Dem Andenken Günter Altners gewidmet
1. Auflage 2015
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Satz: Andrea Siebert, Neuendettelsau
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-028352-7
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pdf: ISBN 978-3-17-028353-4
epub: ISBN 978-3-17-028354-1
mobi: ISBN 978-3-17-028355-8
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Die Ideen und Impulse zu diesem Buch gehen auf drei interdisziplinäre Seminare zurück, die wir Autoren in den Sommersemestern 2000, 2003 und 2006 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald abgehalten haben. Das erste Seminar: „Der Mensch als gefährliches und gefährdetes Wesen – Schöpfungstheologie und Umweltethik“ behandelte zur Aufarbeitung des Diskursfeldes Texte aus dem Umfeld der sog. Lynn-White-Debatte und neue „öko“theologische Texte. Am Ende dieses ersten Seminars wurde eine am hebräischen Originaltext orientierte Neulektüre der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung ansatzweise versucht. Das zweite Seminar: „Anthropologische und ethische Grundlagen der Nachhaltigkeit. Zum Gabe-Charakter natürlicher Ressourcen“ behandelte die Frage, ob in den Texten der hebräischen Bibel eine Ethik nachhaltiger Landnutzung und eine Wirtschaftsethik enthalten sind. Die entsprechenden Textstellen insbesondere des Deuteronomiums wurden mit neueren Entwürfen zu einer Nachhaltigkeitstheorie verglichen, so etwa mit dem Entwurf von Herman Daly, der sich in seiner ethischen Begründung direkt auf die Bibel bezieht (Daly 1999). In biblisch-theologischer Hinsicht wurden in diesem Seminar wirtschaftsethische Interpretationen der Tora behandelt (Crüsemann 1997 und Segbers 2002). Das dritte Seminar: „Biblische Schöpfungsorientierung und Umweltethik“ widmete sich in Auseinandersetzung mit neuen exegetischen Arbeiten (vor allem Neumann-Gorsolke 2004) der narrativen und beziehungssprachlichen Korrelation zwischen der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung in Gen 1f. und den Psalmen 8 und 104. Dieses Seminar diskutierte auch die neuen Arbeiten von Jürgen Habermas zur Religion (vor allem den bedeutsamen Aufsatz „Religion in der Öffentlichkeit“ aus dem Jahre 2005). In allen drei Seminaren wurden der texttheoretische und lesehermeneutische Ansatz einer kommunikationspragmatischen Bibellektüre (Hardmeier 2003a und 2004a) und eine diskursethisch fundierte Konzeption von Umweltethik (Ott 2010a) in Anschlag gebracht. In den Jahren 2007 und 2008 reifte der Entschluss, diese Thematik nicht in der Form eines kurzen Aufsatzes, sondern in der Form einer Monographie zu behandeln. Die Arbeit an Manuskripten zu den verschiedenen Kapiteln begann im Jahre 2009 und konnte – mit Unterbrechungen – erst seit dem Jahre 2012 intensiviert werden. Das über fünf Jahre hinweg herangereifte Manuskript wurde im Wesentlichen im März 2014 abgeschlossen und bis September 2014 endredigiert.
Dabei lag die Federführung für die diskursphilosophisch und naturethisch ausgerichteten Kapitel I, II, V und VI, Abschnitte 1–5 primär bei Konrad Ott, während für die theologischen und historisch-exegetischen Kapitel III und IV sowie für den Abschnitt VI,6 Christof Hardmeier die primäre Verantwortung trägt. Gleichwohl wurden alle Kapitel von uns beiden stets gegengelesen und aufgrund von kritischen Rückfragen, Anregungen und Einwänden zum Teil mehrfach und kräftig umgeschrieben. Im freundschaftlichen und intensiven Gespräch haben die Autoren sich nichts geschenkt und stehen beide hinter dem Gesamtmanuskript, von dem wir überzeugt sind, dass es Leserinnen und Leser zum Weiterdenken anregen könnte.
Wir bedanken uns bei Veronika Surau-Ott, die als Erstleserin diverser Vorversionen der verschiedenen Kapitel die Entstehung des Buches vor allem mit systematisch-theologischen Impulsen und hilfreichen kritischen Kommentaren intensiv verfolgte. Wir bedanken uns auch bei Anne Döring, die uns als kritische Leserin und bei der technischen Redaktion mit großer Gründlichkeit unterstützt hat. Unser Dank gilt ferner der Evangelischen Kirche von Deutschland (EKD) für einen Druckkostenzuschuss, sowie dem Lektor des Kohlhammer Verlags, Herrn Jürgen Schneider, für die Aufnahme des Buches in das Verlagsprogramm und die Betreuung der Drucklegung.
