Karl-Markus Gauß

Die Bibliothekarinnen von Renens

REDEN

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1260-3
eISBN 978-3-7013-6260-8

© 2018 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan
Cover: Leopold Fellinger

Inhaltsverzeichnis

Die Geselligkeit freier Menschen.

Vom Reden zur Rede

I

Wider die europäische Ohnmacht.

Die Lehre der kleinen Nationalitäten

Die Roma und wir.

Zum Internationalen Tag der Roma

Die neue Teilung Europas.

Über das Desinteresse an uns selbst

Eine glückliche Fügung.

Rede für Salzburg

Die Bibliothekarinnen von Renens.

Zur österreichischen Buchmesse im Herbst 2017

II

Wider die Ortlosigkeit der Kunst.

Zur Verleihung der Salzburger Kunstpreise

Vom Aufbruch.

Zur Eröffnung der Innsbrucker Festwochen für Alte Musik

Tourist und Flüchtling.

Festrede zu den Barocktagen von Melk

Die Musik der Straße.

Zur Eröffnung der Hofhaymer-Tage

Wie viel sind 12.000 Euro?

Zur Verleihung des österreichischen Kunstpreises

III

Die literarische Mehrkampfmeisterin.

Berliner Rede auf Ilma Rakusa

Nicht gelenkte Demokratie, sondern Demokratie!

Ljudmila Ulitzkaja zu Ehren

Der Körper, unsichtbar und omnipräsent.

Die saudiarabische Erzählerin Raja Alem

Rausch, aber mit Disziplin und Methode.

Laudatio auf Max Blaeulich

Aufklärung und Verzauberung.

Laudatio auf Peter Stephan Jungk

Vom Ermöglichen und vom Verhindern.

Rede für Siegbert Stronegger

Michael Guttenbrunner

Eine nicht gehaltene Rede

Die Geselligkeit freier Menschen

Vom Reden zur Rede

Vielleicht fing es damit an, dass ich immer der Jüngste und Kleinste war. Ich hatte drei ältere Brüder, die über Dinge sprachen, von denen ich nichts verstand, und in der Gegend, in der wir aufwuchsen, liefen lauter raue Buben herum, die mich umstießen, zur Seite schubsten, verscheuchten. Sicherlich wird es in der Vorstadtsiedlung, die zum wachsenden Raum meiner Selbsterkundung wurde, auch Gleichaltrige und Jüngere gegeben haben, aber die fielen wiederum mir nicht auf, und auf die Idee, mich zu ihnen zu gesellen und mit ihnen die unserem Alter gemäßen Spiele zu spielen, bin ich nicht gekommen. Nein, so weit ich mich zurückerinnern kann, war ich von jeher darauf aus, mich unter den Älteren zu bewähren und mich in ihrem Kreise zu behaupten. Ich ging noch nicht zur Schule, da hatte ich bereits etwas gefunden, das mir ihre Aufmerksamkeit sicherte, und da ich sie, die zwei oder mehr Jahre vor mir geboren wurden, nicht an Jahren einholen und so groß, stark, geschickt wie sie werden konnte, musste es etwas Anderes sein, das mit körperlichen Kräften nichts zu tun hatte, ja diese ersetzte und in gewissem Sinne sogar überbot. Es war das Mundwerk, in dem ich mich wie von selbst ausgebildet hatte, die Fähigkeit, mit schnell gefundenen frechen Worten und treffenden Bemerkungen meine Anwesenheit zu bezeugen und zuerst beachtet, dann geachtet zu werden. Dazu kamen bald die haarsträubenden Geschichten, die ich erzählte, früh darauf versessen, dass man mir zuhöre, und von denen die Übelwollenden unter den Erwachsenen, als zeuge es von meinem fragwürdigen Charakter, geradezu verärgert sagten, es wären nichts als Räuber- und Lügengeschichten.

