzuordnen. Und es war nicht einmal so, dass ich definieren konnte, was Single wirklich bedeutete.

Single?

Ich parshippe jetzt! Die Fernsehwerbung kam mir sofort in den Sinn und ließ mich auflachen, was mich vor dem Mädchen wohl wie ein Spinner aussehen lassen musste. Und genau in diesem Augenblick fühlte ich, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn ansammelten, um mein Gesicht herunterzurollen. Es war ein heißer, sonniger Nachmittag, und als ich zur Bushaltestelle eilte, um meinen Bus nicht zu verpassen, war die sengende Hitze auf meinen Schädel geprallt und hatte mich in Nullkommanichts zum Schwitzen gebracht. Verfluchter Mist! Wie an jedem Mittwoch hatte ich einen nur kurzen Unterrichtstag in der Schule. Bevor ich nach Hause fuhr, spielte ich Fußball – nicht in einem Verein, sondern nur als Hobby. Danach ging ich zum Tennistraining in einen Tennisverein.

Ausgerechnet an diesem Tag hatte ich mein Trikot zu Hause vergessen und hatte deshalb mit meinen regulären Klamotten Fußball gespielt. Nun waren sie mit Schmutz und Schweißflecken unter den Achseln versehen.

Ich schaute kurz auf mein T-Shirt und meine Schuhe. Wie peinlich! Dennoch konnte ich nicht einmal erklären, warum ich mich plötzlich unbehaglich fühlte. Ich wusste nur, dass ich mich in meinem Erscheinungsbild alles andere als wohlfühlte.

Irre! Dass eine völlige natürliche Körperfunktion, die an einem heißen Tag zu erwarten war, sich plötzlich zu einer so peinlichen Angelegenheit verwandelte. Schweißperlen hatten mich noch nie gestört. Außerdem war der Mangel an Selbstvertrauen mir völlig fremd – egal, wie ich aussah.

Doch gerade jetzt, aus irgendeinem unbekannten Grund, war das Letzte, was ich brauchte, ein so süßes Mädchen, das neben mir stand.

Schamhaft senkte ich den Blick. Einfach so. Unerklärlicherweise wollte ich gar keinen Augenkontakt mit ihr aufnehmen. Tatsächlich wäre es auch die Lüge des Jahrhunderts, wenn ich sagen würde, dass ich mich in ihrer Gegenwart nur ein bisschen unwohl fühlte. In der Tat hätte es mir nichts ausgemacht, wenn mich der Boden lebendig an Ort und Stelle verschluckt hätte.

Jetzt mal im Ernst: Was könnte noch peinlicher sein, als sich neben einem makellosen Mädchen zu befinden, während man verwahrlost, verschwitzt und bis zu einem gewissen Grad nicht gerade aufmunternd roch? Na ja, es war nicht so, als hätte ich gestunken, aber ich hätte mit meinem Deo viel besser gerochen.

Aber warum wohl? Wieso schämte ich mich auf einmal dermaßen? Das ging über meinen Horizont. Sonst hatten doch meine Kumpels und ich nichts dagegen, verschwitzt und mit unserem fleckigen Fußball in einen Bus zu steigen. In gewisser Hinsicht fühlte es sich sogar irgendwie sportlich an. Und sportlich zu sein, war ziemlich cool. Oder?

Weit gefehlt!

Nicht an diesem Tag.

Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, dass irgendeine genetische Erkrankung meine Schweißporen sofort verstopfen würde. Ich verabscheute den dummen schmutzigen Ball, den ich in der Hand hielt und der mein T-Shirt befleckt hatte. Am liebsten hätte ich ihn in den Mülleimer gequetscht, aber er war zu groß dafür. Und das alles, weil sich mir ein so unverschämt gut aussehendes Mädchen genähert hatte – viel zu nah für meinen Geschmack. Vielleicht hätte es geholfen, wenn sie viel älter (wie eine Oma) oder viel jünger (wie ein Baby) gewesen wäre.

Der süße, verführerische Duft ihres Parfüms fegte mich fast von meinen Füßen. Noch bevor ich mich dem süßen Duft hingeben konnte, flötete das Hochglanzmädchen: „Hallo!“

Es war nur zu offensichtlich, dass ich die einzige Seele an der Bushaltestelle war. Trotzdem sah ich mich um, ob sie mich oder jemand anderen gemeint hatte.

„Was geht ab, Junge?“, schrie es gleich in mir. „Reiß dich zusammen!“ Diese unheimliche Stimme …

Ich gehorchte ihr dennoch und drehte meinem Kopf zu ihr.

Unsere Blicke trafen sich …

Ohne Frage wäre ich jetzt tot, wenn ein außergewöhnlich hübscher Blick töten könnte. Und das war nicht übertrieben, nicht einmal ansatzweise. Sie hatte etwas an sich, das mich komplett aus der Bahn warf. Eine umwerfende Lebendigkeit strahlte aus ihr heraus. So viel Energie konnte nicht gesund sein. Schon gar nicht an einem so heißen Tag.

Mit offenem Mund musste ich so verdutzt ausgesehen haben wie ein Hirsch im Scheinwerferlicht, als ob ich zwar das Wort Hallo! verstanden hätte, aber mir dennoch keinen Reim darauf machen konnte.

„Wie spät ist es?“, fragte sie und lächelte dabei orakelhaft – jedenfalls kam es mir so vor.

Und deshalb rauchte mir nun der Kopf: Lächelte sie über die Schweißperlen, die sich auf meiner Stirn bildeten, oder über mein fleckiges T-Shirt?

Demzufolge sah es so aus, als müsste ich ihre Worte erst einmal in eine Sprache übersetzen, die für mich verständlich war. Flüchtig kam mir ein Gedanke in den Sinn, den Schweiß vorerst mit dem Handrücken abzuwischen, aber dann wiederum wollte ich vor ihr nicht unhygienisch erscheinen. Als ob es mich interessiert hätte, an irgendeinem anderen normalen Tag. Mit einer unruhigen Handbewegung fischte ich das Handy aus meiner Hosentasche und schaltete es ein. Sie starrte mich weiterhin erwartungsvoll an. Plötzlich fühlte sich meine Kehle eng an. Ich hatte vergessen, wie man atmet. Meine Wangen erröteten und ich fing an zu stottern: „Äh … Äh…“ Meine Kehle blieb staubtrocken.