Berlin und Wackerow bei Greifswald im Januar 2015
Christof Hardmeier und Konrad Ott
Naturethik und Schöpfungsvertrauen bilden die beiden (elliptischen) Pole dieses Buches, um die herum und in die hinein sich die folgenden sechs Kapitel bewegen. Angesichts der anthropogenen Naturkrise, die der Industrialismus der Moderne lange Zeit hervorgerufen und die sich in den letzten Jahrzehnten rapide verschärft und globalisiert hat, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur auf verschiedenen Ebenen gänzlich neu. Denn insbesondere eine rein instrumentelle und zweckrationale Einstellung zur Natur als beliebig belastbarer Schatz von unerschöpflichen Ressourcen, die sich in der westlichen Moderne ausprägte, ist im Zeitalter des Anthropozäns weltweit zur dominanten Mentalität geworden und prägt zutiefst das Fühlen, Denken und Handeln der Menschen. Zwar ist das Wissen um die anthropogenen Ursachen der Naturkrise seit Ende des 20. Jh.s enorm gewachsen und das allgemeine Krisenbewusstsein ist mittlerweile sehr breit geworden. Auch sind längst geeignete Konzepte erarbeitet und Maßnahmen entwickelt worden, um der Beschleunigung der Naturkrise wirksam zu begegnen und einem nachhaltigen Umgang mit der Natur den Weg zu bereiten, der ihre Reproduktivität und ihre Resilienzen in eine dauerhafte Balance mit den menschlichen Nutzungsbedürfnissen bringt. Hierzu haben die säkulare Naturethik sowie verschiedene Nachhaltigkeitstheorien und Strömungen von „political ecology“ theoretisch und die Umwelt- und Naturschutzbewegungen praktisch beigetragen. Die Gefährdungen haben also auch Gegenkräfte der Rettung mobilisiert.
Zugleich aber wissen und erfahren wir, dass es daran fehlt, diese Maßnahmen und Konzepte energisch umzusetzen. Einen wesentlichen Hinderungsgrund, warum dem fortgesetzten selbstdestruktiven Raubbau an der Natur nicht tatkräftig Einhalt geboten wird, sehen wir u. a. besonders in der zweckrationalen Mentalität der Moderne und den instrumentellen Grundeinstellungen der Menschen in Ansehung der sie umgebenden Natur. Sie zu hinterfragen und sich im Medium einer Kritik der instrumentellen Vernunft neu auf die elementaren Beziehungen zwischen Mensch und Natur zu besinnen, ist deshalb ein Hauptziel unseres Buches. Diese Reflexion ist für eine säkulare Naturethik vor allem deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie auch die mentalen Haltungen und Motivationshintergründe zu bedenken hat, aus denen heraus naturethische Verantwortung wahrgenommen und praktiziert wird (oder eben nicht).
Hinsichtlich dieser Motivationshintergründe wird auch die Frage debattiert, ob und wenn ja welchen Einfluss religiöse Dogmen und Einstellungen auf naturvergessene und naturethisch verantwortungslose Lebensorientierungen und Verhaltensweisen haben. In dieser Debatte, die sich vornehmlich auf den jüdisch-christlichen und abendländisch geprägten Kulturkreis sowie seine säkularen Ausprägungen in der westlichen Moderne beschränkt, spielt der sog. „Herrschaftsauftrag“ im Eröffnungskapitel der alttestamentlichen Bibel schon immer eine herausragende, seit geraumer Zeit jedoch auch eine höchst umstrittene Rolle. Denn aus seiner populären Kurzfassung: „Machet euch die Erde untertan“ wurde über viele Generationen hinweg eine uneingeschränkte Lizenz zur Nutzung und Ausbeutung der Natur abgeleitet. Und der nach Gen 1f. als Ebenbild geschaffene Mensch sah sich fraglos als Mittelpunkt und „Krone der Schöpfung“, auf dessen Willen und Interessen allein die von Gott geschaffene Natur zugeschnitten sei. Lynn White, Carl Amery und viele andere haben dieses wirkmächtige und weithin auch säkularisierte Dogma des Christentums zu Recht für die anthropozentrische Naturvergessenheit der Moderne und die ausbeuterische Naturzerstörung des westlichen Industrialismus wesentlich verantwortlich gemacht.
Insbesondere Lynn White hat seine Kritik mit dem Postulat verbunden, to rethink our own religion. Dieses „rethinking“ bildet den zweiten Schwerpunkt unseres Buches, der jedoch nicht bei dogmen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Strömungen der Christentumsgeschichte ansetzt, sondern bei den maßgeblichen Schöpfungstexten des Alten Testaments und insbesondere bei der Schöpfungserzählung von Gen 1f. In diesen biblischen Texten kommt eine ursprungsutopische Sichtweise auf die Natur als Schöpfung Gottes zur Sprache, aus denen ein Grundvertrauen in die Natur als gute Gabe Gottes und damit ein tiefes Schöpfungsvertrauen spricht. Unser Ziel ist es, die tiefen Missverständnisse der bisherigen Deutung der Schöpfungstexte als Unterwerfungsauftrag aufzuklären und diese Deutung von Grund auf zu revidieren. Im Rahmen einer das gesamte Buch übergreifenden Übersetzungsarbeit wollen wir einerseits in Kapitel IV diese biblisch-theologische Sichtweise der Natur als Schöpfung Gottes und ihre naturethische Relevanz anhand von Gen 1f. im lesehermeneutischen Detail explizieren. Andererseits sollen in Kapitel V moderne Gesichtspunkte einer säkularen Naturethik etsi deus non daretur thematisiert werden. Im Sinne einer Horizontverschränkung werden diese biblisch-religiösen und säkularen Perspektiven im Schlusskapitel VI aufeinander bezogen und zusammengeführt.
