Das Doppelgrab in der Provence
Matzbach exklusiv bei KBV:
Acht Neuauflagen und zwei Neuerscheinungen
Mord am Millionenhügel (Juni 2012)
Und oben sitzt ein Rabe (Juni 2012)
Das Doppelgrab in der Provence (Herbst 2012)
Mörder und Marder (Herbst 2012)
Matzbachs Nabel (Herbst 2012)
Kein Freibier für Matzbach (Frühjahr 2013)
Schmusemord (Frühjahr 2013)
Feuerwerk für Matzbach (Frühjahr 2013)
Finaler Rettungskuss (Juni 2012)
Zwischenfälle (Frühjahr 2013)
Gisbert Haefs, Jahrgang 1950, lebt und schreibt in Bonn; als Übersetzer/Herausgeber verantwortlich für Borges, Kipling, Brassens, Dylan u. a., als Autor haftbar für Erzählungen, historische Romane (Hannibal, Troja, Raja, Die Rache des Kaisers, Das Labyrinth von Ragusa u. a.) und Krimis (»Matzbach«).
Die Originalausgabe erschien
1984 als Goldmann-Krimi
© 2012 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlagillustration: Ralf Kramp
unter Verwendung von: © nito - www.fotolia.de
Print-ISBN 978-3-942446-50-1
E-Book-ISBN 978-3-95441-116-0
» ... wurde Baltasar Matzbach als ›Universaldilettant‹ bezeichnet, der sich in die Gefilde der Kriminalistik verirrt habe. Das Etikett... beklebt einen, der von vielen Dingen zu viel weiß, um sie ernst zu nehmen, zu wenig, um von ihnen ernstgenommen zu werden, und genug, um Experten zu bluffen und Laien zu amüsieren. ... Ein Bekannter mutmaßte auch, B. M. leide (?) an Elephantiasis der Seele. Interessanter sind jedoch andere Aspekte, so z. B. Matzbachs verwegene Verfressenheit; wie zu Zeus Sein Donner und zu Jehovah Sein Zorn gehört zu Baltasar Sein Wanst. Immerhin kann er es sich seit vielen Jahren leisten, Hecht zu essen und zum folgenden Fleischgang einen Grand Cru zu trinken. Er wuchs nach dem Verscheiden seiner Eltern bei Verwandten auf und studierte später Philosophie und Atomphysik. Dabei erfand er etwas für ein Betatron, so kompliziert, daß er es selbst schon längst nicht mehr erklären kann, aber das Patent wird international verwendet und wirft einiges ab; anschließend wandte Matzbach sich der Musik zu und komponierte ein bißchen, darunter einen vollendet schwachsinnigen Schlager, der noch immer läuft und zwei- bis dreimal pro Jahr neu aufgenommen wird, und so schickt die GEMA ihm bisweilen einen freundlichen Scheck. Ein Hauptgewinn im Lotto sorgte 1962 dafür, daß Baltasar aus dem Gröbsten heraus war. Er investierte klug und ergab sich der sinnlosen Bildung, wobei er von den exakten zu den diffusen Gebieten überging; so stammt aus seiner Feder ein in Fachkreisen geschätztes Werk über Monotheistische Strömungen des inselkeltischen Druidentums.* Einige Jahre hielt er sich an der bretonischen Nordküste auf, bevor die touristische Völkerwanderung sie verwüstete, und weilte dort als Mäzen und Manager junger Künstler, Veruntreuer von frühen Touristinnen und Privatdozent gegen Okkultismus. Dabei verfaßte er zwei weitere Standardwerke: Schamanistische Einflüsse in die Analekten des Konfuzius* und Sexualpathologische Aspekte der Psychokinese.* Und tat zahllose weitere unsinnige Dinge, die ausnahmslos zu Gold wurden (er habe, behauptet er, in dieser Beziehung etwas durchaus Eselhaftes an sich). Jahrelang verdiente er sich ein regelmäßiges Zubrot mit seinem Kummerkasten Fragen Sie Frau Griseldis; außerdem droht irgendwann die Veröffentlichung seines geheimen Hauptwerks Der Leichnam in der Weltliteratur. (Die Mutmaßung, seine detektivischen Aktivitäten seien nur ein Vorwand dafür oder umgekehrt, ist nicht von der Hand zu weisen.) ...«
* Alle Titel erschienen im Verlag für Enzyklopädische Geisteswissenschaften (Edinburgh – Simla – Wachtendonk – Córdoba – Beaune).
Was soll das eigentlich werden? Willst du zum Zirkus?« Ariane Binder warf Baltasar mißbilligende und skeptische Blicke zu. Matzbach hatte die Lehne des Beifahrersitzes zurückgeklappt, damit der Gurt über seinem Embonpoint nicht so stramm saß; in dieser fürstlichen Haltung schleuderte er ein ums andere Mal drei abgegriffene Münzen in die Luft. Es gelang ihm jedoch selten, sie mit dem Buch aufzufangen, das er in der linken Hand hielt.
»Weib«, sagte er grob, »davon verstehst du nichts. Fahr weiter dahin und stör nicht mein Orakel.«
Ariane steuerte Matzbachs alten Haifisch durch einen sonnigen Novembernachmittag über französische Landstraßen. Seit sie den Volant übernommen hatte, war es ihr vergönnt gewesen, zunächst Baltasars Schnarchen zu lauschen, danach den Duft seiner Zigarre zu genießen und nun diesem jonglierenden Gezappel beizuwohnen.
»Wieso Orakel?«
»Hast du noch nie vom Buch der Wandlungen vernommen?« Baltasar bückte sich nach einer Münze, die irgendwo in der Nähe seiner Füße liegen mußte.
