Marcel Fratzscher
Warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen
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© 2014 Carl Hanser Verlag München
Internet: http://www.hanser-literaturverlage.de
Lektorat: Martin Janik
Herstellung: Andrea Reffke
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell
ISBN 978-3-446-44034-0
E-Book-ISBN 978-3-446-44145-3
Vorwort
I Die erste Illusion
Ein zweites deutsches Wirtschaftswunde
1 Die Transformation vom »kranken Mann Europas« zur Konjunkturlokomotive
2 Das Beschäftigungswunder
Tarifpartner haben Verantwortung übernommen
Glück als wichtiger Garant
Die Kehrseite des Erfolgs: Unterbeschäftigung und prekäre Beschäftigung
Die Lohnentwicklung enttäuscht
Soziale Gerechtigkeit als große Herausforderung
Wie erfolgreich wird der Mindestlohn sein?
Was die Bundesregierung für einen nachhaltigen Erfolg des Arbeitsmarkts tun muss
3 Exportweltmeister mit dem tugendhaften Staat
Deutschland, der Exportweltmeister
Die gespaltene Volkswirtschaft
Der tugendhafte Staat?
Die Kehrseiten der Finanzpolitik
Das globale Staatsschuldenproblem
4 Deutschlands Investitionslücke als wirtschaftspolitische Achillesferse
Deutschlands riesige Investitionslücke
Deutschland, der Sparweltmeister
Der Verfall der Verkehrsinfrastruktur
Die Bildungslücke
In die Energiewende investieren
Was kann die Wirtschaftspolitik tun?
II Die zweite Illusion
Deutschland braucht Europa und den Euro nicht
5 Wieso wir den Euro geschaffen haben
Grundlage der europäischen Integration
Der europäische Wechselkursmechanismus als Vorläufer des Euro
Die monetäre Dominanz Deutschlands und der Bundesbank
6 Die Stärken und Schwächen des Euro
7 Die Ursprünge der europäischen Krise
Die ersten zehn Jahre des Euro
Der Teufelskreis der vier Krisen
Die Rolle der Troika
Fehlende gemeinsame Regeln
8 Deutschlands und Europas globales Gewicht
III Die dritte Illusion
Europa will nur an Deutschlands Geld
9 Deutschland, das Opfer und der Zahlmeister Europas?
Die Rolle des Sündenbocks
Ein Sündenbock erleichtert Reformen
Europas Krisenpolitik trägt einen Deutschland-Stempel
Deutschland als Hegemon wider Willen
10 Die europäische Krise ist keine »Eurokrise«
11 Deutschlands Eigenverantwortung für seine Exportüberschüsse
12 Der Mythos der »Target-Falle«
13 Deutschland ist Nutznießer, nicht Opfer der EZB-Geldpolitik
Die stabilisierende Rolle der EZB-Geldpolitik
Das Mandat der EZB
Ist Deutschland Opfer oder Nutznießer?
Risiken für die EZB
Risiken für Deutschland und Europa
IV Deutschlands Vision für Europa
14 Deutschland ist in der Verantwortung für Europa
Der fragile Status quo
Ein Festhalten am Status quo verschiebt nur die Krisenbewältigung
Desintegration ist keine Lösung
Der Integrationssprung als einzige nachhaltige Lösung
15 Eine Vision für Europa
Das Prinzip der Eigenverantwortung
Eigenverantwortung und Solidarität gehen Hand in Hand
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Krise
Was die Union zusammenhält
16 Eine europapolitische Agenda für Deutschland
1. Deutschland als Konjunkturlokomotive für Europa
2. Eine europäische Investitionsagenda
3. Mit gutem Beispiel vorangehen
4. Die Bankenunion vollenden
5. Eine neuerliche Vertiefung der Krise verhindern
6. Die Basis für eine Fiskalunion legen
7. Die Basis für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schaffen
8. Eine Eurounion mit einem Eurovertrag
9. Ein Europarlament und eine europäische Wirtschaftsregierung
10. Demokratische Legitimierung schaffen
Dank
Abbildungen
Quellenverzeichnis der Abbildungen
Deutschland befindet sich in einem Zustand der Euphorie. Die Wirtschaft boomt, Jobs sind reichlich vorhanden und Deutschland ist stärker als je zuvor – zumindest, wenn man den Medien glaubt. Die Zukunft des Landes scheint dank einer starken industriellen Basis und erfolgreicher Exportsektoren exzellent, die Wirtschaftspolitik weise und richtig. Der Wohlstand in Deutschland wäre grenzenlos, würde die tiefe Krise im Rest Europas die deutsche Wirtschaft nicht nach unten ziehen. So die Sichtweise vieler.
