Inhaltsverzeichnis
DER AUTOR
Foto: Ⓒ Leane Hasberg
Rainer M. Schröder, 1951 in Rostock geboren, hat vieles studiert und allerlei Jobs ausprobiert, bevor er sich für ein Leben als freier Autor entschied. Seit Jahren begeistert er seine Leser mit seinen exakt recherchierten und spannend erzählten Abenteuerromanen. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Auflage von über 5 Millionen. Nachdem Rainer M. Schröder lange Zeit ein wahres Nomadenleben mit zahlreichen Abenteuerreisen in alle Erdteile führte, lebt er heute mit seiner Frau in den USA.
Von Rainer Maria Schröder ist bei cbj erschienen:
Abby Lynn – Verborgen im Niemandsland
Becky Brown – Versprich nach mir zu suchen!
Der geheime Auftrag des Jona von Judäa
Das Kloster der Ketzer
Bei cbt und OMNIBUS ist erschienen:
Abby Lynn – Verbannt ans Ende der Welt (30098)
Abby Lynn – Verschollen in der Wildnis (30099)
Abby Lynn – Verraten und verfolgt (30224)
Im Zeichen des Falken (30033)
Auf der Spur des Falken (30034)
Im Banne des Falken (30035)
Im Tal des Falken (30036)
Dschingis Khan – König der Steppe (30037)
Goldrausch in Kalifornien (30038)
Kommissar Klicker (zehn Bände 20665, 20666, 20667, 20668, 20669, 20670, 20677, 20678, 20679, 20680)
Die Irrfahrten des David Cooper (20061)
Die letzte Fahrt des Captain Kidd (21038)
Privatdetektiv Mike McCoy -
Die Mafia lässt grüßen/Heißes Eis (21014)
Privatdetektiv Mike McCoy -
Die Millionen-Sinfonie/Freikarte ins Jenseits (21015)
Privatdetektiv Mike McCoy -
Wüstenschnee/Unternehmen Barrakuda (21016)
Sir Francis Drake – Pirat der sieben Meere (20126)
Mit herzlicher Zuneigung und Dank
für Frank Griesheimer und Klaus Steffens,
die immer nur im Kleingedruckten stehen und
dabei doch so viel Anerkennung verdienen.
»Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.«
TALMUD
»Erfahrung ist nicht einfach gespeichertes Wissen. Was das Erlebnis aus einem bloßen Widerfahrnis zur Erfahrung macht, ist die Deutung, die dem widerfahrenen Erlebnis zuteil wird.« Aus:
Glauben unter leerem Himmel,
von HEINZ ZAHRNT
ERSTER TEIL
Heimatstadt
März 1935 – Februar 1939
1
Die Angst hatte schon lange vorher seine Seele befallen und sein Leben überschattet. Aber an jenem nasskalten Tag im März brach sie offen auf wie ein Geschwür. Von dem Zeitpunkt an war die Angst allgegenwärtig. Wie eine schwarze Wolke hing sie über ihm, bei Tag und bei Nacht. Egal wohin er ging, wo er sich befand, was er tat.
An diesem Nachmittag Anfang März befand sich Jakob Stern mit seinem Vater auf dem Weg zum Fahrradhändler Siegel & Söhne nahe der Innenstadt. Der Vater hatte sein Tabak- und Schreibwarengeschäft in der Obhut der Mutter gelassen, um mit ihm bei Siegel & Söhne das Tourenrad auszusuchen, das er sich schon so lange wünschte und nun in wenigen Wochen, zu seinem Geburtstag, von den Eltern geschenkt bekommen sollte.
Erfüllt von freudiger Aufregung, bog er mit dem Vater um die Straßenecke und ging die belebte Hauptstraße hoch, auf der das große Fahrradgeschäft lag, als plötzlich vor ihnen lautes Gejohle, höhnische Rufe und das Geräusch schwerer Stiefel den nachmittäglichen Großstadtlärm auf der Straße übertönten. Die Leute vor ihnen blieben stehen und richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Ursache dieses lärmenden Spektakels.
»Schau mal, Otto! Da wird ein Jude durch die Straßen getrieben!«, sagte ein stämmiger Mann in ihrer Nähe zu seinem halbwüchsigen Sohn, der die uniformierte Kluft der Hitler-Pimpfe trug.
Augenblicklich spürte Jakob die feste Hand seines Vaters auf seinem Arm und wurde von ihm von der Mitte des Bürgersteiges weg in den nächsten Hauseingang gezogen. Verwirrt blickte er zu ihm auf und sah, wie der Vater die andere Hand vor den Mund schlug, ohne jedoch verhindern zu können, dass ihm ein erstickter Laut des Erschreckens entfuhr.
»Was ist?«, fragte Jakob beunruhigt. Eine Litfaßsäule verwehrte ihm den Blick auf das Geschehen vor ihm auf der Straße.
»Das... das ist Simon!«, flüsterte der Vater gequält, das Gesicht bleich wie ein Leichentuch.
»Onkel Simon? … Wo?« Jakob reckte den Kopf, und dann sah auch er den Mann, der vor einer Horde uniformierter Nazis mitten auf der Straße zwischen den Schienen der Tram taumelte.
Im ersten Moment glaubte er, sein Vater müsse sich getäuscht haben. Denn dieser Mann dort, den die johlenden Braunhemden mit Stiefeltritten und Stockschlägen vor sich hertrieben, konnte unmöglich sein Onkel, der angesehene Rechtsanwalt Simon Rosenberg sein! Er kannte den Bruder seiner Mutter nur als eine Respekt gebietende Person und stets untadelig gekleidet. Nicht einmal im Sommer ging Onkel Simon ohne Hut, steifen weißen Kragen und perfekt gebundene Krawatte aus dem Haus. Die größte Form von Bequemlichkeit, die er sich an heißen Tagen und dann auch nur in privater Gesellschaft leistete, bestand darin, dass er das Jackett ablegte und mit korrekt zugeknöpfter Weste in einem Ausflugslokal saß.
Und doch, dieser Mann mit dem blutbeschmierten Gesicht und den aufgeplatzten Lippen, dem man die Hosen über den Knien abgeschnitten hatte, sodass die langen weißen Unterhosen hervorschauten, und der mit nackten Füßen über das Pflaster wankte, war kein anderer als Onkel Simon!
Er war ohne Jackett, die Weste klaffte weit auf und wies an der rechten Schulter einen langen Riss auf, die Krawatte fehlte und Blutspritzer hatten den aufgesprungenen Hemdkragen beschmutzt. Von der goldgerahmten Brille, die ihm lächerlich schief und verbogen auf der Nase saß, fehlte das linke Glas, während ein Spinnengewebe aus unzähligen Rissen das andere durchzog und es so gut wie blind machte.
Man hatte ihm ein großes Pappschild vor die Brust gehängt, auf dem in Onkel Simons eigener Handschrift geschrieben stand: »Ich bin ein dreckiger Jude und will mich nie wieder über Nazis beschweren!« Und damit torkelte er wie ein Betrunkener über die Hauptstraße, das Gesicht verquollen und von Schlägen gezeichnet, den Blick starr zu Boden gerichtet, von Stiefeltritten und Stockschlägen traktiert, angespuckt von vorbeifahrenden Jugendlichen auf Fahrrädern und verhöhnt vom braunen Mob um ihn herum und so manch einem Schaulustigen am Straßenrand.