„Na klasse, Tyron! Das war ja jetzt sehr mutig und souverän!“, meldete sich umgehend meine unheimliche innere Stimme zu Wort.

Ach, du dickes Ei! Ich schluckte schwer, dann schaute ich noch einmal auf das Display meines Handys. Dennoch bekam ich die Zähne nicht mehr auseinander. Also streckte ich meine Hand aus und zeigte ihr das Display, damit sie selber sehen konnte, wie spät es war.

Sie nickte nachdrücklich und dankte mir. Aber dann wanderten ihre Augen über mein verschwitztes Gesicht zu meiner herabhängenden Jogginghose und wieder zurück.

„Schau weg!“, befahl ich ihr in Gedanken. „Schau weg, Mädchen!“

Ungewollt reagierte ich selber auf den Befehl: Ich schaute weg. Weg von ihren großen, funkelnden blauen Augen. Weg von ihren rosaroten Lippen. Weg von dem süßen Duft, der mich nur noch daran erinnerte, wie dringend ich eine Dusche brauchte. Trotzdem spürte ich ihren musternden Blick wie Glut auf meiner Haut. Ich fühlte mich wie ein kleiner verlegener Junge.

„Nie wieder!“, schwor ich. „Ich renne NIE, NIE wieder zu einer Bushaltestelle. Nicht, wenn es so glühend heiß ist.“

Dreckswetter!

Ehe ich mich jedoch völlig in diesem bizarren Gedankengang verlieren konnte, kam der Bus an die Haltestelle. Alles, was ich wollte, war mich schleunigst aus dem Staub zu machen. Doch dann sah ich aus dem Augenwinkel, wie die Schönheitsprinzessin ihr Ticket aus der Handtasche holte.

Der Bus hielt an, die Vordertür fast genau direkt zwischen dem Mädchen und mir. Ich zögerte und trat zurück. Das Mädchen dankte mir. Aber wenn es dachte, ich wäre ein Gentleman, dann lag es völlig daneben. Denn ich war nur ein großer Trottel – der vielleicht größte, der je auf einen Bus an dieser Haltestelle gewartet hat.

Ich war total angespannt. Ich wollte dieses Mädchen aus meiner unmittelbaren Nähe haben. Was nur bedeutete, dass wir nicht im selben Bus fahren konnten.

So beschloss ich, auf den nächsten Bus zu warten.

Was geht ab, Junge! Geht’s noch?

„Halt den Rand!“, flüsterte ich meiner inneren Stimme zu.

Trotz alledem konnte ich nicht umhin, ihre vollen, langen, leicht gewellten haselnussbraunen Haare, die ihr weit den Rücken herabreichten, zu bewundern. Diese Haare gehörten in eine Haarpflegewerbung!

Hingerissen heftete sich mein Blick an ihr Spitzentop und die passende kurze Jeanshose, die ihre langen Beine betonte. Er folgte ihr in den halb leeren Bus – das leichte Schwingen ihrer Hüften hypnotisierte mich buchstäblich. Entweder war der Catwalk natürlich oder sie wurde von der Fernsehshow Germany’s Next Topmodel beeinflusst. Wenn dann so was von. Doch es fügte ihrem Erscheinungsbild genau das gewisse Extra hinzu, das die Jungs aus meiner Klasse scharenweise dazu gebracht hätten, nonstop zu glotzen.

Mit offenem Mund.

Sobald der Bus losfuhr, kehrte die Normalität zurück. Ich konnte wieder normal atmen und wieder ein Junge in meinem Alter sein, der seinen Schweiß mit den Ärmeln seines T-Shirts gedankenlos abwischte.

Bald wurde ich von zwei Mitschülerinnen begrüßt.

„Hi Tyron!“, sagte Marie. „War das nicht gerade dein Bus?“

„Wieso … stalkst du mich etwa?“ Meinen Sinn für Humor fanden einige lustig, andere nervtötend.

Mir egal.

Doch das andere Mädchen zu vergessen, war leichter gesagt als getan. Ich hatte sie immer noch vor mir. Ihre tiefblauen Augen, in denen man sich verlieren konnte, strahlten mich an. Und dann dieser Catwalk.

Alles an ihr schien perfekt zu sein.

Gott musste in sehr guter Stimmung gewesen sein, als er sie erschuf.

*

2. Mittwoch, 20. Juni

Die weißen Samsung-Kopfhörer klebten an meinen Ohren und ein Rap-Song von Eminem spielte gerade, dem ich kaum folgen konnte.

Musste er immer so schnell rappen?

Egal. Ich war spät dran und musste zur Bushaltestelle.

Wieder ein heißer Nachmittag und die Hitze machte mir wieder zu schaffen. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Schweißtropfen von der Stirn, gerade als ich nach rechts zu meiner Bushaltestelle bog.

Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

Schlagartig hielt ich an. Ich konnte nicht weiterlaufen. Selbst aus weiter Ferne war sie unverwechselbar. Ich begann sogar, den süßen Duft von ihr außersinnlich wahrzunehmen. Und all dies, obwohl sie bereits längst in Vergessenheit geraten war. Ich hatte sie seit letztem Mittwoch nicht mehr gesehen. Plötzlich fühlte ich mich unwohl mit meinem schmutzigen Ball in der Hand.

Konnte es sein, dass sie jeden Mittwoch an dieser Haltestelle zur selben Zeit auf ihren Bus wartete? Der Tag, an dem ich Sport hatte!

Wie verhext wagte ich es nicht, weiterzugehen. Deshalb überquerte ich feige die Straße und lief zur Bushaltestelle schräg gegenüber, so als ob mein Zuhause plötzlich umgesiedelt worden wäre. Kurz darauf kam der Bus an. Ich stieg ein und fuhr in die falsche Richtung.

Dieses Mädel!

