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Inhaltsverzeichnis
 
 
 
 
 
 
 
 

Vorwort
Kasualien gehen zu Herzen. Zu erleben, wie ein Mensch zu Grabe getragen wird, an einer Taufe mitzuwirken, eine Konfirmation oder eine Trauung zu feiern, berührt mich, es nimmt mich ein – als Liturg oder als Freund, als Vater, als Gemeindeglied oder als Nachbar. Ich freue mich über eine Geste, die stimmt, und mich beschäftigt ein Wort, das trifft. Gelegentlich ärgere ich mich, wenn etwas achtlos und nachlässig gestaltet oder etwas falsch zum Ausdruck gebracht wird. Mich interessiert, nun schon über Jahre, was es mit den Kasualien praktisch-theologisch auf sich hat. Dies motiviert mich, kasualtheologisch nachzudenken und Kirche von Fall zu Fall, nun in überarbeiteter Form, ein zweites Mal zu veröffentlichen, nachdem die Überlegungen breite Resonanz gefunden haben.
 
Das Buch ist an alle gerichtet, die etwas von der heutigen Bedeutung der Kasualien erfahren wollen, insbesondere ist es an Pfarrerinnen und Pfarrer adressiert. Seit der ersten Veröffentlichung habe ich in Pastoralkollegs und auf Tagungen vielfältige engagierte Debatten erlebt, die in die Überarbeitung eingegangen sind. Praktische Nachfragen erfolgten: Wo liegen die wesentlichen Veränderungen gegenwärtiger Kasualpraxis, was hält sich durch? Wie sind subjektive Gestaltungswünsche der Beteiligten zu verstehen? Welche Bedeutung haben neue Bestattungsformen? Welche Perspektiven hat das Taufpatenamt? Was hat es mit Traditionsneubildungen auf sich, etwa der »Brautübergabe« bei kirchlichen Trauungen? In welchem Kontext steht heute die Goldene Konfirmation, wenn man sie als Alterskasualie begreift? Im Gegenzug zu den praxisorientierenden Erweiterungen sind gegenüber der ersten Auflage fachwissenschaftliche Passagen gekürzt und die Anmerkungen gestrichen worden. In den vergangenen Jahren sind etliche Monographien erschienen, in denen die kasualtheologische Diskussion weitergeführt ist; eine Auswahl ist im Anhang zur vertiefenden Lektüre empfohlen.
Herrn Diedrich Steen und Frau Tanja Scheifele vom Gütersloher Verlag danke ich für die Ermunterung, Kirche von Fall zu Fall noch einmal für eine zweite Fassung zu überarbeiten, und für die Unterstützung auf dem Weg zur Veröffentlichung. Herrn Dr. Christian Mulia danke ich für die neuerliche kritische Lektüre und die kollegiale Mitarbeit in Mainz.
 