Wenn ich in Deutschland einen Vortrag über die deutsche Wirtschaft halte, bitte ich das Publikum oft, die Identität zweier europäischer Länder zu erraten. Das erste Land hat in den letzten Jahren drei große wirtschaftspolitische Erfolge erlebt und ist hervorragend durch die globale Finanz- und die europäische Schuldenkrise gekommen. Es hat seine Wirtschaftsleistung seit 2009 um 8 % gesteigert, viele Menschen in Beschäftigung gebracht und Marktanteile in seinen wichtigsten Exportmärkten hinzugewonnen. Und es war tugendhaft, erzielt Überschüsse in den öffentlichen Haushalten und reduziert seine öffentliche Schuldenlast.
Jeder im Publikum errät schnell, dass es sich bei diesem Land um Deutschland handelt. Die Deutschen im Publikum tun dies häufig mit einem Lächeln und nicht ohne einen gewissen Stolz. Andere Europäer sehen dies jedoch meist weniger positiv. Der deutsche Erfolg sei auch auf Kosten seiner europäischen Nachbarn zustande gekommen, argumentieren sie. Angesichts der Stärke der deutschen Industrie sorgen sie sich um die Wettbewerbsfähigkeit der anderen Europäer. Deutschland möge doch etwas tun, um diesen Wettbewerbsvorteil auszugleichen, zum Beispiel einen stärkeren Lohnanstieg und höhere Inflation in Deutschland erlauben. Diese Debatte endet selten im Konsens.
Die Wirtschaft des zweiten Landes kann man als gescheitert bezeichnen. Es ist eine, die seit dem Jahr 2000 weniger stark gewachsen ist als der Durchschnitt der Eurozone. Auch die Löhne der Arbeitnehmer sind deutlich weniger gestiegen. Sie haben sich sogar noch schwächer entwickelt als die Inflation: Zwei von drei Arbeitnehmern haben heute weniger Realeinkommen als im Jahr 2000. Die Armut ist gestiegen, eines von fünf Kindern lebt heute unter der Armutsgrenze. Auch die Einkommensungleichheit ist höher als noch in den 1990er-Jahren. Die Vermögensungleichheit ist ebenfalls gestiegen und eine der höchsten in Europa. Um die Chancengleichheit ist es genauso schlecht bestellt, sie ist gesunken: Etwa 70 % der Akademikerkinder gehen zur Universität, jedoch nur 20 % der Arbeiterkinder.
Die schlechte Leistung dieser Volkswirtschaft ist zu einem großen Teil das Resultat einer schwachen Produktivitätsentwicklung. Die Ursache liegt in den geringen Investitionen, die zu den niedrigsten aller Industrieländer zählen. Anfang der 1990er-Jahre wurden noch 23 % der Wirtschaftsleistung investiert, heute sind es nur noch 17 %. Niedrige Investitionen begrenzen die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und führen zu geringem Wachstum und Einkommen. Menschen und Unternehmen in diesem Land sparen zwar recht viel, aber sie sparen auch sehr schlecht – seit 2000 haben sie Vermögen in Höhe von 15 % einer jährlichen Wirtschaftsleistung im Ausland verloren. Auch das öffentliche Vermögen des Staates ist gefallen: Im Jahr 1999 betrug es pro vierköpfiger Familie knapp 25 000 Euro, heute praktisch null. Fazit: Dieses Land befindet sich auf einem absteigenden Pfad und lebt von seiner Substanz.
Wenn ich mit meinen Ausführungen über dieses zweite Land fertig bin, sehe ich meist mitleidige Gesichter im Publikum. Welches Land könnte dies sein? Die meisten im Publikum sind sich sicher: Es muss eines der Krisenländer sein. Wenn ich dem Publikum sage, dass auch dieses Land Deutschland ist, sehe ich Überraschung, Unglauben und Zweifel in den Gesichtern. Deutschland, wie ist das möglich?