Gegenüber dem Achtergewicht der Kapitel IV–VI dienen die ersten drei Kapitel primär der Vorbereitung und Hinführung zu dieser Horizontverschränkung. Kapitel I stellt das Projekt der Übersetzungsarbeit auf der Grundlage und im Rahmen der Diskurstheorie von Jürgen Habermas vor. Insofern möchten wir die Idee der Übersetzungsarbeit an einem paradigmatischen Fall durchführen. Kapitel II beleuchtet forschungsgeschichtlich die Lynn-White-Debatte und ihre Auswirkungen auf die Umweltethik und die neuere Schöpfungstheologie. Diese Kapitel haben wir bewusst kurz gehalten. Die ethischen Hintergründe einer Diskurstheorie praktischer Vernunft können und sollten von Leserinnen anhand der einschlägigen Literatur nachvollzogen werden. Kapitel III erläutert zum einen das Gottesverständnis einer performativen Theologie der Bibel in Auseinandersetzung mit säkularen Kontingenzphilosophien unter religions-, geschichts- und existenzphilosophischen Gesichtspunkten. Zum andern führt das Kapitel in Auseinandersetzung mit Habermas in den rituell-performativen Grundcharakter der biblischen Literaturbildung als textgebundener Sonderform religiöser Symbolpraxis ein und widmet sich zur Vorbereitung auf Kapitel IV dem spezifischen Geltungssinn religiöser Rede in Erzähl-, Gebets- und Bekenntnistexten.
In diesem vierten Kapitel erfolgt unter Rekurs auf neuere bibelwissenschaftliche Erkenntnisse und auf der Basis einer Lesehermeneutik der Behutsamkeit eine Neulektüre der Schöpfungsgeschichte von Gen 1f., die als Sechs-Tage-Werk Gottes erzählt wird und auf den Höhepunkt der Sabbatruhe Gottes am siebten Tag zuläuft. Die Erkenntnisse aus dieser Neulektüre lassen keinen Zweifel daran, dass die Doktrin des sog. Unterwerfungsauftrags nicht nur oberflächlich zu modifizieren, sondern von Grund auf obsolet geworden ist und keinerlei Stütze in Gen 1f. hat. Vielmehr fördert diese Neulektüre eine gegenüber der herkömmlichen Doktrin neue Sichtweise auf Natur als Schöpfung und auf die Aufgabe der Menschen als Mandatare zu Tage, die sich zwanglos mit zentralen Fragestellungen der säkularen Naturethik verbinden lässt. Diesen Verbindungen widmet sich dann das Kapitel V und untersetzt sie teilweise auch mit konkreten naturschutzpolitischen Forderungen.
Vor diesem Hintergrund erfolgt schließlich in Kapitel VI die Verschränkung der biblischen mit der naturethischen Perspektive. Die Übersetzungsarbeit führt zum zentralen Ergebnis, dass für das Gelingen einer nachhaltigen Naturnutzung und Entwicklung der Weltgesellschaft sich – wie schon vielfach betont wurde – auch die Mentalität und unsere Einstellungen zur Natur radikal ändern müssen, und zwar in dreifacher Hinsicht. Zum einen haben wir neu zu lernen, die Natur als unverfügbare (Schöpfungs-)Vorgabe zu sehen und mit ihr respekt- und verantwortungsvoll umzugehen, und deshalb zum anderen, die Erde uneingeschränkt mit nicht-menschlichen Lebewesen bzw. „Geschöpfen“ kohabitativ zu teilen. Drittens ist von Generation zu Generation immer wieder neu zu lernen, uns selbst als kontingente und unverfügbare Lebewesen in unserer „Geschöpflichkeit“ zu verstehen und die mentalen Prekaritäten der conditio humana anzunehmen, um unserer naturethischen Verantwortung gerecht zu werden. Unter dem Gesichtspunkt der Selbstthematisierung des Menschen als ebenbildlich gedachtes Geschöpf Gottes werden diese Prekaritäten in den Schlussabschnitten des sechsten Kapitels sowohl aus säkularer als auch aus biblischer Perspektive reflektiert. Da sie unabweislich der Rolle eines Mandatars eingeschrieben sind, müssen sie aus religiöser Sicht ebenso wie das Schöpfungs- und Naturvertrauen immer wieder neu in der Auslegung biblischer Texte sowie in Gebet und Gottesdienst vergegenwärtigt werden. Denn nur eingedenk dieser Prekaritäten kann die von uns avisierte Verschränkung von Schöpfungsvertrauen und Naturethik gelebt werden.