Um eines vorwegzunehmen: Ich bin weder ein schüchterner Junge noch sehr zurückhaltend, sondern ein Rotzlöffel – wie mich meine Schwester immer wieder nennt –, der immer einen lockeren Spruch auf Lager hat. Ich bin ein mutiger Klassensprecher, der sich auch immer traut, zu provozieren. Ein tapferer Schachspieler, der seine Konkurrenten gnadenlos überlistet. Und für die Freundinnen meiner Schwester bin ich der Clown, der die Mädchen zum Lachen bringt. Oder auch mal eine Labertasche, der mit endlosem Geschwätz nervt. Also, mich vor einem Mädchen unwohl zu fühlen?

Nööö! Nicht Tyron.

Aber ich war nicht mit Spontaneität gesegnet. Ich folgte sehr selten meinem Bauchgefühl. Ich war ein Schachspieler, der gut wusste, dass eine gründliche Vorbereitung wichtig war, ehe man sich seinen Herausforderungen stellte. Meine Schachlektionen hatten mich gelehrt, dass jeder, der besser vorbereitet war, einen bedeutenden Vorteil besaß.

Na also dann … Ich wusste genau, wie ich mich auf dieses Mädchen vorbereiten musste. Außerdem wusste ich, wann sie höchstwahrscheinlich wiederauftauchen würde. Dafür würde ich mehr als vorbereitet sein.

*

3. Mittwoch, 27. Juni

Man sagt, Kleider machen Leute!

Ich sagte: „So sei es denn!“

An diesem Mittwoch war ich aufgedonnert bis zum Abwinken. Eine Ausrede, nicht am Sport teilzunehmen, hatte ich parat. Und für einen Sportfreak wie mich war das ziemlich bitter. Der Ball blieb zu Hause. Zu guter Letzt hatte ich meines Vaters teures Eau de Cologne mit zur Schule genommen, um mich dann auf dem Weg zur Bushaltestelle damit ordentlich einzudieseln, die Tatsache ignorierend, dass es sein Geburtstagsgeschenk war, mit dem er besonders sparsam umging. Gelinde ausgedrückt war ich bestens vorbereitet für das schöne Mädchen.

Allerdings war ich von Natur aus kein Charmeur, der wusste, wie man die Damen umschmeichelt. Vielleicht steckte doch eine Wahrheit dahinter, dass Schachspieler Freaks waren und keine Intelligenzbestien.

Wie auch immer. Die Vorbereitungen reichten aus, um erfolgreich zu sein, auch wenn nicht eindeutig war, was genau die Zielsetzung sein sollte.

Die Kreuzung der Hauptstraße etwa fünfzig Meter weiter, die direkt zur Bushaltestelle führte, war aufgrund der gesperrten Autobahn mit dem Berufsverkehr überlastet und der Verkehr befand sich im Moment im Stillstand. Neugierige Augen beobachteten mich aus Autos, die mich zögern ließen, mich erneut zu parfümieren.

Egal jetzt! Ich entnahm das Eau de Cologne aus meinem Rucksack und besprühte mich großzügig fast überall. Eine Duftwolke folgte mir jetzt wie ein Schatten.

Eingesteckt hatte ich blaue Airwaves-Kaugummis, nur für den Fall, dass wir nahe miteinander sprechen sollten. Ich nahm gleich zwei davon in den Mund. Auf gar keinen Fall durfte ich ein Risiko eingehen.

Alles durchdacht? Yes, Sir!

Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen, als ich an der Bushaltestelle ankam. Doch irgendwie war sich mein vernünftiges Ich nicht ganz sicher, ob ich mir etwas Unterhaltsames einfallen lassen würde, wenn ich vor ihr stünde.

Ganz easy, Alter!

Daraufhin betrachtete mein Draufgänger-Ich es etwas lässiger. Mir kamen lustige Sprüche in den Sinn und ich rezitierte eine Reihe davon, wovon sicherlich jedes Mädchen sich vor Lachen kringeln würde. Im Grunde fühlte sich meine Vorbereitung irgendwie nice an, als würde man einem Franzosen zuhören, der diese romantische Sprache spricht.

Gleich dann entdeckte ich sie an der Kreuzung. Mit drei anderen Mädchen. Sie redeten aufgeregt. Als die Ampel rot wurde und die Autos zum Stillstand kamen, bemerkte ich, dass sie mich auch entdeckt hatten. Aber dann brüllten sie alle vor Lachen.

Shit! Das brachte mich aus meinem Konzept. Ich fragte mich, worüber sie nur kichern könnten. Meine gute Laune war in Windeseile von hundert auf null.

„Komm schon, Tyron, Stock und Stein brechen das Gebein, doch Worte bringen keine Pein“, schrie es gleich in mir. Auf gar keinen Fall! Das war mir zu viel und das konnte ich mir nicht bieten lassen.

Ohne Weiteres beschloss ich, nicht länger an der Haltestelle zu bleiben. Ich schulterte meinen Rucksack und lief weg – in Richtung nach Hause.

Zum Glück war es die letzte Schulwoche vor den Sommerferien und ich war froh, dass ich dieses Mädchen und ihre hinterhältigen Freundinnen für lange Zeit nicht mehr sehen musste. Von mir aus mussten wir uns nie wieder begegnen.

Lästig, ey!

*

4. Samstag, 14. Juli

Es herrschte großer Andrang bei der neuen Riesenachterbahn. Der reinste Wahnsinn, wenn man meine übervorsichtige Mom fragte.

In der Tat! Die wilden Loopings in schwindelerregenden Höhen, gekrönt von einer atemberaubenden Geschwindigkeit, waren nichts für schwache Nerven. Und das Tollste dabei: die ganzen Schreihälse, vor allem die Mädels, die so ohrenbetäubend kreischten, als ob sie um die Wette brüllten, wer die meisten Trommelfelle zum Platzen bringen würde.

Unter den faszinierenden Fahrgästen stand ich enthusiastisch an der Seitenlinie und beobachtete die Achterbahn beim Vorbeisausen, in die Höhe steigend und rasend nach unten stürzend mit einer Reihe verrückter Drehungen, Wendungen und sogar einer dreifachen Schleife. Mein Herz hüpfte derart ruckartig, dass ich fürchtete, es würde aus dem Brustkorb springen. Ich war schon ein kleiner Draufgänger, aber ich hatte es noch nie gewagt, so etwas Extremes zu fahren. Vor lauter Aufregung rutschte mir das Herz in die Hose.