Wir Deutschen vergessen heute allzu leicht, dass unser Land noch vor nur zehn Jahren als »der kranke Mann Europas« galt. Die deutsche Wirtschaft hat es bis zum Beginn der globalen Finanzkrise 2008 nicht geschafft, zur wirtschaftlichen Dynamik Europas aufzuschließen, auch wenn seit 2003 harte und wichtige Reformen – mit der Agenda 2010 vor allem im Arbeitsmarkt und Sozialsystem – auf den Weg gebracht wurden. Trotz der besseren Entwicklung seit 2009 konnte Deutschland sich bis heute nicht von den schwachen 2000er-Jahren erholen und den Rückstand aufholen.
Dieses Buch ist eine Analyse der wirtschaftspolitischen Herausforderungen Deutschlands und Europas aus der Sicht eines Ökonomen, der seine Wurzeln in Deutschland hat, der aber auch mehr als 20 Jahre im Ausland gelebt oder in einem internationalen Kontext tätig war. Aufgewachsen in der Nähe von Bonn, habe ich Deutschland im Alter von 21 Jahren verlassen, um in England, Boston, Indonesien, Washington DC, San Francisco und für kürzere Zeiträume in verschiedenen Teilen Asiens und Afrikas zu studieren und zu arbeiten. Mein Weg zum Ökonomen führte über Umwege. Bis zum Vordiplom studierte ich Volkswirtschaft in Kiel, wechselte dann zu Philosophie, Politik und Ökonomie nach England, später zu Public Policy in die USA, um dann in den Wirtschaftswissenschaften zu promovieren.
Ein einschneidendes Erlebnis für mich, beruflich wie privat Glück und Unglück zugleich, war es, Asiens Finanzkrise 1997/ 98 aus erster Hand in Indonesien mitzuerleben. Von 1996 bis 1998 war ich als Makroökonom für das Harvard Institute for International Development (HIID) beim indonesischen Finanzministerium in Jakarta, um dort die Regierung in Fragen der Handels-, Geld- und Währungspolitik zu beraten. Nach der Abwertung der lokalen Währung Rupiah im August 1997 brach die Wirtschaft um mehr als 20 % ein – zum Vergleich: Das ist mehr als in Griechenland während der vergangenen fünf Jahre insgesamt, nur dass Indonesien dies innerhalb eines Jahres erfuhr. Viele Menschen verloren ihre Arbeit. Andere mussten so starke Lohneinbußen in Kauf nehmen, dass sie trotz Arbeit ihre Familie nicht mehr versorgen konnten. Innerhalb weniger Wochen hatte sich die Zahl der um Essen oder etwas Geld bettelnden Obdachlosen auf den Straßen Jakartas vervielfacht. Es kam zu Unruhen, bürgerkriegsähnlichen Zuständen und tiefen Verwerfungen in Wirtschaft und Gesellschaft.
Diese Erfahrungen in Indonesien waren für mich die wichtigste Lehre darüber, wie viel Gutes, aber auch wie viel Schaden Wirtschaftspolitik verursachen kann. Einige Jahre später kehrte ich nach Deutschland zurück. Mein Arbeitsumfeld bei der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt war sehr europäisch und ließ mich die wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland mit einer gewissen Distanz und aus einer europäischen Perspektive beobachten und analysieren.
