Peter Jäger
Die Sehnsucht des Puppenspielers
Eine Novelle
über Kinderspaß
und Lebensträume
Peter Jäger: Die Sehnsucht des Puppenspielers. Eine Novelle über Kinderspaß und Lebensträume. Hamburg 2020
Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten sind zufällig und ergeben sich aus Erkenntnissen und Situationen in dieser traditionellen Darstellungskunst.
E-Book: ISBN: 978-3-948218-19-5
Dieses Buch ist auch als gedrucktes Buch erhältlich und kann über den Handel oder über den Verlag bezogen werden.
Druckausgabe: ISBN: 978-3-948218-18-8
Lektorat/Korrektorat/Layout: Günther Döscher
Umschlaggestaltung: Maike Winzig / Bedey Media GmbH, Hamburg
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.
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Laßt uns auch so ein Schauspiel geben!
Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.
In bunten Bildern wenig Klarheit,
Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit.
So wird der beste Trank gebraut,
Der alle Welt erquickt und auferbaut.
Johann Wolfgang von Goethe
Inhalt
„Wo die Liebe hinfällt“
„Hinter dem Vorhang“
„Frühstück mit den Puppenspielern“
„Sofa im Graben“
„Abenteuer Ostsee“
„Cocktails und ein Überfall“
„Hotzenplotz und die Perlenkette“
„Neue Pflegerin gesucht“
„Kita-Leiterin greift ein“
„Abschied“
„Wenn die Ideen sprudeln“
„Feilschen im Baumarkt“
„Grüße an die Redaktion“
„Freund Hansi auf Besuch“
„Spaziergang am Morgen“
„Über den Augenblick des Glücks“
„Spektakel im Festzelt“
„Achtung, Notaufnahme!“
„Puppenspieler klopft bei Goethe an“
„Lilo verlässt Juckipucki“
„Adios Amore?“
„Versöhnung beim Stückeschreiber“
„Autor Peter Jäger“
DANK
für viele vergnügte Stunden,
die mir das Puppentheater
seit meiner Kindheit beschert hat.
Dass daraus eine gedruckte Hommage an
diese seit Jahrhunderten beliebte Kleinkunst entstanden ist, verdanke ich Freunden,
engagierten Künstlern und
meinem Lektor Günther Döscher.
Peter Jäger
Wo die Liebe hinfällt
Es ist fast noch Nacht, kurz nach sieben Uhr, doch in der Kindertagesstätte »Zwergenburg« herrscht ein hektisches Durcheinander. Mütter und Väter eilen mit ihren Lieblingen über den Flur in die Gruppenräume. Die Zeit sitzt ihnen im Nacken, der Job ruft. Und hier, in der festen Burg für Kinder, übernehmen geschulte Erzieherinnen den Staffelstab, helfen beim Ausziehen der Jacken und Anziehen der leichten Turnschuhe, verteilen Streicheleinheiten an Jungen und Mädchen, die noch nicht ganz wach sind oder am liebsten mit Mutti zur Arbeit gegangen wären.
Lilo und Doris beginnen ihren Dienst erst eine Stunde später, wenn auch die Kinder der »Gleitzeitmütter« eingetroffen sind. Sie leiten die Elementargruppe der drei- bis sechsjährigen »Katzenpfoten«. Diese sanft klingende Bezeichnung warnt davor, dass die Jungen und Mädchen schon mal die Krallen ausfahren, wenn ihnen etwas nicht passt. Aber diese kleinen Stressmomente gehören zum Kita-Alltag.
Die beiden Freundinnen haben trotzdem ihren Spaß beim Spiel mit den Kindern, die dabei auch den freundlichen Umgang miteinander lernen und erste Freundschaften schließen. Denn das ist vielleicht das Wichtigste im Leben. So geht der Vormittag wie im Spiel vorüber – und alle haben ein bisschen hinzugelernt.