„Ist ja echt der Hammer, oder?“, hörte ich eine wohlklingende Stimme an meinem rechten Ohr zwischen dem Geschrei der Fahrgäste. Ehe ich mich umdrehen konnte, um zu sehen, ob ich damit gemeint war, fesselte mich der vertraute süße Duft des Parfüms: sanft, angenehm, nicht penetrant, einfach klasse.

War der Duft jetzt in? Ach, Mädels! Sie imitierten jeden Trend buchstabengetreu. Dennoch konnte ich nicht anders, als meine Augen kurz zu schließen und in den Erinnerungen zu schwelgen, mit denen ich den süßen Duft in Verbindung brachte. Ein Film lief vor meinem inneren Auge ab: Ich hatte sie zum Lachen gebracht und sie war in meine Arme gefallen, lachend, mein Trikot mit ihrem süßen Duft umhüllt. Zumindest wäre es so gelaufen, wenn sie sich nicht entschieden hätte, über mich zu tratschen und sich mit ihren verleumderischen Freundinnen auf meine Kosten zu amüsieren und mich auszulachen.

Aber vielleicht hatten sie nicht über mich gelästert.

„Doch!“, entgegnete meine felsenfest überzeugte innere Stimme. Anscheinend kannte sie die Mädchen nur zu gut. Verträumt öffnete ich die Augen und riss meinen Blick von der Achterbahn, um in Richtung Stimme zu schauen.

Ich hyperventilierte. Das Mädchen von der Bushaltestelle stand direkt neben mir. Ich hatte nicht im Geringsten erwartet, sie zu treffen. Sie sah mich zwar nicht direkt an, aber sie schien da allein zu stehen.

Hatte sie zu sich selbst gesprochen?

Als ob sie meine Gedanken gelesen hätte, lächelte sie und strahlte mich mit ihren makellos weißen Zähnen an. Am liebsten hätte ich meine Zahnspange herausgerissen.

„So ein Zufall, was?“, ertönte ihre Stimme sanft wie eine Feder.

Innerhalb eines Wimpernschlags umhüllte mich ein Gänsehautfeeling am ganzen Körper. „Ja.“ Schüchtern wich ich ihrem Blick aus.

„Echt jetzt? Ja?“, meldete sich meine innere Stimme.

Tatsächlich war „Ja“ alles, was mir einfiel, nachdem ich mir die potenziellen Szenarien ganz konkret ausgemalt und die reizvollen Witze gedanklich durchgespielt hatte. Aber wie erwiderte man humorvoll auf: „So ein Zufall, was?“

Grübel! Schnell!

Komm schon, etwas Lustiges einfallen lassen.

Jahaa … Diese Stimme. Ätzend.

Auf einmal konnte ich mich an keinen einzigen Witz mehr erinnern. Dabei hatte ich sonst ganz viele auf Lager. Es war, als wären sie alle aus meinem Gehirn heraus verdampft.

WTF! (What the punkt, punkt, punkt! – ein Tabuwort)

„Bist du sie schon gefahren? Oh mein Gott! Ob ich mich traue …?“, flötete sie mit ihrer typischen Singsang-Stimme.

„Ähm … Ja“, schwindelte ich und vermied dabei absichtlich, ihr direkt in die Augen zu schauen. Mehr kriegte ich auch nicht heraus. Ich steckte meine Hände halbwegs in meine Hosentaschen, um wenigstens cool auszusehen. Im Grunde genommen mussten coole Leute nicht so viel reden, sie zogen einfach Aufmerksamkeit auf sich.

Bemüht ließ ich den Dialog ein wenig fließen – nicht besonders wortgewandt, aber immerhin. „Hihi“, lachte ich beiläufig, die Schulter hochgehalten, um noch cooler und gelassener auszusehen. Jedoch ließ ich mir mein übertrieben vornehmes Getue nicht anmerken, denn die Angst vor der Achterbahn fraß mich innerlich auf wie ein Parasit. Und ich wäre sie nur mit meinem Vater gefahren, einem unübertrefflichen Adrenalinjunkie. Wie in Trance sprangen mir die Worte aus dem Mund. „Das hier ist nichts im Vergleich zu dem, was ich letzten Sommer gefahren bin.“

„Du lügst!“ Meine Stimme holte mich in die Realität zurück. Ich schmeckte den bitteren Nachgeschmack dieser Lüge und schämte mich ein wenig. Wie konnte ich nur das Maul so weit aufreißen?

„Echt?“, erwiderte sie und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wooow!“, warf sie ein und grinste dabei.

Wenngleich das ja eigentlich ein unverdientes Wow war, verbuchte ich ihren Enthusiasmus als einen kleinen Erfolg. Sie hatte mir eben das Gefühl gegeben, ein kleiner Held zu sein. Unverzüglich tauchte mein Schamgefühl unter.

„Ich wollte erst mal einen Blick darauf werfen, bevor ich mich doch traue“, gab sie zu. „Aber ich weiß es nicht …“

„Du brauchst keine Angst zu haben. Das hier ist harmlos.“ Nanu! Ich wurde immer dreister. Warum verhielt ich mich plötzlich so seltsam?

Für einen Augenblick blieb die knallbunte Achterbahn kurz in der Luft stehen, bereit, mit über hundert Sachen durch die Luft zu wirbeln. Das Mädchen reagierte dementsprechend, indem sie die Augen schloss und ihren Kopf neigte, der zufällig auf meiner Schulter landete.

Ich blickte nicht mehr durch. Der Körperkontakt fühlte sich anders an – elektrisierend. Der kombinierte Duft des Haares und des Parfüms, der von ihr ausging, hatte eine selten sinnliche Note. Alles in allem fühlte es sich an wie im Paradies.