Kristian Fechtner

I. Kasualien in praktisch-theologischer Perspektive

1. Kasualien wahrnehmen

(1) Von Fall zu Fall

Taufe und Konfirmation, Trauung und Bestattung sind gottesdienstliche Ereignisse und zumeist familiär geprägte Feiern auf dem Weg, den Menschen zurücklegen. Entlang der Lebensgeschichte bilden sie Erbstücke kirchlichen Lebens, sie sind Tradition. Und sie sind Ecksteine gegenwärtig gelebter Kirchlichkeit im spätmodernen Christentum. Wenn heute einzelne oder Familien an Kasualfeiern teilhaben und an dem, was sich mit ihnen verknüpft, dann bewegen sie sich an einer Schnittstelle, an der sich christliche Tradition und eigenes Leben berühren und ineinander übergehen. Obwohl sich Lebensformen wandeln und die Lebensführung verändert hat, scheint die kirchliche Kasualpraxis – davon zeugt ihre heutige Resonanz – für Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von hoher Bedeutung zu sein.
Taufen und konfirmieren, trauen und beerdigen: Was in den sogenannten Amtshandlungen zu tun ist, gehört zu den Kennzeichen pastoraler Tätigkeit und Identität von Pfarrerinnen und Pfarrern. Durchaus in einer Mischung von Lust und Unlust – nicht wenigen bereitet mancher Teil ihrer Amtshandlungspraxis Unbehagen – sind sie und bleiben sie ein Brennpunkt pfarramtlicher Praxis. Aus der Hand geben würde sie im Zweifelsfall keine Gemeindepfarrerin und kein Gemeindepfarrer. Die Kasualien sind bedeutsam für diejenigen, denen sie kirchlich anvertraut sind.
Beides zusammen fordert dazu heraus, die Kasualien praktisch-theologisch zu erkunden und danach zu fragen, wie sie theologisch verantwortet zu gestalten sind. Längst sind die Zeiten vorbei, in denen die evangelische Theologie die Kasualien bzw. die Amtshandlungen (so der ältere Ausdruck) nur mit spitzen Fingern angefasst hat. Die zeitgenössische Praktische Theologie nimmt, konzeptionell in unterschiedlicher Art und Weise, die Aufgabe wahr, der gegenwärtigen Bedeutung der Kasualpraxis nachzugehen. Dabei ist wichtig, sich auf das »Gegenwärtige« auszurichten: Praktische Theologie wird sich nicht damit begnügen können, die Kasualien als mehr oder minder stabilen Traditionsbestand volkskirchlichen Christentums zu begreifen. Sie wird vielmehr zu verstehen suchen, warum und in welcher Weise die Kasualien heute wirksam und von Bedeutung sind, und d. h. im Kontext der Spätmoderne. Hier lassen sich dann auch Herausforderungen erkennen, die sich kirchlicher Kasualpraxis stellen, sowie Perspektiven, die aus ihr erwachsen.
Nach praktisch-theologischer Lesart sind die vier kirchlichen Handlungen Kasualien. Der Kasus ist das, was der Fall ist – und zwar jeweils als eine spezifische Begebenheit. Taufe und Konfirmation, Trauung und Bestattung sind als Kasualien besondere Fälle. In der Kasualpraxis erweist sich die Kirche als eine Kirche »von Fall zu Fall«. Ihr Ort ist nicht der gewöhnliche Alltag, sondern der Raum, der sich in einem einschneidenden Lebensereignis eröffnet. Das kasuelle Handeln der Kirche ist von einem Anlass her motiviert. Es ist auf diejenige Situation hin ausgelegt, die es lebensgeschichtlich vorfindet und zugleich liturgisch und homiletisch, seelsorglich und katechetisch mit hervorbringt. Der Kasus Taufe / Bestattung / Konfirmation / Trauung hat es in sich, weil er immer schon ein vielfach bestimmter Fall ist: durch das Lebensgeschick der Beteiligten, die kirchliche Tradition, den sozialen Kontext, die kulturellen Prägungen, aber auch durch das gottesdienstliche Geschehen, das pastorale Gespräch, die familiäre Feier und anderes mehr. Die Kasualie bildet einen Deutungs- und Erfahrungsraum gelebten Lebens – des gegenwärtigen, des vergangenen und des zukünftigen. In diesem Raum werden Verbindlichkeiten gestiftet und es werden Möglichkeiten eröffnet. Für die Beteiligten ist die Kasualie Ernstfall: dem Tod begegnen, zur Welt kommen, sich in eigene Verantwortung entbinden lassen, ein Lebensbündnis eingehen.
Eine Praktische Theologie der Kasualien hat von Fall zu Fall zu ermitteln. Sie hat zu erkunden, was unser Fall ist. Es braucht Beobachtungsgabe und Deutungskraft, insofern Praktische Theologie den Fall – die Taufe eines Kindes oder Erwachsenen, die Bestattung eines Verstorbenen, die Konfirmation eines Jugendlichen, die Trauung eines Paares – interpretierend zu beschreiben hat. Es gilt, das religiöse Bedeutungsgewebe der Kasualpraxis erkennbar werden zu lassen und zwar anhand ihrer rituellen Arrangements, festzeitlichen Begehungen und populären Symboliken. Den vermeintlich kleinen Dingen ist nachzugehen. Sinn und Bedeutung der Kasualien erschließen sich eben nicht nur über deren agendarische Gestaltung und über die kirchliche Verkündigung. Vielmehr: Was ist in der lebensgeschichtlichen Erzählung wichtig, in der sich eine Frau an die Taufe ihrer Tochter erinnert? Und: Was hat es mit dem Fotografieren im Kasualgottesdienst auf sich? Oder: Was kommunizieren heute Traueranzeigen im Spannungsfeld zwischen standardisierten Formulierungen und höchst individuellen Mitteilungen? All dies bildet zusammen die Textur der Kasualpraxis, die praktisch-theologisch entziffert werden muss, um die zugrunde liegenden Muster herauszuarbeiten. Denn: Der Fall, die Kasualie hat es in sich.
 