Lilo arbeitet nur halbtags. Zur Mittagszeit verabschiedet sie sich frohgelaunt. Und das hat seinen besonderen Grund, denn draußen steigt sie in ein wartendes Fahrzeug, schnallt sich nicht an, sondern legt ihren Kopf in die Arme eines Mannes, genießt sogar dessen leidenschaftliche Küsse.
»Nun sieh dir das an«, sagt Doris in erstaunter Entrüstung zu sich selbst. Nicht, dass sie ihrer Freundin nachspionieren wollte – nein, nur eine Weile entspannend aus dem Fenster ins Grüne gucken wollte sie. Und nun das! Wer ist so unverschämt, eine Mitarbeiterin vor ihrem Kindergarten zu vernaschen? In ihrem Kopf dreht sich ein Gedanken-Karussell. Denn sie hat den schwarzen Zopf des Mannes erkannt und weiß Bescheid: Michael, der Puppenspieler Juckipucki, den alle Kinder lieben, bei dem auch die Erzieherinnen blanke Augen bekommen, wenn er mit lockeren Sprüchen flachst. Na klar, er ist der gewiefte Verführer, und Lilo seine ahnungslose Auserwählte!
Dabei kann Doris nicht entspannen. Diese Beobachtung muss sie dringend unter die Leute bringen. Sie eilt zu Sabine, lockt sie mit einem Fingerzeig aus ihrer Hort-Gruppe auf den Flur und kann gar nicht so schnell reden, wie sie es erzählen möchte: »Wir sind ja alle etwas verknallt in Michael, aber wieso greift er sich Lilo? Kannst du das verstehen? Bei dem krassen Altersunterschied? Das kann nicht gutgehen!«
Sabine findet nicht, dass Lilos Flirt schon eine Festlegung für die lange Strecke bis zur Rente sein muss. »Erstmal genießt sie das Prickeln. Und außerdem ist das doch ihre Sache!«
Das sieht Doris anders. Als sie im Flur auf Kita-Leiterin Andrea Löwe trifft, nimmt sie den nächsten Anlauf. Doch die ist beschäftigt, winkt ab, ohne richtig hinzuhören. »Sei mir nicht böse, ich muss was kopieren. Und lass die Ohren nicht hängen. Ihr versteht euch doch sonst so gut.«
* * *
Am anderen Morgen erfährt Lilo von dem Getratsche. An der Garderobe zitiert eine ältere Kollegin ein Sprichwort, das wie ein Vorwurf klingt: »Nichts ist so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen!«
Unterdessen wartet Doris angespannt auf ihre Freundin. Wie wird sie auf die Enthüllung ihrer neuen Beziehung reagieren? Sie hat den Morgenkreis vorbereitet, sitzt am großen Tisch mit den Kindern, weil sie eine lustige Geschichte vorlesen will.
Da geht die Tür auf und Lilo ruft: »Hey, habt ihr auf mich gewartet? Mich hat Frau Holterdipolter aufgehalten.«
»Die gibt es doch gar nicht«, erkennt Finn ihre kleine Schwindelei. Trotzdem klopft er mit der Hand auf den reservierten Stuhl an seiner Seite. »Hab ich für dich freigehalten, Lilo.«
Doris sitzt ihr gegenüber. Sie hält den vorwurfsvollen Blick der Freundin stillschweigend aus. Hier, in der Kinderrunde, dürfen sie auf keinen Fall streiten. Deshalb schiebt Lilo ihr einen vorbereiteten Zettel über den Tisch.
»Für später.«
Doris will sofort wissen, was auf sie zukommt und liest: »Du bist eine widerliche Petze. Ich kündige dir meine Freundschaft!«
Mit dieser scharfen Reaktion scheint sie nicht gerechnet zu haben. Enttäuscht zerknüllt sie den Zettel und zischt wie eine aufgeschreckte Schlange: »Ich habe es doch für dich getan.«
Lilo hat diese Ausrede sicher schon mal in einem Fernsehkrimi gehört, denn ihr Gesichtsausdruck sagt soviel wie: Das kannst du deiner Großmutter erzählen.