So hielt mein Wechsel nach Berlin im Februar 2013 – und nach mehr als 20 Jahren im Ausland oder in einem internationalen Umfeld – einige Überraschungen bereit. Das Deutschland, das ich aus meiner Jugend kannte, war ein anderes Land geworden. Im Alter von 21 Jahren hatte ich ein sehr selbstkritisches und zurückhaltendes Land verlassen, das nur selten Nationalstolz zeigte, aber sozial ausgerichtet war. Das Land heute ist enorm selbstbewusst. Es fühlt sich jedoch von Europa ausgenutzt und beginnt, dem gemeinsamen Kontinent den Rücken zuzukehren. Es ist ein Land, das zunehmend über die eigenen nationalen Interessen redet und dessen wirtschaftliches Modell und soziale Zusammengehörigkeit sich in einem großen Umbruch befinden. Für jemanden, der von außen auf Deutschland blickt, ist es jedoch schwer nachzuvollziehen, wieso Deutschland häufig so anders denkt und handelt als seine Nachbarn. In dem europäischen und globalen Kontext, in dem ich vorher tätig war – zum Beispiel über die G 20 oder den Internationalen Währungsfonds (IWF) –, habe ich häufig erlebt, wie schwierig es für Deutschland ist, seine Positionen zu rechtfertigen. In einigen Fragen ist Deutschland international isoliert. Wieso legt Deutschland einen so großen Wert auf Exportüberschüsse? Wieso ist uns eine Konsolidierung der Staatsfinanzen mitten in der Krise so wichtig? Wieso sehen viele Deutsche die Rettungspolitik von internationalen Institutionen, wie dem IWF, oder europäischen Institutionen so kritisch und fundamental anders – nicht nur anders als unsere europäischen Nachbarn, sondern auch als die Weltgemeinschaft?
Die zentrale These des Buches ist: Deutschland unterliegt drei Illusionen. Die erste Illusion ist die, dass die wirtschaftliche Zukunft gesichert sei, weil die Wirtschaftspolitik in Deutschland hervorragend war und ist. Das ist ein Trugbild, das fundamentale Schwächen der deutschen Volkswirtschaft ignoriert und nicht erkennt, dass Deutschland von seiner Substanz lebt. Das Buch argumentiert, dass sich der Abstieg der deutschen Volkswirtschaft beschleunigen wird, wenn es nicht gelingt, die gegenwärtige deutsche Wirtschaftspolitik fundamental zu verändern.
Die zweite Illusion liegt im Glauben, Deutschland brauche Europa nicht, und seine wirtschaftliche Zukunft läge außerhalb des Kontinents. Trotz zunehmender Globalisierung werden unsere geografischen Nachbarn langfristig unsere wichtigsten Wirtschaftspartner bleiben. Global gesehen ist Deutschland eine kleine Volkswirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Interessen Deutschlands haben nur deshalb eine Chance, global gehört zu werden, weil wir Teil der Europäischen Union sind. Mit immer stärker werdenden und selbstbewussteren Schwellenländern wird es in Zukunft immer wichtiger werden, dass Europa mit einer einheitlichen Stimme spricht.
Die dritte Illusion ist die Vorstellung, Europa sei nur auf Deutschlands Geld aus. Viele glauben, was gut für Europa ist, sei schlecht für Deutschland. Wir Deutschen sehen uns gerne als Opfer Europas und ignorieren die vielen Vorteile, die Europa uns gibt, trotz aller Kosten und Risiken, die Deutschland in der Krise für Europa übernommen hat.
Diese drei Illusionen werden im Buch diskutiert und analysiert. Obwohl ein Funken Wahrheit in allen dreien steckt, bleiben sie trotzdem Illusionen, Trugbilder, die nicht den Fakten entsprechen. Ich möchte mit Ihnen diskutieren, was die deutsche Wirtschaftspolitik in den kommenden Jahren tun kann, um die wirtschaftlichen Chancen für zukünftige Generationen zu sichern. Es ist ein unstrittiger Konstruktionsfehler, dass die Europäische Währungsunion ohne die nötigen institutionellen Rahmenbedingungen geschaffen wurde. Aber in der gegenwärtigen Krise hilft es nicht, gemachte Fehler zu bereuen und nostalgisch in die Vergangenheit zu schauen. Wir sollten uns fragen, was notwendig ist, um die europäische Wirtschaft zu stabilisieren und aus der Krise zu bringen.
Ich versuche Lösungen aufzuzeigen, wie die Währungsunion erfolgreich vollendet werden kann und was Deutschland und die Bundesregierung konkret tun können, um ein gemeinsames Europa zu gestalten. Ich schlage eine europapolitische Agenda für Deutschland mit zehn Punkten in drei Politikbereichen vor. Diese beruht zum Teil auf der Arbeit der Glienicker Gruppe von elf Wissenschaftlern – Ökonomen, Juristen und Politologen – sowie weiteren Elementen. Als Erstes braucht ein wirtschaftlich gesundes Europa eine dynamische deutsche Wirtschaft – in der Stärke der deutschen Wirtschaft liegt der Schlüssel für Europas langfristigen wirtschaftlichen Erfolg. Dies erfordert jedoch ein grundlegendes wirtschaftspolitisches Umdenken in Deutschland.
