ISBN: 978-3-95573-799-3
1. Auflage 2018, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2018 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.
Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von dem Autor nicht beabsichtigt. Alle Rechte vorbehalten.
Den Abend hatte sich Torsten Oltmann ganz anders vorgestellt. Statt mit seiner hübschen Frau Wibke auf der Couch zu kuscheln, saß er hier alleine bei einem Bier und Korn an der Theke in der Kultkneipe Zur Stechuhr im Museumshafen von Carolinensiel.
Es war überhaupt nicht sein Tag gewesen. Erst heute Morgen der Anruf seines Vaters wegen des blöden Kratzers mit Beule am neuen Firmenwagen. Den hatte ihm wohl gestern irgend so ein Idiot vor dem DRK-Kurzentrum verpasst. Er hatte am Rondell vor dem Eingang geparkt, während er mit einem Mitarbeiter die routinemäßigen Wartungsarbeiten an der Heizungsanlage des Kurzentrums durchführte. Für solche wichtigen Kunden wie das DRK-Kurzentrum übernahm er als Juniorchef die Wartung der Heizungsanlage gerne selbst. Und natürlich hatte sich niemand gemeldet. Es hatte wohl auch keiner der anderen Kurgäste irgendetwas gesehen, wie eine Nachfrage im Kurzentrum ergeben hatte.
Dann dieser blöde Streit mit Wibke, der damit geendet hatte, dass sie mal wieder gemeint hatte, bei ihrer Mutter übernachten zu müssen. Torsten Oltmann musste seinen Frust erst einmal mit ein paar Bier und Korn runterkippen.
„Ich brauch dringend noch ein Pils und einen Korn, Nancy.“
„Sollst du wohl haben“, erwiderte Nancy Bläsing, die Wirtin der Kultkneipe Zur Stechuhr der Könige.
„Ich hab ja so viel Pils und Korn, dass ich das sogar verkaufen muss“, versuchte sie ihn wieder aufzumuntern, als sie ihm die Getränke hinstellte.
Aber Torsten war nicht zum Scherzen zumute. Und ausgerechnet heute war kein Kumpel da. Die waren an diesem Samstag alle bei Jan Grube, einem Ehrenmitglied des VfB Carolinensiel, der heute seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feierte. Torsten hatte wegen einer Grundstücksstreitigkeit im letzten Jahr einen Gerichtsprozess gegen Jan gewonnen. Seitdem war Jan nicht mehr gut auf ihn zu sprechen.
An zwei Tischen saßen nur ein paar Kurgäste bei einem Nordsee Pilsener oder Altbier. Und Torsten hockte nun mit seinem Frust und seinen Gedanken alleine an der Theke. Nancy war eine erfahrene Wirtin und hatte längst erkannt, den lässt man jetzt am besten erst mal mit sich selbst ins Reine kommen.
Gott sei Dank passierte es zwischen ihm und Wibke ja nicht so oft, dass es derart eskalierte wie heute, ging es ihm durch den Kopf. Aber der Auslöser war dann jedes Mal Wibkes Eifersucht. Obwohl er ihr, abgesehen vielleicht mal von ein paar harmlosen Flirts, in ihrer fast zwölfjährigen Ehe immer treu gewesen war.
Mit ihren Verdächtigungen schien sie in ihrer Mutter eine echte Verbündete zu haben. Und manchmal war es ihm schon so vorgekommen, als wenn das von seiner Schwiegermutter auch geradezu geschürt wurde. Eigentlich konnte er sie sogar ganz gut leiden. Aber sie hatte ihn mal, einige Monate vor seiner Hochzeit mit Wibke, gesehen, wie er sich von Kirsten, einer alten Freundin von ihm, mit einem flüchtigen Kuss verabschiedet hatte.