Die im Überblick vorgestellten Inhalte der Kapitel werden im Einzelnen jeweils durch verschiedene Abschnitte gegliedert. Die Binnengliederung ist über das ausführliche Inhaltsverzeichnis zugänglich und erleichtert Leserinnen und Lesern, die in den unterschiedlichen Fachgebieten nicht heimisch oder Laien sind, den Einstieg in die Lektüre. Auch die breit gefächerten Register bieten eine mögliche Einstiegshilfe, sich punktuell und ohne Spezialkenntnisse dem Buch zu nähern.
Die vorliegende Übersetzungsarbeit hat uns als Autoren, die nicht nur der säkularen Wissenschaftlichkeit verpflichtet sind, sondern sich auch in der dargelegten Tradition biblischer Religiosität verorten, nicht gleichsam „kalt gelassen“. Leserinnen mögen uns deshalb die gelegentliche Emphase nachsehen, die für uns allerdings ein fundamentum in re hat. Andererseits liegt es uns völlig fern, säkulare Bürgerinnen oder Bürger auf irgendeine Weise zu missionieren. Wir sehen die säkulare Diskurstheorie und Naturethik in einem komplementären Verhältnis zur biblischen Religiosität. Auf der Grundlage unserer Übersetzungsarbeit könnten sich aber neue Allianzen und vertiefte wechselseitige Bereicherungen zwischen religiösen und säkularen Bürgerinnen ergeben, denen es geistig und politisch darum zu tun ist, das Anthropozän in eine Epoche glückender Mensch-Natur-Verhältnisse zu verwandeln – kognitiv-wissenschaftlich etsi Deus non daretur, für biblisch-religiöse Menschen aber zugleich cum und coram deo.
Niemand hat derartig viele Stichworte zur geistigen Situation der Zeit geliefert wie Jürgen Habermas („Kolonialisierung der Lebenswelt“, „neue Unübersichtlichkeit“, „das unvollendete Projekt der Moderne“). Mittlerweile ist auch das Stichwort von der „postsäkularen Situation“ in aller Munde. Dieses Stichwort ist nicht etwa der prägnante Ausdruck für eine überraschende religiöse Wende von Habermas, sondern setzt dessen jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Religionen mit neuen Akzenten fort. Habermas lotet schon seit langem Möglichkeiten aus, sich die vernünftigen Gehalte religiöser Überlieferungen kritisch anzueignen, statt das religiöse Erbe bloß abstrakt auszuschlagen.
In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981a und b) ist allerdings eine geradezu geschichtsphilosophische Säkularisierungshypothese angelegt, die Habermas mittlerweile für empirisch unplausibel hält. Die Hypothese besagt, dass die säkularen Vernunftformen a) Wissenschaft und Technologie, b) Recht und Ethik sowie c) Kunst und Psychotherapie im weiteren Sinne die komplexen religiös-theologischen Traditionen gleichsam aufsaugen bzw. beerben, woraufhin im Laufe der Zeit alle säkularisierungsfähigen Gehalte in die jeweiligen säkularen Wertsphären bzw. die entsprechenden formalen Welten (objektive, soziale und psychische Welt) übertragen werden. Alles Übrige wandert im Gefolge dieser Säkularisierung auf die Halde der verflossenen Gestalten des menschlichen Geistes und ist nur noch für Religions- und Dogmenhistoriker von Interesse. Die Religionsfreiheit wird dadurch zum „kulturellen Naturschutz für aussterbende Arten“ (Habermas 2005a, S. 145). Dieser Prozess der Säkularisierung hebt welthistorisch im okzidentalen Rationalismus an, müsste sich aber nicht nur aufgrund der imperialistischen Gewalt des Westens, sondern vor allem aufgrund der unaufhaltsamen „Versprachlichung des Sakralen“ (Habermas) globalisieren. Insofern findet auch in diesem Prozess der Säkularisierung eo ipso eine Art der Übersetzungsarbeit statt, die aber, worauf Hans Joas (2004, S. 122–128) aufmerksam gemacht hat, „uni-direktional“ ist. Gemäß diesem Richtungssinn wird die „Autorität des Heiligen in die bindende Kraft normativer Geltungsansprüche, die allein diskursiv eingelöst werden können, überführt“ (Habermas 1981b, S. 143).
Habermas sind mittlerweile allerdings religionssoziologische Zweifel an diesem Verlaufsschema gekommen. Die Religionen sind nicht nur zählebig, sondern erstarken etwa in der arabisch-islamischen Welt und selbst inmitten einer säkularen konsumistischen Alltagskultur wie in den USA. Es könnte daher auch sein, dass der okzidentale Rationalismus nicht das Musterbeispiel einer bevorstehenden weltweiten Säkularisierung ist, sondern ein Sonderweg in einer Welt, in der die Religionen auf absehbare Zeit ihre Präsenz, d. h. ihre geistige Wirklichkeit als jeweilige Religionen behalten werden. Mit dem Attribut „postsäkular“ bezeichnet Habermas, wie er in seinen neuesten Arbeiten klargestellt hat, daher einen „Bewusstseinswandel“, der sich innerhalb von säkularisierten Gesellschaften vollzieht bzw. vollziehen sollte (Habermas 2012b, S. 101) und der normative Implikationen für die Interpretation der Staatsbürgerrolle hat (aaO., S. 315).