Im Grunde hätte es sich sonst wie ein Eingriff in meine Privatsphäre angefühlt, aber dieses namenlose Mädchen erwies sich als eine magische Kraft, die in der Lage war, einen atemberaubenden Moment hervorzurufen. Von mir aus hätte dieser schöne Moment für den Rest des Tages andauern können. Nur, dass es sich langsam ein wenig unangenehm für meine Haltung anfühlte. Denn in meinem Bemühen, cool auszusehen, hatte sich meine Schulter verrenkt. Nun konnte ich sie nicht mehr in die normale Position senken aus Angst, dass sie dächte, ich wollte sie abschütteln.

Als die Achterbahn zum Stillstand kam und das ohrenbetäubende Geschrei der Fahrgäste nachließ, öffnete sie die Augen und sah mich überrascht an. „Oh, es tut mir leid“, entfuhr es ihr.

Überhaupt kein Problem! Ich lächelte sie an und bewahrte die stille Verbundenheit und Kameradschaft, die ihr inzwischen den Eindruck vermittelt haben musste, als wäre sie meine besondere Eigenschaft. „Was wäre, wenn ich neben dir sitzen würde?“, raunte sie fragend und erklärte gleich hinterher, weshalb. „Meine Mutter traut sich nicht und ich will nicht alleine fahren.“

Das klang wie eine richtig coole Melodie in meinen Ohren. Zum einen war so eine Schönheit begierig darauf, neben mir zu fahren. Quatsch, das Kind beim Namen nennen: Die Melodie war, dass ich neben ihr sitzen durfte.

Lustigerweise wusste ich nicht einmal, was mich erwartete, wenn ich neben ihr säße. Ich hatte schon neben vielen Mädchen gesessen und es gab absolut nichts, was mich hätte erregen können. Aber andererseits war ich nie um Worte gegenüber anderen Mädchen verlegen und würde mich normal verhalten und entsprechend auf den Dialog reagieren. Ein Schmunzeln spielte um meinen Mundwinkel. „Können wir“, gab ich kleinlaut von mir.

„Cool.“

Aufgeregt drehte ich mich zu meiner Schwester Yolly, die mit meinen Eltern auf einer Bank ein paar Meter entfernt saß. Ich schnipste mit den Fingern, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. „Komm mal her“, forderte ich sie auf, mehr oder weniger mit mir selbst sprechend, denn meine Stimme war von der umgebenden Geräuschkulisse verschlungen worden.

Yolly eilte herbei. „Wat ist?“, fragte sie in einem Berliner Dialekt und nickte zu dem Mädchen. „Wer ist sie?“

„Ich kenne ihren Namen nicht“, flüsterte ich ihr zu. „Ich lade dich zu der ersten Fahrt ein … Aber ohne Paps“, fügte ich schlicht hinzu.

Ein freches Grinsen pflasterte sich auf ihre Lippen. „Seit wann traust du dich alleine? Oder willst du angeben?“, hinterfragte sie mich interessiert. Ihr misstrauischer Blick huschte zwischen dem namenlosen Mädchen und mir hin und her.

Für meinen Geschmack hatte sie so schnell zwei und zwei zusammengezählt. Nun hatte ich Bedenken, dass sie es gegen mich verwenden könnte. Aber wehe, wenn das namenlose Mädchen gehört hatte, was sie gerade gesagt hatte, dann würde das ein Nachspiel haben. Denn ich wollte nicht angeben, eher vielleicht das Mädchen beeindrucken. Sie brauchte aber nichts von meinen Absichten zu wissen.

Wenn sie es überhaupt gehört hatte, dann ließ sie es sich nicht anmerken.

Die Warteschlange verkürzte sich und wir waren am Schalter an der Reihe. Das Mädchen hatte schon seine Fahrt bezahlt und wartete nun auf uns – eher auf mich.

Zu Yollys Bestürzung nahmen das Mädchen und ich den vordersten Wagen, der nur zwei Sitzplätze hatte. Yolly stieg in den Wagen direkt hinter uns ein. Kurz darauf beugte sie sich nach vorne und flüsterte mir ins Ohr und schwor mir, dass dieser Akt des Verrats ewige Folgen haben würde. Anschließend stupste sie mich in den Rücken, als wollte sie damit andeuten, dass dies erst der Anfang der Konsequenzen war.

Normalerweise hätte ich versucht, mich einzuschmeicheln, aber sobald sie wieder aufrecht in ihrem Sitz saß und ich meinen Kopf zu dem Mädchen drehte, das mich jetzt anlächelte, lösten sich die Drohungen meiner Schwester in Luft auf – wie bei einer Zaubershow.

Die Sicherheitsbügel der Achterbahn rasteten ein. Man hörte ein Klackern, während die Achterbahn nun langsam den steilen Berg hochgezogen wurde. Da packte mich das Mädchen am Arm – Gott sei Dank trug ich ein kurzärmeliges T-Shirt. Und die Welt schien so frei zu sein. Einfach fantastisch.

Noch am Anfang des Jahres wäre ich sogleich zum nächsten Wasserhahn geflitzt, um die Mädchenpest abzuwaschen. Diesmal traute ich mich sogar und legte meine freie Hand auf ihre. Fast augenblicklich zog ich meine Hand zurück, versuchte, meine Situation irgendwie einzuschätzen, und merkte, wie meine Angst fast bis ins Unermessliche stieg. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich an der Sicherheitsvorrichtung mit aller Kraft festzuklammern. Dafür brauchte ich meine beiden Hände.

Kaum hatten wir die erste Schleife überwunden, vergaß ich das Mädchen ganz und gar und fluchte, was das Zeug hielt. „Fuck … Shit“, entfuhr es mir. Eigentlich No-Go Wörter. Ein Achterbahnlooping und schon rutschten mir eine Reihe Flüche über die Lippen.

Parallel dazu erinnerte mich das namenlose Mädchen an seine Gegenwart, als es auch aus Leibeskräften schimpfte und seine Hand an meinem Arm festkrallte, so als wollte es seine Finger unter meiner Haut verbuddeln.

Die Achterbahn hielt kurz an, wobei unsere Köpfe nach unten gerichtet waren. Sie fuhr vorerst langsam, als ob wir erst einmal unsere Lungen mit genügend Luft für die nächsten Schimpfwörter und das Gebrülle füllen sollten.