»Willst du dich ändern? In deinem hohen Alter?«
Baltasar richtete sich ächzend auf und befestigte den Gurt. Dann warf er die Münzen abermals in die Höhe. Wäre nicht in diesem Augenblick ein Lkw ihnen entgegengekommen und hätte Ariane nicht mit dem Ausweichmanöver gewartet, bis sie sicher war, daß Baltasar genau jetzt werfen würde, dann hätte er die nicht mehr konvertiblen Zahlungsmittel vielleicht mit dem Buch erwischt.
»Hoppla«, knurrte er, als er den Gurt wieder löste und den Boden erneut absuchte. Ariane lächelte über seinen feisten Nacken hinweg.
»Das Greisentum«, sagte er mit von der Anstrengung geschwollenen Lippen, »hat mich noch nicht so sicher im Griff, wie du zu meinen scheinst. Zwar bin ich nicht mehr nur fettundvierzig, aber vierundvierzig auch noch nicht.« Mit einem Blick auf die huschende Flora des Straßenrandes setzte er nachdenklich hinzu: »Übrigens möchte ich nicht wissen, was du sagen würdest, wenn ich diese diffizile Operation hier im Wagen mit Schafgarbenstengeln betriebe. Man braucht dazu neunundvierzig, aus denen man dauernd kleine Haufen machen muß.«
»Mach bitte keine Haufen, Dickerchen. Es ist zwar dein Auto, aber ...« Sie rümpfte die Nase.
Baltasar warf wieder, und diesmal hatte er Glück. Er sortierte die Münzen und malte etwas auf einen Zettel. Dann knurrte er: »Und zum letzten Mal.« Ariane wartete, bis er zum Werfen angesetzt hatte, dann nahm sie jäh den Fuß vom Gaspedal.
»Entschuldige bitte«, sagte sie scheinheilig, während Baltasar seine Hand unter den Sitz steckte, wo er mindestens eine Münze vermutete. »Ich bin da wohl abgerutscht. – Bestimmt sind drei Münzen besser als neunundvierzig Schafgarbenstengel, aber wozu das Ganze überhaupt?«
Matzbach setzte sich wieder zurecht. Schnell warf er die aufgesammelten Münzen abermals, fing sie mit dem Buch auf, addierte und notierte die letzte Linie.
»Dies hier«, sagte er, wobei er das Buch emporhielt, »ist das alte chinesische Weisheits- und Orakelbuch I Ging. Zweisprachige Engländer, die des Deutschen mächtig sind, nennen es bisweilen auch I Went. Snobs wie ich, die sich auf ihre nichtvorhandenen Chinesischkenntnisse etwas einbilden, sagen I Dsching.«
»Sehr interessant. Und weiter?«
»Angeblich hat ein Kaiser der Vorzeit herausgefunden, daß die Heiligen Schildkröten auf ihrem Panzer verschiedene ganze und geteilte Linien haben, aus denen sich die Zukunft lesen läßt. Angeblich hat Konfuzius die ganze Chose in der heute bekannten Form schriftlich niedergelegt. Das Ding besteht aus vierundsechzig Hexagrammen.«
»Was für Hexen?«
»O ob der Unbildung des gemeinen abendländischen Weibchens. Hexagramme. Bild- oder Schriftzeichen aus sechs Teilen. Es sind die vierundsechzig möglichen Kombinationen aus jeweils sechs unterbrochenen und/oder durchgezogenen Linien. So etwa.« Er hielt das Blatt hoch, auf dem er gemalt hatte.
war dort zu lesen. Ariane, mit dem Verkehr nicht überbeschäftigt, nahm es zur Kenntnis.
»Aha. Und was willst du damit?«
»Langsam. Also, diese vierundsechzig zusammengesetzten Zeichen bestehen wieder aus einzelnen Unterzeichen und so weiter. Jede Linie hat bestimmte Bedeutungen, je nachdem, in welcher Zusammenstellung sie auftaucht. Leibniz, nicht der mit den Keksen, war der Meinung, es handle sich um ein binäres Zahlensystem.«
»Du nimmst doch sonst zum Rechnen deine Finger.«
»Pah. Außerdem gibt es Linien, die sich aus unterbrochenen in durchgezogene verwandeln können und umgekehrt. Es gibt also viel mehr als nur vierundsechzig Möglichkeiten. In diesen Zeichen stecken alle alten chinesischen Ratschläge für den Beginn einer Unternehmung. Das ist kein Orakel, das auf die Frage ›Was wird sein?‹ antwortet. Es antwortete auf die Frage ›Was soll ich tun?‹«
»Und was soll ich tun?«
»Den Mund halten und zuhören. Dieses Zeichen, das ich durch mehrfaches Werfen alter chinesischer Münzen trotz deiner komischen Fahrerei habe ermitteln können, ist, Moment ...«
Er schlug das Buch auf, blätterte eine Weile. Dann:
»Hah, Nummer sechsundvierzig. Schong.«
»Schöng.«
»Willst du wohl ... Übrigens ist das von unten nach oben zu lesen.«
»Wie liest man Schong von unten nach oben?«
»Das Zeichen, o zaubriges Weib, nicht das Wort.«
Ariane lachte. Baltasar blickte sie von der Seite an, grinsend. Die beginnende Versilberung ihres kurzen Blondhaars und die durch das Lachen animierten Fältchen erhöhten, wie er gelegentlich behauptet hatte, Arianes antiquarischen Wert.
»Und was ist nun mit Schong von unten?«
Baltasar hielt das Buch hoch und las deklamierend:
»›Schong. Das Empordringen. Das Empordringen hat erhabenes Gelingen.‹ Das heißt: Etwas Weiches und Natürliches, etwa Holz, wächst unaufhaltsam empor. Verschluck deinen Kommentar; der Wagen ist mir zu eng.«
Ariane grinste und sagte nichts.
