»Salon der Welt« – das bezeichnet die Einzigartigkeit dieser Stadt, über die schon alles gesagt und geschrieben scheint. Doch in Eva Demskis Portrait werden selbst Venedig-Kenner noch Neues entdecken. Dieses Buch ist Beschreibung und Liebeserklärung zugleich: In Geschichten, Erinnerungen und Phantasien begegnen wir Venedig-Bewohnern und Besuchern wie Peggy Guggenheim, der Duse, Sara Sullam, Joseph Brodsky, Thomas Mann, dem Kater Barnabé und anderen bekannten wie weniger bekannten »Venezianern«.

 

»Die leichtfüßige Eleganz des Stils und Eva Demskis oftmals überraschender und ungewöhnlicher Zugang zu einem Ort, gepaart mit Lebensklugheit und Weltoffenheit – das alles macht Venedig – Salon der Welt zum spannenden Reisebegleiter und bietet lustvolle Lektüre.« Die Zeit

 

Eva Demski, geboren 1944 in Regensburg, lebt in Frankfurt am Main. Ihr literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, 2008 erhielt Eva Demski den Preis der Frankfurter Anthologie. Im insel taschenbuch liegen u. a. von ihr vor: Rheingau (it 4219), Rund wie die Erde. Kulinarische Geschichten (it 4163), Gartengeschichten (it 4003) und Katzenbuch (it 3654).

 

 

Eva Demski

Venedig

Salon der Welt

Achtzehn Stücke mit Begleitung

Insel Verlag

 

 

Originalausgabe: Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH,

Frankfurt am Main 1997.

Umschlagfoto: Peter Adams/Corbis

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2013

© Insel Verlag Berlin 2013

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Umschlaggestaltung: Michael Hagemann

Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

 

eISBN 978-3-458-73129-0

www.insel-verlag.de

Inhalt

Mit Eleonora Duse

Mit Peggy Guggenheim

Mit Barnabé

Mit Lord Byron

Mit Uli Spiegel

Mit Sara Copia Sullam

Mit Klaus Lindemann

Mit E. T. A. Hoffmann

Mit Familie Käsebier

Mit Giuseppe Verdi

Mit Christoph Derschau

Mit Muriel Spark

Mit Thomas Mann

Mit Annunziata X.

Mit Joseph Brodsky

Mit einem Maler aus Ferrara

Mit Clarence

Mit Goethe

Mit Eleonora Duse

Visconti hatte es in Szene gesetzt, Canaletto und unsere Nachbarin Marie Schlöffel – sie besaß eine dieser beleuchteten Gondeln – lieferten Bilder, und Jacques Offenbach machte Musik dazu: Ich kannte Venedig schon genau, wie alle Leute. Es ist eine Stadt, in die man nicht fahren sollte, wenn man sie kennenlernen will, das geht von außen viel besser. Als Kind hat mich sehr beeindruckt – und mich noch dringender wünschen lassen, es möge mit dem Erwachsenwerden schneller gehen –, daß man mir immer wieder erzählte, ich selbst würde Venedig nicht mehr sehen können, denn es versänke, da könne man gar nichts machen. Und wenn bei Hochwasser die Donau alle Regensburger Altstadtgassen zu Kanälen gemacht hatte und die Leute mit Ruderbooten zum Brotholen fuhren, hieß es: wie in Venedig. Keiner wäre deshalb auf die Idee gekommen, wir versänken bis zu den Domspitzen.

Wenn du es siehst, sagte mein Vater, als ich ans Versinken schon lang nicht mehr glaubte und mich zu einer Reise für eine Duse-Geschichte auf den Weg machte, wenn du es siehst, wird etwas für immer anders in dir. Ich habe damals gelacht und kam mit Visconti, Canaletto und Offenbach. Marie Schlöffel ließ ich zugunsten von Patricia Highsmith weg.

Es war, glaube ich, Anfang Mai. Wie man sich Venedig nähert, ist eigentlich gleichgültig, aber die Fahrt mit dem Boot vom Flughafen aus hat den Vorteil, daß man viel Zeit hat, aus der Fassung zu geraten. Es sei silbern und gold, blei-, kupfer- und messingfarben, das Wasser, heißt es, und wenn mit Zinn und Nickel die Metallfarben so gut wie aufgebraucht sind, halten willig die Meerestiere her: schuppen-, austern- und muschelfarben sei es, weiß wie ein Fischbauch, perlmutt- und schneckenschimmernd.

Ja, so war es, so ist es, das Wasser, auf dem man sich der schönsten Stadt des Erdkreises nähert, von algenüberschleimten Pfahlbündeln begleitet, und christbaumkugelfarben ist es oder taubenflügel-, spinnweben- und maulbeerfarben.

An diesem ersten Tag war die Lagune, glaube ich, hellgrün, die Stadt lag, wie es sein muß, im Dunst und ließ nur allmählich so viel von sich sehen, wie ich aushalten konnte. Ich dachte etwas schuldbewußt an meine Eleonora Duse, auf deren Spuren ich mich zu setzen hatte, ihretwegen war ich schließlich gekommen, und ich merkte gar nicht, daß Visconti und Patricia Highsmith so spurlos aus meinem Kopf verschwunden waren wie Jacques Offenbach, und nur Marie Schlöffels beleuchtete Gondel fiel mir noch einmal ein, aber nur, weil sie mit den mächtigen schwarzen Totenschiffen, die da nebeneinanderlagen und nickten, nicht das geringste zu tun hatte. Wie Traumsärge schwankten sie, und ich sah die Schauspielerin vor mir, wie sie vor fast hundert Jahren über den Platz schritt, quer durch das große rechteckige Wohnzimmer der Welt mit seiner Salonmusik und seiner schwätzenden Besucherschar, und in so ein schwarzes, nachtschwarzes Boot einstieg, weil sie ihre große Liebe kennengelernt hatte und darüber nachdenken wollte.