Die zweite große Herausforderung liegt in der tieferen wirtschaftlichen Integration Europas. Nur ein stärker integriertes Europa – in dem die Fähigkeiten und Stärken aller europäischer Länder und Menschen zusammengebracht werden – wird im immer härteren globalen Wettbewerb bestehen und seinen Wohlstand sichern können.
Und zum Dritten braucht Europa eine Neuordnung seiner Institutionen. Subsidiarität – das Treffen von Entscheidungen auf lokaler und regionaler Ebene, wann immer möglich – und stärkere europäische Institutionen sind kein Widerspruch, sondern sie sind komplementär und bedingen einander. Stärkere europäische Institutionen, wie etwa in den Bereichen des Banken- und Finanzsystems, der Fiskalpolitik und der Außen- und Sicherheitspolitik, müssen nicht weniger nationale und regionale Souveränität bedeuten. Im Gegenteil, stärkere europäische Institutionen führen häufig dazu, dass nationale und regionale Regierungen in der Vergangenheit verlorenen Einfluss wiedererlangen können. Eine tiefere Integration Europas verlangt jedoch vor allem eines: mehr demokratische Legitimierung für Europa. Dies zu erreichen ist eine der schwierigsten, aber auch wichtigsten Herausforderungen für die Politik, in Deutschland wie in ganz Europa.
Bundespräsident Roman Herzog klagte in seiner berühmten »Ruck-Rede« Ende der 1990er-Jahre über die »unglaubliche mentale Depression« in Deutschland. Heute herrscht Euphorie. Es scheint, als hätte das Land innerhalb von 15 Jahren seine mentale Einstellung und Selbstwahrnehmung komplett geändert. Woher kommt diese Kehrtwende? Eine Erklärung liegt sicherlich darin, dass Menschen sich gerne mit anderen vergleichen. Das Gleiche gilt auch für Nationen, deren Selbstbewusstsein stark davon abhängt, wie es den Nachbarn geht. »Unter den Blinden ist der Einäugige König«: In einem Europa, das sich in einer tiefen Krise befindet, steht Deutschland trotz seiner eigenen Schwächen sicherlich vergleichsweise gut da.
Eine zweite Erklärung liegt im häufig kurzen Gedächtnis von Menschen und Nationen. Die Metapher vom »kranken Mann Europas« ist heute fast vergessen. Gegenwärtig sehen wir uns selber gerne als den europäischen Superstar. Es wird zu leicht übersehen, dass sich eine solche Wandlung von »relativ schwach« zu »relativ stark« genauso schnell wieder umdrehen kann. Und das Gedächtnis ist nicht nur kurz, sondern oft auch selektiv: Wir Deutschen konzentrieren uns gerne auf unsere Erfolge und Stärken – und ignorieren dabei die Misserfolge und die Menschen, die nicht an diesen Erfolgen teilhaben, auch im eigenen Land.
Unsere Euphorie ist gefährlich. Denn sie macht uns überheblich, blind und träge. Überheblich, um die eigenen Schwächen zu erkennen und eine realistische Einschätzung der Situation zuzulassen. Blind, um die Herausforderungen unserer Zeit zu sehen. Und träge, um den notwendigen Mut und die Entschlossenheit aufzubringen, zukunftsorientierte, manchmal schwere Entscheidungen zu treffen.
Das mir wichtigste Ziel dieses Buches ist es, die deutsche Perspektive mit der unserer europäischen Nachbarn zusammenzubringen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu beleuchten und Lösungswege aufzuzeigen. Ziel ist es auch, einen ausgewogeneren und sachlicheren Dialog unter Europäern mitzugestalten. Wir Deutsche müssen uns wie alle Europäer stärker in einen rationalen Dialog über Europa einbringen. Wir sollten verstehen, wieso Europas gemeinsame Zukunft so wichtig für uns alle ist – vor allem für uns Deutsche. Und wir sollten für das Gelingen der europäischen Integration und Einigung kämpfen, für uns und für zukünftige Generationen.