»Weiter. ›Man muß den großen Mann sehen.‹ Ahem. Ich denke, das bezieht sich zunächst einmal auf mich. Vielleicht aber auch auf jemanden, dem wir im Lauf unseres Unterfangens begegnen werden. Was mich ein wenig stutzig macht, ist die Auslegung im Buch, die sagt, die Ursache des Gelingens, die wohl mit dem großen Mann zusammenhängt, sei transzendent.«
»Welcher Sekte willst du beitreten?«
»Keiner. ›Fürchte dich nicht!‹ Du nicht, und ich auch nicht. Es kann nichts schiefgehen. Und die letzte Maßgabe des Urteils sagt: ›Aufbruch nach Süden bringt Heil‹.« Nachdenklich klappte er das Buch zu.
Ariane schüttelte den Kopf. »Das paßt ja. Von Bonn in die Provence. Witzig. Und was versprichst du dir von dem Kram?«
Baltasar schlug das Buch wieder auf. »Nicht viel. Es heißt auch noch: ›Diese aus dem Unsichtbaren stammende Gunst der Verhältnisse muß man aber durch Arbeit ausnutzen.‹ Und außerdem: ›Die Anhäufung des Kleinen, der stetige, unmerkliche Fortschritt‹ und so weiter.« Er klappte endgültig das Buch zu und warf es auf die Rückbank.
»Das Sichanhäufen nach oben heißt Empordringen«, knurrte er.
Ariane gähnte. »Schon wieder Haufen.«
Baltasar runzelte die Stirn. »Was mich ein wenig ärgert«, murmelte er, »ist, daß es förderlich sein soll, unablässig beharrlich zu sein. So steht es da auch geschrieben. Ich sehe schon, diese Reise wird mit harter Arbeit verbunden sein, und nicht Genie, sondern Beharrlichkeit soll zum Erfolg führen. Wie öde, oh, wie anstrengend.«
»Seit wann bist du denn unter die Weissager und Orakelgläubigen gegangen?«
Er richtete sich auf und entnahm dem Handschuhfach eine seiner schwarzen Zigarren.
»Der Glaube an meinen schieren Verstand ist mir wie jeder Glaube zu irrational. Ein wenig Unterstützung durch nicht von Überzeugung und Vorurteil abhängende Zufälle ist hilfreich. Du weißt ja, die unwahrscheinlichen Zufälle sind immer mit mir.«
»Glaubst du.«
»Weiß ich.«
»Na, bei deinem ermordeten Anwalt hat dir der Zufall aber bisher nicht besonders geholfen.«*
»Deswegen, o Holde, fahren wir ja auch jetzt gen Süden und stürzen uns in ein ander Abenteuer.«
»Mal sehen, ob es eins wird. Ich bin mehr für Urlaub und Erholung.«
Baltasar zündete sein stinkendes Monstrum an. Paffend sagte er: »Absurder Wunsch. Und dann auch noch um diese Jahreszeit.«
Die Fahrt hatte gegen zwölf Uhr begonnen. Unter Zertrümmerung sämtlicher Geschwindigkeitsregeln hatte Matzbach seine Kiste innerhalb von drei Stunden von Bonn nach Thionville gejagt, dort einen neuen Kurs über Landstraßen Richtung Dijon an- und das Steuer an Ariane abgegeben. Bevor er auf das Münzorakel verfiel, hatte er Ariane in Umrissen über die Person von William Bronner informiert. Dieser, ein achtundvierzigjähriger Journalist mit Spürnase, war vor mehreren Wochen nach Südfrankreich aufgebrochen, um dort eine Story aufzutun. Er hatte sich sehr vage ausgedrückt, etwa so: »Also, weißt du, Dicker, da unten gibt's ja nicht nur Wein und Lavendel. Die Mafia in Marseille, Wagenschieber, abgehalfterte Fremdenlegionäre, korsische Banditen auf dem Weg nach Paris – auf den Spuren des größten korsischen Banditen –, jede Menge prominenter Interviewopfer, ein verrückter phantastischer Schriftsteller, und außerdem Frauen in und ohne Hülle und Fülle.« Wörtlich hatte er gesagt: »Nackte Weiber bis zum Abwinken«, aber als Baltasar Ariane diese und andere Informationen zukommen ließ, ereilte ihn einer seiner seltenen Anfalle von Herzenstakt. – Dann hatte Bronner einige Tage lang versucht, Matzbach zu erreichen, und ihm schließlich ein Telegramm geschickt, das dem Dicken am frühen Dienstag kurz nach Mitternacht (gegen sieben Uhr) telefonisch durchgegeben worden war: »hilfe stop assassinen stop sofort kommen les baux stop anrufen hotel xy stop william.«
Natürlich versetzten die »Assassinen« Matzbach in lodernde Begeisterung; außerdem versprach dieser Lockruf Abenteuer in der Ferne, während er mit seinem heimischen Doppelmord nicht weiterkam. Allerdings brachte das Telefonat kaum weitere Aufschlüsse; Bronner sagte, er könne am Telefon nicht deutlicher sprechen, jemand (dritte Person Plural) sei hinter ihm her; Matzbach solle an den Mond von Sankt Remigius denken sowie an den dritten Schlupfhafen der Johannisbeere. Außerdem bitte er, Bronner, ihn, Matzbach, um ein würdiges Begräbnis.
Also hatte Baltasar in windiger Eile seine nächstfälligen Kolumnen Fragen Sie Frau Griseldis (von einer führenden Illustrierten nicht ganz schlecht bezahlt) fertiggestellt, Ariane Binder aus ihrem Büro, der Presseabteilung eines Industrieverbandes, herausgerissen und alles andere stehen und liegen lassen.
»Trotzdem«, sagte Ariane, »wüßte ich gern, seit wann du diese irrationalen Anfälle hast.« Sie schaltete das Licht ein.
Baltasar inhalierte tief, hustete und stieß eine gewaltige Wolke aus. Ariane kurbelte das Fenster herunter.