Da hatte seine Schwiegermutter damals vielleicht ein Drama draus gemacht. Sogar die Verlobung mit Wibke hatte sie auflösen wollen. Dabei war mit Kirsten, der Vorvorgängerin von Wibke, wirklich nichts gewesen. Und der Abschiedskuss hatte überhaupt keine Bedeutung gehabt, mehr oder weniger nur alte Gewohnheit. Schließlich war er mit Kirsten ja damals auch gut zwei Jahre zusammen gewesen und nicht im Streit mit ihr auseinandergegangen.
Sogar Wibke, die mit Kirsten zur Schule gegangen war und von der alten Freundschaft wusste, hatte das damals auch gar nicht so tragisch genommen und zu ihm gestanden. Aber Wibkes Mutter, so lieb und nett sie sonst auch sein konnte, schien ihm das wohl bis heute noch nachzutragen.
Im Laufe ihrer Ehe waren dann inzwischen sogar schon Gespräche, die er als Trainer der E-Jugend beim VfB – manchmal eben auch mit Müttern – führen musste, zum Problem geworden. Jedes Mal, wenn Wibke ihn etwas länger allein mit einer Mutter sprechen sah, kam sie entweder dazu oder es konnte später zu Hause zu einer dieser Szenen eskalieren. Und so war es nicht das erste Mal, dass Wibke dann danach bei ihrer Mutter übernachtete.
Torsten hatte bei solchen Auseinandersetzungen mit seiner Frau schon öfter das Gefühl gehabt, dass da von Ferne noch jemand aus dem Hintergrund mitdiskutierte, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Seine Schwiegermutter! Irgendwann war ihm auch schon mal der Verdacht gekommen, dass das alles nur ein Vorwand für sie war, weil er ihr schließlich die einzige Tochter weggenommen hatte. Und dass sie deswegen die Eifersucht ihrer Tochter ganz bewusst sogar noch schürte.
Dabei liebte er seine Wibke doch noch immer über alles. Diese hübsche und sympathische junge Frau und Mutter seines zehnjährigen Sohnes Ole. Ein aufgeweckter und sportbegeisterter Junge, auf den sie beide so stolz waren. Wibke war mit ihren strahlend blauen Augen in dem leicht gebräunten, hübsch geschnittenen Gesicht, ihrem gewinnenden Lächeln, ihrem natürlichen Charme und ihrem selbstbewussten, aber dennoch bescheidenen und stets hilfsbereiten Auftreten in ihrem Freundeskreis und auch im Verein sehr beliebt.
Auch als Erzieherin im städtischen Kindergarten mochten sie die Kinder und auch ihre Kolleginnen sehr. Sie konnte so tolle Geschichten erzählen, von denen sie die meisten selbst erfunden hatte. Von Kobolden und Klabautermännern, die ihr Unwesen auf manchen Plattbodenschiffen und Fischerbooten trieben und schon so manchem Fischer den Fang vermiest hatten. Die Kinder klebten dann geradezu an ihren Lippen. Und am Schluss fand doch immer wieder alles bei ihr ein gutes Ende. Der Klabautermann wurde wieder in seiner Kiste eingesperrt, die Kobolde brachten mit ihren Späßen und ihrem Schabernack die Kinder zum Lachen, und die Fischer kamen schließlich doch noch mit gutem Fang nach Hause.
Bei allen Freunden und Bekannten galten Wibke und Torsten sogar als Bilderbuchpaar. Und mancher gut beleibte Kurgast hatte ihnen sicher am Strand schon neidvoll nachgeblickt. Beide – als sehr aktive Mitglieder beim VfB – sportlich gut trainiert. Wobei Wibke für Männer genauso ein Hingucker war wie ihr Mann für Frauen. Was Wibke natürlich auch von Anfang an bewusst gewesen war und vielleicht letztlich auch mit zu ihrer Eifersucht beigetragen hatte.
Ihm gefiel es, wenn sie beim gemeinsamen Jogging ihre halblangen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und dieser lustig bei jedem Schritt auf und ab wippte. Dabei hatte sie noch nicht einmal Probleme, sein Lauftempo mitzuhalten. Eigentlich passte doch alles bei ihnen, warum dann immer wieder diese unnützen Eifersuchtsszenen, stellte Torsten sich die Frage. Zumal sonst alles bei ihnen sogar ausgesprochen harmonisch ablief.