Berlin, im Juni 2014
Die Euphorie über die deutschen Wirtschaftserfolge scheint in der Öffentlichkeit kaum Grenzen zu kennen. Medienberichte in Zeitungen und Fernsehen sind voll von Erfolgsgeschichten deutscher Unternehmen. Der deutsche Aktienindex DAX jagt von einem Höchstwert zum nächsten. Prognosen sagen der deutschen Wirtschaft eine rosige Zukunft voraus, mit hohen Wachstums- und Beschäftigungszahlen für die kommenden Jahre. Umfragen belegen, wie optimistisch die Unternehmer in die Zukunft blicken. Die deutschen Bürger glauben, sie stünden so gut da wie lange nicht mehr, und die Aussichten für ihre Zukunft seien hervorragend.
Eine solche Euphorie ist ungewöhnlich für ein sonst eher pessimistisch und zurückhaltend auf die eigenen wirtschaftlichen Erfolge blickendes Land. Was ist passiert? Ist das Stimmungshoch gerechtfertigt? Sind die Erfolge und die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wirklich so überragend? Und blickt Deutschland wirklich einer so vielversprechenden und rosigen Zukunft entgegen, wie es die öffentliche Meinung suggeriert?
Man muss mindestens zwei Jahrzehnte bis in die Mitte der 1990er-Jahre zurückgehen, um die deutsche Jubelstimmung zu verstehen. Nach der Wiedervereinigung 1990 und einer kurzen Periode starken wirtschaftlichen Wachstums legte sich ein lang anhaltendes Stimmungstief über Deutschland. Wie schlecht es um die Reformfähigkeit des deutschen Staates bestellt war, zeigt der Begriff, der im Jahr der »Ruck-Rede« zum Unwort des Jahres gekürt wurde. Er lautete: »Reformstau«.
Wie konnte sich die deutsche Volkswirtschaft, die noch vor zehn Jahren als wenig dynamisch, unflexibel und kaum wettbewerbsfähig galt, innerhalb eines Jahrzehnts so grundlegend wandeln? Und wie erklärt sich das Auf und Ab der gesellschaftlichen Stimmung? Ein Grund war sicherlich die deutsche Wiedervereinigung 1990. Sie bescherte dem Land zunächst einen Wirtschaftsboom, stellte die Politik aber auch vor enorm hohe Herausforderungen. Die deutsche Volkswirtschaft – vor allem die ostdeutsche Wirtschaft, so lautete das Versprechen – sollte sich in wenigen Jahren in blühende Landschaften verwandeln: Wohlstand für alle. Es wurde jedoch sehr schnell deutlich, dass diese Hoffnungen und Versprechen übertrieben und unrealistisch waren.
Es folgte eine Phase der Ernüchterung, der politischen und wirtschaftlichen Stagnation. Nachdem Deutschland zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren vier Jahrzehnte lang Aufschwung und wirtschaftliche Erfolge erlebt hatte, sank die Reformbereitschaft in den letzten Jahren der Bundesregierung unter Helmut Kohl enorm. Der starke Wunsch nach einem politischen Wandel führte 1998 zu einem Regierungswechsel. Der Neuanfang war nicht leicht, und die erste Regierung aus SPD und Grünen unter Gerhard Schröder konnte nur relativ wenige wirtschaftliche Reformen durchsetzen. Außer ein paar kleineren Änderungen nahm sie hauptsächlich Reformen der vorherigen Bundesregierung zurück.
Die zweite Regierung unter Gerhard Schröder geriet dann zunehmend unter den Druck der Öffentlichkeit. Aber auch Industrie und Gewerkschaften forderten, nun endlich beherzte Reformen umzusetzen. Vor allem die Einführung des Euro im Jahr 1999 verdeutlichte die fehlende Dynamik und die schrumpfende Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland stieg seit Anfang der 1990er-Jahre stetig, und andere Europäer holten Deutschland in vielen Bereichen ein oder überholten es sogar. Die britische Zeitschrift Economist bezeichnete Deutschland daraufhin als »kranken Mann Europas«. Die anderen Eurozonenländer profitierten vom Euro sehr viel mehr als Deutschland. Sie nutzten die günstigen Finanzierungsbedingungen des Euro, um in ihre Volkswirtschaften zu investieren, neue Infrastrukturen zu schaffen und soziale Leistungen auszuweiten.