»Nie und immer, Teuerste«, sagte Matzbach erhellend. »Wie ich sagte – oder war es Shakespeare? –, gibt es mehr Dinge zwischen Bonn und Les Baux, als Eure Rationalität sich träumen läßt, Horatia. Dabei fällt mir auf, daß der Alte da ja ein Wortspiel im Namen eingebaut hat. Horatio, ratio, hm, muß ich bedenken.«
»Du könntest ja mal wieder ein Buch über eines deiner abseitigen Themen schreiben.«
»Wohl wahr. Wird Zeit. – Also, um das klarzustellen, und damit du mich nicht für einen verkappten Gläubigen hältst: Wie du wissen solltest, leide ich weder an irgendeiner Überzeugung noch an der Sehnsucht nach einer solchen. Ich bin aber immer bereit, mich überraschen zu lassen. Im Gegensatz zu den meisten unserer Mitmenschen suche ich nicht die Wahrheit. Ich suche erstaunliche Geschichten. Und wenn mir jemand einen Schamanen in Trance zeigt, der sich in die Luft erhebt, heißt das für mich nicht, daß Schamanen fliegen können, sondern daß ich einen Schamanen gesehen habe, der geflogen ist.«
Ariane schnalzte. »Ich sehe nicht, was daran so anders sein soll.«
»Oh, es macht schon was aus, ob man wunderliche Dinge mit Genuß zur Kenntnis nimmt oder gleich eine Ideologie daraus macht. Ich kann mir vorstellen, daß ein Schwarm von Lämmergeiern, die nach der Opferung eines Gefangenen dem Priester von links entgegenkommen oder von rechts, daß diese Geierlämmlein etwas Gutes oder Böses verheißen, das sich dann auch ereignet. Ich glaube nur nicht, daß die Geier das wissen, und auch nicht, daß sie von Göttern geschickt worden sind. Ich finde es nur möglich und lustig.«
»Und dein Orakelbuch?«
»Das ist so ähnlich. Das I Ging sagt ja nicht: Egal, was du tust, morgen wird das und das passieren, sondern, so ist die Auslegung, es sagt dir, wenn du eine bestimmte Frage im Kopf hast, welchen Weg du am besten einschlagen sollst. Das einzig Magische dabei ist das Münzwerfen oder das Schafgarbenhäufeln. Der Rest ist Philosophie.«
Ariane wiegte den Kopf. »Du bist mir ein komischer Agnostiker. Entweder du glaubst dran oder du glaubst nicht dran. Ich finde, du solltest dich da entscheiden.«
Matzbach kicherte. »Immer will jemand, daß ich mich entscheide. Ich bin als guter Skeptiker nicht fähig, Wunderliches für unmöglich zu halten.«
Aufgebracht hupte Ariane die Dämmerung an. »Entsetzlich, du mit deinen Paradoxa. Wie hältst du es denn mit dem lieben Gott?«
Baltasar grinste. »Ich glaube, du bist wirklich urlaubsreif, sonst würdest du dich nicht so aufregen. Was Zeus, Jehova und Quetzalcoatl angeht – ob ich an ihre Existenz oder an ihre Nichtexistenz glaube, beides sind gewaltige Glaubensakte, die meine Kräfte übersteigen. Ich glaube eben einfach nicht, meine Liebe; ich lasse mich überraschen.«
»Und dein Orakelbuch?«
Er seufzte. »Du frißt dich daran fest, wie? Das ist doch ganz einfach. Die alten Chinesen, wer immer es auch war, haben die Möglichkeiten des menschlichen Handelns und Versagens ganz grob in vierundsechzig Aspekte aufgespalten, mit Varianten und Zufallsspielen und Fremdeinflüssen und allem. Außerdem stehen viele schöne und treffende Sätze in dem Buch, die hilfreich und weise sind, egal, ob man Orakelfragen stellt oder nur denken will. Hinzu kommt eine simple Rechnung. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Buch recht hat, an dem Generationen kluger Männer gearbeitet haben, ist unendlich viel größer als die, daß ausgerechnet ich unter vier Milliarden recht habe.«
Ariane holte tief Luft. »Aber du hast doch eben so getan, als ob du das Dings da, diesen Schong-Spruch, ernst nimmst.«
Baltasar nickte und lächelte sie von der Seite an. »Habe ich. Das liegt einfach daran, daß das Buch bisher immer die Wahrheit gesagt hat, wenn ich es interviewt habe.«
»Also glaubst du doch dran?«
»Nein, ich bin nur überrascht. Angenehm überrascht.«
»Du bist unmöglich. Ich geb's auf.«
Sie schwiegen. Ariane fuhr konzentriert. Der Dicke mit dem schwarzen Kraushaar neben ihr rekelte sich, fläzte sich in seinem Sitz und grunzte leise. Die Spitze seiner abnehmenden Zigarre glomm heller als die Armaturenbeleuchtung. Seit mehr als einem Jahr waren sie einander, wie Baltasar es ausdrückte, »in wonniglicher Gefährtenschaft zugetan«. Sie waren beide Jahrgang '39; Baltasar, der sechs Fuß und einige Zoll maß, mußte sich ducken, wenn er zur ihr aufschauen wollte; außerdem wog er ziemlich genau das Doppelte. Der Wagen schien rechts tiefer zu liegen, aber das mußte Einbildung sein, denn die Hydraulik des alten Pallas war an Matzbachs Gewicht gewöhnt. Als Baltasar wieder an der Zigarre sog, sah Ariane aus den Augenwinkeln, im Licht einer Laterne, die sie passierten, wie sich der Aschekegel widerstrebend löste und nach kurzem Sturzflug auf Matzbachs vormals weißer Leinenhose zerschellte. Eine feiste, haarige Pranke kam aus der Dunkelheit und wischte das Häuflein von den Beinkleidern. Dazu erklang ein leises, in seiner Gleichgültigkeit erhabenes »Häh«. Im Glimmen des Stumpens sah Baltasar dämonisch aus. Die Geheimratsecken im krausen Schopf deuteten an, daß jederzeit Hörner sprießen könnten. Die Runzeln der hohen Stirn ließen auf schwärzliche Pläne schließen, die im Hinterland der kleinen grauen Zellen ausgeheckt werden mochten. Die gerade Nase, der volle Mund mit den Falten des Schelmentums und das durch machtvolle Wangen und dicken Hals beeinträchtigte Caesarenkinn hatten bei den obwaltenden Lichtverhältnissen allen Charme verloren, falls es solchen gab, und wirkten mit dem glühenden Obelisken in der Mitte wie ein drohender Vulkan.