Die empirischen Untersuchungen in den letzten vier Jahrzehnten zeigen deutlich, dass die Beteiligung an den Kasualien eine in sich konsistente Gestalt gelebten Christentums darstellt. Fluchtpunkt gegenwärtiger Kirchlichkeit sind »besondere Anlässe«, und zwar festzeitlich wiederkehrende Feiertage im Jahreskreis und insbesondere lebensgeschichtliche Ereignisse im Lebenslauf des Einzelnen: Heiligabend und Erntedankfest, die Taufe der Enkelin und die Beerdigung der Nachbarin. In der Moderne hat sich eine »KuK-Religiosität« ausgebildet, d. h. eine Praxis (kirchlich) gelebten Christentums, die sich auf die Kasualien und die Kirchenjahresfeste konzentriert. Dabei bilden Kirche und Gottesdienstbesuch aus gegebenem Anlass eine prinzipiell punktuelle Form der Teilnahme, zugleich aber sind sie in einen Rhythmus des kirchlichen Geschehens eingebettet, an dem sie teilhaben und der das Leben in der Zeit interpunktiert: In Fest und Feier ist Leben je und je besonders. Weiterhin geben die repräsentativen Befragungen von Kirchenmitgliedern ein Muster zu erkennen, das durch innere und äußere Distanz gekennzeichnet ist. In der Kasualpraxis wird Kirche zugänglich auch und insbesondere für Menschen, die ihr distanziert gegenüberstehen. Distanzbewusstsein gegenüber institutionellen Vorgaben der Kirche und Distanzverhalten gegenüber kirchengemeindlichen Lebensweisen sind mehr als nur individuelle Gegebenheiten oder ein durch persönliche Erfahrungen motivierter Abstand zum kirchlichen Geschehen. Sie sind vielmehr Teil des kirchlichen Christentums in der Lebenswelt der Moderne und darin ein eigenes Segment und eine in sich eigenständige Gestalt von Kirchenmitgliedschaft. Praktisch-theologisch wäre präziser ein solches kasualkirchliches von einem vereinskirchlichen Christentum zu unterscheiden, wobei mit gleichsam abgestuften Entfernungsgraden ebenso zu rechnen ist wie mit Übergangsbereichen. Mit dem Stichwort »Kasualkirchlichkeit« ist nicht selten eine Wertung verbunden, die Kasualien und die in ihnen zum Ausdruck kommende Christlichkeit werden als Frömmigkeitsdefizit beurteilt: Gläubig sind Kasualchristen eben »nur« dann und wann. Durch eine solche Lesart schimmert ein Interpretationsmodell durch, das auch innerhalb der Kirche bis heute weithin prägend geblieben ist, dies trotz vielfach anders orientierter praktisch-theologischer Beiträge zur Kasualtheorie in den letzten dreißig Jahren. Als Maßgabe und Regel vollgültiger Kirchlichkeit fungieren die Kirchlichkeit der sogenannten Kerngemeinde, während Kirche von Fall zu Fall als ein devianter, letztlich defizitärer Typus christlichen Lebens erscheint. Gegenüber einem auch im öffentlichen Bewusstsein sehr wirkmächtigen verfallsgeschichtlichen Modell – Kasualien wären demnach Restbestände einer ehemals intakten kirchlichen Welt – ist zunächst festzuhalten, dass sich eine Kasualpraxis in der heute gelebten Form gerade unter neuzeitlichen Bedingungen ausgeweitet, verfestigt und etabliert hat. Dass das kirchliche Geschehen hier symbolisch auf das Ganze der Lebensgeschichte bezogen ist und gleichzeitig praktizierte Kirchlichkeit lediglich ein partikulares Element im Gesamt des menschlichen Lebens darstellt, diese Spannung ist ein Signum für christliche Religion in der Lebenswelt der (Spät-)Moderne.