Es folgte dann eine rasante Abfahrt mit scharfen Kurven und zwei hintereinander folgenden Loopings. Die Mitfahrer jauchzten und kreischten wie Brüllaffen. Yolly, die direkt hinter mir saß, schien entschlossen, mit ihrem heftigen Geschrei ein Loch in meinen Hinterkopf zu bohren. Wenn man eine Medaille für den größten Schreihals gewinnen könnte, sie wäre die Topfavoritin gewesen.

„Mist! Ich bin echt ein Narr! Wie konnte ich nur zu dieser verrückten Fahrt antreten?“, fuhr es mir durch den Kopf.

An meinem linken Ohr wurde es heftig, als das namenlose Mädchen sich die Seele aus dem Leib schrie und an meinem Arm zog. Mir gefiel das alles nicht mehr, insbesondere der Teil, in dem es an meinem Arm zerrte. Denn ich versuchte panisch, den Schwung der Achterbahn auszuhalten, und das Mädchen war dabei, meine Bemühungen zu vereiteln. Das war nicht lustig.

Ehrlich gesagt, wusste ich das nicht wirklich zu schätzen. Um dem die Krone aufzusetzen, war mir auf einmal kotzübel. Ein- oder zweimal dachte ich sogar, dass es zu Ende mit dem Leben ginge. Je mehr meine Hand angezogen wurde und sich das Geschrei in meinen Schädel bohrte, desto mehr war ich davon überzeugt, dass es kein Happy End geben würde.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war die Fahrt vorbei. Mit zitternden Beinen, die sich wie weiche Nudeln anfühlten, stiegen wir aus der Achterbahn.

„Nie, nie wieder!“, rief das namenlose Mädchen. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und die Augenpartie war purpurrot übergossen, als würde sie in Flammen stehen. Es drehte sich um und winkte einer älteren Dame zu, wahrscheinlich seine Mutter, dann wandte es sich an uns.

„Ich muss weiter … Übrigens, ich heiße Lilly“, stellte sie sich vor.

„Yolly“, erwiderte meine Schwester, die sich von der Fahrt kaum erholt hatte. „Lilly mit i oder y am Ende?“

„Mit y.“

„Tyron“, verriet ich ihr meinen Namen.

„Schöner Name.“

Ich fühlte mich geschmeichelt.

„Mit e oder ohne am Ende?“

„Ohne e am Ende. Wie Mike Tyson, nur mit r anstatt s.“

„Also, du heißt Mike Tyron?“

„Hihihi … Nein, ich heiße nicht Mike. Mein Vorname ist Tyron. Ich meinte nur, weil sich unser Name reimt“, gab ich ihr zaghaft zu verstehen.

„Ach, okay.“

„Sorry, du kennst Mike Tyson sicherlich nicht“, entfuhr es mir.

Sie brachte ein sanftes, zögerliches Lächeln hervor. „Der Ohrenbeißer? Ich kenne ihn nicht, aber ich habe von ihm gehört.“

Ich konnte nicht anders, als breit zu schmunzeln, was ihr einen grandiosen Blick auf die Zahnspange ermöglichte, mit denen meine Zähne verdrahtet waren.

„Bist du ein Boxfan?“, fragte ich. „Du siehst nicht so aus …“, rutschte es mir viel zu schnell heraus. Sogleich presste ich meine Lippen fest zusammen. Mist! Ich erkannte gleich, dass es falsch rüberkommen könnte, und bemühte mich um Schadensbegrenzung. „Ich meine … ich meine es nicht sexistisch … Ich meine, ähm … du hast eher das Aussehen eines Fotomodels.“ Das meinte ich todernst.

„Ohhhh, Dankeschön!“, reagierte Lilly, während sie meine Hand berührte. „Du bist ja auch …“ Ausgerechnet da, als sich die Richtung, in die das Gespräch verlief, als vielversprechend erwies, wurden ihre Worte von einer schallenden Ankündigung verschluckt.

Ich schwor, wenn ich nicht erfuhr, was sie sagen wollte, würde ich Anklage gegen den Park erheben. Also lehnte ich mich nach vorne und rief ihr halbschreiend und inmitten des Geschreis, das jetzt überall um uns herum war, ins Ohr: „Was wolltest du sagen?“

Das Reden im lärmenden Wahnsinn brachte kein nützliches Ergebnis. Vielleicht deshalb berührte sie mich mit einem leichten Druck am Ellbogen, als wollte sie mich ermutigen, zu einem ruhigeren Ort zu gehen. Das gefiel mir sehr.

Yolly sah mich an, als wollte sie sagen: „Hallo!“ Das Hallo, das sie stets sagte, wenn sie andeuten wollte, dass sie etwas für bekloppt hielt, was ich vorhatte.

Bekloppt hin oder her: Ich war bereit, dorthin zu gehen, wo Lilly mich hinführen wollte. Obwohl ich sie kaum kannte, schien es das Richtigste zu sein, mit ihr zu reden. Deshalb tastete ich meine Hosentaschen ab. Mein Handy war intakt, was quasi bedeutete, dass ich absolut kein Problem damit haben würde, meine Familie zu bitten, ohne mich weiterzumachen. Wir würden uns per Whatsapp wiederfinden. Gerade in dem Moment, als ich Yolly meine Entscheidung, sie später zu treffen, bekannt geben wollte, tauchte aus dem Nichts die Frau auf, die Lilly ähnelte. Währenddessen ließ der laute Lärm nach.

„Sag tschüss, Lilly. Wir müssen weiter“, sprach die Frau Worte, die völlig fehl am Platz waren.

Wie jetzt, sag tschüss? Das gab’s doch nicht!

Doch! Lilly wandte sich stirnrunzelnd an mich. „Tja, irgendwann wirst du erfahren, was ich dir sagen wollte.“

Schon schaffte sie es wieder, mich in den Zustand der Sprachlosigkeit zu versetzen.

Sollte ich nach ihrer Nummer fragen?

Zu spät. Sie streckte ihre Hand aus, um sich zu verabschieden, und ich pinselte mir ein Lächeln ins Gesicht. Innerlich war ich nicht mehr happy.