Ariane seufzte in die laterale Dunkelheit. »Welcher Teufel«, sagte sie halblaut und anklagend, »hat mich geritten, daß ich mich mit einem solchen Monstrum einlasse?«
Baltasar nahm die Zigarre aus dem Mund, kurbelte das Fenster herunter und warf das heimatlose Stück Brasilien nach Frankreich hinein.
»Ich«, sagte er, während er das Fenster wieder schloß, »bin nicht das, was du sagst und denkst. Ich bin ein possierliches Getüm.«
»Schon recht.« Es klang resignierend, aber dann wandte sie ihm plötzlich ihr Gesicht zu und lächelte. Baltasar musterte die ebenmäßigen Züge, das Grübchen im Kinn und die lachenden Augen, die auf einmal grünes Feuer zu sprühen schienen; dann streckte er die Hand aus und kraulte das kurze Haar hinter Arianes rechtem Ohr.
»Was«, sagte er sanft, »hältst du davon, wieder auf die Straße zu sehen? – Weißt du eigentlich, was ich an dir so besonders schätze?«
»Du wirst es mir bestimmt gleich sagen.«
»Deine Ohrläppchen.«
Sie kicherte. »Wieso ausgerechnet meine Ohrläppchen?»
»Na ja, sie sind nicht angewachsen. Wenn sie angewachsen wären, hätte ich ein Vorurteil revidieren müssen.«
»So, du hast also doch Vorurteile?!«
»Nur im Zusammenhang mit Ohrläppchen.«
»Was für ein Vorurteil denn?«
Er zupfte an dem wohlgeformten Objekt seiner obskuren Rede. »Menschen mit angewachsenen Ohrläppchen haben einen schlechten Charakter. Du hingegen bist so durch und durch ersprießlich, daß selbst angewachsene Lappen dich nimmer verdürben. Ich hätte also eine Ausnahme machen müssen, und du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn man meine Bequemlichkeit in seelischen Aufruhr verwandelt.«
Danach führte er einen seiner wurstförmigen Finger an den Mund, schmatzte etwas darauf, was man bei Nebel und steifem Nordwest als Kuß auslegen konnte, und beförderte diese akustische Illusion mit Hilfe des Fingers hinter Arianes Ohr. Er kraulte ihren Nacken und geriet dabei in den Kragen ihrer Bluse.
»Alle Götter des Olympos«, sagte er erstaunt. »Hast du da einen harten Einnäher drin.«
»Was meinst du? Ach, das Ding. Die sind nun mal hart. Deine angeblichen Hemden, haben die so was nicht?«
Abwehrend spreizte er die Finger. »Die erwähnten erlauchten Personen, die griechische Berge behausen, seien dagegen. Ich schneid so was immer sofort raus. Erstens kratzt es.«
»Und zweitens?«
»Zweitens lege ich Wert darauf, daß man mich, wenn ich im Verlauf eines epochalen Abenteuers umgebrungen werden sollte, durch die Macht meines Astralleibes identifiziert, nicht durch so banale Dinge wie Hosenknöpfe oder Schneiderautogramme.«
Irgendwie klang es ernst, obwohl Matzbach die Unterstellung, er sei ernsthaft, schon häufig mit Empörung ernsthaft zurückgewiesen hatte. Ariane drückte den Zünder und bat:
»Mach mir eine Zigarette an, ja? – Danke. – Was heißt das denn nun wieder, umgebrungen werden? Rechnest du damit, daß in der Provence etwas passiert?«
Baltasar verschränkte die Hände hinter dem Kopf, wobei er um ein Haar die Kopfstützen herausgerissen hätte.
