Ingrid Möller
Quintessenzen
Gedichte
ISBN 978-3-95655-066-9 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 2006 in der edition NORDWINDPRESS, Hof Grabow.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung einer Zeichnung von Ingrid Möller.
Zeichnungen: Ingrid Möller
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Wozu erdachte man Mythen?
Um den Glauben zu stärken
an die Allmacht des Menschen
und an die Wunder,
die er vollbringt.
Doch der nur vermag
sie zu vollbringen,
dem die Flügel,
die er sich baute,
nicht abgesägt werden,
dem der Mut,
den er fasste,
nicht genommen wird,
kurz: dem ein menschlicher Mensch zu sein
nicht verwehrt wird.
Alles, was ich erlebte,
lebt in mir weiter.
Alles, was ich erlebte,
überzeugt mehr
als alle Theorien.
Alles, was ich erlebte,
hat mich geprägt.
Es reicht nicht aus zu preisen
des Mondes Silberglanz,
die Leuchtkraft der Sonne,
das Funkeln der Sterne.
Es reicht nicht aus
zu besingen
die Höhe der Wolken,
die Flugbahn des Vogels.
Das alles ist schön
und uns unentbehrlich
als der Stoff,
aus dem Träume man webt.
Doch die Erde,
die formbare,
die uns formt,
ist es nicht.
So abhängig
von Klima und Boden
ist die Pflanze,
dass selbst
die Farbe der Blüten
sie ändert.
Bedenkt das
und tadelt nicht
voreilig
den Sänger bitterer Lieder,
der für die heiteren
den Boden nicht fand.
Die Alten glaubten
an die Macht des Wortes.
Segen oder Verwünschung
war ihnen
wie Leben oder Tod.
Erstarren lässt
die Unbedachtsamkeit
im Umgang mit Worten
heute.
Verletzbar durch Worte
sind wir nicht weniger.
Ein Wort tötet,
gesprochen im Zorn.
„Spring doch ins Wasser!“
und ich fühl mich ertrinken.
„Leg dich in die Gruft!“
und ich spüre den Moder,
„Wirf dich vors Auto!“
und ich fühl mich zermalmt.
Und es fällt mir
unendlich schwer,
weiterzuleben
nach so einem Wort.
Das Leben schlug mir
viele Wunden.
Vernarbt sind die äußeren,
die inneren nie.
Das Leben erlaubt
keine Varianten.
An jedem Kreuzweg
gibt es nur eine Entscheidung
und kein Zurück.
Die Frage:
was wäre geworden wenn ...
steht für immer
unbeantwortet
im Raum.
Viele Dinge sind anders
als sie erscheinen.
Viele Menschen sind anders
als sie sich geben.
Wer wünschte sich nicht
den Einklang
von Lächeln und Sympathie,
von Außen und Innen.
Schlecht beraten aber wäre,
wer blind daran glaubt.
Sie kommen oft gerade dann,
wenn am wenigsten
gefragt sie sind.
Und wie das Reh im Märchen
sagen sie:
Wir kommen nur dies eine Mal
und dann nimmermehr.
Was tun?
Die Pflicht geht vor.
Und so gehen sie wieder
achselzuckend
wie unerwünschte Gäste
und kommen nicht wieder.
Niemals.
Was ist die Kindheit?
Der Anlauf zum Leben
sagt jemand.
Ich widerspreche:
sie ist die Wurzel,
die den Baum des Lebens trägt -
oder auch nicht.
Der Mensch,
so lehrt die Biologie,
trägt in sich
Überreste
früherer Arten:
Kiemenansätze
von den Fischen,
Steißwirbel
von den Lurchen,
den Blinddarm
von den Wiederkäuern
und - selten zwar - eine Milchleiste
von den Säugern.
Wenig erforscht aber
sind die Atavismen
in manchem Gehirn.
Zu unterscheiden,
was gut und was böse,
ersann man viele Paragrafen.
Doch keine gegen
Neid, Hass, Missgunst.
Nur gegen einige
ihrer Folgen.
Zu unterscheiden,
was gut und was böse,
teilten sich Adam und Eva
einen Apfel
vom Baum der Erkenntnis.
Mir scheint,
einer war zu wenig.
Unliebsame,
zu Feinden erklärte Menschen
zu beseitigen,
benutzte der Mensch
in der Steinzeit den Stein,
in der Bronzezeit die Bronze,
in der Eisenzeit das Eisen,
im Maschinenzeitalter Maschinen.
Im Atomzeitalter
ist der „Fortschritt“
so gewaltig geworden,
dass ein Mehrfaches der Erde
auf einen Schlag
zerstörbar wäre.
Wir alle leben
im Bewusstsein
dieser Möglichkeiten.
Kein Tier - heißt es –
rottet die eigene Art aus.
Dem Menschen
oder doch einer bestimmten Sorte seiner Spezies
wäre es zuzutrauen.
Ein Wort, das ich spreche,
wird halb gehört
oder gar nicht.
Ein Wort das ich lese,
geht mir nach.
Ein Wort, das ich schreibe,
geht anderen nach
und kehrt als Frage
zu mir zurück.
Als ich zum ersten Mal
ohnmächtig wurde
nach einem Sturz
auf dem Schulhof,
war die Aufregung groß.
Größer die Neugier:
Wie war das? Erzähl mal!
Die Mitschüler
umdrängten mich.
Benommen sagte ich:
Übel. Schwindlig.
Schwarz vor Augen.
Nachdem ich in meinem Leben
Hunderte Male ohnmächtig war,
gab es keine Aufregung mehr
und keine Neugier.
Das ist so bei ihr, hieß es
und machte keinem was aus.
Außer mir.
Wer seine Hand hebt