Wenig hat mich als Kind so angetrieben wie der Wunsch, mir meinen Platz in der kleinen Welt der Siedlung redend zu erobern, und bei keiner Sache war ich so erfolgreich wie in diesem Streben. Der Beifall, der mir für meine Schlagfertigkeit gezollt wurde, zu der auch die Ruchlosigkeit gehörte, Stärkere in ihren Schwächen bloßzustellen, war mir der liebste, den ich bekommen konnte. Meine heroischen Taten wollte ich durchaus als Maulheld bestreiten, und tatsächlich verstehe ich bis heute nicht, wie man den Charakter des Maulhelden so ins Verächtliche wenden kann, ist er doch einer, der sich nicht ins Gefecht der Waffen und Körper wirft, sondern versucht, seine Sache mit nichts als Worten zu verfechten. Wie hätte ich, der körperlich Schwächere, mich anders als Held erweisen können als dadurch, dass ich mich furchtlos unter die Größeren stellte und einzig mit meiner Rede für mich einstand? Prügel setzte es genug, denn mancher, der mir an Kräften weit überlegen war, aber sich gegen meine Sprüche nicht zu verteidigen wusste, hat sich jäh auf mich gestürzt und mich in einer kurzen wüsten Rauferei niedergerungen; dieses Sieges konnte er aber nicht froh werden, war er doch das Eingeständnis, dass er meiner anders als mit roher Gewalt nicht Herr zu werden wusste.

Ich konnte darauf vertrauen, dass es mir nie die Rede verschlagen wird, und dieses, fast möchte ich sagen, Urvertrauen hat mich nicht gerade unverwundbar gemacht, aber doch mutiger, als es meinem ängstlichen Naturell entsprach. Was immer mir an Bösem widerfahren würde, ich wusste, dass mich die Fähigkeit, es am Ende immerhin mit einem geringschätzigen Wort abzutun, nicht verlassen werde. So habe ich meine Persönlichkeit gewissermaßen redend entwickelt und die Welt redend zu der meinen gemacht.

Die Beredsamkeit hat ihr humanes und ihr gefährliches Potential. Zu einer freien Gesellschaft, wie ich sie mir vorstelle, gehört die Geselligkeit des offenen Gesprächs; aber es muss ein Gespräch zwischen Freien sein, und nicht eines, in dem die Leute einander übers Ohr hauen oder jene Gewalt zufügen, die nicht strafbar, aber grausam ist wie deren handgreifliche, hierarchische, bürokratische Varianten. Die Reden, die ich viel später, eigentlich erst seit meinem fünfzigsten Jahr, in der Öffentlichkeit zu halten begann, haben mit dem Hang zum Reden und Erzählen, wie er mir von früh auf eigen war, zwar zu tun; gleichwohl ist es etwas anderes, sich für das Ideal der Geselligkeit zu begeistern oder sich in öffentlichen Reden mit Bedacht und Leidenschaft zu bestimmten gesellschaftlichen Fragen zu äußern. Bei diesen geht es nicht darum, spontan auf ein unerwartetes Ereignis zu reagieren oder sich der geistreichen Wechselrede in privater Runde zu erfreuen; so hatten alle meine Reden ihren mehr oder weniger bedeutsamen Anlass, und sie wurden auf Punkt und Komma am Schreibtisch verfasst.

Insofern sind sie gar keine echten öffentlichen Reden, werden diese doch, im Unterschied zu den meinen, nicht aus einem ausgefeilten Manuskript vorgetragen, sondern erst auf dem Podium, am Rednerpult, vor dem Auditorium entwickelt. Kundige und begabte Rednerinnen und Redner wissen zwar, was sie sagen möchten, und überlegen sich im Voraus, wie sie es anstellen werden, rednerisch dorthin zu gelangen, wo sie hinmöchten; aber außer dem Gerüst von Themen, dem Rahmen der Argumente haben sie nicht vieles, was ihnen vorgegeben wäre und an das sie sich halten müssten.