* * *
Michael ist ein gefragter Puppenspieler und kein besonders guter Ratgeber. Aber man muss zur Stelle sein, wenn die Liebste anruft und fleht: »Hol mich hier raus, Michi, bevor ich dummes Zeug mache.«
Also sitzt Lilo am Abend mit ihrem Retter an einem Zweiertisch im Lokal seines Freundes. Massimo findet immer eine Lösung, wenn Verliebte eine Gondel brauchen. Und oft hilft auch ein Glas Rotwein, um die Verkrampfung vor der Beichte zu lockern.
»Soll ich dir einen Barolo bestellen? Ein Glas vom Besten, den schenkt Massimo nur für besondere Anlässe aus«, versucht Michael, Lilo aus der Reserve zu locken.
Unfassbar – keine Freude huscht über ihr Gesicht. Er klatscht in die Hände, um sie zu beleben. Doch sie lehnt seine Einladung mit gequälter Stimme ab: »Wein auf leeren Magen kann ich nicht vertragen, Michi. Nach dem Nudelgericht geht es mir bestimmt besser, dann bin ich wieder dein Sonnenschein.«
»Warum nicht vorher und nachher? Du weißt doch: Die Leber wächst mit ihren Aufgaben. Darüber gibt es sogar ein Buch«, meint Michael grinsend.
»… und bei der Polizei heißt dieses nette Buch Bußgeldkatalog.«
Diese Schlagfertigkeit ist Lilos Stärke, auch bei Diskussionen, die sie in ihrem Kindergarten austragen muss. Herrlich sind ihre Schilderungen über Eltern, die sich beschweren, wenn ihre Lieblinge über Bauchweh, Sand im Haar, Aua am Knie oder Pipi in der Hose jammern. Das alles ist doch keine Aufregung wert.
Was sie aber richtig umgehauen hat, das ist das Sticheln gegen diesen Menschen, den sie liebt, obwohl er bald die Fünfzig erklommen hat.
Lilo wirft einen Blick zur kleinen Bühne im Lokal, auf der Musiker am Wochenende die Stimmung der Gäste anheizen. Er nutzt ihr Abschweifen und beugt sich flüsternd vor: »Massimo hat mir angeboten, dort mit einem flotten Stück für Erwachsene aufzutreten. Sogar die drei Tenöre hätten schon bei ihm angefragt, versuchte er mir vorzugaukeln. Da habe ich mich vor Lachen gebogen.«
»Typisch Italiener, fahren einen Fiat Panda und protzen, als hätten sie einen Ferrari in der Garage.«
»Die meisten sind liebenswerte Schwärmer, Lilo. Übrigens – ich brauche dringend deine Unterstützung. Mein Vater kann auch nicht immer mitspielen. Ich möchte mit einer verkürzten Operette herauskommen. Hättest du Lust mitzumachen?«, lockt er mit bettelndem Dackelblick.
»Kinderlieder kann ich besser«, lässt Lilo seinen Vorschlag abblitzen. »Schenkt man sich Rosen in Tirol, hat meine Mutter geträllert, wenn Paps ihr einen Strauß von der Tankstelle mitbrachte. Heutzutage geht das Publikum ins Musical.«
Mehrmals schon hat Lilo Michael mit seinem Kaspertheater »Juckipucki« erlebt. Das sind Höhepunkte für ihn, wenn die Kinder aufmerksam und mit großen Augen die Abenteuer auf der Minibühne verfolgen und den Kasper grölend vor lauernden Gefahren warnen.