Ersetzt man die Säkularisierungshypothese durch diese in sich komplexere Perspektive, so stellen sich aus der jeweiligen Teilnehmerperspektive Probleme der Vermittlung zwischen den säkularen und den religiösen Formen des Geistes. Auf diese Vermittlungsprobleme weist der Ausdruck „postsäkular“ hin. Sie betreffen das Verhältnis von säkularem Staat und Religionen, die moralisch geforderte Toleranz der Religionen untereinander, das Phänomen eines eklektizistischen Cross-Over von Religionen, den rechten Umgang mit fundamentalistischen Strömungen innerhalb einzelner Religionen, aber auch die Frage nach den Geltungsansprüchen religiöser und theologischer Rede (hierzu Ott 2007). Nicht zuletzt geht es um die Frage, welchen Status religiöse Stimmen gegenwärtig und zukünftig in der politischen Öffentlichkeit demokratisch verfasster Staaten spielen können, sollten und dürfen.
In der Perspektive einer Konzeption deliberativer Demokratie, wie sie Habermas in „Faktizität und Geltung“ (1992) entwickelt hat, begegnen sich Bürgerinnen und Bürger zunächst in der vorstaatlichen Sphäre der Zivilgesellschaft, in der sie miteinander öffentlich über Angelegenheiten von politischem Interesse debattieren.1 Dabei tauschen sie sachliche Informationen, Wahrnehmungsweisen und Deutungen, kulturelle Wertungen und moralische Gesichtspunkte aus, mit denen sie ihre Mitbürgerinnen von der Vorzugswürdigkeit einer bestimmten politischen Regulierung überzeugen und ggf. Andersdenkende diskursrational umstimmen wollen. Diese zivilgesellschaftlichen Debatten dürfen für Habermas auf ein breiteres Spektrum der Gründe zurückgreifen als die thematisch zugespitzten Expertendiskurse in Wissenschaft, Technologie, Ökonomik und Recht. Auch von rein moralischen Diskursen, in denen Lösungen im gleichmäßigen Interesse aller Betroffenen liegen, d. h. strikt unparteilich sein sollen, unterscheiden sich zivilgesellschaftliche politische Debatten auf spezifische Weise. Der „Pool“ der in zivilgesellschaftlichen Debatten zulässigen Gründe umfasst auch Gründe, die sich auf partikulare kulturelle und religiöse Traditionen, auf politische Ideale oder auf mentalitätsprägende historische Erfahrungen beziehen. Diese Debatten dienen daher immer auch der reflexiven kulturellen Selbstvergewisserung einer politischen Gemeinschaft von Staatbürgern.2 Die Zivilgesellschaft ist für Habermas gleichsam das Experimentierfeld für postsäkulare Deliberationen, wohingegen der Kern des politischen Systems (Verfassung, Parlament, Administration usw.) eine Bastion säkularer Deliberationen bleiben soll. Diese zivilgesellschaftlichen Debatten sollen für Habermas über ein (real existierendes institutionelles) System von „Schleusen“ mit dem professionalisierten Kernbereich des politischen Systems verbunden werden (Parlament, Regierung, Ministerialbürokratie). Nur in diesem Kernbereich ist die durch faire Wahlen erzeugte demokratische input-Legitimität vorhanden, aufgrund derer kollektiv verbindliche politische Entscheidungen getroffen werden dürfen.3 Dieses (von Bernhard Peters mitentwickelte) Schleusenmodell wird im achten Kapitel von „Faktizität und Geltung“ ausführlich erläutert und sei den Leserinnen zur Lektüre empfohlen.4
Für Habermas sind die Inklusion idealiter aller Staatsbürgerinnen und -bürger in politische Prozesse sowie eine deliberative Urteilsbildung in einem komplexen institutionellen Gefüge die beiden Grundideen der Demokratie. Diese Grundkonzeption deliberativer Demokratie muss nun, neben anderen Herausforderungen, auch der postsäkularen Situation Rechnung tragen können. Inklusion wird durch politische Teilnahmerechte formell gesichert und soll durch Formen der Staatsbürgerqualifikation gefördert werden. Inkludiert werden müssen in der postsäkularen Situation natürlich auch die Staatsbürgerinnen und -bürger, die nicht nur laut Behördenregister einer organisierten Religionsgemeinschaft angehören, sondern die sich selbst an kultisch-rituellen und gottesdienstlich-liturgischen Praktiken beteiligen, Glaubensbekenntnisse sprechen, religiöse Traditionen pflegen usw. Die Inklusion dieser religiösen Bürgerinnen muss es diesen erlauben, als solche an politischen Debatten teilzunehmen. Aber was heißt dies genau? Fordert das Prinzip der Deliberation von den religiösen Bürgerinnen, in politischen Dingen von ihren Überzeugungen, Haltungen, Wahrnehmungsweisen und Deutungsmustern ähnlich zu abstrahieren, wie empirisch arbeitende Wissenschaftler von Werturteilen bei der Darstellung ihrer empirischen Forschungsergebnisse abstrahieren sollen? Oder sind ihnen solche Abstraktionen gerade nicht abzuverlangen? An diesem Punkt begegnen sich Hoffnungen auf eine belebende Bereicherung der deliberativen Demokratie durch religiöse Beiträge mit Befürchtungen, der politische Diskurs könne wieder zu einem polemogenen Kampf weltanschaulicher Doktrinen entarten. Die postsäkulare Öffnung des Politischen für Religion könnte dazu führen, dass sich Bürgerinnen und Bürger wieder als unversöhnliche Feinde (C. Schmitt 1987) in höchsten Glaubensdingen begegnen, wie dies im Zeitalter der konfessionellen Bürgerkriege in Europa geschah, und auch heute immer dann geschieht, wenn für heilig erachtete Texte über säkulare Verfassungen gestellt werden.