Aber er fand auch heute keine abschließende Antwort. Inzwischen war er schon bei seinem dritten Bier mit Korn angekommen. So allein wollte es ihm aber einfach nicht so recht schmecken. Und mittlerweile war es schon nach einundzwanzig Uhr. Da könnten doch mal wenigstens ein paar Kumpels auftauchen, denen es auf der Geburtstagsfeier bei Jan vielleicht doch zu langweilig geworden war. Ja, aber so ist die Welt, wenn man mal jemanden braucht, und sei es nur für einen Klönschnack, dann ist keiner da!
Eben hatte er sein viertes Bier mit Korn bestellt, als die Tür aufging und Katja Schmitz hereinkam. Katja war die Mutter von Karsten, einem Jungen aus der E-Jugend. Die Familie Schmitz war erst vor gut einem halben Jahr nach Carolinensiel gezogen. Soweit Torsten wusste, kamen die Schmitz aus Kerpen bei Köln. Gerd Schmitz fuhr als Fernfahrer für eine Spedition aus Wilhelmshaven.
Der kleine Karsten, ein ausgesprochenes Fußballtalent, hatte sich als eine echte Bereicherung für den VfB herausgestellt. Trotz seines Alters von erst zehn Jahren war er bereits ein sehr treffsicherer Torschütze und ein von den Gegnern gefürchteter Stürmer. Wodurch die E-Jugend des Vereins im letzten halben Jahr schon so manchen Sieg hatte verbuchen können.
Torsten hätte den Jungen gerne entsprechend gefördert. Daher stand ein Gespräch mit den Eltern bei ihm bereits für die nächste Woche auf der Agenda. Er wollte Karsten nämlich beim nächsten Trainingscamp der Fußballschule Dietz, gegründet vom ehemaligen Nationalspieler Bernard Dietz, dabeihaben. Einmal im Jahr zu Pfingsten wurde ein dreitägiges Förderprogramm für den Fußballnachwuchs beim VfB Carolinensiel durchgeführt. Dazu brauchte er aber das Einverständnis und die Anmeldung von den Eltern.
Aber jetzt in diesem Augenblick trieb ihm der Anblick von Katja Schmitz den Adrenalinspiegel nach oben. Dabei war Katja noch nicht einmal das, was man als potenzielle Schönheitskönigin bezeichnen würde. Aber sie hatte das gewisse Etwas. Ihre schwarze Kurzhaarfrisur mit den flammend rot gefärbten Spitzen und Strähnen gab ihr auf nette Art etwas Freches und Herausforderndes. Und ihr spitzbübisches, ja fast schon etwas hintergründiges Lächeln versprühte einen eigentümlichen Charme, der seine Wirkung auf das männliche Geschlecht nur selten verfehlte.
Während die meisten Frauen es ja eher verabscheuen, wenn die Blicke von Männern sie nur auf bestimmte weibliche Attribute reduzieren, schien Katja das geradezu zu genießen und sogar noch herauszufordern. Und sie war sich dabei ihrer sehr ansprechend proportionierten Weiblichkeit und ihrer Wirkung auf Männer absolut bewusst.
Auch zwei andere Männer an den Tischen hatten einen längeren Blick auf Katja geworfen, als ihren Begleiterinnen eigentlich hätte recht sein können.
„Mensch Katja, was treibt dich denn um diese Zeit hierher? Hast du kein Zuhause?“
„Die Fleppen. Meine Hülsen zum Stopfen sind ausgegangen. Ja und heute ist das fast schon zum Abenteuer geworden, wenn du nach Geschäftsschluss und dann noch außerhalb der Saison hier im Norden Zigaretten brauchst.“
„Dagegen kenn ich ein gutes Mittel …“
„Ja, ja, den Spruch kannst du dir sparen. Den kenn ich auswendig, man kann doch einfach aufhören.“
„Ja, genau, und stattdessen Sport. Mensch, unser Verein bietet doch dafür so viele Möglichkeiten. Vielleicht hast du ja auch so viel Talent wie dein Karsten. Über den wollte ich sowieso noch mal mit dir und deinem Mann reden. Es gibt für besondere Talente bestimmte Förderprogramme und da möchte ich ihn gerne reinbringen.“
„Das Talent hat Karsten wohl von Gerd geerbt. Für mich hat schon in der Schule gegolten, Sport ist Mord. Damit hatte ich absolut nichts am Hut. Jedenfalls für den Sport, den du jetzt wahrscheinlich gerade angesprochen hast“, schob Katja dann noch frech grinsend hinterher.