»Ich mach doch Krimis für die Lütten«, sagt Michael über seine Kunst. »Ist ja nicht verkehrt, wenn sie dabei den Unterschied von Gut und Böse erfahren. – Muss nur noch ein bisschen Musik dazu, dann haben wir das Musical für kleine Leute. Es muss doch nicht gleich ein staatlich subventioniertes Haus dafür gebaut werden.«
Lilo kennt seinen Standpunkt, dass der Begriff Kaspertheater seine Entwicklung bremst. »Mensch Michi«, wirft sie ihm vor. »Da fasst sich jede Erzieherin an die Birne – der große Puppenspieler hat das dankbarste Publikum der Welt! Und fühlt sich trotzdem unterfordert.«
Frauen halten nichts davon, mit Andeutungen abgespeist zu werden. Lilo kratzt weiter an der Oberfläche, bis Michael ihr unter strengster Geheimhaltung anvertraut, dass ihn die mystischen Szenen in Goethes »Faust« faszinieren. Er will seinen Freund Hansi mit ins Team holen. »Der ist ein bekannter Fotograf in Braunschweig, hat Pressekontakte und kann die richtigen Bilder dazu machen.«
In diesem Moment kommt Massimo an den Tisch. Auf dem Tablett bringt er zwei Portionen Spaghetti ai Frutti di Mare.
»Buon Appetito, meine Freunde!«
Lilo dankt mit »Grazie!«, verliert ihre Begeisterung aber beim Anblick der gewaltigen Portionen. Kaum ist Massimo verschwunden, zeigt ihr Daumen nach unten. »Bei dieser Menge riskiere ich einen Rettungsring um meine Hüften. Ich hätte den Kinderteller bestellen müssen.«
Während des Essens berichtet Lilo vom Konflikt mit Doris. Sie muss sich das von der Seele reden. Da geht es um ihr Privatleben, das ihre beste Freundin nicht respektiert.
Michael hört ihr geduldig zu. Bei Streit zwischen Frauen hält er sich lieber zurück, da ist der Ratgeber oft am Ende der Dumme. Was dabei herauskommt: Doris kann nicht die Klappe halten, will Lilo vor Enttäuschung bewahren – und ausgerechnet Michael ist der angefeindete Verführer.
Lilo betont, dass sie in der »Katzenpfoten«-Gruppe mit Doris am gleichen Strang zieht. Die Kinder können ja nichts dafür, dass sie Zoff miteinander haben. »Wir vermitteln ihnen Gemeinschaft, Freude, Spiel und Tanz, damit sie stark werden«, ist ihr Standpunkt. »Putzmunter bin ich aber geworden, als Doris, völlig losgelöst von allen Regeln, auch am Frühstückstisch der Gruppe stänkerte.«
Aufgeregt schildert Lilo die Situation: »Der kleine Finn hatte Doris mit ängstlichem Blick gefragt: ›Warum bist du böse mit Lilo?‹ – Die spielte dann den Unschuldsengel: ›Wir haben nur ein bisschen Streit, so wie ihr, wenn ihr euch nicht einigen könnt.‹ – Und Finn fragte: ›Hat sie dir was weggenommen, die Lilo?‹ – Und Doris sagte: ›Nein, sowas machen Freundinnen nicht, die haben sich lieb. Aber manchmal sind sie auch aufeinander böse.‹ – An dieser Stelle ist mir der Kragen geplatzt.«
Lilo sieht ihren Michi meinungsforschend an, doch sein Gesicht bleibt neutral. »Es wurde so laut, dass die Kleinen vergaßen, ihr Frühstück zu essen«, fährt sie fort. »Es hatte sich ausgehüpft auf dem Trampolin der Freundschaft. Deshalb bin ich am Samstag mit Doris in der Innenstadt verabredet. Mit offenem Ausgang.«
Später steht Michael am Tresen und plaudert mit dem Wirt. Den lebhaften Gesten nach könnte es um einen Deal gehen: Vergiss die Rechnung, dafür bespaße ich deine Gäste.
* * *
Petrus schickt am Samstagmorgen viel Sonnenschein in das lebhafte Zentrum von Hannover. Der herrliche Frühlingstag lädt dazu ein, vor einem Café zu sitzen. Lilo und Doris finden einen Tisch neben dem Eingang, der von den meisten Gästen anscheinend verschmäht wird.