»Komm weg!«, flüsterte der Vater erstickt.
»Aber Vati, wir können doch Onkel Simon nicht...!«, stieß Jakob fassungslos hervor.
»Sei still und komm mit! Wir können ihm nicht helfen!« Der Vater packte ihn mit schmerzhaftem Griff am Arm und zog ihn mit sich.
Vergessen war das Tourenrad, das sie bei den Siegels hatten aussuchen wollen. Sie gingen jedoch nicht auf dem kürzesten Weg nach Hause zurück, weil der an ihrer Synagoge vorbeigeführt hätte. Der Vater sagte zwar kein einziges Wort und Jakob wagte nicht zu fragen. Aber er wusste auch so, was der Grund für ihren Umweg war.
Die Angst schnürte ihnen beiden die Kehle zu.
2
Am späten Abend desselben Tages kauerte Jakob im Dunkel des Flurs neben der Tür zum Wohnzimmer, die einen Spalt offen stand, und lauschte den leisen, erregten Stimmen seiner Eltern.
Die Nazis hatten Onkel Simon erst lange nach Einbruch der Dunkelheit laufen lassen. Er hatte es kaum aus eigener Kraft zu ihnen hinauf in den vierten Stock des Mietshauses geschafft. Seit Jakob denken konnte, lebte der acht Jahre ältere Bruder der Mutter, ein eingefleischter Junggeselle, auf derselben Etage wie sie. Die Eltern hatten sofort ihren Hausarzt Doktor Freudenthal geholt, damit er ihn untersuchte und verarztete, denn in ein Krankenhaus wollte er auf keinen Fall. Die Eltern waren bis vor wenigen Minuten drüben bei Onkel Simon in dessen Wohnung geblieben.
»Er wird wieder auf die Beine kommen, dem Himmel sei Dank!«, hörte er jetzt den Vater mit einem Seufzer sagen. »Und was wird als Nächstes passieren?« Die Stimme der Mutter zitterte. »Ich sage dir, Hitler und sein braunes Pack schrecken vor nichts zurück! Vor keiner noch so bestialischen Grausamkeit!«
»Ach was«, erwiderte der Vater, »das sind zwar abscheuliche Auswüchse, was da im Augenblick geschieht. Aber der Nationalsozialismus ist keine schlechte Sache. Immerhin ist die Schande der Niederlage, die der verlorene Weltkrieg und die Verträge von Versailles über uns Deutsche gebracht haben, jetzt endgültig ausradiert, und alles andere ist doch nur Propaganda für den einfachen Mann auf der Straße. Nein, dieser Spuk wird bald ein Ende haben, das kannst du mir glauben.«
»Und wenn nicht?«
Für einen Augenblick herrschte jenseits der Wohnzimmertür Schweigen. Dann sagte der Vater widerwillig: »Völlig unmöglich! Hitler lässt dem Pöbel, der ihn an die Macht gebracht hat, ein wenig die lange Leine, damit er Luft ablassen kann. Wenn...«
»Ein wenig die lange Leine?«, fiel ihm die Mutter ins Wort. »Zusammengeschlagen haben sie meinen Bruder! Erst in diesem dreckigen SA-Keller und dann auf offener Straße! Und zwar so brutal, dass ihm das Trommelfell auf dem linken Ohr zerrissen ist! Und keiner ist dagegen eingeschritten!«
»Was hätte ich denn tun sollen?«, rief der Vater aufbrausend. »Mich etwa der Bande in den Weg stellen? Die hätten mich doch sofort niedergeknüppelt! Außerdem hatte ich den Jungen dabei!«
Wieder langes Schweigen, das nur ab und zu von einem tränenerstickten Schluchzen der Mutter unterbrochen wurde.
»Jetzt beruhige dich doch, Margot.« Die Stimme des Vaters klang nun sanft, zugleich aber auch ratlos. »Es ist entsetzlich, was mit Simon passiert ist. Aber es wird schon wieder alles gut werden, ganz bestimmt. Die Weltöffentlichkeit wird solche... Exzesse nicht lange tolerieren!«
»Und wenn doch?« Die Mutter schnäuzte sich. »Ich glaube einfach nicht, dass all die Schikanen und brutalen Übergriffe auf uns bald ein Ende haben werden. Im Gegenteil, ich habe das schreckliche Gefühl, dass es noch viel schlimmer kommen wird. Denn das ist doch alles gewollt und systematisch von oben gesteuert!«
»Nun male doch nicht immer gleich den Teufel an die Wand! Man kann sich das Unglück auch herbeireden!« Ein gereizter Unterton lag in der Stimme des Vaters. »Es war ja auch sehr unklug von Simon, was er da gemacht hat. Er hätte diesen Mandanten besser gleich wieder weggeschickt, statt sich der Sache anzunehmen. Wie hat er denn bloß glauben können, als jüdischer Anwalt ungestraft eine Beschwerde gegen einen SA-Mann* vorbringen zu dürfen?«
»Jetzt ist er also selber schuld, dass man ihn so zugerichtet hat, ja?«, empörte sich die Mutter.
»Natürlich nicht! So habe ich es nun auch wieder nicht gemeint!«, antwortete der Vater. »Aber ich bitte dich, Simon ist doch ein intelligenter, studierter Mann! Er muss doch genau gewusst haben, dass so etwas nicht gut gehen kann. Ich meine, in diesen überreizten Zeiten muss sich unsereins eben eine Weile klein machen und sich unauffällig verhalten, bis wieder Recht und Ordnung herrschen und sich dieser ganze... üble Naziklamauk gelegt hat.«
»Überreizte Zeiten? Naziklamauk?«, wiederholte die Mutter ungläubig. »So also nennst du diesen unglaublichen Rassenhass, der da von Tag zu Tag immer schärfer und geifernder gegen uns propagiert wird?« Jakob glaubte zu hören, wie sie nach Luft schnappte. Und dann fuhr sie voller Zorn fort: »Das kann nicht dein Ernst sein! Ich glaube, du willst einfach nicht sehen, was da mit Hitler und seinen braunen Hakenkreuzhorden für ein Unglück über uns Juden gekommen ist – und was uns noch erwartet!«
Der Vater stöhnte. »Dass du immer so maßlos übertreiben musst! Lass uns nicht länger darüber reden. Es führt ja doch zu nichts! Du wirst sehen, die Wogen werden sich wieder glätten! So ist es immer gewesen, wenn in Deutschland gegen Juden gehetzt wurde, und es wird diesmal nicht anders sein.« Und dann stellte er das Radio an.
Jakob zog sich schnell zurück, als er das abrupte Rücken eines Stuhls und sofort darauf die Stiefeletten der Mutter in wortlosem Zorn über das Parkett hämmern und auf die Tür zukommen hörte.