Der Adrenalinspiegel meldete sich bei Torsten mit Macht zurück. Er hatte Katja ganz genau verstanden und es lief ihm siedend heiß den Rücken herunter. Und so war er heilfroh, als Nancy sich in ihr Gespräch einmischte.
„Darf’s etwas sein, Katja?“
„Ach, wenn du mich so fragst. Ja, ein Altbier wäre nicht schlecht. Obwohl ich mir eigentlich nur ein paar Zigaretten ziehen wollte.“
„Das Bier geht auf meine Rechnung“, fügte Torsten noch hinzu. „Ist Karsten denn jetzt allein zu Hause?“ Torsten wusste gar nicht, warum er eigentlich gerade jetzt diese Frage stellte.
„Nö“, erwiderte Katja, „der ist zum Geburtstag von Kai Drees und da übernachtet er auch, genau wie dein Ole. Und Gerd hat sich gestern Morgen aus Italien gemeldet. Da wartet heute zu Hause niemand auf mich, wenn du das wissen wolltest.“
Torsten spürte, wie es ihm die Röte ins Gesicht trieb. Gott sei Dank kam ihm auch jetzt wieder Nancy mit dem Bier zur Hilfe. „Sehr zum Wohl, ihr zwei, lasst es euch schmecken.“
„Also, das mit der Förderung für Karsten, das musst du mir mal genauer erklären. Das überlässt Gerd sowieso alles mir. Der ist schließlich manchmal vierzehn Tage bis drei Wochen am Stück irgendwo im Ausland unterwegs und kann sich dann um solche Sachen gar nicht kümmern.“
Das war nun eigentlich ein Gespräch, das Torsten am liebsten von Mann zu Mann geführt hätte. Zumal er bei Katja, nach ihren Äußerungen über ihre Einstellung zum Sport, nicht sonderlich viel Sachverstand in dieser Hinsicht voraussetzte.
Außerdem hatte er bisher auch noch nicht sehr viel mit ihr persönlich gesprochen, weder bei den Trainings noch bei den Spielen. Na ja, da war er als Trainer gefordert und hatte zumeist zu wenig Zeit für lange Gespräche mit der Mutter eines Jungen. Und dann gab es da ja noch die Eifersucht seiner Ehefrau. Und gerade Katja wurde von den anderen Frauen im Verein kritisch beobachtet. Obwohl sie mit ihrem Charme und vor allem auch ihrer Hilfsbereitschaft schon die eine oder andere Frau im Verein hatte für sich gewinnen können.
Aber bestimmt hätte Wibke wieder eine Szene gemacht, wenn er gerade mit Katja ein längeres Gespräch geführt hätte.
In Bezug auf die Fußballkenntnisse von Katja hatte er sich aber gewaltig geirrt. Wenn es um die Förderung ihres Jungen ging, waren die Aufmerksamkeit und das Interesse bei Katja auf mindestens hundertfünfzig Prozent! Und Torsten sah sich auf einmal mit sogar sehr fachkompetenten Fragen konfrontiert. Sie wusste nämlich sehr genau über das Talent ihres Jungen Bescheid. Schließlich brachte sie ihn bereits seit Jahren zu jedem Training und war auch zu den meisten Spielen mitgefahren. Auch wenn sie selbst erklärtermaßen kein Interesse am aktiven Sport hatte, musste man ihr beim Fußball noch nicht einmal die berühmten Abseitsregeln erklären. Damit und mit vielen anderen Fußballregeln kannte sie sich ganz genau aus. Und sie sah sofort, wenn der Schiedsrichter ein Foul übersehen oder eine Fehlentscheidung getroffen hatte. Das ließ sie auf dem Platz dann auch lauthals raus. Zumindest, wenn es ihren Karsten oder einen seiner Vereinskollegen betraf.