In der griechischen Antike war die Rhetorik die Kunst, sich in geschliffenen Worten, mit überzeugenden Wendungen und auf dramaturgisch klug aufgebaute Weise an jene Volksversammlung zu wenden, die über die politischen Angelegenheiten, also die Entwicklung des Staatswesens entschied. Die berühmtesten Redner Athens, deren Namen wir noch kennen, seien es Sokrates oder Demosthenes, kannten den vorgegebenen Kanon an Stilmitteln, haben sie ihn doch selbst miterschaffen; freilich nutzen sie diesen je nach der Stimmung, in der sie ihre Zuhörer vorfanden, und nach dem Echo, das ihre Ausführungen hervorrief. Ihre Reden waren konzipiert, aber haben ihre Gestalt erst im freien Sprechen gefunden, sie waren Anklage oder Verteidigung, Aufruf oder Absage und wurden gehalten, um zu überzeugen oder zu überreden, zwei Dinge, die die antike Rhetorik noch nicht unterschied. Dem Über-Reden haftete noch nicht das Gewaltsame von heute an, da jemand, indem man ihn überredet, in seiner Integrität angetastet und dazu verlockt wird, gleichsam seine Überzeugung zu wechseln, nicht weil er belehrt, sondern weil er manipuliert wurde.

Die Rhetorik war und ist eine Technik, also etwas, das man erlernen kann, auch wenn es freilich nicht jeder darin zur Meisterschaft bringen wird. Das Technische, Erlernbare prägt die öffentlichen Debatten der Gegenwart auf so verheerende Weise, dass wir es mit professionell geschulten Rednern ohne jedwede Beigabe von Persönlichkeit zu tun bekommen. Wer ein politisches Amt oder eine hohe Position im Geschäftsleben anstrebt, wird heute durch ein gnadenloses Coaching gezwungen, in dem ihm seine eigene Sprache und natürliche Ausdrucksweise geraubt, seine Identität zerlegt und schließlich Stück für Stück wieder neu zusammengebaut wird. Darum verlassen die digital aufgerüsteten rhetorischen Lehranstalten so viele automatenhaft wirkende Sprecher, die dasselbe fünf Mal hintereinander sagen und denen das menschliche Gefühl für Peinlichkeit, das eine große Errungenschaft des zivilisatorischen Prozesses darstellt, ausgetrieben wurde, bis ihnen die souveräne Selbstpräsentation völlig frei von Skrupeln und Bedenken gerät. Es mag der reine Stuss sein, den sie triumphierend verkünden, aber sie wissen sich dabei zu präsentieren, als würden sie sich gerade völlig ehrlich zu einer Frage von großer Dringlichkeit äußern.

Es gibt den Beruf des Redenschreibers, der den Politikern oder den Führungsoffizieren börsennotierter Unternehmen, die periodisch ihre Kleinaktionäre bei Versammlungen überzeugen müssen, jene Manuskripte liefert, die diese dann glaubwürdig so vorzutragen haben, als wäre sie von ihnen selbst aus der Mitte ihres Weltverständnisses geschaffen worden. Ich habe noch keine Rede für jemand anderen geschrieben, bin aber selbst eine Art von Redenschreiber; dieser Verfasser von Reden ist nämlich über die Jahre ein Teil von mir als Autor geworden, wenngleich seine Rolle für meine schriftstellerische Gesamtpersönlichkeit eine bescheidene ist. Denn weder schreibe und halte ich andauernd Reden noch ist es mir unter den Freuden, die mein Beruf für mich bereithält, die größte, meine Reden dann selbst vorzutragen. Indem ich sie schreibe, also schriftlich im Voraus verfasse, gehören meine Reden zu meinem literarischen Werk, während ich ihren öffentlichen Vortrag für eine Art von staatsbürgerlichem Wirken halte. In der Literatur geht es mir freilich nie darum, jemanden zu überzeugen oder gar zu überreden, sondern darum, Zeugnis zu geben: von mir, von meinem Versuch, mir die Welt in der Nähe und Ferne anzueignen, von dieser Welt selbst. Das gilt für meine Reportagen und Reiseerzählungen, für die Journale und Essays, für jedwede Form von Prosa, die ich schreibe, also auch für meine Reden.