Nachsichtig beugte sie sich zu mir vor. Ich spürte den Hauch ihres Atems auf meinem Ohrläppchen. Ein warmer Schauer brutzelte mir die Wirbelsäule hinauf. Herrlich. „Ich weiß, wo ich dich am Mittwochnachmittag nach den Ferien treffen kann“, hörte ich ihre wohlklingende Stimme. Sie zog ihren Kopf zurück und grinste vergnügt.

Das ließ ich mir erst mal auf der Zunge zergehen. Es klang nach einem sehr soliden Versprechen. Darauf konnte ich mich eigentlich verlassen. Es verschlug mir jedoch gleich die Sprache, als wäre meine Zunge verknotet und ich konnte ihr nur mit dem Kopf zunicken.

Als ich ihren Rückzug großäugig beobachtete, hätte meine Freude genug Energie ausstrahlen können, um den Vergnügungspark mit all seinen Attraktionen für die restlichen Stunden zu betreiben.

„Hat es dir die Sprache verschlagen, Bruderherz?“, brummte Yolly.

„Ich weiß nicht, aber ich verstumme, wenn sie in meiner Nähe ist. Warum ist das so?“

„Oh nein … Das heißt Lampenfieber, Brüderchen?“

„Willst du mich rollen?“

Sie prustete los. „Ach nein, ich hab mich versprochen. Du hast Gynophobie.“ Sie bedeckte überraschend ihren Mund. „Au weia, ich hätte das nicht von dir gedacht.“

Auf keinen Fall. Egal welches Wort, das mit einer Phobie endete, konnte mir nicht passen. Ich war furchtlos. Wohl aber warf mich das erste Wort Gyno aus der Bahn. Denn ich wusste von den Besuchen meiner Mom bei einem Gynäkologen und der Untersuchung an …

Oh mein Gott, bedeutete das, dass ich Angst hatte vor …

Ich weigerte mich, das Wort weiter zu denken, und packte Yolly am Arm. Ich brauchte eine deutliche Aufklärung. „Was meinst du, ich habe Gynophobie?“

Eine warme Brise zerzauste ihre Haare, ehe sie mir antwortete. „Du hast keine Angst vor Mädchen, aber du hast dich ziemlich komisch benommen. Wie lange kennt ihr …“ Die scheppernde Ansage schluckte ihre Worte und alles, was sie nun tat, war, mich am Ellbogen zu packen. Wir machten uns vorm Acker.

Zum ersten Mal während der Schulferien freute ich mich darauf, wieder zur Schule zu gehen.

Mmhh … noch sechsunddreißig Tage.

*

5. Sonntag, 22. Juli

„Hatschi!“, nieste ich gerade, als mein Vater und ich uns dem Auto näherten. Dabei veranstaltete ich einen Riesenlärm und schleuderte den Rotz auf die Motorhaube.

Meine Mom hätte gleich ironisch dazu gesagt: „Na, lecker!“ Sie war aber nicht dabei.

Tja, Pollenallergie nannte man das.

Brauchte aber kein Mensch.

Zunächst blieb Paps an Ort und Stelle wie angewurzelt stehen und blickte auf diese Sauerei, die durch die plötzliche Niesattacke ausgelöst worden war. Sein Blick sprach Bände. Zumal ich nicht entsprechend zu reagieren schien und auf meinen Ellbogen oder in ein Taschentuch nieste.

Ich nahm es mit Humor.

„Gesundheit“, sagte er stirnrunzelnd.

„Hoppala!“, zischte ich fast zur selben Zeit. „Ha … Haaa … Hatschi!“ Blöde Pollen! Diesmal war ich jedoch flink wie ein Wiesel und nieste in ein Taschentuch.

Außer dass der Pollenflug mich zu schaffen machte, fühlte ich mich stark und selbstsicher, um meinem Gegner viel Ärger auf dem Schachbrett zu bereiten. Darüber hinaus freute ich mich auf den kommenden Wettkampf. Ich war sehr entschlossen, wieder mal für ein gewaltiges Spektakel auf dem Schachbrett zu sorgen.

Dabei hatte der Tag so wunderbar begonnen, ausnahmsweise traumhaft, einer der schönsten Sommertage, die wir seit Beginn der Sommerferien hatten. Die Temperatur lag nachmittags um die dreißig Grad und wie dicke Wattebäusche schwebten weiße Wolken träge am blauen Himmel. Alles schien entspannt und unbeschwert, quasi ein zwangloser und lockerer Tag, um lediglich nichts anderes zu tun, als die Hände in den Schoß zu legen.

Und wie es sich gehörte, nutzten die Leute das weidlich aus – und das zu Recht: weit und breit Grilldüfte und Open Air-Veranstaltungen und aufgeregtes Geschnatter. Etliche Cabrio-Autos fuhren die Straße entlang und die unbekümmerten Insassen ließen ihre Haare schön im Wind flattern. Auf jedem Spielplatz sah man, wie die Kinder tobten und rasten, was das Zeug hielt – einige hatten sogar Spaß, um über Wassersprenger zu springen.

Allerdings zum Brüllen lustig war, wie zwei kleine Windelträger sich von ihren Eltern und Windeln losrissen und wegrannten, so wie Gott sie schuf. Es schien jedoch niemandem viel auszumachen. Anscheinend war alles erlaubt, egal ob es nach Leichtsinn oder Schwachsinn aussah, Hauptsache, es machte Spaß und heizte die Stimmung an. Was für ein Glücksgefühl! Der blanke Sommerwahnsinn! Bis in die Puppen feiern!

Das Dumme daran war nur, dass ich bloß ein zufälliger Beobachter war und diesem Sommerwahnsinn nicht angehörte. Ich saß bereits im Auto auf dem Weg zum Ortsteil Lichtenberg in Berlin und konnte deshalb nichts weiter tun, als nur die Leute beobachten – und teilweise zu beneiden.

Paps nahm die Ausfahrt Richtung Flughafen Tempelhof. Auf der Berliner Straße liefen gut gelaunte Spaziergänger in knapper Kleidung und mit Handys im Kameramodus, bereit viele Selfies zu schießen, ziellos herum. Sie schienen keine einzige Sorge auf der Welt zu haben, außer den seltenen sonnigen Tag zu genießen. Am liebsten wäre ich Teil dieser Gruppe und würde mit nacktem Oberkörper auf meinem Waveboard die Straße entlang fahren.