Jetzt stehe ich hier, dachte ich, zum ersten Mal auf dem San Marco, da sind die Löwen, da der Campanile, der Dogenpalast, die Basilika, die Tauben, die Steine. Alles ist da. Das Verrückte war, daß mir diese zu Tode zitierte und von Blicken jahrhundertelang abgeschabte Schönheit fast sofort als Normalität erschien, als das eigentlich geplante Bild der Welt. Alles andere war gegen sie grob und ausgedacht. In der Menschenmenge bewegten sich mit lässiger Anmut Betrüger und Wohltäter, Dumme und Gescheite, furchtbar schöne und furchtbar häßliche Menschen. Stars und Armselige. Beleuchtete und nahezu Unsichtbare. Lebende und Tote. Hier begannen alle, einander zu gleichen.

Eleonora Duse, die gefeierte Schauspielerin mit dem ungeschminkten Gesicht und den Todesaugen, die Duse, von der ich kein einziges Photo gefunden habe, auf dem sie lacht, mußte sich natürlich in diesen Chefpathetiker d'Annunzio verlieben, und natürlich ist sie auf ihren nächtlichen Gondelfahrten durch die Kanäle und unter den Brückenbuckeln hindurch überhaupt nicht zur Vernunft gekommen, ganz im Gegenteil. Vom Wasser in der Schwebe gehalten und von den Gondolieri – oder hatte sie immer denselben? Oh Gipfel, unausdenkbarer Gipfel der Berühmtheit! –, schweigend und ohne die alten Mauern zu berühren um die engen Ecken gestakt, hat sie wahrscheinlich den Entschluß gefaßt, ihre ganze tragische Größe und ihren Erfolg samt ausgestreuten Rosenblättern und vor die Kutsche gespannten Studenten zur höheren Ehre der poetischen Hervorbringungen des Herrn d'Annunzio in die Waagschale zu werfen.

Natürlich kann man in Venedig glücklich sein, das geht sogar sehr gut, gewiß: Aber fürs Glück ist das Bühnenbild nur am Rande wichtig, und seine Süße läßt sich in Turin oder Taormina samt deren Vororten genauso schmecken. In Venedig dagegen kann man wundervoll unglücklich sein, luxuriöser und kultivierter als irgendwo auf der Welt. Es kostet natürlich ein bißchen Geld, aber eine nächtliche Gondelfahrt allein – denn der Gondoliere wird nicht singen, sondern seine Rolle als Geist perfekt spielen – ist kaum zu übertreffen.

Ich denke, wenn der Coup de foudre damals bei ihr in Rom oder in Verona – beileibe keine schlechten Orte für dergleichen – stattgefunden hätte, wäre die Sache nicht so katastrophal abgelaufen. Eleonora hätte – sie war ja eine ganz handfeste Frau mit einer langen Erfahrung, schon als Vierjährige mußte sie auf der Bühne stehen – gespürt, daß der kleine angeberische Glatzkopf sie wie eine Honoratiorenwitwe ausnahm und sie mit mittelmäßigen Schauspielerinnen betrog. Sie wäre nicht blindlings mit ihrer wunderbaren Stimme in seine geschwätzigen Satzdraperien geraten, sie, die doch Shakespeare, Dumas und Ibsen spielte. Aber Venedig: Die Miasmen der Leidenschaft und der Lust auf märchenhaftes Unglück, die aus den Kanälen steigen, haben viele hundert Jahre lang die Vernunft von dieser Stadt ferngehalten. Noch heute fällt sie manch einem, der das gar nicht für möglich gehalten hätte, ins Wasser, und das ist vielleicht das allerschönste an dieser merkwürdigen, ungesunden Stelzenstadt.

Eleonora Duse war eine Unbehauste, ihre Familie, fahrendes Volk, stammte von der Insel Chioggia, die am weitesten von der Serenissima entfernt in der Lagune liegt. Fast zwei Stunden dauert die Fahrt dorthin, und es heißt, daß die Leute von Chioggia immer schon Unruhige gewesen seien, Streithanseln, Schauspieler oder Seefahrer – man hat da früher nicht so große Unterschiede gemacht, subventioniert war damals keiner dieser Berufe.

Chioggia ist ein Partikelchen, ein weggesprengtes, proletarisch-ungestümes Stückchen Venedig, das man in der Weite der Lagune nur ahnen kann. Ein nach Katzenpisse und faulen Muscheln stinkendes Gäßchen heißt Calle Duse, genannt angeblich nach ihrem Großvater, wer immer der war. Die große Tochter, eine Reisende wie ihre Landsleute, hatte aber doch eine Wohnung, im Palazzo Wolkow in Venedig. Wie alle Palazzi sieht man auch ihn als Teil einer Inszenierung, Schicht um Schicht tapeziert mit Erinnerungen und mit Ereignissen, an die sich keiner mehr erinnert.

1887 gibt die Duse ihre venezianische Wohnung auf. Drei Jahre später erscheint d'Annunzios Roman Fuoco (Feuer), eine überhitzte und indiskrete Schlüsselgeschichte über ihre fatale Leidenschaft. Die Duse leidet, aber sie adelt das Machwerk, denn sie hält es für große Kunst. »Ist nicht die eigentliche Stärke eines Gefühls, sogar die einzige Stärke vielleicht die, weder Maß noch Grenze zu kennen?« schreibt sie. Das kommt davon, wenn man allein vor Sonnenaufgang in einer schwarzen Gondel in Venedig unterwegs ist.