Diese gehören zu meiner Literatur, weil ich sie mit genau derselben Haltung verfasse wie alles, das ich schreibe, um es zu veröffentlichen. Ich bin ein bekennender Gegner jener literarischen Ästhetik der Zwecke, mit der etwa manche Autoren, die für ihre dichterischen Texte viel Zeit, Arbeit, Sorgfalt aufwenden, es aber bei Glossen oder Kritiken gerne billiger geben, ihr eigenes Schreiben hierarchisch stufen. Mir ist vielmehr alles, was ich schreibe, sei es für die befristete Ewigkeit eines Buches, sei es für die vermeintliche Flüchtigkeit des Zeitungstages, gleich viel wert. Dass ich einen Text später vor kleinerem oder großem Publikum als Rede vortragen werde, beeinflusst mich bei seinem Verfassen keineswegs, verlangt mir später jedoch die zweite, ungeliebte wie unverzichtbare Arbeit am Text ab: ihn für den mündlichen Vortrag einzustudieren. Dann nämlich, wenn ich am Rednerpult stehe, habe ich Zuhörerinnen und Zuhörer vor mir, die mir beim Schreiben als Leserinnen und Leser gegenwärtig waren.

I

Wider die europäische Ohnmacht

Die Lehre der kleinen Nationalitäten

Vor ein paar Jahren machte ich in den Vereinigten Staaten von Amerika eine merkwürdige europäische Erfahrung. In einem Provinznest in Connecticut hatten wir ein Motel bezogen, an dessen Swimmingpool von vormittags um zehn bis abends um zweiundzwanzig Uhr ein freundlicher Bursche mit schmalem Gesicht und rötlichem Haarschopf seinen Dienst versah. Er hatte darauf zu achten, dass niemand in dem drei mal drei Meter großen Becken ertrinke oder durch einen ungestüm ins Wasser springenden Rowdy verletzt werde. Er saß den ganzen Tag auf seinem Klappstuhl, studierte eifrig ein Wörterbuch, aus dem er sich einzelne Wendungen in ein Schulheft notierte, und hatte nicht viel zu tun, weil wir die einzigen Gäste und überdies vorsichtig genug waren, uns den Gefahren des Badevergnügens erst gar nicht auszusetzen.

Nachdem ich mehrmals an ihm vorbeigegangen war, stets mit einem aufmerksamen Kopfnicken bedacht, lag es nahe, an diesem menschenverlassenen, wie aus der Zeit gefallenen Ort ein paar Worte mit dem strebsam gelangweilten Bademeister zu wechseln. Es stellte sich heraus, dass er aus Albanien stammte, vor einem Jahr mit der Green Card ins Land gekommen war und bereits tüchtig daran arbeitete, seinen albanischen Traum von Amerika zu verwirklichen. Als er hörte, dass ich aus Österreich kam, begann er zu strahlen und es fehlte nicht viel, dass er mich umarmt hätte, so beglückt war er von der Tatsache, hier im Nordosten der Vereinigten Staaten einen Nachbarn zu treffen, einen neighbour, wie er sagte; fast so etwas wie einen Verwandten schien er in mir zu erblicken, zumindest aber einen Landsmann, dem man im Notfall beistehen und den man jedenfalls ein wenig ausfragen musste, wie sich die Dinge in der Heimat inzwischen entwickelt hatten.