(2) Lebensweltlicher Horizont

Was Kirche und Praktische Theologie als »ihre« Kasualien wahrnehmen, reicht sehr viel weiter als das kirchliche Handeln selbst. Kasualien sind eng verwoben in vielfältige lebensweltliche Zusammenhänge, so dass sie – wo sie in ihrer Bedeutung verstanden werden sollen – auch in ihrem kulturellen Horizont und ihren biographischen Bezügen sichtbar gemacht werden müssen. Drei Beispiele mögen dies andeuten:
• »Als ich im Juli 1918 geboren wurde, hatte Mutter die Spanische Grippe, und da es nicht danach aussah, als wenn ich überleben würde, erhielt ich noch im Krankenhaus die Nottaufe.« So beginnt der schwedische Regisseur Ingmar Bergman seine autobiographischen Erinnerungen »Mein Leben«. Der lutherische Pastorensohn hat Memoiren geschrieben, die sich so gar nicht in das chronologische Schema »zuerst und sodann« fügen, sondern Bruchstücke zusammentragen und in Konfrontation gehen. Die eigene Biographie wird »seziert«, so heißt es im Klappentext. Bergman ist einer, der durch das konservative Luthertum, aus dem er stammt, seelisch tief verletzt ist. Die Erzählung seines »Lebens« ist immer auch Gegenwehr gegen die kirchliche Herkunft. Es ist ein Leben, das durch die Jahre hindurch in vielerlei Hinsicht gefährdete Existenz ist. Und deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass der narrative Ausgangspunkt seiner Lebenserzählung die Taufe ist – hier lebensbestimmend als Nottaufe. Und ebenso ist wohl nicht zufällig die Schlusspassage eine Rückwendung zu diesem Anfang, nunmehr in Gestalt von Eintragungen im geheimen Tagebuch der Mutter. Sie erwähnt die Nottaufe des Sohnes Ingmar und dass sie »machtlos und elend« herumliege, bekennt schließlich: »Ich bete zu Gott, aber ohne Zuversicht. Man muss schon selbst zurechtkommen, so gut man kann.« In der lebensgeschichtlichen Erzählung Bergmans ist die Taufe nicht (mehr) Element einer kirchlichen Biographie, sie fungiert aber als Deutungsrahmen, in dem disparate Erfahrungen und Empfindungen ihren Ort finden – ohne dass damit die Ungewissheiten überwunden sind. Mehr und anderes als bloße Konvention bringt das Symbol der Taufe die Erzählung auf die Spur der Bergmanschen Lebensgeschichte, verdichtet Lebensthemen. Aber es ist, und dies gibt der Kasualtheorie Anstoß, ein Bezug auf Taufe, der dezidiert jenseits kirchlicher Theologie erfolgt und in erklärter Absage an kirchliche Tradition: »Man muss schon selbst zurechtkommen...«
• Vor etlichen Jahren haben geschätzte zwei bis drei Milliarden Menschen weltweit medial Anteil genommen an einem eindrücklichen Abschied von einer geschiedenen englischen Prinzessin: an der Trauerfeier von Lady Di, der »Königin der Herzen«, die Tage zuvor bei einem Autounfall zusammen mit ihrem Verlobten tödlich verunglückt war. Was hier liturgisch in Szene gesetzt und v. a. was damit an Miterleben und -erleiden ausgelöst wurde, ist nahezu ohne Vergleich gewesen und geblieben, auch wenn mittlerweile eine ganze Reihe öffentlicher Abschiede populärer Personen – man denke zuletzt an die Trauerfeier für Michael Jackson – medial inszeniert worden ist. Die Art und Weise, wie der Tod von Diana in Szene gesetzt wurde, war mehr als nur die Darstellung eines Trauerfalls; sie schuf ein eigenes medienreligiöses Ereignis, das kaum eine Betrachterin oder einen Betrachter – mich jedenfalls nicht – kalt ließ. Indem die Liturgie dieses Abschiedsrituals ganz auf die Persönlichkeit Dianas abgestimmt war und sie als (öffentliche) Person zum (tragischen) Mythos werden ließ, hat das liturgische Geschehen einen weiten Raum etabliert, in dem Menschen eigene Abschiede, eigene Trauer und Erinnerung mit Macht erlebten. Dass hochemotionalisiert vielfältige Energien freigesetzt wurden, hing nicht zuletzt an zwei Momenten dieses Todes: Er erschien als Abbruch mitten im aufbegehrenden Leben