Die beiden auf den Barhockern an der Theke waren so in ihrem Gespräch vertieft gewesen, dass sie noch nicht einmal mitbekommen hatten, dass inzwischen die anderen Gäste längst schon die Gaststätte verlassen hatten. Allerdings hatte Torsten, nur aus Solidarität, Katja inzwischen mindestens dreimal zum Rauchen nach draußen begleitet.
Nancy hatte noch einiges an der Theke und im Lokal zu tun gehabt und hätte jetzt eigentlich am liebsten zugemacht, zumal keine Saison war und sie daher kaum noch mit weiteren Gästen rechnen konnte.
Torsten schien ihre Gedanken erraten zu haben. „Mein Gott, es ist ja schon fast dreiundzwanzig Uhr. Tut mir leid, Nancy, nur für unsere zwei bis drei Bier brauchst du dir nicht noch länger die Zeit um die Ohren schlagen. Bier und Korn habe ich auch noch genug zu Hause. Da kann ich meinen Frust von heute auch alleine vor dem Fernseher runterspülen.“
Nachdem beide bezahlt und Katja sich noch ein weiteres Päckchen Zigaretten gezogen hatte, machten sie sich zu Fuß auf den Weg. Torsten nahm dabei einen kleinen Umweg in Kauf, um Katja noch bis vor die Haustür zu bringen. Schließlich war es doch reichlich spät geworden und so gut wie niemand mehr auf der Straße. Jedenfalls dachte er das. Die Beleuchtungen in den Schaufenstern der Hauptgeschäftsstraße, die in einem großzügigen Bogen um die Hafenanlage verläuft, waren um diese Jahreszeit entweder bereits ganz abgeschaltet oder zumindest reduziert. Achtlos gingen die beiden an Schaufenstern vorbei, wo sich im Sommer die Touristen Appetit auf geräucherten oder fangfrischen Nordseefisch holen konnten oder süße Leckereien in der Auslage zum gemütlichen Kaffee- oder Friesenteeschnack einluden.
Die Wohnung der Schmitz befand sich in einem Wohn- und Geschäftshaus über einem kleinen Textilgeschäft und einem Souvenirlädchen. Schemenhaft war der Aufdruck der Cliner Quelle auf Mützen und Shirts zu erkennen. In der Saison konnten sich Badegäste noch mit der aktuellen Sommerbademode oder mit einer Strickweste für einen lauschigen Abend vor dem Camper am Strand versorgen.
Aber dafür hatten diese beiden Nachtschwärmer heute keinen Blick. In der Deckenbeleuchtung des Hauseinganges zu Katjas Wohnung konnte man durch das um die Ecke gehende Schaufenster des Souvenirlädchens an der Rückwand ein großes Poster mit den historischen Segelschiffen im idyllischen Museumshafen von Carolinensiel erkennen. Carolinchen, die knuddelige Seehunddame, das Maskottchen von Carolinensiel-Harlesiel, schien als Kuschelstofftier den Kopf zu schütteln, genauso wie das Modell vom Alten Wangerooger Leuchtturm sicher gerne warnende Leuchtzeichen ausgesendet hätte. Auch das Bild von der Deichkirche Carolinensiel, mit dem abgesetzten, trutzig geduckten Glockenturm, hätte sicher gerne gewarnt. Und selbst das düstere Cover von einem Ostfriesenkrimi im Schaufenster, dessen Titel schon auf ein grausames Verbrechen hinwies, fand keine warnende Beachtung. Aber was hätten sie alle schon auszurichten vermocht gegen die Verführungskünste einer Frau? Nachdem Katja die Haustür zum Treppenhaus ihrer Wohnung aufgeschlossen hatte, blitzte sie Torsten schelmisch und verführerisch an.