Diese Gefahr droht für Habermas auf der begründungstheoretischen Ebene und in der Gesamtarchitektur einer Diskurstheorie nicht, da die Konzeption deliberativer Demokratie an eine Sprachphilosophie und an die Diskursethik rückgebunden ist, die Teilnehmer praktischer Diskurse auf eine Moral der gegenseitigen Anerkennung als Subjekte, Personen und Individuen verpflichtet (Wingert 1993; Ott 2010a). Die Diskursethik fordert eine Moral des mehrfachen Respekts und die aus ihr gewonnene Rechts- und Demokratietheorie begründet das wechselseitige („dialektische“) Voraussetzungsverhältnis von Menschenrechten und Demokratie. Die Gefahr einer Zuspitzung des Politischen auf existentielle Freund-Feind-Verhältnisse droht innerhalb einer Diskursethik also nicht; sie könnte aber realpolitisch drohen, wenn nämlich religiösen Doktrinen und Weltanschauungen als solchen der Kernbereich des politischen Systems unvermittelt zugänglich gemacht wird. Dann nämlich können religiöse Gruppen im Extremfall fordern, dass säkulare Verfassungen bestimmten religiösen Offenbarungen untergeordnet werden sollen.
Es kann freilich nicht einfach vorausgesetzt werden, dass alle gegenwärtigen und zukünftigen religiösen Individuen die Errungenschaften und Einsichten der Aufklärung beherzigen werden, die Habermas ihnen vor jedem politischen Auftritt in der politischen Öffentlichkeit zumutet. Folgende Einsicht scheint für religiöse Bürgerinnen und Bürger in einer postsäkularen Situation unhintergehbar: Religiöse („fromme“, „gläubige“) Individuen finden sich in einer sozialen und kulturellen Welt vor, in der es außer ihnen auch Anhängerinnen anderer Religionen gibt, die ihren jeweiligen Glaubensüberzeugungen einen ähnlich hohen Wert beimessen wie sie selbst den ihrigen. Wenn nun die Vernichtung der Andersgläubigen, die dann als „Ungläubige“ bezeichnet werden, aus Gründen der Moral kategorisch ausscheidet, und wenn zu den elementaren Freiheitsrechten das Recht auf die ungestörte Ausübung der jeweiligen Religion zählt, dann bleibt allen Glaubensgemeinschaften nur das Prinzip gegenseitiger Toleranz (im Sinne von anerkennender Duldung) übrig.5 Unbedingte Toleranzpflichten sind insofern das Ergebnis von Einsichten, die reflexiv unabweisbar sind, und von allen religiösen Bürgerinnen und Bürgern nachvollzogen werden müssen.6 Aus der Binnenperspektive eines aufgeklärten und reflexiven religiösen Bürgers ist ein Andersgläubiger dann jemand, für den ich der Andersgläubige bin, und wenn ich versuche, seine Religion besser zu verstehen, kann mir eben dadurch die eigene Religion überraschend fremd werden.