Ohne Licht zu machen, zog er in seinem Zimmer die Vorhänge zu und kauerte sich dann in die hinterste Ecke seines Bettes. Tiefe Dunkelheit umfing ihn. Aber die Finsternis seines Zimmers war nichts im Vergleich zu der dichten schwarzen Wolke der Angst, die ihn umfing.
3
In der Schule waren sie bis vor kurzem bei Unterrichtsbeginn höflich aufgestanden und hatten im Chor gesagt: »Guten Morgen, Herr Westphal!« Aber diese Zeiten waren vorbei. Stattdessen mussten sie beim Eintritt des Lehrers nun zackig aufspringen, wie beim Militär neben ihrem Pult strammstehen, den rechten Arm hochreißen und laut »Heil Hitler!« brüllen. So verlangte es der schneidige, junge Herr Schmiedke von ihnen, der den alten Westphal plötzlich mitten im Schuljahr als ihren Klassenlehrer abgelöst hatte und der ausschließlich in blank polierten Schaftstiefeln und brauner Nazikluft, mit ledernem Querriemen über der Brust und Hakenkreuzbinde am Arm zur Schule erschien. Und viele andere Lehrer sah man ähnlich gekleidet zum Unterricht kommen. Kaum jemand im Kollegium, der nicht wenigstens das schwarzweißrote Parteiabzeichen der NSDAP* mit dem Hakenkreuz in der Mitte am Revers oder am Kleid trug.
Was aus Westphal und ihrem bisherigen Direktor geworden war, wusste Jakob nicht. Beide waren von heute auf morgen verschwunden, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Und niemand hatte es für nötig erachtet, sie über den Grund dieses plötzlichen Verschwindens oder über den Verbleib der beiden aufzuklären. Der dicke Erich Fellroth, der einzige andere jüdische Junge in Jakobs Klasse, der bis zu Hitlers Machtübernahme penetrant nur Einsen geschrieben und auf alles die richtige Antwort parat gehabt hatte, wusste auch diesmal mehr.
»Abgeholt haben sie die beiden und in ein Straflager* gesteckt. Sollen beide Mitglieder im Reichsbanner, der Organisation der Sozis, gewesen sein!«
Erich überraschte ihn auch, als Schmiedke an seinem ersten Schultag bei ihnen mit der Klasse den Hitlergruß so einübte, wie er ihn haben wollte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, riss Erich den Arm schmissig hoch und schrie mit den arischen* Mitschülern ein zackiges »Heil Hitler!« nach dem anderen, bis ihr neuer Klassenlehrer mit dem Gebrüll zufrieden war.
Als Jakob ihn hinterher darauf ansprach, weil er doch wusste, dass die Fellroths glühende Zionisten* waren, von deren Ideen Jakobs Vater allerdings nichts hielt, und dass Erich zu einer verbotenen jüdischen Jugendgruppe gehörte, sagte dieser verächtlich: »Na und? Die Nazis können uns doch mal! Mein Vater hat gesagt, ich soll beim Hitlergruß in Gedanken jedes Mal ›Verrecke, elende Nazibrut!‹ sagen. Wir bleiben sowieso nicht mehr lange hier. Mein Vater wird unsere Großgärtnerei bald verkaufen und dann wandern wir aus. Wohl erst mal nach Amerika, wo wir Verwandtschaft haben, vielleicht geht’s aber auch gleich nach Palästina* zu irgendeinem tollen Kibbuz*, wo man alles miteinander teilt und ein abenteuerliches Pionierleben führt, mal sehen.« Und mit diesen Worten, die ihm im Brustton himmelweiter Überlegenheit über die Lippen kamen, zog er seine Pausenbrote hervor, biss genüsslich hinein und ließ Jakob stehen.
Das mit dem Verkauf der Großgärtnerei Fellroth sollte sich noch sehr lange hinziehen, denn als Jude konnte man sein Geschäft nicht mehr nach eigenem Gutdünken verkaufen. Die neuen Gesetze schrieben vor, dass man einen Arier* als Käufer finden musste, der das Unternehmen dann gewöhnlich für einen lächerlichen Bruchteil des wahren Firmenwertes übernahm. »Arisierung des jüdischen Geschäftslebens« nannten es die Nazis. Und was die Beschaffung der nötigen Ausweispapiere und Visa betraf, so zog sich diese noch erheblich länger hin, als die Fellroths angenommen hatten.
So war Erich dann noch immer bei ihnen in der Klasse, als wenige Tage nachdem Onkel Simon von Braunhemden zusammengeschlagen und durch die Straßen gehetzt worden war, zwei Männer in SA-Uniform eines Morgens in den Erdkundeunterricht bei Frau Sennekamp platzten und in barschem Ton fragten: »Gibt es in dieser Klasse Judenbälger?«
Gertrud Sennekamp, eine sehr bedächtige und mütterliche Lehrerin, reagierte mit hilfloser Verblüffung auf die schroffe Frage und setzte erst einmal ihre Brille ab, als wollte sie Zeit gewinnen. Von ihren Lippen hatten Jakob und Erich bisher noch keine der üblichen nationalsozialistischen Reden und Schlagworte zu hören bekommen, obwohl auch sie das Parteiabzeichen trug.
Bevor sie sich jedoch gefasst hatte und eine Antwort geben konnte, wiesen die Mitschüler schon auf Jakob und Erich und riefen eilfertig: »Da! Die beiden sind Juden!«
»Ab sofort dürfen jüdische Kinder nicht mehr neben arischen sitzen!«, wies einer der SA-Männer ihre Lehrerin im Befehlston an. »Anordnung von höchster Stelle! Und diese Anordnung ist unverzüglich auszuführen! Heil Hitler!«
Beide rissen sie den Arm hoch, knallten die Hacken ihrer Stiefel zusammen und warteten, bis auch Frau Sennekamp den Hitlergruß erwidert hatte. Erst dann gingen sie hinaus, um sich die nächste Klasse vorzunehmen.
Von Stund an mussten Jakob und Erich abseits von den anderen Klassenkameraden auf der so genannten »Judenbank« sitzen, als wären sie Aussätzige. Und das waren sie in den Augen der meisten ihrer Mitschüler bald auch.
Als Jakob an diesem Tag von der Schule nach Hause kam, sah er, dass Uniformierte nun auch in ihrem Viertel einen Schaukasten für das Nazihetzblatt Der Stürmer an einer Hauswand anbrachten. Über der Glasfront, hinter der die Zeitung angeheftet wurde, sodass jeder im Viertel die neuesten Parolen und Hetzartikel von Julius Streicher und seiner Journaille, wie der Vater die Zeitungsredakteure nannte, lesen konnte, stand der Schriftzug: Deutscher, lies den Stürmer! Auf der linken Seite des schwarz gestrichenen Holzrahmens prangte in großen weißen und weithin lesbaren Lettern die Parole: Die Juden sind unser Unglück! Und auf der rechten Seite fand sich die Aufforderung: Frauen und Mädchen, die Juden sind euer Verderben. Verschaffe dir Klarheit über die Judenfrage!
Als Jakob die Männer bei ihrer Montage des Stürmer-Kastens beobachtete, dachte er unwillkürlich an die Worte seines Vaters, dass der böse Spuk schon bald ein Ende haben und wieder Recht und Ordnung im Reich einkehren würden. Er glaubte wie seine Mutter nicht daran, dass es sich nur um einen bösen Spuk handelte. Das Böse war doch schon längst Alltag geworden und niemand stellte sich dagegen. Zumindest sah er nichts davon.