„Na, Torsten, hast du Lust auf einen kleinen Absacker oder eine Tasse Kaffee bei mir?“
„Warum eigentlich nicht?“, spielte er mit dem Feuer. „Schließlich bin ich heute Abend auch Strohwitwer. Meine Frau schläft nämlich heute Nacht bei ihrer Mutter“, setzte er noch herausfordernd hinzu. Das „mal wieder“ hatte er sich dabei gerade noch rechtzeitig verkniffen.
Katja schaute ihn nur charmant und vielsagend lächelnd an, bevor sie dann vor ihm die Treppe hinaufging. Mit weichen Knien folgte er ihr. Und sie schien ganz genau zu wissen, wovon er seinen Blick in diesem Moment einfach nicht wegbekommen konnte. Jedenfalls schien sie jeden ihrer aufreizenden Schritte nach oben zu genießen.
Auf so etwas hatte Torsten sich, seit er mit Wibke verheiratet war, bisher überhaupt noch nie eingelassen. Obwohl anscheinend seine Frau und ihre Mutter genau davon auszugehen schienen. Aber wieso musste seine Frau mal wieder, nach einem völlig sinnlosen Streit mit ihm, bei ihrer Mutter schlafen? Allein das schien ihm schon Rechtfertigung genug dafür zu sein, dass er sich jetzt hier auf ein solches Spiel mit dem Feuer einließ. Eine Logik, die sicher durch seinen Alkoholpegel noch erheblich begünstigt wurde. Daher machte er sich in diesem Moment auch überhaupt keine Gedanken darüber, wie weit dieses Spiel dann letztlich nachher gehen sollte. Jetzt war er erst einmal überrascht, wie nett und freundlich Katjas Wohnung eingerichtet war. Sie führte ihn ins Wohnzimmer und ließ ihn auf der geräumigen Couch Platz nehmen.
„Ich weiß ja inzwischen, was ihr hier an der Küste zu vorgerückter Stunde gerne trinkt“, sagte sie. „Charlie, richtig?!“
„Du bist ausgesprochen lernfähig! Genau das Richtige jetzt!“
Sie goss an einem als Bar dienenden Sideboard zwei normale Wassergläser über ein Viertel mit Weinbrand voll und verschwand dann mit beiden Gläsern in der Küche. Als sie zurückkam, hatte sie in beide Eis gegeben und mit Cola aufgefüllt.
„Lass es dir schmecken, Torsten.“
„Danke, Katja, prost!“
„Ich mache mich gerade mal ein bisschen frisch. Du kannst ja inzwischen eine CD auflegen. In dem CD-Ständer da findest du genug.“
Torsten nahm noch einen tiefen Schluck von seinem Charlie und schaute sich die CDs an, während Katja im Bad verschwand. Wieso ihm jetzt ausgerechnet der Bolero von Maurice Ravel in die Hände fiel und wieso er gerade diese CD jetzt auflegte, hätte er gar nicht genau sagen können. Sein Testosteronspiegel schien für ihn das Denken übernommen zu haben. Und das erst recht, nachdem sich die Wohnzimmertür wieder öffnete. Katja schritt im Takt des Boleros durch die Tür wie durch einen geöffneten Bühnenvorhang. Bei Torsten schaltete sich bei ihrem Anblick auch noch der letzte Rest seiner Bedenken und seines Verstandes aus. Sie hatte nur noch einen Hauch von nichts an, der mehr zeigte, als er verbarg.
Sein nunmehr einsetzender ungeheurer Adrenalinschub ließ seine Pulsfrequenz auf über hundertachtzig hochschießen. Das war wie ganz alleine vor dem Tor des Gegners. Nur noch der Keeper und er, bevor er dann abziehen und den Ball treffsicher im gegnerischen Tor versenken würde. Dabei schien Katja die offensichtliche Wirkung ihres Auftritts auf ihn in vollen Zügen zu genießen.