»Irgendwas wird schon passieren. Vielleicht regnet es oder so. Jedenfalls ist Bronner ein abgebrühter Bursche, und diese coole Angst, die ihm im Nacken saß, als er mit mir telefoniert hat, ist, schätze ich, sehr nahe an einer Panik.«
»Irgendwie sind wir vorhin vom Thema abgekommen. Erzähl mir noch was von Bronner.«
»Wie gesagt: ein ausgeschlafenes Kerlchen. Er hat noch nie davor Angst gehabt, seine Nase in heiße Sachen zu stecken. Übrigens auch in heiße Höschen; er geht so ungefähr auf alles los, was in groben Umrissen von der männlichen Anatomie abweicht.«
Ariane pfiff leise. »Klingt ja toll. James Bond persönlich, wie? Aber sag mal, was ist das mit den Assassinen, dem Mond von Sankt Remigius und dieser komischen Johannisbeere?«
Matzbach runzelte die Stirn. »Was die beiden letzteren Punkte angeht, so habe ich meine Verdächte. Ich werde dir das alles auseinandersetzen, wenn wir da unten sind, vorher glaubst du mir ja doch nicht.«
»Wie du meinst. Aber diese Assassinen. Das ist doch auf Englisch und Französisch ›Mörder‹, oder?«
Baltasar verschränkte die Arme vor der Brust und hakte den linken Daumen unter den Sicherheitsgurt. »Hm hm«, machte er gedankenvoll. »Das ist schon richtig. Aber ich habe mich mal mit Bronner über die guten alten Zeiten im Mittleren Osten, die Etymologie und andere feine Dinge unterhalten. Daher weiß ich, daß er weiß, daß Assassinen eigentlich ›Haschischim‹, die Haschischkonsumenten, sind.«
Ariane reichte ihm den Rest ihrer Zigarette. »Machst du sie mal aus? Wieso Haschisch, und wieso wird aus dem Haschischverbraucher ein Mörder?«
»Das ist eine hübsche Geschichte. Es gab mal einen finsteren Gesellen, der später als ›Der Alte vom Berge‹ zitiert wurde. Dieser Mensch fand, es gebe viele unausstehliche Leute und man müsse dagegen etwas tun. Als er so in seiner Bergfestung Alamut hockte, kam ihm ein Gedanke. Er schnappte sich in den umliegenden Landen kräftige junge Männer, schleppte sie in seine Festung und warf sie in ein fieses Verlies. Nachdem sie da ein paar Tage bei Wasser und Knäckebrot zugebracht hatten, mischte er ihnen Drogen in ihre Diät. Sie schliefen ein. Als sie aber wieder wach wurden, waren sie high und nicht mehr im Verlies, sondern in einem paradiesischen Garten, mit Milch und Honig und girls, girls, girls, genauso, wie der Koran das Paradies beschreibt. Da konnten sie sich ein paar Tage lang austoben. Dann kriegten sie wieder ihren Schuß, und wenn sie dann erwachten, lagen sie im vertrauten Verlies und vergossen bittere Zähren. Der Alte ließ sie da eine Weile rumliegen; anschließend, wenn sie so richtig schön down waren, gab er ihnen den Auftrag, irgendwen umzubringen. Er hatte genug Kandidaten auf der Liste. Wenn sie, sagte er den armen Jungs, den Emir von Samarkand oder den Kreuzfahrer Kasimir den Bogenbeinigen umnieteten, würden sie wohl von deren Leibgarde abgemurkst werden, aber sofort wieder in dem Paradies erwachen, in dem sie vor kurzem noch den diversen menschlichen Lüsten oblegen hätten. Also zogen sie frohlockend in den Tod, und gegen Mörder, die keinen Wert darauf legen, nach der Tat mit heiler Haut zu entkommen, gibt es kaum eine Abwehrchance.«
»Freundlicher Mensch, der Alte vom Berge. Und hat er es weit damit gebracht?«
»O ja. Er und seine Nachfolger haben ungefähr hundertfünfzig Jahre lang zwischen Kairo und Kabul alles umgelegt beziehungsweise umlegen lassen, was ihnen nicht in den Kram paßte. Hübsche Terrortruppe und gut organisiert. Die Kreuzfahrer hatten manchmal auch mit ihnen zu tun, und weil sie mit dem Haschischwort nichts anfangen konnten, haben sie ein ähnlich klingendes Wort genommen und mit der Profession der Leute, dem Meuchelmord, verbunden. Wie du siehst, ist der gemeine europäische Assassine ein touristisches Mißverständnis; ich bin immer dafür gewesen, daß man anständig die Fremdsprache lernt, wenn man in ein anderes Land reist. Aber welcher Kreuzfahrer konnte schon Arabisch?«
»Wie ist die Geschichte dann ausgegangen?«
»Blutig; wie sonst? Wie gesagt, der ganze Mittlere Osten zitterte vor der Bande. Als dann, so um zwölfhundertsechzig, die Mongolen die ganze Gegend einkassierten, hat der damalige Herr der Festung Alamut wohl den Fehler gemacht, einen mongolischen Würdenträger umlegen zu lassen. Dessen Kumpels haben die Festung dann ein paar Jahre belagert; sie hatten ja Zeit. Am Schluß haben sie die ganze Sippe über die Klinge springen lassen. Marco Polo erzählt davon ganz nett.«
Ariane seufzte. »So, jetzt weiß ich es. Was hat denn nun aber Bronner mit den Assassinen zu tun?«
Baltasar nickte. »Eine weise Frage. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er über Drogenhändler gestolpert oder über eine orientalische Meuchelmörderschaft in der Provence. Wer weiß?«
»Und du willst mir nichts über Sankt Remigius und diesen Schlupfhafen der Johannisbeere erzählen?«
Nun war Matzbach mit Seufzen an der Reihe. »Ungeduldiges Weib. Ich denke mir folgendes. Als er mich aus Les Baux angerufen hat, meinte er, jemand sei hinter ihm her und er könne nicht frei sprechen. Also konnte er wohl auch keine Namen nennen. Ich habe durch kurzes Nachdenken ermittelt, daß nahe Les Baux der Ort Saint-Rémy liegt; vermutlich meint er den mit Remigius. Und da gibt es sicher irgendwas Mondartiges, ein Bauwerk oder so, wo er was für mich hinterlegt hat. Und Crème de Cassis, was, wie du wissen solltest, Hauptbestandteil des Leibtrunks des alten Bürgermeisters von Dijon ist, ist ein Johannisbeerlikör.«
»Wieso sollte ich das wissen?«
»Der Kanonikus Kir, nach dem das Getränk benannt ist, hat es wohl auch erfunden. Der war Dings in Dijon. Also, denke ich mir, hat Bronner wohl die Stadt Cassis am Mittelmeer im Kopf gehabt. In der Nähe gibt es calanques, so eine Art lokaler Fjorde, und calanque ist der Schlupfhafen. Was das Ganze soll, weiß ich nicht, aber es bringt mich auf eine Idee. Ich hätte jetzt gern bald einen Kir. Wir sollten, meine ich, ein kleines Hotel bei Nuits-Saint-Georges ansteuern. Ich kenne das, man äst dort vorzüglich. Und was hülfe es dem Menschen, der da in der Provence entweder lebt und bibbert oder tot ist und dies nicht mehr tut, wenn wir dort entkräftet und übermüdet ankämen, unfähig zu den elementaren Hilfeleistungen?«
Er erging sich in genauen Fahrtanweisungen und kam dann auf die Speisekarte zu sprechen, wobei er insbesondere die hausgemachten Pasteten aus jenem Stoff erwähnte, der vordem als Krammetsvöglein Europa durchflattert hatte. »Damit man sieht, daß wirklich nichts in den Töpfchen ist, was nicht hineingehört, sind die Pastetchen obenauf mit den Füßchen der köstlichen Verblichenen garniert.«
Ariane schüttelte sich, lauschte dann aber mit knurrendem Magen den weiteren Ausführungen von Baltasar, der liebevoll auf den in einer Sauce aus Sahne und Estragon mit einem winzigen Tupfer Senfs hingerichteten Hecht verwies. »Dazu«, sagte er, und er schnalzte mit der Zunge, »ein Schlückchen Aligoté, und danach un rôti de bœuf zur Unterstützung der einen oder anderen Flasche Gevrey-Chambertin. Oder derlei. Übrigens macht man dort auch köstliche Apfelküchlein zurecht, die sich vorzüglich als Dessert eignen ...«
Gegen 19.30 Uhr erreichten sie ihr Etappenziel. Während Matzbach rittlings auf seinem Koffer saß und grübelte, was ihm an der Tapete der Kemenate mißfiel, inspizierte Ariane den sanitären Trakt der Fürstensuite. Von der Erkundung zurückgekehrt, begann sie, ihren Koffer auszupacken. Baltasar hüpfte derweil unter den Strahlen der Dusche umher und sang Landsknechtslieder; danach begab er sich mit einer meditativen Zigarre in die Horizontale und dachte an nichts bzw. Nichts. Als Ariane tropfnaß und gutgelaunt aus dem Bad kam, winkte er sie mit der Zigarre herbei. Sie setzte sich auf den Bettrand, wobei sie sich abtrocknete.