Dass Österreich und Albanien Nachbarn seien, wird in Europa kaum jemand behaupten, aus der Ferne eines anderen Kontinents, der Distanz einer neuen Lebenserfahrung aber rücken unsere Länder zusammen. Der Bursche war sich keineswegs im Unklaren über die geographischen Gegebenheiten Europas, er sah sie jedoch, im Unterschied zu uns, die wir hier leben, in ihren großen Umrissen, und nahm den Kontinent, den er verlassen hatte, wie selbstverständlich als Ganzes. Er hatte völlig Recht, nur wir, die wir unsere Arbeit nicht in der Fremde suchen müssen, haben vergessen, wo wir eigentlich zuhause sind. Schon längst sind die Verklärer und die Verächter Europas, diese ungleichen Zwillinge, in die Minderheit geraten gegenüber jenen, die ihren Kontinent weder in gewohnheitsmäßiger Begeisterung zu rühmen noch leidenschaftlich angewidert zu verwerfen pflegen, die ihn vielmehr schlicht vergessen haben.

Die allgemeine und gleiche Amnesie ist aber ein fragwürdiges Menschenrecht. Wem das historische Bewusstsein, das ihm abgeht, gar nicht mehr abgeht, der wird kaum davon zu überzeugen sein, dass es zu den Begabungen des Menschen zählt, das Kommende vorauszuträumen, vorwegzunehmen und damit, paradox gesprochen, seine eigene Zukunft zu verändern. Dass Europa von den Europäern vergessen wurde, ist mehr als eine bittere Pointe auf die wirtschaftliche und politische Einigung ihrer Länder. Der Sinn für die Vergangenheit geht vielmehr zugleich mit dem Selbstvertrauen verloren, seine Zukunft auch selbst gestalten zu können. Wer sich und seine Existenz nicht in einem historischen, wenigstens in einem familiengeschichtlichen Zusammenhang zu verstehen vermag, dem kommt mit der Vergangenheit auch die Zukunft abhanden, er wird sie, wenn sie begonnen hat, und das ist immer schon morgen, stets als etwas erfahren, auf das er keinerlei Einfluss nehmen kann, als etwas Fremdes, das ihm vom Schicksal, von anonymen Mächten oder den längst geradezu mythisierten Brüsseler Bürokraten zugefügt wird. Auf die Idee, dass seine Zukunft auch von ihm selber abhänge, kann der gedächtnislose als der wahrlich ohnmächtige Mensch nicht kommen.

Kein Zweifel, „Europa“ stand bei den Europäern in höherem Ansehen, als noch der Eiserne Vorhang durch den Kontinent schnitt und ein jeder Staat seiner angemaßten Größe und vermeintlichen, in Wahrheit gerade damals erheblich reduzierten Souveränität verpflichtet war. Zu Zeiten des Kalten Krieges war Europa das Andere zur Enge des Nationalstaates, zur Borniertheit des Bündnissystems, zur Zwangsordnung der Volksdemokratien, zu den Gefahren von Wirtschaftskrisen und Kriegen. Fragt man die Europäer hingegen heute nach Europa, nach der Union, fühlt man sich angesichts von so viel Ahnungslosigkeit in eigenen Angelegenheiten betrüblich an die Weisheit der Kabbala erinnert, die da lehrt, dass „das Unwissen des Unwissenden das Wissen des Wissenden übertrifft, weil der Wissende nie so viel weiß, wie der Unwissende nicht weiß“.

Dass die Europäer sich kaum für Europa interessieren, kann man larmoyant beklagen oder mit bitterem Hohn kommentieren: die Schuld wird beide Male dem dummen Volk zugewiesen, das unfähig wie unwillig sei, sich dem rasanten ökonomischen Wandel anzupassen und die neuen Möglichkeiten zu nützen, die sich ihm in einem Europa bieten, das dem Tüchtigen und dem Neugierigen so viele Grenzen und Begrenzungen aus dem Weg geräumt hat. Solche Kritik ist billig und hilflos zugleich. Wichtiger wäre es zu fragen, warum uns das Interesse für uns selber, für die nächsten und für die ferneren Nachbarn, sagen wir: die albanischen Landsleute abhanden gekommen ist – ein Interesse, das viele durchaus verspürten, solange Europa ein Versprechen, keine Realität war. Natürlich hat es mit einer Erfahrung der Ohnmacht zu tun, und wir werden keiner Generation weltoffener und begeisterter, aufbruchsbereiter und selbstbewusster Europäer den Weg gebahnt haben, bis dieses lähmende Gefühl der Ohnmacht nicht beseitigt ist. Doch hören wir nicht alle Tage, dass die Menschen ihre Geschichte nicht selber machen, sondern dass es der Zwang der Sachen, die unentrinnbare Logik der ökonomischen Entwicklung, die wie theologische Dogmen anerkannten Gesetze des Marktes sind, die uns gar keine Entscheidung lassen? Werden wir nicht alle Tage belehrt, dass wir uns dem Sog der globalen Modernisierung nur bei Strafe des Untergangs entziehen können und es nicht darauf ankommt, was wir, auch in europäischen Angelegenheiten, für richtig halten, sondern ob wir uns unaufhaltsamen Prozessen so flexibel und willfährig wie möglich anzupassen bereit sind?