Am selben Tag wurde Onkel Simon und allen anderen jüdischen Anwälten die Zulassung entzogen, sodass sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten. Onkel Simon, den die Behandlung der SA von einem Tag auf den anderen zu einem gebrochenen, wortkargen Mann gemacht hatte, fand in der jüdischen Gemeinde vorübergehend ein wenig Arbeit, aber es reichte nicht, um auf Dauer davon leben zu können. Überall wurden Juden entlassen und mit Berufsverbot belegt. Das Geld wurde allmählich knapp in den jüdischen Gemeinden, und wer brauchte noch einen jüdischen Anwalt ohne Zulassung? Gegen die Enteignungen und in Gesetze gegossenen Repressalien der Nazis waren sogar arische Anwälte, sofern sie denn überhaupt daran gedacht hätten, einen Juden zu vertreten, machtlos.
So sah sich Onkel Simon bald gezwungen, seine eigene Wohnung aufzugeben und bei ihnen einzuziehen. Zeit seines Lebens war er ein glühender Verehrer klassischer deutscher Literatur und Musik gewesen, aber noch bevor er nun einen Teil seiner Möbel verkaufte, trennte er sich als Erstes von seinen kostbaren Goethe-, Schiller- und anderen Klassikerausgaben sowie von seinem Grammophon mitsamt allen Aufnahmen klassischer deutscher Musik. Nichts davon wollte er mehr um sich wissen. Und wurde im Radio eine Sinfonie von Beethoven oder ein Konzert mit Schubert-Liedern übertragen, verließ er den Raum.
Jakob räumte für ihn sein Zimmer und musste sich fortan mit der kleinen Kammer am Ende des Flurs begnügen, die der Mutter bislang als Bügel- und Nähraum gedient hatte.
4
Zigeuner und Juden raus! Wir verkaufen nicht an Juden! Juden und Hunde verboten! Schilder mit diesen und ähnlichen Aufschriften fanden sich immer öfter an Ladentüren, Werkstätten, Schwimmbädern, Theaterhäusern, Kinos, Kneipen und Gaststätten, wohin man auch immer in der Stadt ging, auch in ihrem Viertel. Sogar an Parkbänken stand: Nur für Arier!
Die Parole Juden raus! Aufrechte Deutsche kaufen nicht bei Juden! malten Nazis aus der Nachbarschaft zum ersten Mal kurz vor dem Chanukka-Fest* auf die Fensterscheibe des elterlichen Tabak- und Schreibwarenladens.
Der Vater wartete bis zum Abend, erst dann machte er sich an die mühsame Arbeit, die antisemitische* Schmiererei von der Scheibe zu entfernen.
Am nächsten Vormittag kamen die Braunhemden mit Farbeimer und Pinsel zurück und schmierten das Schaufenster erneut voll. Vorbeikommende Passanten und Mieter aus den umliegenden Häusern nahmen daran nicht den geringsten Anstoß. Nur wenige gingen hastig weiter oder wandten beschämt den Kopf ab.
Diesmal kratzte und schrubbte Jakob zusammen mit dem Vater die weiße Farbe nach Einbruch der Dunkelheit vom Glas.
»Warum tut ihr das?«, fragte Onkel Simon, als sie in die Wohnung zurückkamen. Er stand in der Tür seines Zimmers, unrasiert seit dem Morgen und mit Kaffeeflecken auf dem Hemd. »Sie werden wiederkommen, immer wieder. Und irgendwann werden sie sich nicht damit zufrieden geben, dir nur die Schaufensterscheibe zu beschmieren! Das sind Tiere! … Aber nein, das wäre ungerecht gegenüber der Tierwelt. Zu solchen Bösartigkeiten sind nur Menschen fähig!« Aus seiner Stimme klang mehr Resignation als Abscheu, und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging in sein Zimmer zurück.
Am Morgen, kurz bevor Jakob sich auf den Weg zur Schule machte, warf man ihnen das Schaufenster mit Steinen ein und verwüstete die Auslage mit Schlagstöcken.
Der Vater räumte stumm und mit verbissenem Gesicht Steine, Scherben und zertrümmerte Auslagen weg und ließ die Scheibe vom Glaser ersetzen. Am selben Tag kamen die gestiefelten Männer wieder, und während einer von ihnen zum dritten Mal und mit besonders dickem Pinsel Juden raus! Aufrechte Deutsche kaufen nicht bei Juden! sowie einen Judenstern auf die Ladentür und das neue Schaufensterglas malte, sangen die anderen in einem fort das Horst-Wessel-Lied, wobei sie die Stelle »... und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut!« besonders laut grölten. Ein Streifenpolizist, der seine Runde durch das Viertel machte, blieb derweil auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen und sah mit hinter dem Rücken verschränkten Armen dem Treiben zu. Als die SA-Männer ihr Schandwerk mit einem donnernden Hitlergruß beendeten und zum nächsten jüdischen Geschäft weiterzogen, riss auch er den Arm hoch und schlug zackig die Hacken zusammen.
Diesmal wagte der Vater nicht, den Schriftzug zu entfernen. Onkel Simon kam an diesem Tag zum ersten Mal weder zum Mittagessen noch zum Abendbrot aus seinem Zimmer. Sie hörten ihn auf Hebräisch beten. Er reagierte nicht, als der Vater mehrmals an seine Tür klopfte, und gab auch keine Antwort, als die Mutter ihn eindringlich bat, doch zu ihnen an den Tisch zu kommen.
Der Vater schüttelte nur den Kopf und die Mutter brach beim Abendbrot in Tränen aus und verbarg ihr Gesicht in ihrer Serviette.
Als Jakob spät in der Nacht noch einmal aufs Klo musste, hörte er, dass Onkel Simon noch immer betete. Es machte ihn wütend, ohne dass er zu sagen gewusst hätte, warum. Mit dem Beten hatten sie es in ihrer Familie noch nie gehabt.
In derselben Woche wurde Walter Heidkamp, der Schrotthändler aus der Nebenstraße und ein alter Deutschnationaler, von der Gestapo* abgeholt und verhaftet. Es hieß, er habe in seiner Stammkneipe nach einigen Bieren und Schnäpsen den folgenden Witz über Hermann Göring, den preußischen Ministerpräsidenten und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, zum Besten gegeben: »Was tut Göring, wenn er im Hinterhof auf eine Wäscheleine voll Unterhemden trifft? Er schlägt natürlich vor jedem Unterhemd zackig die Hacken zusammen und sagt schneidig: ›Hiermit ernenne ich dich zum Oberhemd! ‹« Heidkamp kehrte aus der Gestapohaft nicht wieder zurück, und den Schrotthandel betrieb bald ein strammer Nazi, der den Betrieb übernommen hatte, für einen Apfel und ein Ei, wie man sagte.