Soziologisch hingegen kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass in einer postsäkularen Situation auch solche religiöse Bewegungen politische Erfolge verzeichnen können, die diese reflexiven Einsichten und Perspektivenwechsel nicht vollzogen geschweige denn internalisiert haben.7 Nicht alle religiösen Individuen sind auf sprach-, moral- und demokratietheoretischer Ebene bereits gute Diskursethiker. Wie also kann die Inklusion der religiösen Bürgerinnen als solcher in einer deliberativen Demokratie gelingen, die sich auf die postsäkulare Situation einstellen möchte? In der Debatte zwischen John Rawls und Jürgen Habermas wurde auch die Rolle erörtert, die religiöse Gründe innerhalb einer säkularen politischen Verfassungsordnung spielen dürfen. Rawls vertrat hierzu eine eher restriktive Auffassung. Gründe, die den sog. „reasonable comprehensive doctrines“ (Rawls), insbesondere der Religionen entstammen, dürfen für Rawls im politischen Diskurs letztlich keine Rolle spielen. Der politische Diskurs muss von ihnen abstrahieren. Diese „klassische“ Antwort des politischen Liberalismus führt konzeptionell zur Neutralität des Staates in religiösen Angelegenheiten und zur Privatisierung des Religiösen.8 Habermas vertritt dagegen eine komplexere und entsprechend anfechtbarere Position. Habermas meint zum einen, die Bürgerinnen könnten gar nicht prädeliberativ auf die Antwort des politischen Liberalismus und auf die mit ihr verknüpften Abstraktionszumutungen festgelegt werden, sondern müssten selbst politisch darüber befinden, ob sie sich der Position von Rawls anschließen oder aber den Religionen mehr politische Mitsprache vornehmlich in der Zivilgesellschaft einräumen wollen. Zum andern darf der Staat, „der seine Bürger ausdrücklich dazu ermächtigt, ein religiöses Leben zu führen, religiöse Stimmen nicht schon an der zivilgesellschaftlichen Wurzel des demokratischen Prozesses abschneiden“ (Habermas 2012, S. 300). Drittens kann es religiösen Bürgerinnen und Bürgern, die sich in der Zivilgesellschaft politisch artikulieren wollen, aufgrund des lebensstilprägenden und habitualisierten Charakters der Religion nicht zugemutet werden, in der politischen Öffentlichkeit „eine strikte Trennung zwischen säkularen und religiösen Gründen vorzunehmen“ (Habermas 2005a, S. 135). Viertens könnte die Abstraktion der Politik von der Religion, wie sie Rawls fordert, zu einer abstrakten Negation des religiösen Erbes und zu säkularistischen Engführungen der Rolle führen, die den Religionen legitimerweise auch in säkularen demokratischen Gemeinwesen zukommen könnte (aaO., S. 129). Die Entbindung von dieser Zumutung zur Abstraktion geht nun allerdings einher mit einem „Proviso“, d. h. mit einem „Übersetzungsvorbehalt“ (Habermas). An die Stelle der Abstraktionsleistung, die Rawls den religiösen Bürgerinnen und Bürgern säkularer Staaten zumutet, tritt bei Habermas dieser Übersetzungsvorbehalt. Dieses Proviso bezieht sich auf die Bereitschaft auf Seiten der Religiösen, ihre Gründe, für die sie thematische Relevanz bei der Lösung politischer Regulierungsprobleme beanspruchen, versuchsweise in eine säkular nachvollziehbare Argumentation zu übertragen.
Für Habermas sind Übersetzungsarbeiten mit Zumutungen für beide Seiten verbunden (aaO., S. 135). Den religiösen Bürgerinnen und Bürgern muss zugemutet werden, dass sie eine kritische und selbstreflexive Einstellung zur Religiosität einnehmen und den Primat säkularer Gründe im Kernbereich des Politischen vorbehaltlos anerkennen. Dies bedeutet, dass religiöse Beiträge den Status von infalliblen Glaubensgewissheiten einbüßen und zu kritisierbaren Gründen mutieren.
Die „Bürde“ der Übersetzung fällt den Religiösen exklusiv zu. Diese Bürde ist aber keine bloße Last, die man abzutragen hätte wie ein onus probandi, sondern zumindest für Christinnen und Christen seit der „nominalistischen Revolution“ und Anselm von Canterbury (fides quaerens intellectum) bis hin zu Reinhold Niebuhr und zu Dietrich Bonhoeffers Programm einer „nicht-religiösen“ bzw. „weltlichen Interpretation der biblischen Begriffe“ (Bonhoeffer 1985, S. 311–313 und S. 377–380) eine intrinsische Aufgabe ihrer Glaubenspraxis (vgl. bes. Kap. III,1.1), die einzulösen sie sich stets bereitwillig anheischig machen sollten, ja müssten. Ohne den Willen, die Fähigkeit und die Anstrengung, die Gegenwartstauglichkeit der biblischen Botschaft nicht nur in privat-persönlichen, sondern auch in öffentlich-politischen Kontexten säkularen Mitbürgern plausibel zu machen und davon zu überzeugen, kehren sich Juden und Christen gegen die Grundlagen ihres Glaubens und machen sich selbst überflüssig. Das auf die Bibel bezogene Juden- und Christentum beansprucht ja, nicht nur für die Zeit zu gelten, in der die großen Stifter wirkten und die Heiligen Schriften entstanden (Jaspers: „Achsenzeit“), sondern beide Religionen beanspruchen, im Lesen und Hören auf die biblischen Zeugen gleich nah zu jeder Gegenwart zu sein. (Dies wäre der temporale Sinn von „überzeitlich“).