Wie sollte, da die Europäer aller Länder darin unterwiesen werden, dass mit der europäischen Einigung eine Dynamik entfesselt wurde, der sie sich zu ihrem eigenen Nutzen nur ergeben können, das Selbstbewusstsein wachsen, dass sie, diese Hunderten Millionen, an ihrem eigenen Schicksal etwas ändern können? Nur dann aber könnte aus diesem Europa ihr Europa werden. Wer Ohnmacht lehrt, kann nicht demokratisches Engagement erwarten.

Ich weiß nicht, woher es rührt, dass ich schon in meiner Jugend von den kleinen, den randständigen europäischen Nationalitäten so fasziniert war; ich weiß nicht, wann und warum ich schon als junger Mensch auf die Minderheiten gekommen bin, die es auf keinen eigenen Staat gebracht noch einen solchen in ihrer Geschichte je angestrebt haben. Ich weiß aber, dass ich bei ihnen, bei den Aromunen in Mazedonien und in Griechenland, den Sorben im Osten Deutschlands, bei den Karaimen in Litauen, den Zimbern im Gebirge Norditaliens, den Kaschuben in Polen, den Ruthenen der Ostslowakei und der Westukraine, den versprengten Deutschen Bessarabiens, dass ich bei diesen und anderen Minderheiten ein Europa gefunden habe, ohne das mir das prächtige und mächtige Europa, wie es sich zuerst wirtschaftlich zusammengeschlossen hat und nun endlich auch politisch zu formieren beginnt, ärmer und unvollständig erschiene. Die kleinen, kulturell immer um ihr Überleben kämpfenden Nationalitäten, die oft missachteten, im besten Falle mit paternalistischem Wohlwollen betrachteten Minderheiten gelten häufig als sympathische oder renitente Überbleibsel einer Welt von gestern. Doch war und ist es keine völkische Romantik, nicht die Liebe zum imaginären Museum, in dem die sterbenden Europäer ausgestellt werden, was mich an ihnen fasziniert und, ja, zunehmend bewegt und begeistert hat. Vielmehr gehört dieses Wissen zu ihren historischen Ur-Erfahrungen: dass man nur dann eine Zukunft hat, wenn man sich in seiner Gegenwart nicht in beflissener Gedächtnislosigkeit zu behaupten versucht.

Minderheiten können nämlich nur überleben, wenn sie sich ihre Vergangenheit, ihre Herkunft, die Bedrängnisse und Niederlagen ihrer Vorfahren, ihren Kampf um Selbstbehauptung immer wieder und neu vergegenwärtigen. Verlieren sie die kollektive Erinnerung, das Interesse dafür, wie sie zu dem wurden, was sie sind, haben sie schon verloren. Das Gefühl der Ohnmacht können sie sich einfach nicht leisten, sie müssen daran glauben, dass es nicht allein von ihren Gegnern und auch nicht von global wirksamen Strukturen abhängt, ob es sie auch weiterhin geben wird, sondern von ihrer Leidenschaft, ihrem Beharren, ihrem Stolz.