und er war unauflöslich mit der Frage nach Schuld behaftet. Ein zentrales Sinnbild dieser Totenfeier wurde die Kerze – verdichtet in Elton Johns Abschiedslied »Candle in the Wind« und widergespiegelt in den unzähligen Kerzenlichtern an der Unglücksstelle, an den Wegstationen des Trauerzuges wie an anderen symbolisch besetzten Orten weltweit. Das Symbol der Kerze verknüpft christliche Überlieferung (»In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen«, Joh 1,4) durch den Mythos Lady Di hindurch mit Facetten der Alltagsreligiosität: Licht und Finsternis, Wärme, verzehrendes Leben, Entzünden und Verlöschen, die reine Flamme, fragiles Licht. Das Lied thematisiert, wie Leben bewegt und gefährdet ist – wie eine Kerze im Wind. Die »große Trauerfeier« im Fernsehen strahlte ab auf die »kleinen Trauerfeiern« vor Ort: Elton Johns Song von Trauerliebe wanderte auch hierzulande in die Kasualpraxis ein; Kerzenkultus, der ja als Trauer- und Erinnerungszeichen lange Tradition hat, wurde in den letzten Jahren neu entfacht.
• Zwischen Kindheit und Jugendzeit steht heute das eigene Handy. Die elterlichen Auseinandersetzungen, ob die Tochter oder der Sohn ein solches Gerät überhaupt besitzen sollten, gleichen mittlerweile Rückzugsgefechten. Die Frage ist eher: Wann ist es dran und welche Regularien für seinen Gebrauch sind zu verabreden? Wie fast alle anderen Dinge, die 12-14-Jährige heute betreffen, ist das Handy familiäre Verhandlungssache. Die Frage nach dem Umgang mit Handys steht auf jedem Elternabend der Sekundarstufe I auf der Tagesordnung, auf dem die erste größere Klassenfahrt der Kinder vorbereitet wird. Wie kaum ein anderer Gegenstand symbolisiert das Handy den Statuswechsel zum Jugendlichen, der sich ansonsten in vielfacher Hinsicht zerdehnt und verschliffen hat. Der Besitz des eigenen Handys ist sichtbares und hörbares Zeichen dafür, dass man kein Kind mehr ist. In gewisser Weise ist es der Nachfolger des traditionellen, heute mehr oder minder anachronistischen Konfirmationsgeschenks: Zur Konfirmation hatte man die erste Uhr bekommen. Das Geschenk war gleichermaßen ein abschiedlicher wie ein initiatorischer Akt. Mit der eigenen Uhr ließ man die Kindheit hinter sich, die sprichwörtlich als diejenige Zeit firmierte, in der die Stunden nicht gezählt werden mussten. Die eigene Uhr versetzte die Konfirmierten gleichzeitig in das geltende Zeitmaß der Erwachsenenwelt und verpflichtete sie zur Einhaltung von deren Regeln, zu eigenverantwortlicher Pünktlichkeit beispielsweise. Verselbständigung und Neuverpflichtung waren zwei Seiten einer Medaille. Das Kind heute mit einem eigenen Handy auszustatten, ist ebenfalls ein »konfirmierender« Akt, auch dann, wenn er nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit der kirchlichen Konfirmation steht, sondern häufig bereits im Vorfeld angesiedelt ist. Das Handy erscheint als Übergangsobjekt par excellence, es ist fortan immer da(bei). Als Gabe eröffnet es Jugendlichen ein Medium, um eigene Kommunikation zu pflegen. Die jugendliche Handy-Kultur, insbesondere in ihrer Spielart als Kurzmitteilung (SMS), ist ein Stück autonomer Kommunikation, die ganz auf die Peergroup abgestellt ist. In der öffentlichen Intimität des Mediums wird Zugehörigkeit zelebriert. Was den Jugendlichen Handy-Nutzern Kontakt ermöglicht, intendiert aus elterlicher Sicht hingegen Rapport. Es gewährleistet, dass die Kinder auch als Jugendliche immer und überall erreichbar sind – so sie denn den Rapport nicht verweigern, indem sie sich ausschalten. Initiatorisch ist das Handy aber nicht nur darin, dass es in die Jugendkultur des Kontaktens hineinversetzt, sondern durchaus auch darin, dass es Jugendliche in die gegenwärtige Erwachsenenwelt einführt: Gesellschaftliches Leben mit dem Handy beinhaltet, dass alle jederzeit anrufbar und abrufbar sind.