„Torsten, du bist ja ein Hellseher. Den Bolero legt mein Mann immer auf als Auftakt für eine ganz besonders heiße Nummer. Weil einem da der Takt so schön ins Blut geht, wie er dann sagt, und die Musik dann immer schneller und heißer wird. Fast wie beim Tango. Den haben wir im Karnevalsverein in Kerpen immer so gerne getanzt.“
Wibke schloss die Tür auf. Es war dunkel und still im Haus. Ihr fröstelte. Ole war ja auf der Geburtstagsfeier bei Kai Drees. Aber wo war Torsten? Es war bereits zweiundzwanzig Uhr dreißig und sie hatte erwartet, ihn jetzt mit einer Flasche Bier vor dem Fernseher zu finden. Das Bett im Schlafzimmer war unbenutzt. In der Küche auf dem Tisch lag sein Handy. Also müßig, über einen Anruf bei ihm nachzudenken. Aber wo könnte er sein? War er vielleicht doch noch zum fünfundsiebzigsten Geburtstag von Jan Grube gegangen? Aber die beiden hatten seit letztem Jahr Krach und er hatte eigentlich deswegen nicht hingehen wollen.
Ja, es stimmte, sie hatten sich mal wieder gestritten. Und wieder war es darum gegangen, dass er ihr nicht hatte sagen wollen, über was er sich mit Uwe Steens Mutter nach dem Training so lange und so angeregt unterhalten hatte. Das sei Trainerangelegenheit, hatte er nur gesagt. Und er lasse sich nicht hinterherspionieren. Und dann hatte er mal wieder ihre Mutter angegriffen. Wofür sie ihn mit der Übernachtung bei ihrer Mutter hatte bestrafen wollen. Normalerweise brachte ihn das wieder zur Besinnung und er entschuldigte sich dann am nächsten Tag sogar bei ihr dafür.
Sie war heute Morgen überraschend in der Trainingshalle aufgetaucht. Sonst hätte sie das intensive Gespräch der beiden ja gar nicht beobachten können. Torsten hatte sie nicht bemerkt. Der schien nur Augen für den riesigen Vorbau von der Ulrike Steen zu haben. Und sie hatte dabei dieses ungute Gefühl in ihrem Bauch nicht loswerden können, dass da doch etwas mehr sein könnte. Wobei allerdings sogar ihre Mutter, die sonst eigentlich bei so etwas immer auf ihrer Seite war, diesmal auch der Meinung gewesen war, dass ausgerechnet Ulrike Steen nun ganz bestimmt nicht sein Typ sei. Allerdings hatte sie auch gemeint, dass man ja nie wissen könne und gerade stille Wasser sollten manchmal sogar sehr tief sein.
Ich muss bei Mama anrufen, schoss es Wibke durch den Kopf. Aber dann kamen ihr die Worte ihres Vaters wieder in den Sinn. Sie müsse endlich mal lernen, mit ihren Problemchen, wie er es ausgedrückt hatte, alleine zurechtzukommen. Das war auch der Grund, warum sie heute dann doch nicht bei ihrer Mutter übernachtet hatte.
Im Moment war Wibke überhaupt nicht gut auf ihren Vater zu sprechen. Vor etwa einem halben Jahr war ihr Vater in den Ruhestand getreten. Bis dahin hatte er viele Jahre als Kapitän von großen Containerschiffen die Weltmeere bereist. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern geblieben und hatte auch die meiste Zeit ihrer Kindheit und Jugend mit ihrer Mutter allein verbracht. Zwischen ihnen beiden hatte sich daher ein eher freundschaftliches Verhältnis als eine klassische Mutter-Kind-Beziehung entwickelt. Worauf beide sogar sehr stolz waren. Obwohl sie nur eine knappe Viertelstunde voneinander entfernt wohnten, telefonierten die beiden in der Regel mehrmals am Tag.