Den säkular argumentierenden Bürgerinnen und Bürgern bleibt die Aufgabe der Übersetzung erspart, zugemutet werden kann ihnen aber eine Aufgeschlossenheit für religiöse Beiträge, die sich auch mit der Möglichkeit begründen lässt, dass sie in den Geltungsansprüchen und Gründen ihrer religiösen Mitbürgerinnen eigene verdrängte und „verschüttete“ Intuitionen erkennen könnten, die sie sich neu aneignen könnten. Die säkularen Bürger dürfen ihre religiösen Mitbürgerinnen und Bürger auch nicht mit Begründungslasten überfordern, also bspw. keinen zwingenden Gottesbeweis als Voraussetzung gemeinsamer Debatten fordern. Auf Seiten der säkular eingestellten Bürger muss daher eine Bereitschaft bestehen, solche zunächst häufig fremd anmutenden Gründe als solche zu „würdigen“.
Eine gelingende Übersetzungsarbeit ist somit ihrer Möglichkeit nach mit wechselseitigen Erwartungen und Zumutungen verbunden, die sich als pragmatische Implikaturen eines (ernsthaften) Sich-Einlassens rekonstruieren lassen (zu diesem Ansatz s. Ott 1997a), und die über allgemeine Diskursregeln hinausgehen. Eine faire Verteilung von Zumutungen an beide Gruppen ist insofern eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für mögliche gemeinsame Lernprozesse.9
Habermas zufolge ist somit unter diesen Bedingungen auch im Rahmen eines säkularen Staatswesens eine in der Zivilgesellschaft anzusiedelnde fruchtbare wechselseitige „Übersetzungsarbeit“ (Habermas 2005a) zwischen säkularen und religiösen Bürgerinnen und Bürgern und ihren jeweiligen Gründen prinzipiell möglich. Die Rekonstruktion religiöser Überlieferungen ist für Habermas also keine Bewegung der einseitig gerichteten Säkularisierung mehr, sondern muss angesichts der postsäkularen Situation auf Gegenseitigkeit hin angelegt sein.
Um die Idee der Übersetzungsarbeit würdigen zu können, ist es sinnvoll, noch ein weiteres Motiv bzw. Stichwort aufzugreifen: die Moderne als „unvollendetes Projekt“. Für Habermas ist das Vernunftpotential der jüdisch-christlichen und der griechisch-römischen Überlieferung in der säkularen Moderne nur einseitig ausgeschöpft worden. Die einseitige Dominanz instrumenteller (funktionaler, strategischer, technologischer, ökonomischer) Rationalitätsformen, an der das Projekt der Moderne krankt und sogar scheitern könnte (so auch Horkheimer/Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ 1986), schränkt das Spektrum dessen, was als „vernünftig“ anerkannt werden könnte, zu stark ein. Die interne Rationalisierung der ausdifferenzierten Wertsphären (sensu Max Weber) und der funktionalen Subsysteme (sensu Niklas Luhmann) führt u. a. zur Abkapselung von Expertenkulturen mit jeweils exakten Terminologien und, als Kehrseite hiervon, mit eingeschränkten Artikulationsspektren. Diese Konstellation aus besagter Dominanz der Zweckrationalität und dem Ideal möglichst exakter Terminologie verhindert bzw. erschwert eine im Medium der Öffentlichkeit vollzogene kulturelle Erneuerung der gemeinsamen Lebenswelt, verstanden als Ensemble von Überzeugungen, Wertstandards, Kulturidealen, Wahrnehmungsweisen, Einstellungen und Praktiken. Der Preis der einseitigen Rationalisierung, wie sie sich gegenwärtig besonders in der Durchdringung vieler Lebensbereiche mit ökonomischen Denkmustern vollzieht,10 könnte eine allmähliche kulturelle Verarmung an Ausdrucksmöglichkeiten sein, die auch die Qualität von Diskursen affizieren könnte.11 Der Begriff der Kultur ist dabei weit zu fassen (Reckwitz 2000).
Von Verarmung durch Reduktionismen ist auch die philosophische Ethik akut betroffen. Die Erstellung möglichst exakter Semantiken, wie sie von Normenlogik, analytischer Metaethik und auch von etlichen Strömungen innerhalb der Bereichsethiken befördert werden, könnte eine zunehmende Dürftigkeit und Verödung moralischer und auch eudaimonistischer bzw. existenzieller (in Habermas’ Terminologie: „ethischer“) Artikulation auch innerhalb der Ethik bewirken. Dies gilt insbesondere für „rational-choice“-Ansätze in der Ethik, die ihre Wurzeln in ökonomischen Rationalitätsvorstellungen haben (Nida-Rümelin 1994). Das kunstfertige Spielwerk aus begrifflichen Verästelungen, Rekonstruktion mittels deontischer Operatoren oder Präferenzlogik, schlau gewählten lebensfernen Beispielen und Gedankenexperimenten (häufig aus dem science-fictionmind-brain-sensu