(3) Gottesdienstliche Mitte

Kirchliche Kasualien sind – dies geben die drei kurzen Erkundungsgänge zu erkennen – in einem weiten lebensgeschichtlich und kulturell geprägten Feld wahrzunehmen und zu gestalten. Sie beginnen und enden nicht an der Kirchentür. Und doch erschließt sich ihr Sinngehalt zuerst und zuletzt in der gottesdienstlichen Handlung, in Liturgie und Predigt.
Die kirchlichen Handlungen, die heute unter der Rubrik »Kasualien« verzeichnet werden, haben eine lange und wechselvolle Geschichte. Die Taufe wird als Praxis der urchristlichen Gemeinschaft in den neutestamentlichen Schriften verbürgt. Wenn auch biblisch nicht eigens ausgewiesen, so ist auch die Bestattung der Verstorbenen im frühen Christentum eine Sache der Gemeinde. Die Trauung als Ritus, eine Ehe zu schließen, birgt eine wechselvolle Geschichte zwischen Rechtsakt und liturgischer Handlung in sich, seit dem Mittelalter kann man auch hier von einer kirchlichen Praxis sprechen. Die Konfirmation, die eine ältere Vorgeschichte in der mittelalterlichen Praxis der Firmung hat, bildet sich im Schoße des Protestantismus heraus, sie wird regional und innerhalb der verschiedenen evangelischen Konfessionen über lange Zeit unterschiedlich gehandhabt und akzentuiert. Erst in der Moderne aber werden die vier kirchlichen Amtshandlungen konzeptionell als besondere gottesdienstliche Feiern zusammengefasst, die sich auf einen bestimmten lebensgeschichtlichen Anlass und auf eine besondere biographische Situation beziehen. Historisch ist es bis tief in die Neuzeit hinein keineswegs selbstverständlich gewesen, dass die lebensgeschichtlichen Ereignisse, auf die sich die Kasualien beziehen, und die kirchlichen Akte, die mit ihnen verbunden werden, gottesdienstlich begangen werden. So können auf der einen Seite noch bis ins 19. Jahrhundert hinein Verstorbene, jedenfalls in den sogenannten unteren Schichten, ohne Mitwirkung von Geistlichen, oft bei Nacht, »still« beerdigt werden – eine Praxis, gegen die sich noch Friedrich Schleiermacher vehement wendet. Nur wenige evangelische Landeskirchen sehen seinerzeit eine feste Begräbnisliturgie vor, erst im Zuge der Zeit wird das Feld der Bestattung kirchlich-liturgisch gestaltet und als Trauergottesdienst für alle Verstorbenen kirchengemeindlich etabliert. Auf der anderen Seite ist bereits seit dem 17. Jahrhundert im Schoße des Bürgertums die Taufe aus der Kirche in die Wohnstube verlagert worden, als Haustaufe wird sie aus dem gottesdienstlichen Leben der Gemeinde herausgelöst und bürgerlich familialisiert. In den kirchlichen Raum zurückgeholt sind Taufen bis in die 1960er-Jahre dann wieder in Gestalt eines Taufgottesdienstes, häufig am Samstagnachmittag, gefeiert worden. In vielen evangelischen Landeskirchen ist seitdem die Taufe wieder in den sonntäglichen Gemeindegottesdienst zurückgekehrt; in der Regel werden bestimmte Sonntage innerhalb des Monats- oder Jahresrhythmus (wieder) als »Taufsonntage« ausgewiesen. Man kann die hier nur angedeuteten Entwicklungsstränge bündeln: Die Kasualien sind bis heute in ihrem gottesdienstlichen Charakter gestärkt worden.
Die hier vorgetragenen Überlegungen nehmen diesen Grundzug auf, wenn sie praktisch-theologisch die Kasualien aus ihrer gottesdienstlichen Mitte heraus verstehen wollen und das Augenmerk auf die liturgische Praxis lenken: Kirche von Fall zu Fall ist immer auch Gottesdienst von Fall zu Fall. Theologisch sind damit die Kasualien prinzipiell nicht anders qualifiziert als jedes andere gottesdienstliche Geschehen. Sie sind von sich aus nicht weltlicher, kultureller oder anthropologischer als diejenigen im Kreis der sogenannten gottesdienstlichen Kerngemeinde. Im Horizont ihres evangelischen Verständnisses partizipieren sie – ohne den üblichen Vorbehalt, sie seien lediglich kirchlich eingefärbte Familienfeiern – an der Verheißung, die Martin Luther 1544 in einer klassisch gewordenen Wendung für die gottesdienstliche Feier geltend gemacht hat: »Das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit jm reden durch unser Gebet und Lobgesang« (Kirchweihpredigt zu Torgau). Die Kasualien sind Begegnungsstätten Gottes, ubi et quando visum est deo. Werden die Kasualien ausdrücklich gottesdienstlich begriffen – was keineswegs bedeutet, dass Kasualpraxis sich auf liturgische Praxis beschränkt -, dann hat dies Folgen. Für ihr praktisch-theologisches Verständnis ist wesentlich, dass ihre Mitte in der gottesdienstlichen Handlung liegt und in dem, was in ihr symbolisch zur Geltung kommt und in Kraft gesetzt wird. In ihr wird der religiöse Sinn der Kasualie spürbar. Im Blick auf die Praxis spricht dies dafür, dass die Kasualhandlung, wenn auch nicht zwingend, im gottesdienstlichen Raum der Kirche ihren originären Ort haben sollte. Für Konfirmation, Trauung und Taufe gilt das heute in der Regel. Ich plädiere mit anderen entschieden dafür, dass auch die Trauerfeier (mit Sarg oder Urne!) in der Kirche stattfinden kann, weil hier sehr viel deutlicher als in der Friedhofskapelle das gottesdienstliche Erleben dieser Situation räumlich sinn(en)fällig wird.