»Was wollt Ihr, Gebieter?« sagte sie.
Baltasar legte ihr eine Fingerspitze auf die Stupsnase, die Arianes Gesicht vor der Etikettierung »aristokratisch« bewahrte, und sondierte die grünen Augen. »Die Frage erhebt sich«, sagte er, »ob wir hinterher viel oder vorher wenig essen. Die Beweglichkeit des Leibes, du weißt es, wird durch die Nahrungsaufnahme langfristig gefördert und kurzfristig behindert.«
Ariane kicherte und warf das Handtuch. »Wie war das noch gleich«, sagte sie. »Mit diesem I Ging, meine ich.«
Baltasar deutete auf einen wirren Stapel Kleidung, Bücher und sonstiger Reiseutensilien. »Ich weiß nicht, was du meinst, aber sieh immerhin nach.«
Sie fahndete nach dem Buch und entdeckte es unter der zerknautschten Leinenhose. Nach längerem Blättern fand sie, was sie suchte.
»Schong«, sagte sie lächelnd, »Kommentar zur Entscheidung. ›Das Weiche dringt mit der Zeit empor. Sanft und hingebend.‹ Aha, oho. ›Das Feste ist in der Mitte und findet Entsprechung, darum erlangt es großes Gelingen.‹ Ist es denn wahr? ›Man muß den großen Mann sehen.‹ Die Anweisungen sind eindeutig.«
Sie klappte das Buch zu, legte es auf den Nachttisch und beraubte Baltasar seiner Zigarre, die sie einen Moment nachdenklich musterte, ehe sie sie in den Aschbecher warf.
Gegen elf wurden sie zum Abschluß eines bemerkenswerten Mahles mit Kaffee und Vieux Marc versehen. Baltasar war ganz Grandseigneur und gab Ariane Feuer für ihren dünnen Zigarillo. Dann sah er auf ihre schlanken Finger, die mit dem Stiel des Weinglases spielten, in dem noch ein Rest roter Köstlichkeit kreiselte. Mit der anderen Hand und dem Zigarillo deutete sie auf seine Stirn.
»Das war wirklich köstlich, Dicker«, sagte sie, »ein gutes Lokal.«
Baltasar nickte und stieß eine mächtige Rauchwolke aus. Sie erklomm wabernd und wankend höhere Luftschichten und verging an den dunklen Eichenbalken der Decke. Von den etwa zwanzig Tischen des gemütlichen Speiseraums waren nur noch drei besetzt. Baltasar lehnte sich in seinem Stuhl zurück, bis dieser knirschte, legte die Zigarre in den Aschbecher und türmte auf der karierten Tischdecke Brotkrümel auf. Er schnüffelte an dem Marc, wickelte ein Zuckerstückchen aus und berührte damit sanft die Oberfläche der bräunlichen Flüssigkeit. Ariane sah interessiert zu, wie der Zucker sich langsam vollsog und verfärbte.
»Das nennt man faire le canard«, sagte Matzbach. Er leckte sich die dicken Lippen. »Wie der Erpel den Kopf in den Pfuhl steckt und dabei mit dem Schwänzchen wackelt, so macht es der Zucker. Die beste Möglichkeit, das Aroma eines guten Schnapses zu testen.«
Er steckte sich den Zucker in den Mund und schmatzte hingerissen. »Ah, gut. Wenn sich das auf der Zunge auflöst, das entspricht dem Wackeln. Übrigens ist der Marc besser als jeder mir bekannte Entenpfuhl.«
Er nahm einen Schluck und spülte mit schwarzem Kaffee nach.
Ariane rührte in ihrem Kaffee und musterte Baltasar, der mit der Zigarre zwischen den Zähnen auf seinem Stuhl eher lag als saß und die Hände über dem Bauch gefaltet hatte.