Bei der Begrüßung vermeiden die verkrachten Freundinnen die sonst gewohnte Umarmung. Ein distanziertes Lächeln auf ihren Gesichtern signalisiert immerhin eine bescheidene Bereitschaft zu Friedensverhandlungen. Doch wenig später, als sie sich gegenübersitzen, sind ihre Gesichtszüge von Anspannung geprägt.
Nach einem flüchtigen Blick aufs Handy, das sie auf den Tisch legt, strafft Doris ihren Körper, als ob sie zu einem Sprung auf das Opfer ansetzen will. Dann spricht sie Klartext.
»Du hast dich verrannt, Lilo! Dass du einen Mann liebst, der Kinder mit seinem Puppenspiel verzaubern kann, ist nicht der Knackpunkt. Wir alle freuen uns in den Gruppen, wenn Michael bei uns auftritt. Was mich und andere Kolleginnen abschreckt, ist euer Altersunterschied. Das geht in den seltensten Fällen gut.«
Volltreffer! Doris hat einen Warnschuss abgefeuert. Da fehlt nur noch die scheinheilige Frage, ob Lilo ihre Tage pünktlich bekommt.
Während die Bedienung die Bestellung entgegennimmt, stehen Doris’ Worte im Raum. Erst streichelte sie sanft den sympathischen Puppenspieler, – dann schlüpfte sie in die Rolle der besorgten Mami.
Lilo macht ihrer Freundin nun klar, dass sie ihre Bedenken nachvollziehen kann. Mehr aber nicht. Denn keine Beziehung hat eine Haltbarkeitsgarantie. Das gilt auch für ihre angeknackste Freundschaft – und schon am Montag sehen sie sich in der Kita-Gruppe wieder.
»Zugegeben, Doris, jede Single-Börse würde mir von dieser Beziehung abraten. Weil der Altersunterschied von achtzehn Jahren einige Risiken birgt. Aber was ist heutzutage sicher? Mein Arbeitsvertrag hat zum Beispiel eine Laufdauer von zwölf Monaten, dann kommt der Moment, ob unsere Chefin ihn verlängert oder nicht. Trotzdem ist die Kindertagesstätte mein zweites Zuhause. Wir passen zusammen. Deshalb solltest du begreifen: Meine Partnerwahl ist Privatsache. Ich mische mich auch nicht in deine Ehe ein, hörst du?«
Nach dieser Klarstellung soll die Stichelei ein Ende haben. Doris ist jedoch nicht überzeugt. Sie nippt am Milchschaum des Cappuccinos und wird heftiger: »Du bist auf beiden Augen blind, Lilo! Opferst deine Jugend für einen Blender. Er spielt mit dir, als wärst du eine seiner lächerlichen Kasperpuppen. Du bist mir und anderen Freundinnen nicht gleichgültig.«
Wahnsinn! Sie schreckt nicht davor zurück, die schmerzende Wunde zu vertiefen. Dabei kennt sie Michael nur von seinen Auftritten in der Kita. Wagt es aber, ihn mit Unterstellungen schlecht zu reden.
Lilo dreht gedemütigt den Kopf zur Kellnerin: »Hallo, ich möchte zahlen!«
Doris probiert eine Rolle rückwärts: »Nun sei doch keine Mimose, Lilo! Nur weil ich mal Klartext gesprochen habe, brauchst du nicht gleich die Flucht zu ergreifen.«
Lilo bleibt konsequent: »Zu spät, Doris, damit hast du den Bogen überspannt.« Sie geht sogar der Kellnerin entgegen und legt ihr fünf Euro aufs volle Tablett, mit dem sie aus dem Café kommt. »Für mein Getränk. Stimmt so.«
Hinter dem Vorhang
Michael ist keine Zufallsentdeckung. Als Leiter seines Kaspertheaters »Juckipucki« besucht er regelmäßig Kitas, Grundschulen und Stadtfeste in Hannover. Ab und zu taucht er in der »Zwergenburg« auf, um neue Aufführungen zu verabreden. Meist werden Kasper-Stücke gespielt, die sein Vater, der Gründer des Puppentheaters, geschrieben hat. Der Senior, von Beruf Bäcker, genießt immer noch den Moment, wenn das berühmte Tri-tra-trullala die Kinder in seinen Bann zieht. Inzwischen ist er im Ruhestand, hilft manchmal noch aus.