Ach, völlig wurscht jetzt. Es machte auch – bis zu einem gewissen Grad – Spaß, den Sommerwahnsinn aus nächster Nähe unter die Lupe zu nehmen. Ich bemitleidete die Unglücksraben, die zur Bushaltestelle eilten, dabei wischten sie sich den Schweiß von den Gesichtern und schienen die Hitze zu verfluchen. Tja, es war ja auch ein blöder Tag, um sich zu beeilen. Und ich konnte das aus praktischer und peinlicher Erfahrung sagen.

Wir mussten uns beeilen. Wir erwischten ständig nur die Rotphase der Ampeln, die lange brauchten, um grün zu werden. Die Zeit wurde immer knapper.

„Neeein … Nicht schon wieder!“ Paps schäumte, als er zum x-ten Mal auf die Bremse trat. Seine Stimme hatte einen besorgten Unterton. Er war selbst schuld, dass er sich mit der deutschen Überpünktlichkeit nicht abfinden konnte. „Scheißampel.“

„Na, na, na …“, reagierte ich vorbildlich.

„Ups! Das war unter aller Sau.“

„Heeey!“, höhnte ich und zog ein Gesicht – eine Nummer, die jeden davon überzeugt hätte, dass ich ein Role-Model war.

Von wegen. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, hatte ich die Ampeln stumm beschimpft. Mit schlimmen Schimpfworten, die ich in der letzten Zeit immer wieder aufschnappte. Aber da meine Eltern großen Wert auf die Verwendung von unschuldigen Vokabeln legten, riss ich mich zusammen.

Offen gestanden, hasste ich Paps’ Unpünktlichkeit. Es machte mich oft nervös. Wie so viele Male in der Vergangenheit machte ich mir Sorgen um die Zeit und drückte mir wortwörtlich fest die Daumen, damit wir es noch rechtzeitig zu dem Schachturnier schafften.

Ich ließ meinen Blick über die andere Straßenseite zu den Bauarbeitern schweifen. Es schien ihnen herzlich egal zu sein, ob sie hitzefrei bekamen oder nicht, denn sie waren gut ausgerüstet: Eisgekühltes Wasser und Sonnencreme lagen in greifbarer Nähe. Allerdings verrieten ihre trägen Bewegungen, dass es doch ein Tag war, um nichts Ernstes zu unternehmen, lieber unter den glücklichsten Menschen am Strand zu sein und Wassereis oder eiskalte Cocktails zu genießen.

Nach schätzungsweise einer halben Ewigkeit kamen wir an. Die Schranke zu der Hochschule für Technik und Wirtschaft ging auf und gab uns Zugang zum Parkplatz, wo ein süßer Geruch nach Barbecue bis zu uns herüberwaberte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, trotz der Tatsache, dass mein Bauch voll war. Ich liebte diesen rauchigen Grillduft.

Unwiderstehlich!

Als wir vom Parkplatz zur Spielhalle liefen, sprangen kleine süße Kaninchen um die Büsche herum, während die Vögel in den Ästen sangen. Die Müßiggänger saßen auf dem frisch gemähten Rasen und beobachten die putzigen Tiere.

„Könnte Lilly sich eine Schachpartie ansehen wollen?“, fragte ich mich. Ich verwarf den Gedanken an Lilly gleich wieder. Der Kampf der Köpfe, den ich bald führen würde, erforderte einen klaren Verstand. Ich liebte diesen Sport, diese Kunst, in der man den Gegner unterwarf, mit Strategien ausmanövrierte, mit Taktiken überlistete.

Die Doppelflügeltür aus Massivholz zu dem großen Saal, in dem das Turnier stattfand, öffnete sich mit Wucht und ich trat hindurch. Paps folgte mit einigen Schritten Abstand.

Sobald die Türen geschlossen waren, verschwand die Herrlichkeit des Sommerwahnsinns außerhalb des Spielsaales und ich wurde von der majestätischen Schachwelt verschlungen. Ein Raum mit gleichmäßig verteilten Tischen, die Partien überall in vollem Gange und die Köpfe rauchten. Die Spieler verhielten sich wie üblich mucksmäuschenstill, Augen auf den Schachbrettern, mit den kleinen weißen und schwarzen Schachfiguren. Enthusiasten, Fans und Schiedsrichter beobachteten die fortlaufenden Kriege. Man konnte Lampenfieber und Angespanntheit der Spieler spüren. Und das war völlig legitim. Bei den Schachturnieren war ich selbst gespannt wie eine Wäscheleine und in freudiger Erwartung der Partien.

Im Handumdrehen wurde es mir klar, dass ich mehr Spaß haben würde, als die kleinen Kaninchen in den Büschen zu ärgern, wenn ich ihnen hinterherjagte. Mehr als einmal verspürte ich den Drang, eines der laufenden Matches zu beobachten, aber ein Brett mit sorgfältig zusammengestellten Schachfiguren wartete auf meine zehn Minuten zu späte Ankunft.

Wenig überraschend, denn beim Schach handelt es sich doch um den einzigen Wettkampf – soviel ich weiß –, bei dem den Spielern eine Karenzzeit gegeben wurde. Verspätung war kein Grund für eine automatische Disqualifikation oder ein verfallenes Spiel. Deshalb machte niemand eine große Sache draus, dass ich zu spät kam.

Auf der linken Seite des Raumes, direkt neben einer Fensterbank, fand ich meinen eigenen Tisch. Die Schachuhr war bereits vom Schiedsrichter gestartet worden, denn mein Gegner war noch nicht aufgetaucht. Noch ein Nachzügler, der, wie mein Vater, mit dem gleichen Nachzügler-Boot segelt?

Denn wenn es eine Person gab, die nie pünktlich loslegen konnte, dann war es mein Vater. Er war ein berüchtigter Last-Minute-Man. Selten waren wir pünktlich, es sei denn, meine Mom, die ungern irgendetwas den Zufall überließ, fuhr mit ihrer Überpünktlichkeit, einer positiven deutschen Eigenschaft.

*

6. Kurz nach 15 Uhr