»Sag mal, à propos canard. Mein Französisch ist ja ganz gut, schon allein wegen unserer Handelsbeziehungen, aber ich würde mir nicht zutrauen, in Frankreich Detektiv zu spielen. Reicht deins dazu aus?«
Matzbach nahm die Zigarre aus dem Mund und blickte vorwurfsvoll. »Mais bien sûr, Madame. Du vergißt: Ich habe ein paar Jahre in der Bretagne zugebracht. Ich bin zwar ein bißchen aus der Übung, aber das wird sich in ein paar Tagen geben. Warte ab, bis ich beginne, mit dem hiesigen Idiom so entstellend zu verfahren wie mit meiner Muttersprache, und deines Wunderns wird keinerlei Ende mehr sein.«
Sie lächelte. »Meines Wunderns über dich ist ohnehin kein Ende. Ich bin aber nicht böse, wenn sich alles da unten in Luft auflöst, die Geschichte erfunden ist und wir wirklich nichts als ein bißchen Urlaub machen.«
Baltasar zuckte mit den Achseln. »Deine Wünsche in allen Ehren, aber ich glaube nicht daran.«
»Na gut, du kennst Bronner schließlich. Ich muß dir wohl glauben, wenn du sagst, daß er nicht so schnell in Panik gerät und in einer echten Klemme sein muß, wenn er dich alarmiert. Wieso ruft er denn ausgerechnet dich an? Warum geht er nicht zur Gendarmerie oder läßt den Bundesgrenzschutz einfliegen?«
»Die GSG 9 ist für die Provence nicht zuständig. Außerdem sind wir alte Freunde. Er hat mir vor Jahren diese Geschichte mit Frau Griseldis besorgt, als ich mich gerade entsetzlich gelangweilt habe. Ich schulde ihm mindestens einen Gefallen. Und dann weiß er natürlich, daß ich ein cleveres Kerlchen bin und auch ohne langen Löffel keine Angst habe, mit dem Teufel zu dinieren.«
»Was ist das denn nun schon wieder?«
»Englisches Sprichwort. He who sups with the Devil must have a long spoon. Ich esse eigentlich mit jedem.«
»Und alles, was sich nicht wehrt oder nicht schnell genug laufen kann.«
Baltasar nickte gnädig. »Trampel nur ruhig auf mir herum. Es ficht mich nicht an, nicht die Bohne.«
Nachdenklich sagte Ariane: »Dieser Bronner muß ja, nach allem, was du erzählst, ein ziemlich übler Chauvi sein.«
»Das kann schon hinkommen. Für den täglichen Umgang in geregelten Verhältnissen sind Softies natürlich angenehmer, aber sie sind nicht gerade dazu geeignet, Imperien zu errichten oder zu demolieren. Und wie du weißt, sammle ich ja Geschichten. Chauvis sind unterhaltsamer.«
»Von dir habe ich nichts anderes erwartet. Du bist doch auch so einer.«
Matzbach grinste. »Das ist das erste nette Wort, das du heute zu mir sagst.«
»Ich hatte das eigentlich anders gemeint.«
»Das macht überhaupt nichts. Wichtig ist, daß der Adressat weiß, was er selbst davon hält.«
»Daß ich den großen Mann gesehen habe, heißt nicht, daß du dich für das Zentrum des Universums halten mußt.«
»Ich bin einer der gewichtigsten Teile der Peripherie, wie du wissen solltest.«
* Vgl. Und oben sitzt ein Rabe
Spät am folgenden Nachmittag erreichten sie Les Baux. Die bizarren weißgrauen Felsen des Tals zeigten, befand Matzbach, vermöge des Sonnenuntergangs eine wegen ihrer Schroffheit gegenüber weitgereisten Gästen angemessene Schamröte. Das von Bronner benannte Hotel in der Alten Stadt war aus der Entfernung ebenso wenig sichtbar wie die anderen Gebäude, gebaut aus dem Stein des Berges, der sie trägt.
»In der Hauptreisezeit«, dozierte Baltasar, »findet sich hier kein Parkplatz, dafür jedoch ein Parkwächter. Beides bleibt uns erspart.«
Ariane nickte müde. »Ich weiß, ich bin hier schon mal gewesen. Du brauchst nicht so zu tun, als ob du das Dorf eigenhändig für mich gebaut hättest.«
Im Hotel angekommen, verlangte Matzbach ein Doppelzimmer (mit Bad) über dem Abgrund. Brav füllte er den Meldezettel aus.
»Ah, Monsieur Mazbak«, sagte der junge Hotelier. »Sie haben gestern früh angerufen und mit Monsieur Bronner gesprochen, nicht wahr? Ich hoffe, Sie hatten bei aller Eile eine angenehme Reise.«
Baltasar stützte sich auf den Empfangstisch. »Wir hatten«, sagte er. »Aber wo steckt Bronner?«
Achselzucken. »Ich weiß nicht, Monsieur. Er ist sofort nach Ihrem ersten Anruf gegangen. Er war nervös.«
»So klang es am Telefon. Aber sagen Sie, zwischen meinem ersten und meinem zweiten Anruf lagen doch nur ein paar Minuten. Ist da in der kurzen Zeit noch etwas passiert?«
Der Hotelier runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht. Ich weiß es aber nicht mit Gewißheit. Ich war kurz in die Küche gegangen, während Monsieur Bronner noch mit Ihnen sprach. Als ich zurückkam, lag nur dieser Zettel hier, und Monsieur Bronner war fort.«
Er reichte Matzbach einen Zettel. Auf Französisch war dort zu lesen: »Ich muß abreisen. Bitte verwahren Sie mein Gepäck. Sollte ein Monsieur Matzbach aus Deutschland kommen, bevor ich mich wieder melde, händigen Sie ihm bitte meine Sachen und diesen Zettel aus. Er wird die Rechnung begleichen, falls beiliegende Summe nicht ausreicht. Bronner, Zimmer Zwei.« Darunter, auf Deutsch: »Dicker, denk an den Mond und die Beeren und mach von Marseille aus einen Rundflug! Kümmer dich um meinen Kadaver! William.«
Baltasar steckte kopfschüttelnd den Zettel ein. »Also muß er es verdammt eilig gehabt haben. Wie war das mit der Rechnung?«