Für Wibke war ihre Mutter inzwischen zum Problemlöser Nummer eins geworden. Und genau das sei nach Auffassung ihres Vaters das eigentliche Problem. Anstatt zum Beispiel ihre Beziehungsprobleme mit ihrem Mann selbst zu klären, würde sie damit immer zu ihrer Mutter rennen. Das könne, nach Auffassung ihres Vaters, für eine Frau Mitte dreißig doch wohl nicht normal sein. Und schließlich waren ihre Eltern über diese Frage selbst in Streit geraten. Ihr Vater hatte ihrer Mutter vorgehalten, dass sie als Mutter nicht loslassen könne und sich viel zu sehr in die eheliche Beziehung ihrer Tochter einmischen würde. Ihre Mutter sah dies dagegen nicht nur als ihr Recht als Mutter an, sondern sogar als ihre Pflicht.
Schließlich sei er ja fast nie da gewesen und könne die ganze Entwicklung in der Beziehung ihrer Tochter und deren Mann daher auch gar nicht beurteilen. Und schließlich lägen die Ursachen der Probleme nicht bei ihrer Tochter, sondern nach ihrer Auffassung eindeutig beim Schwiegersohn. Insofern müsse man dem Kind einfach helfen. Trotzdem war ihr Vater bei seiner Auffassung geblieben. Nach seiner Meinung sei es nicht Sache der Mutter, die Richterin in der Beziehung ihrer Tochter zu ihrem Ehemann zu spielen. Sowohl ihre Tochter als auch der Schwiegersohn seien erwachsene Menschen und daher für sich selbst verantwortlich. Und als er dann noch erfahren hatte, dass ihre Eifersucht, ausgelöst durch das Gespräch ihres Mannes mit der Mutter eines Jungen aus der E-Jugend, der ursächliche Grund dafür war, dass sie die Nacht im Hause ihrer Eltern verbringen wollte, hatte er darauf bestanden, dass sie sofort zu ihrem Mann zurückfährt und die Angelegenheit mit ihm selbst klärt.
Und nun war Torsten nicht da. Sie wusste noch nicht einmal, wo er war. Und gerade jetzt, wo sie ihre Mutter so dringend gebraucht hätte, durfte sie sie, nach Vorgabe ihres Vaters, noch nicht einmal anrufen. In Wibke kam Panik auf. Mit einer solchen Situation hatte sie bisher noch nie alleine fertigwerden müssen.
Sie schaltete den Fernseher an, um sich ein wenig abzulenken. Sie zappte von einem Programm zum nächsten, aber sie konnte nichts für sie Interessantes finden. Dabei kreisten ihre Gedanken im Kopf herum. Da das Auto und auch sein Fahrrad in der Garage standen, musste Torsten zu Fuß im Ort unterwegs sein. Also weit konnte er nicht sein. Und das ließ andererseits darauf schließen, dass er was trinken wollte. Sie überlegte, ob sie vielleicht mit dem Fahrrad losfahren und ihn suchen sollte. Aber wo sollte sie anfangen?
Eigentlich war Wibke eine sehr taffe Frau. Sie hatte selbst aktiv viele Jahre Fußball gespielt und trainierte heute die Damenmannschaft ihres Vereins. Daneben war sie selbst noch in der Damenturnriege sehr aktiv und legte sogar jedes Jahr mit Erfolg ihre Sportabzeichen-Prüfung ab. Vielleicht hatte ihr Vater doch gar nicht so unrecht gehabt. Wenn sie wollte, dann konnte sie sich nämlich – auch sogar in aller Fairness – auseinandersetzen. Schließlich musste sie das als Trainerin auch. Da musste sie sogar Vorbild sein und Entscheidungen treffen. Nur in ihrer Partnerschaftsbeziehung waren die Ratschläge ihrer Mutter einfach immer sehr bequem gewesen. Und so saß sie jetzt auf ihrem Fahrrad und radelte entschlossen in Richtung Ortszentrum. Vielleicht war er mit ein paar Kumpels in der Stechuhr versackt. Das wäre nicht das erste Mal. Und sollte er da etwa mit einer Tussi sitzen, dann könnten sich beide auf was gefasst machen!