»In diesem Land ist jeder die Gestapo des anderen!«, murmelte Onkel Simon, als die Mutter ihnen die Nachricht von Heidkamps Verhaftung überbrachte. Und bevor er sich wieder in sein Zimmer einschloss, erhaschte Jakob einen Blick auf ihn, wie er sich einen Tallit über die Schultern legte. Noch nie zuvor hatte er ihn mit einem Gebetsmantel gesehen.
Der Vater schüttelte darüber nur den Kopf.
5
Max Kämpling, dessen kriegsbeschädigter Vater Kohlen ausfuhr, war seit Jahren Jakobs bester Freund und wohnte im Nachbarhaus. Auch als Jakob aufs Gymnasium übergewechselt und Max auf der Volksschule geblieben war, hatte das ihre Freundschaft nicht getrübt. Sie hielten weiterhin zusammen, heckten wie eh und je gemeinsam Streiche aus, spielten im Hinterhof Fußball und konnten sich aufeinander verlassen, wenn es mit rauflustigen Jungen aus dem Nachbarviertel zu handgreiflichen Auseinandersetzungen kam.
Das Sammeln von Zigarettenbildern, die jeder Schachtel beilagen und die man in die entsprechenden Sammelalben einklebte, gehörte zu den Leidenschaften, die sie teilten. Bei den Bildern handelte es sich um interessante Serien aus der Geschichte des Altertums, der Neuzeit, der Technik sowie der Welt des Films und des Tierreichs.
Jakob saß natürlich an der Quelle. Denn viele Arbeitslose und einfache Arbeiter aus dem Viertel kauften ihre Zigaretten im Laden des Vaters nur stückweise. Deshalb ging er stets nach der Schule in den Laden, fragte nach angebrochenen Packungen und nahm die Bilder daraus gleich an sich. Gute Tauschgeschäfte ließen sich auch mit leeren Zigarrenkisten machen, da sie zum Sammeln von Käfern in der Schule heiß begehrt waren.
Eines Nachmittags suchte Jakob seinen Freund wieder einmal mit einem Stoß neuer Zigarettenbilder auf, von denen einige Max in helle Begeisterung versetzen würden, wie er wusste, gehörten sie doch zu einer brandneuen Technikserie. Und an Technikbildern war Max ganz besonders interessiert.
Marianne, die neunjährige Schwester seines Freundes, öffnete ihm auf sein Klingeln hin die Wohnungstür. Sie mochte ihn sehr, schenkte er doch auch ihr regelmäßig einige der Bilder, die er dreifach besaß. Auch an diesem Nachmittag begrüßte sie ihn mit einem freundlichen Lächeln.
»Max ist mit den anderen im Wohnzimmer«, sagte sie, während sie die Tür hinter ihm schloss. Dann fügte sie mit einem ehrfurchtsvollen Tonfall, den sie zweifellos den Erwachsenen abgelauscht hatte, noch hinzu: »Der Führer spricht gerade!« Und mit kindlicher Freude am Ulk legte sie dabei die Zeigeund Mittelfinger unter der Nase auf die Lippen, um des Führers Rotzbremse anzudeuten.
Statt seiner spontanen Eingebung zu folgen, die ihm sagte, dass es ratsamer sei, sofort wieder zu gehen und unten auf Max zu warten, folgte er Marianne ins Wohnzimmer.
Und dort saßen Max, seine Eltern und seine große, sechzehnjährige Schwester Ingeborg in einem Halbkreis um den Volksempfänger herum, aus dem viel zu laut die sich fast überschlagende Stimme des Führers drang. Und alle Kämplings lauschten der Rede mit andachtsvollen Gesichtern.
Jakob hörte Hitler etwas von einer jüdischen und von Moskau gesteuerten kommunistischen Weltverschwörung brüllen. Was ihn jedoch viel mehr bestürzte, war, dass nicht nur der Vater seines Freundes Naziuniform und Ingeborg BDM*-Kleidung trugen, sondern dass Max in der militärischen Kluft der Hitlerjugend* steckte. Und am breiten Ledergürtel mit dem schweren Koppelschloss baumelte sogar ein Dolch! Jakob wusste, was auf solch einem HJ-Dolch stand: Blut und Ehre!
Wie erstarrt stand er in der Tür.
Augenblicke später beendete der Führer seine Hetzrede, und sofort sprangen die im Wohnzimmer versammelten Kämplings, auch sein Freund Max, wie von unsichtbaren Marionettenfäden gezogen, auf, rissen in Richtung des Radios den Arm hoch und brüllten im Chor: »Heil Hitler!«
Jakob war für einen Moment zumute, als wäre er verbotenerweise Zeuge eines geheimnisvollen Kultes geworden, in dessen Zentrum der verkratzte Volksempfänger dort auf der Wohnzimmerkommode stand, aus dem gerade der Große Unsichtbare zu seinen Gläubigen gesprochen hatte.
Und dann bemerkte Ingeborg, wer da in der Wohnzimmertür stand und entgeistert zu ihnen herüberblickte.
»Was hat denn der bei uns zu suchen?«, rief sie schrill. »Sag bloß, du hast ihn in die Wohnung gelassen, Marianne? Ja, schämst du dich denn nicht?«
Max fuhr zu Jakob herum und wurde blass, sagte jedoch kein Wort.
»Das ist ja wohl die Höhe!«, rief nun auch die Mutter.
»Verschwinde!«, brüllte Herr Kämpling. »Und wage ja nicht noch mal, bei uns zu klingeln! Judenpack hat bei uns nichts verloren, merk dir das!«
Jakob stürzte wie blind vor Demütigung und Schmerz aus der Wohnung, rannte die drei Etagen hinunter, fasste sich dann und setzte sich auf die oberste Stufe des letzten Treppenabsatzes. Hier wollte er auf Max warten. Dass dessen große Schwester und dessen Eltern nun auch gegen Juden hetzten, dafür konnte sein Freund ja nichts. Max würde auch jetzt zu ihm halten – und wenn er dreimal in der HJ war! Bestimmt würde er bald nachkommen!
Und Max kam tatsächlich. Langsam stieg er die letzte Treppe zu ihm herunter.
»Mensch, da bist du ja endlich!«, rief Jakob ihm wie erlöst zu. Er konnte sich also doch auf seinen Freund verlassen. Und ehe er sich bewusst wurde, was ihm da Schmeichlerisches über die Lippen kam, sagte er: »Sieht schon verdammt schnittig aus, diese Kluft!«
Max blieb zwei Stufen vor ihm stehen und hakte die Daumen hinter den breiten Ledergürtel. Stumm und mit zusammengepressten Lippen sah er Jakob an. Sein Blick war merkwürdig forschend, als erblickte er ihn zum ersten Mal … wie einen Fremden.
Ein ungutes Gefühl, das viel Ähnlichkeit mit Übelkeit besaß, stieg plötzlich in Jakob auf. Schnell zog er den Packen neuer Zigarettenbilder aus der Tasche und hielt sie ihm hin. »Ich habe neue Bilder! Sogar einige von einer brandneuen Technikserie! Ich habe auch jede Menge Doppelte für dich!«, sagte er fast flehentlich.
In dem Moment ging die Haustür auf und eine Wohnungsnachbarin der Kämplings trat in den Hausflur. Ihr argwöhnischer Blick ging von Jakob zu Max und zurück zu Jakob.