2. Integrale Kasualpraxis

Wie in keinem anderen Handlungsfeld der Kirche laufen in der Kasualpraxis vielfältige Stränge zusammen, Kasualien sind Verknüpfungen und bilden Knotenpunkte im Netz gegenwärtig gelebter christlicher Religion. Nicht zufällig spricht die Praktische Theologie seit geraumer Zeit von einer »integralen Amtshandlungspraxis« (Joachim Matthes). Die unterschiedlichen Aspekte und Dimensionen, die sich in ihr verbinden, liegen auf verschiedenen Ebenen:
 
(1) Unter pastoraltheologischen Vorzeichen integriert die Kasualpraxis die klassischen Handlungsfelder des Pfarramtes: Gottesdienst – Predigt – Seelsorge – Unterricht.
Die Kasualien etablieren einen Raum kirchlichen Handelns, in dem sich das, was pfarramtliche Praxis ausmacht, bündelt: Gottesdienst gestalten, predigen, Menschen seelsorglich begleiten und im christlichen Glauben unterweisen. Der Zusammenhang pastoralen Handelns gründet im Kasus und in dessen kirchlicher Ausgestaltung; er ist also nicht erst sekundär geschaffen: Deuten, Feiern, Helfen und Lernen als elementare Lebensäußerungen der Kirche sind Dimensionen kasueller Praxis, die sich nicht ohne substantiellen Verlust reduzieren lassen. Dies gilt unbeschadet dessen, dass in den einzelnen Kasualien die Akzente jeweils unterschiedlich gesetzt sind. So tritt das katechetische Moment innerhalb der Bestattungspraxis in den Hintergrund, während Konfirmation einen ausgeprägt religionspädagogischen Zug hat. Für die kirchliche Trauung mag der seelsorgliche Aspekt eher am Rande bleiben, von Fall zu Fall wird er aber auch und gerade hier im pastoralen Blickpunkt stehen. Aufs Ganze gesehen hat die Kasualpraxis jedoch homiletische, liturgische, seelsorgliche und religionspädagogische Anteile, die nicht nur additiv zusammengefügt werden, sondern die so zu gestalten sind, dass sie miteinander und füreinander bedeutsam werden: So liegt es etwa auf der Hand, die Liturgie einer Trauerfeier auch seelsorglich zu begreifen oder den Vorstellungsgottesdienst der Konfirmandinnen und Konfirmanden religionspädagogisch auch auf den Lernprozess des Unterrichts zu beziehen. Die integrale Sichtweise setzt keineswegs die unterschiedlichen Handlungsgestalten in eins, sie gibt aber zu erkennen, wo eine durch die andere gefördert und gefordert, begrenzt oder möglicherweise auch blockiert wird.
 
(2) In den Kasualien integrieren sich evangelische Christen in den gegenwärtigen Lebenszusammenhang des volkskirchlichen Christentums.
Wo Kasualien besonders hervorgehoben werden, da ist der Vorbehalt nicht weit, dahinter stecke lediglich das Interesse, das bestehende kirchliche System zu erhalten. In den Kasualien binde die Kirche Menschen um ihres eigenen Bestandes willen an sich, die sie ansonsten nicht halten könne. In der Tat: Traditional eingelebt haben die Kasualien eine integrative Funktion, die bis heute für eine relative Stabilität des volkskirchlichen Christentums sorgen. Gleichwohl ist meines Erachtens an dieser Stelle ein Perspektivenwechsel zu vollziehen. Einlinig auf die Stabilität des kirchlichen Systems abzuheben, betrachtet die Beteiligten im Grunde als Objekte kirchlichen Handelns. In der gegenwärtigen Kasualpraxis sind aber die Subjekte in hohem Maße selbsttätig; und zwar durchaus auch dort, wo sie auf die kirchliche Gestaltung der Kasualien wenig Einfluss nehmen. Immerhin zeichnet sich ab, dass die Beteiligten heute sehr viel stärker als früher eigene Vorstellungen artikulieren und Wünsche äußern, wie Kasualien gestaltet werden sollen – dies reicht von der Auswahl von Trauermusik aus dem Reservoir der Popmusik bis hin zum gegenwärtig immer wieder geäußerten Wunsch, dass der Brautvater seine Tochter vor den Altar führen soll, um sie dem Bräutigam rituell zu übergeben. Die zunehmenden Gestaltungswünsche schaffen Diskussionsbedarf: in Kasualgesprächen und Kirchenvorständen ebenso wie in Pastoralkollegs oder kirchenleitenden Gremien. Aber nicht nur das »Wie«, sondern bereits das »Ob« wird immer mehr zu einer Sache, die es auszuhandeln und zu entscheiden gilt. In vielen Milieus wird es immer weniger selbstverständlich, sein Kind taufen oder sich kirchlich trauen zu lassen. Kasualpraxis wird für die sich Beteiligenden durchaus fraglich und immer mehr erklärungsbedürftig: Warum eigentlich Konfirmation? Oder soll die Beisetzung unter kirchlicher Ägide erfolgen? Mit dem Stichwort »Gewohnheit« kann dieser Sachverhalt nur unzureichend erfasst werden. Insofern Lebensbedingungen wie Lebensgeschichten im gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandel plural und damit entscheidungsbedürftig werden, bedeutet Gewohnheit immer auch, sich bestimmte Traditionen zu eigen zu machen. Was aus dem Blickwinkel des kirchlichen Systems als Stabilität erscheint, gründet, aus der Perspektive der Subjekte betrachtet, auf dem »Beharrungsvermögen« der Einzelnen. Indem sie sich an den Kasualien beteiligen, vergewissern sie sich, dass sie zur kirchlich gebundenen Christenheit gehören und auf ihre Weise teilhaben an dem, wofür der christliche Glaube steht. Sie tun dies anlässlich einschneidender lebensgeschichtlicher Wendungen, indem sie sich in den Raum christlicher Symboltraditionen begeben und diese mit ihrem eigenen Leben verknüpfen. In dieser Weise integrieren sie sich in das volkskirchliche Christentum als »fremder Heimat Kirche«.
 