Natürlich bin ich auf den Reisen zu den anderen, den unbekannten, den randständigen Europäern auch auf Borniertheit, auf den narzisstischen Stolz gestoßen, der die kleinen Unterschiede groß und heilig sprechen möchte. Aber viel öfter bin ich Menschen begegnet, die so frei waren, nicht einer Nationalität alleine zuzugehören, sondern sich gewissermaßen als national und kulturell multiple Persönlichkeiten zu entwerfen. Die Arbëreshë, um jetzt nur sie für viele andere Minderheiten zu erwähnen, die Arbëreshë Kalabriens sind über ein halbes Jahrtausend Albaner geblieben, sie haben sich die Sprache, die sie nach Italien mitnahmen, nicht nehmen lassen, und auch nicht bestimmte religiöse und kulturelle Besonderheiten; aber sie sind zugleich Italiener geworden, wenngleich es schon ziemlich lange her ist, dass Garibaldi ihren italienischen Patriotismus und ihre Tapferkeit im italienischen Einigungskampf rühmte, und es dann sehr lange, beschämend lange dauerte, nämlich bis ans Ende des 20. Jahrhunderts, dass sie in Italien als Minderheit auch anerkannt wurden.

Sie sind Albaner und Italiener – und sie sind Europäer, wie ich sie mir denke: Als ich sie in ihren Dörfern im Gebirge besuchte, lernte ich bei ihnen einen Sozialcharakter kennen, den es gemäß fortschrittlicher Doktrin gar nicht geben kann, nämlich den weltoffenen Hinterwäldler, den weit gereisten Provinzler, den aufgeklärten, freigeistigen Verfechter uralter Traditionen und Sitten. Die Arbëreshë sind selbstbewusste Europäer, und nicht nur einmal wurde ich von ihnen auf einen bemerkenswerten Sachverhalt aufmerksam gemacht, dass nämlich all die schmucken Heimatmuseen, die sie in den letzten Jahren errichtet haben, nicht etwa den Hinweis tragen, dass dieses Museum, jenes Kulturhaus von der Region Kalabrien und der italienischen Regierung gefördert wurde. Nein, all diese für die Arbëreshë so wichtigen Stätten, in denen sie einander und ihrer Geschichte begegnen können, sind von den Arbëreshë selber gebaut – und im Sprung über den italienischen Nationalstaat hinaus gleich mit Mitteln der Europäischen Union gefördert worden.

Sie werden sich fragen: Wohin zielt diese Rede, die bei einem jungen Albaner beginnt, der in Amerika die Österreicher für Landsleute hält, und zu den Arbëreshë im Gebirge Kalabriens führt, die sich widerspenstig ihre Eigenheiten bewahren und doch für alles Neue, das Europa zu bieten hat, offen sind? Nun, ich möchte Ihre Geduld nicht über Gebühr beanspruchen, sondern abrupt mit einem Bekenntnis enden: Ich glaube, dass uns der Blick aus der Ferne manchmal einfache Dinge, die wir vergessen haben, in Erinnerung rufen kann – und ich bin überzeugt davon, dass die kleinen Nationalitäten, die von alters her schon um ihres eigenen Überlebens willen die alltägliche Grenzüberschreitung praktizierten, nicht die romantische Nachhut, sondern vielmehr die Avantgarde jenes Europa sind, das erst entsteht. Gerade darum gilt es sie zu respektieren und zu studieren; und zu begreifen, dass Europa, das viel gepriesene, viel geschmähte, von dem wir oft am liebsten schon gar nichts mehr hören wollen, immer noch Terra incognita ist.

Rede zum Kongress „Evropa, svet in humanost v. 21. Stoletju. Dialog kulturi – dialog med kulturami“ (Europa, die Welt und die Menschheit im 21. Jahrhundert. Kultur des Dialogs – Dialog zwischen den Kulturen), gehalten in Ljubljana am 9. April 2008 im Grandhotel Union

Die Roma und wir

Zum Internationalen Tag der Roma

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