»Behalte deine Bilder für dich!«, herrschte Max ihn an und schlug ihm den Stapel Karten aus der Hand, sodass sie durch die Luft flogen und sich über den ganzen Treppenflur verteilten. »Und lass dich bei uns nie wieder blicken, sonst kriegst du Dresche!« Mit dieser Drohung stieß er ihn grob gegen das Treppengeländer und lief zurück nach oben.
Jakob wusste nun, dass Max und er nie wieder ein Wort miteinander sprechen würden. Und als sie sich tags darauf vor der Bäckerei begegneten, wechselte Max wie zur Bestätigung demonstrativ die Straßenseite.
6
Mit Max hatte Jakob seinen letzten Freund verloren. Denn von seinen Klassenkameraden wollte schon längst keiner mehr etwas mit ihm, dem Judenjungen, zu tun haben. Und wer es vielleicht doch gewollt hätte, traute sich nicht, sich gegen die gewaltige Flutwelle des Hasses zu stellen und mit ihm zusammen gesehen zu werden. Und mit Erich verband ihn nur, dass sie unter denselben Quälereien zu leiden hatten, ohne dass diese sie jedoch einander näher brachten.
Während Jakobs Eltern es mit der Religion, den Sabbatvorschriften * und dem koscheren* Essen nicht so genau nahmen und sich auch nur an wenigen hohen Festtagen in der Synagoge blicken ließen, hielten sich die Fellroths streng an die jüdischen Gebote und Gebete. Erich gehörte sogar zu einer verbotenen jüdischen Jugendorganisation, und seine Eltern waren glühende Verfechter der Idee, in Palästina einen eigenen jüdischen Staat zu gründen.
Darüber war Jakobs Vater einmal sogar mit Erichs Eltern bei einer ihrer seltenen Begegnungen in der Synagoge böse aneinander geraten.
»Sechzehn Millionen Juden aus aller Welt sollen in einem so kleinen Land wie Palästina zu einem Volk werden? Das ist doch eine geradezu lächerliche Illusion!«, hatte Jakobs Vater gesagt. »Was soll denn mit der dort lebenden arabischen Bevölkerung geschehen? Glauben Sie denn, die ziehen einfach so davon, wenn unseresgleichen dort auftaucht? Und wie sollen die Juden, die aus aller Herren Länder dorthin auswandern müssten, bei all ihren unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Sitten und Gebräuchen jemals zu einem Volk verschmelzen? Und welche Sprache sollen sie überhaupt sprechen?«
»Natürlich Hebräisch!«
»Aber das ist doch nichts als Traumtänzerei und allenfalls Stoff für gelehrte Debatten am Kamin!«, hatte Jakobs Vater erwidert.
All dies hatten ihm die Fellroths sehr übel genommen. Und seitdem mochten sich die beiden Familien noch weniger als zuvor – was nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Jakob und Erich geblieben war. Und so gingen sie auch jetzt getrennte Wege.
Das änderte aber nichts daran, dass die Schule für sie beide immer mehr zu einer Tortur wurde, nahmen doch die Demütigungen und Gemeinheiten kein Ende. Im Gegenteil, sie nahmen zu.
»Juda verrecke!« und »Jesusmörder!« stand eines Morgens in das Pult ihrer Schulbank eingeritzt und bald verewigten sich andere Mitschüler mit ähnlichen Beschimpfungen. Sogar einen Totenkopf mit einem Davidstern auf der Schädeldecke schnitt man ihnen in das Pult. Man schüttete ihnen Tinte über die Hefte, zerbrach ihre Stifte und trampelte auf ihren Schulranzen herum. Auch lauerte man ihnen immer wieder auf dem Heimweg auf, bewarf sie mit Steinen, spuckte sie an und fiel mit Übermacht über sie her, um sie zu verprügeln. Allein dem Umstand, dass Jakob von recht kräftiger Statur und flink auf den Beinen war, verdankte er es, dass er nicht jeden Tag Prügel einstecken musste. Einmal drosch er in blindwütiger Verzweiflung so wild um sich, dass die Jungen, erschreckt von seinem Gewaltausbruch, von ihm abließen, obwohl sie zu dritt über ihn hergefallen waren. Danach ließ man ihn weitgehend in Ruhe, was diese Prügeleien anging. Aber das bewahrte ihn nicht vor Schmerzen und Angst, denn körperliche Gewalt war nur eine von vielen Möglichkeiten, jemanden bis aufs Blut zu quälen.
Und Schmähungen, Verachtung und Gemeinheiten anderer Art mussten sie nicht nur von ihren Mitschülern und arischen Kindern in der Nachbarschaft erdulden, sondern auch ihre Lehrer und Lehrerinnen ließen sie tagtäglich spüren, dass sie verhasste Juden waren, Paria im Reich der arischen Herrenrasse und damit ohne Anspruch auf jegliche Rechte, geschweige denn auf einen Funken Anstand oder gar Freundlichkeit.
Egon Schmiedke, ihr Klassenlehrer, widmete sich im Unterricht mit Vorliebe dem neuen Fach Rassenkunde, erging sich in langen Ausführungen über die gebotene Erhaltung der Reinheit deutschen Blutes und ließ sich dabei von den Schülern die Merkmale der Juden beschreiben, die er gern als »Köterrasse« bezeichnete.
Es begann jedes Mal damit, dass Schmiedke entweder Erich oder Jakob nach vorn an die Schieferwand rief, damit sie mit Kreide groß und deutlich auf die Tafel schrieben, was ihnen die Mitschüler auf Zuruf des Lehrers als angeblich jüdische Rassenmerkmale nannten.
»Raffgierig!«
»Hinterhältig!«
»Grundverdorben!«
»Blutrünstig!«
»Gut!«, lobte Schmiedke. »Und nun die körperlichen Merkmale! Wer fängt an? … Jürgen!«
»Krumme Beine!«
»Plattfüße!«
»Verbogene Nasen!«
»Henkelartig abstehende Ohren!«
»Ekelhafter Körpergeruch!«
Einmal wagte Jakob aufzubegehren, als er an der Tafel stand und all diese hasserfüllten Verleumdungen, die ihm zugerufen wurden, untereinander schreiben musste. »Lüge!«, schrie er. »Lüge! … Alles Lüge!«
Sofort traf ihn Schmiedkes Reitpeitsche, mit der er stets vor der Klasse auf und ab stolzierte und die er dabei gegen seine blank polierten Schaftstiefel klatschte.
»Ruhe, du Judenbengel!«, brüllte der Lehrer ihn an und zog ihm die Gerte noch einmal schmerzhaft über die Schulter. »Du hältst das Maul und schreibst das auf!«
Zur Strafe musste Jakob auch noch die Zeilen eines beliebten HJ-Liedes an die Tafel schreiben, die die Mitschüler ihm und Erich häufig voller Häme nachriefen:
»Die Juden ziehen dahin – daher,
sie ziehn durchs Rote Meer.