Die globale Rezession in den Jahren 2000 bis 2002, die vom Platzen der Technologieblase und anschließenden Kollaps der Aktienmärkte verursacht wurde, traf Deutschland besonders stark. Während sich andere Länder sehr schnell von dieser Rezession erholten, ging es in Deutschland stetig bergab. Aber nicht nur die Wachstumsraten in Deutschland waren schwach, auch die Investitionen sanken immer weiter. Die Arbeitslosigkeit stieg weiter an. Vor allem die Produktivität in der deutschen Wirtschaft enttäuschte. Viele deutsche Unternehmen hatten entweder hohe Schulden oder wenig Kapital für Investitionen. Infolgedessen wurde es für Unternehmen mit besser gefüllten Kassen attraktiver, ihr Geld mehr und mehr im Ausland zu investieren.
Der zweiten Schröder-Regierung blieb keine andere Wahl, als tiefe, grundlegende Reformen umzusetzen. Das tat sie 2003 mit der Agenda 2010, die vor allem ein Absenken vieler Sozialleistungen beinhaltete. Höhe und Laufzeit des Arbeitslosengelds wurden ebenso gekürzt wie Pensionen und die Sozialhilfe. Das Ziel war, die Kosten für den Staat und die Unternehmen zu reduzieren sowie die Arbeits- und Produktmärkte flexibler zu machen. Viele waren überrascht, dass diese Reformen von einer sozialdemokratischen Regierung kamen, die traditionell enge Beziehungen zu Arbeitnehmern und Gewerkschaften hat. Nachdem die Zahl der Arbeitslosen im Jahr 2005 auf mehr als fünf Millionen, eine Quote von 12 %, gestiegen war, erholte sich die Lage am Arbeitsmarkt langsam. Bis 2008 fanden viele Menschen neue Beschäftigung. Aber Löhne und Einkommen stagnierten in vielen Sektoren.
Gegenwärtig wird eine kontroverse Diskussion über die Frage geführt, wie wichtig diese Reformen der Agenda 2010 wirklich für die deutsche Wirtschaft und ihre Leistungsfähigkeit waren. Viele Studien zeigen zum Beispiel, dass die Agenda 2010 nur einen eher indirekten Einfluss auf Lohnverhandlungen und Beschäftigungsentscheidungen von Unternehmen und Gewerkschaften hatte. Was jedoch außer Frage steht, ist, dass die Agenda 2010 ein wichtiger Wendepunkt für Deutschland war. Sie führte zu einem fundamentalen gesellschaftlichen Umdenken und grundlegenden ökonomischen und sozialen Veränderungen. Sie hatte ein gemeinsames Verständnis geschaffen, dass der vorherige Pfad der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht nachhaltig gewesen war und reformiert werden musste. In den Jahren nach der Agenda 2010 gab es eine ungewöhnlich enge Kooperation zwischen den verschiedenen Sozial- und Tarifpartnern.
Die Erfolge der Agenda 2010 zeigten sich nicht sofort. Es dauerte viele Jahre, bis sich die deutsche Wirtschaft nicht nur stabilisierte, sondern erholte. Erst 2007 hatte man mit den Wachstumszahlen anderer europäischer Länder gleichgezogen. Mittlerweile war die zweite Regierung unter Gerhard Schröder 2005 von einer Großen Koalition unter Angela Merkel abgelöst worden.
Als Deutschland endlich das Gefühl hatte, zu seinen europäischen Nachbarn wieder aufgeschlossen zu haben, kam die globale Finanzkrise im Jahr 2008. Der Kollaps von Lehman Brothers im September 2008 verursachte eine tiefe globale Rezession. Deutschland litt durch die große Offenheit seiner Wirtschaft und ihrer Abhängigkeit vom Handel deutlich stärker als die meisten anderen Industrieländer. Was jedoch zwischen 2008 und heute wirtschaftspolitisch in Deutschland passierte, hat viele Menschen überrascht und mag den Zustand der Euphorie erklären.