Im letzten Sommer wagte Lilo, den Puppenkünstler Michael auf seine außergewöhnliche Frisur anzusprechen. »Hat der Zopf eine besondere Bedeutung, ich meine, ist er vielleicht ein Symbol der Puppenspieler?«
»Nein, dann müssten auch die Frauen, die ihre langen Haare zusammenbinden, etwas mit unserer Märchenwelt zu tun haben. Statt Scheitel und ausrasiertem Nacken ist mein Zopf ein Stück Freiheit, die ich mir herausnehme. Also vielleicht doch ein Symbol. Und ich befinde mich in bester Gesellschaft«, betonte er stolz, um sofort einige Vorbilder zu erwähnen.
»Brad Pitt spielte im Film ›Troja‹ den Achilles, den schönsten Krieger aller Zeiten. Er trug einen wilden Zopf. Meiner ist gesittet zusammengebunden. Auch Leonardo DiCaprio und David Beckham sind hin und wieder mutige Zopfträger. Falls ich das Alter von Karl Lagerfeld erreichen sollte, werde ich meine grauen Haare wie dieser selbstbewusste Modeschöpfer präsentieren.«
Lilo sog seine Schilderung wie eine Offenbarung ein. Trotzdem vermisste sie einen Namen. »Einen bedeutenden Künstler hast du nicht erwähnt. Es gibt einen Geiger, der von meiner Mutter verehrt wird. Bestimmt hast du ihn schon fiedeln gehört.«
»Meinst du David Garrett? Peinlich, habe mir sogar seinen Film ›Der Teufelsgeiger‹ angesehen. Aber er hat mich nicht überzeugt. Als Geiger ist er ein Genie, als Schauspieler finde ich ihn nicht so prickelnd – trotz Zopf.«
In diesem Moment war die Zündschnur gelegt. Denn Lilos Interesse lockerte Michaels Zunge: »Puppenspiel ist eine Berufung, die Pflege einer legendären Tradition. Das verstehst du besser, wenn du es selber ausprobierst. Unser kleines Kasperle-Theater dient der Vorbereitung der Kinder auf ihre Zukunft, so wie deine Arbeit in der Kita. Am Anfang ist es kein großer Unterschied. Die Kleinen erkennen bei uns schnell, wer die Guten und wer die Bösen sind.«
An diesem Nachmittag, als beide spürten, dass ihre beruflichen Ziele sie verbindet, bot der Puppenspieler Michael der Kita-Erzieherin Lilo ein Praktikum an. Für gelegentliche Auftritte am Wochenende, denn ihren Beruf als Erzieherin wollte sie auf keinen Fall an den Nagel hängen. Und dann passierte es, dass sich Puppenspiel und Liebe miteinander verschmolzen.
Seitdem führen beide ein abwechslungsreiches Kleintheater-Leben, meist ohne Michaels Vater, dem Gründer, der gerne bei einem Glas Weinbrand über neue Stücke nachdenkt.
Lilo findet die zwei Puppenspieler außergewöhnlich, mehr jedoch ihren Michi, weil er die Kunst des Verführens beherrscht. Außerdem ist sie hingerissen von seinem Talent, den Figuren eine authentische Stimme zu verleihen: tiefschwarz als gefährlicher Räuber – blütenzart und naiv wie Oma Rosi.
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