Die Wellen schlagen zu -
die Welt hat endlich Ruh!«
Und dann sang Schmiedke, während Jakob mit brennender Schulter und im Kampf mit den Tränen vor der Tafel stehen bleiben musste, einmal mehr das Loblied auf den deutschen Jungen, der »hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder und flink wie ein Windhund« sei. Was die Klasse auf seine Aufforderung hin im Chor wiederholte.
Aber damit allein war es nicht getan. Schmiedke verfügte an jenem Morgen als zusätzliche Strafe, dass Jakob und Erich die große Pause nicht mehr in der Judenecke auf dem Schulhof verbringen durften, sondern fortan ihre Pausenbrote auf der Toilette essen mussten.
»Du Vollidiot! Das haben wir jetzt davon!«, schimpfte Erich hinterher voller Wut, und wenn er Jakob körperlich gewachsen gewesen wäre, hätte er ihn vielleicht sogar noch geschlagen, so außer sich war er. »Warum hast du das bloß gemacht, du Schwachkopf? Meinst du, einmal das Maul aufreißen ändert auch nur irgendetwas? Mann, bin ich froh, wenn wir endlich unsere Papiere haben und von hier wegkönnen – auch von so Deppen wie dir! Du bist ja fast so schlimm wie die Gojim*!«
Schmiedke schickte sie nun auch häufig während des Unterrichts auf den Flur, wo sie mit dem Gesicht zur Wand stehen mussten, bis er sie wieder in den Klassenraum rief. Dann befragte er sie zum Unterrichtsstoff, den er in ihrer Abwesenheit durchgenommen hatte. Natürlich konnten sie seine Fragen nicht beantworten, was Schmiedke jedes Mal zum Anlass nahm, um an die Klasse gewandt genüsslich zu sagen: »Da seht ihr mal wieder, wie dumm Juden sind! Nicht mal die einfachsten Fragen können sie beantworten! Aber aufs Wuchern, Betrügen, Intrigieren und Kinderschänden verstehen sie sich dafür umso besser!«
Die meisten anderen Lehrer verhielten sich ähnlich. Limbrecht, ihr dickbäuchiger, kleinwüchsiger Biologielehrer, der in der viel zu eng sitzenden Naziuniform wie eine fette Leberwurst aussah, die jeden Moment platzen konnte, holte sie vor die Klasse und vermaß mit einer Art Zirkel umständlich ihren Schädel. Die Maße, die er bei Erich und Jakob ermittelte, bewiesen angeblich zweifelsfrei, dass ihre Schädel nicht nur die typischen Deformierungen minderwertiger Rassen aufwiesen, sondern auch noch einen bedeutend kleineren Umfang als die Durchschnittsköpfe der arischen Herrenrasse besaßen.
Und mit einem fast sanften, nachsichtigen »So, nun setz dich mal wieder, Jakob. Du kannst ja nichts dafür, dass du Jude bist!« schickte er ihn wieder zurück auf die Judenbank, um sich dann lang und breit darüber auszulassen, weshalb der germanische Langschädel allen anderen Rassen weithin überlegen sei.
Frau Sennekamp gehörte zu den wenigen Lehrpersonen, die nichts dergleichen in ihrem Unterricht sagten oder taten, um sie zu demütigen und bloßzustellen. Aber auch sie hielt sich an die eiserne Regel des gesamten Kollegiums, Juden im Unterricht nicht dranzunehmen, wenn Fragen gestellt wurden und sie sich meldeten. Ob sie dies tat, weil auch sie Juden für Schmarotzer, Volksverderber und schädliche Bazillen hielt, wie es überall propagiert wurde, oder weil sie nicht wagte, sich gegen die Mehrheit zu stellen und in den Geruch der Judenfreundlichkeit zu kommen – Jakob wusste es nicht. Es änderte jedoch nichts daran, dass Erich und er auch von ihr nicht ein einziges Mal aufgerufen wurden, seit man sie auf die Judenbank verbannt hatte.
Etwa einen Monat nachdem Jakob mit Max seinen letzten Freund verloren hatte, fügte Limbrecht Erich und ihm eine besonders schlimme Erniedrigung zu. Er rief sie wieder einmal vor die Klasse und forderte sie ohne jede Rücksicht auf ihr Schamempfinden auf: »Zieht euch aus! … Und Hosen runter! … Auch die Unterhose!«
Jakob wollte aus der Klasse rennen. Doch die Angst vor einer Strafe, die vielleicht noch bösartiger war als das, was Limbrecht hier von ihnen verlangte, hielt ihn zurück. So tat er es denn Erich gleich und legte mit gesenktem Blick und brennenden Ohren Hemd und Hose ab – und zog am Schluss auch die Unterhose hinunter.
Als sie nackt vor ihren feixenden Klassenkameraden standen, erläuterte Limbrecht in aller Gemütsruhe und mit seinem Zeigestock, den er über ihren Körper wandern und an gewissen »jüdischen Merkmalen« verharren ließ, die körperlichen Unterschiede zwischen der degenerierten Judenrasse und der arischen Herrenrasse. Dabei hielt er sich besonders lange bei dem Thema »Jüdische Beschneidungsriten« auf.
Jakob fühlte sich nicht nur körperlich nackt, sondern auch bis ins Innerste entblößt und um etwas Kostbares beraubt, auch wenn er es nicht beim Namen zu nennen vermochte. Und er wünschte, tot zu sein.
7
Das Gift, das Schmiedke und seinesgleichen Tag für Tag in Jakobs Seele träufelten, blieb nicht ohne Wirkung, auch wenn sein Verstand immer wieder verzweifelt gegen die bösartigen Behauptungen der Nazipropaganda aufbegehrte. So manches Mal stand er im Badezimmer vor dem Spiegel und ertappte sich dabei, dass er in seinem Abbild nach den angeblich typisch jüdischen Rassenmerkmalen forschte. Aber da waren keine verbogene Nase, keine henkelartig abstehenden Ohren und auch kein deformierter Kopf. Was er sah, war ein blasser Junge mit dunkelblond gelocktem Haar und einem durchschnittlich geformten Gesicht, das um Nase und Augen mit Sommersprossen gesprenkelt war.
Doch die verzweifelten Einreden und Selbstbeschwörungen, dass nichts von dem stimmte, was man ihnen, den Juden, tagtäglich nachsagte, verloren immer mehr an Kraft, je länger er sich dieser allgegenwärtigen Hetze ausgesetzt sah. Das Minderwertigkeitsgefühl begann, wie eine böse Geschwulst in ihm zu wachsen, und er hasste sich dafür, Jude und damit ausgestoßen und von allem Glück ausgeschlossen zu sein. Und mehr als einmal spürte er im Badezimmer vor dem Spiegel das unbändige Verlangen, die Faust zu ballen und in dieses Abbild zu schlagen, damit es in tausend Stücke zersprang.
Heimlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als auch Arier zu sein und zu den anderen zu gehören, mitreden, mitlachen und mitspielen zu können.
Als in diesen Tagen wieder einmal ein Fackelzug der Hitlerjugend mit ihren Landsknechtstrommeln und Fahnen durch die Straßen zog, stand er hinter der Gardine des Wohnzimmerfensters und sah mit neidvoller Sehnsucht auf die vorbeimarschierenden und singenden Jungen seines Alters hinunter. Was hätte er nicht für das Gefühl der Gemeinschaft, der Kameradschaft gegeben, das für jene dort unten so selbstverständlich war!