(3) In der Kasualfrömmigkeit werden Kirchlichkeit und christlich geprägte Lebensorientierungen lebensweltlich integriert.
Zur Moderne gehört die Erfahrung, dass kirchliches Leben, sozialer Alltag und individuelle Lebensführung auseinandertreten und nicht mehr ohne Weiteres zusammenstimmen. Eine spätmoderne Praktische Theologie ist durch ein ausgeprägtes Differenzbewusstsein bestimmt: Kirche umfasst längst nicht (mehr) das Gesamt des sozialen und individuellen Lebens, gelebte Kirchlichkeit beruht heute – von Ausnahmen abgesehen − auf unvollständiger Integration. Vor diesem Hintergrund nimmt die Kasualfrömmigkeit eine besondere Rolle ein – nämlich als partikulare Kirchlichkeit von Fall zu Fall, in der zugleich die Sinngehalte des christlichen Glaubens auf das Ganze des gelebten Lebens hin geltend gemacht werden. In ihr wird die »Sache« des Christentums lebensweltlich integriert, zumal sie nicht an die Bedingung geknüpft ist, in die soziale Sonderwelt eines besonderen kirchlichen Milieus einzutreten. Inwiefern bilden die Kasualien in spezifischer Weise eine Brücke zwischen Lebenswelt und Kirchlichkeit?
»Lebenswelt« bezeichnet – anders als es der ganz allgemein gehaltene umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs nahelegt – im präziseren Sinne die soziale Welt, die Menschen umgibt und die sich ihnen als sinnhafte Wirklichkeit erschließt. So bildet die Lebenswelt, in der sich die Einzelnen immer schon vorfinden, ein Reservoir von Selbstverständlichkeiten und Hintergrundwissen, von symbolischen Formen und kulturellen Deutungen, in denen die eigene Wirklichkeit wahrgenommen wird und mittels derer zum Ausdruck kommt, was sie ausmacht und wie sich die Individuen in ihr verstehen. Die Kasualien sind heute die am stärksten lebensweltlich »eingelagerten« Formen kirchlicher Praxis. Allerdings gelten sie heute nicht mehr umstandslos, sondern changieren zwischen ererbter Tradition und persönlicher Entscheidung: »Man« lässt sein Kind taufen und hat doch gleichzeitig zu entscheiden, ob (und wann) man es taufen lässt. Und was in einer kirchlichen Trauung zur Geltung gebracht wird und gebracht werden soll, ist in seiner lebensweltlichen Bedeutung auslegungsfähig und -bedürftig. Die kasuelle Frömmigkeit entspricht genau in dieser Weise der Struktur der spätmodern verfassten Lebenswelt: Diese konstituiert sich, indem sich die Einzelnen damit auseinandersetzen (müssen), dass sich ihre Lebensformen nicht mehr von selbst ergeben und ihre Lebensführung sich nicht mehr von selbst versteht. Sie haben sich also – indem sie Traditionen aufgreifen und sich von ihnen absetzen – die eigene Welt als gegebene Lebenswelt vertraut zu machen. Lebenswelt ist spätmodern nicht mehr einfach eine unumstößliche Gegebenheit. Sie ist aber auch keine individuelle Konstruktion. Sie muss vielmehr in rituell-symbolischer Praxis – feiernd und deutend, lernend und in helfender Begleitung – angeeignet werden. Eben dieses Zusammenspiel von Gegebenem und zu Gestaltendem prägt auch die Kasualien: Sie können nicht mehr fraglos »vollzogen«, sondern müssen mehr oder minder bewusst »begangen« werden.
 
(4) Die Kasualpraxis integriert auf verschiedenen Ebenen die sozialen Bezüge des Individuums.