Alles hätte er dafür gegeben! Alles!
Auch er wollte Kameraden haben, zu Gruppennachmittagen gehen, an Fackelzügen und Zeltlagern teilnehmen, mit den anderen zur Gitarre Märkische Heide und Siehst du im Osten das Morgenrot singen und sich mit seinem Essnapf in die Schlange vor der Gulaschkanone stellen, um seinen Schlag dicker Kartoffelsuppe mit Würstchen abzuholen. Aufgehen … nein, sogar untergehen wollte er in der fröhlichen Menge Gleichgesinnter. Nichts Besonderes, sondern einfach nur einer von ihnen sein. Und keine Angst mehr haben müssen!
Doch er war ein Jude, verdammt dazu, von allen und allem ausgestoßen zu sein. Und es gab nichts, absolut nichts, um diesen Schmerz zu betäuben, der ihn nicht mehr verließ. Nicht einmal reden konnte er darüber, auch nicht mit seinen Eltern.
Eines Nachmittags schlich er sich ins Kino, obwohl der Besuch der Lichtspielhäuser für Juden längst verboten war. Er wollte jedoch unbedingt auch den aufregenden Abenteuerfilm sehen, von dem er seine Mitschüler in der Schule so begeistert hatte reden hören. Sich der Gefahr bewusst, die er mit der Übertretung des Verbotes einging, mied er jedoch das Kino in ihrem Stadtviertel, wo ihn zu leicht einer aus der Schule oder der Nachbarschaft hätte erkennen können.
Obwohl es an diesem Oktobertag eigentlich schon zu kalt für seine kurzen Lederhosen und den ärmellosen Pulli war, entschied er sich ganz bewusst für diese Kleidung. Deutsche Jungen waren hart wie Kruppstahl und froren nicht so leicht, hieß es doch allenthalben, und genau diesen Eindruck wollte er mit seiner Kleidung erwecken, als er sich aus dem Haus schlich und in ein Kino begab, das weit genug von ihrem Viertel entfernt lag, um eine zufällig Entdeckung so gut wie auszuschließen.
Sein Herz schlug bis zum Hals, und seine Hände waren feucht vor Angstschweiß, als er sich an der Kasse anstellte. Aber niemand schenkte ihm einen zweiten Blick und dann saß er im schützenden Dunkel des Kinos und vergaß für die Dauer des Films seine Ängste und Nöte und dass er eigentlich gar nicht hätte hier sein dürfen.
Auf dem Heimweg fror ihn, denn mit Einbruch der Dunkelheit war es empfindlich kalt geworden. Er tat jedoch so, als machte ihm die Nachtkälte nichts aus. Kurz vor den vertrauten Straßen seines Viertels kam ihm plötzlich eine Gruppe uniformierter Hitlerjungen entgegen, als er um die Ecke bog. Zu spät, um noch rechtzeitig und unauffällig die Straßenseite wechseln zu können.
Sofort sprang die Angst ihn an. Schnell senkte er den Kopf und bohrte mit dem Fingernagel zwischen den Zähnen, als hätte sich dort ein Essensrest verklemmt, der seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.
»He, du da!« Die Hitlerjungen versperrten ihm den Weg.
Lauf so schnell du kannst!, schrie eine Stimme in Jakob, doch wie gelähmt blieb er vor der Front der jungen Hitlerschar stehen.
»Sag mal, kenne ich dich nicht?«, fragte einer und musterte ihn argwöhnisch. »Bist du nicht auch einer von diesen dreckigen Juden, die unsere gute deutsche Luft verpesten?«
Jakob zwang sich, den Kopf zu heben und dem fremden Jungen ins Gesicht zu blicken. Und ohne zu wissen, woher plötzlich die Kaltschnäuzigkeit kam, die ihm die Worte in den Mund legte, fragte er entrüstet zurück: »Sag mal, hast du sie hier oben noch alle?« Er tippte sich an die Stirn. »Ich und ein dreckiger Jude? Willst du mich beleidigen? Sehe ich etwa wie ein Jude aus? Oder kannst du bei mir vielleicht’ne krumme Nase und so Henkelohren entdecken, mit denen die Itzigs rumlaufen?«
Hinter dem Hitlerjungen, der ihn angesprochen hatte, lachten einige. Und jemand sagte spöttisch: »Mensch, Kalle! Würde so’n Drecksjude vielleicht bei der Kälte in Lederhose und Pulli rumlaufen? Mann, dem würden doch glatt die Eier abfrieren.«
»Wär nicht schade drum«, sagte Jakob.
Mit diesem Kommentar erntete er schadenfrohes Gelächter von der ganzen Gruppe und zerstreute den letzten Rest Misstrauen.
»Na, dann... Heil Hitler!«, rief der Wortführer der Hitlerjungen.
»Heil Hitler!«, antwortete Jakob ebenso schmissig und riss den Arm hoch.
Im selben Moment schob sich von hinten ein vertrautes Gesicht in den Lichtkreis der Straßenlaterne – es war das seines einstigen Freundes Max!
Jakob war, als bohrte sich ein Splitter aus Eis in seine Brust. Die Gesichter vor ihm schienen zu einem Standbild zu gefrieren.
Max starrte ihn an.
Jakobs Gehirn war wie leer gefegt. Das Einzige, was er spürte, war alles umfassende Angst, die ihm die Kehle zuschnürte. Die Zeit schien zum Stillstand gekommen zu sein.
Dann brach dieses gefrorene, eisige Bild und die Gruppe setzte sich in Bewegung – und mit ihr Max. Ohne ein Wort ging er an ihm vorbei. Im nächsten Moment bog er mit seinen Kameraden um die Ecke.
Jakob lief in den nächsten Durchgang zu einem der Hinterhöfe, lehnte sich zitternd gegen die kalte schwarze Hauswand und erbrach sich, bis nur noch bittere Galle kam.
Was ihn würgte und verfolgte, weit über diese Stunde und diesen Tag hinaus, war nicht das feige »Heil Hitler!« mit dem willig hochgerissenen Arm, den er den Hitlerjungen entgegengestreckt hatte, es waren die Worte »dreckiger Jude«, die er ausgesprochen hatte, und mit ihnen die Verleugnung seiner selbst und aller, die litten wie er.
Er hasste sich dafür, mehr noch als für seine jüdische Herkunft. Zu Hause schlich er sich ins Bad und spuckte sich im Spiegel an. Dann zog er die Klospülung und weinte.
8
Die Nazis haben ein neues Gesetz erlassen!«, stieß Ruth Silberstein, die schwergewichtige Freundin von Jakobs Mutter, an einem heißen Sommertag des Jahres 1938 atemlos hervor und sank bei ihnen in der Küche mit schweißbedeckter Stirn auf den nächsten Stuhl.
»Nun hol erst mal Atem und trink ein Glas Zitronenlimonade, Ruth«, sagte die Mutter und holte einen Krug aus der schweren Kühlbox, die im Innern mit dünnem Blech verkleidet war.