Cover

Das Buch

Gerhard Bolschewski weiß noch, was echte Männer ausmacht: Er behält selbst bei 40 km/h auf der linken Spur die Nerven und lässt auch mal den Schnösel mit Rollkoffer am Straßenrand stehen. Er darf das, er ist der Busfahrer. Es soll schon vorgekommen sein, dass er eine Haltestelle auslässt oder mal falsch abbiegt – aber natürlich nie mit Absicht. Und als letztens ein Fahrgast beim Zusteigen gefragt hat, ob der Herr Busfahrer auch ein Bier will, konnte Bolschewski nicht ganz trocken kontern: »Nee, danke, ich hatte schon zwei.«

Der Autor

Gerhard Bolschewski, geboren 1960 in Bitterfeld, kam durch die Wirren der Wende 1989 per Zufall zum Busfahren. Neben der Arbeit spielt er gerne mit seinen Freunden Alwin und Hubertus Skat und singt im Männerchor. Bolschewski lebt in München. Seine heimlichen Leidenschaften sind Augustiner Bräu und 1860 München.

Gerhard Bolschewski

WENN DU

NOCH RENNST,

FAHR ICH

SCHON LÄNGST !

Das geheime Leben der Busfahrer

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Das Leben schreibt die besten Geschichten – aber auch die muss man manchmal in Rücksicht auf persönliche Rechte ein klein wenig ändern. Insbesondere sind keine Verkehrsbetriebe – schon gar nicht in München – vorstellbar, bei denen Derartiges wie hier im Buch passiert.


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Originalausgabe 02/2017

Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlagillustration: © Gerhard Glück
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-17689-1
V002

www.heyne.de

1. Die Wende oder:
Wie alles begann

»Liebe Fahrgäste, es tut mir sehr leid, das ist jetzt etwas unglücklich, aber wie Sie sicher gemerkt haben, wir stecken fest. Ich muss Sie um etwas Geduld bitten. Es geht hoffentlich gleich weiter, aber im Moment tut sich hier leider nichts. Einen kleinen Moment bitte. Ich bin gleich wieder zurück.«

Ich hätte es wissen müssen. Das sah schon von Weitem so eng aus. Wahrscheinlich hätte ich besser jemand anderen um Hilfe gebeten als den Mann mit der dicken Hornbrille.

»Passt das da oben?«, habe ich ihn gefragt, nachdem er einem bemitleidenswerten Studenten auf die Schulter gestiegen war und seinen Kopf durch die Dachluke des Busses gesteckt hatte.

»Ja, passt«, hat er gesagt.

Und dann hat es Rumms gemacht. Und jetzt steht der Bus. Eingekeilt.

Ich seh schon: Rückwärts geht’s hier nicht mehr raus. Die Autos hinter uns am Hupen. Die Leute auf der anderen Fahrbahn bremsen, weil sie noch nie einen Bus unter dieser Brücke gesehen haben und den jetzt natürlich auch fotografieren wollen. Die Fußgänger stehen da mit ihren Smartphones und machen ebenfalls Fotos. Und wir sitzen hier wie Reptilien im Terrarium und werden von allen begafft. Der Alltag im Personennahverkehr.

Eigentlich müssten die Leute hinter uns ja mittlerweile gemerkt haben, dass diese verdammte Brücke durch ihre Huperei auch nicht höher wird.

Oh nein, und jetzt klopfen sie.

»Ja ja, Sie sehen doch, was hier los ist. Nein, es geht jetzt nicht weiter.«

Die würden wahrscheinlich auch hupen, wenn der Bus in die Luft gegangen wäre.

»Ja, sicher. Natürlich kommt die Polizei.«

Will ich jedenfalls hoffen. Irgendwer wird da ja wohl angerufen haben, wenn sie da draußen schon alle stehen mit ihren Smartphones. Am besten wäre natürlich, wenn man jetzt verschwinden könnte. Aber dadurch löst sich das Chaos auch nicht in Luft auf, und wenn ich mich hier klammheimlich aus dem Staub machen würde, bräuchte ich mich morgen erst gar nicht mehr bei der Arbeit blicken zu lassen, und das wäre ja auch schlecht. So ein Unfall passiert ja mal, und dass man sich verfährt, ist ja auch nicht so furchtbar ungewöhnlich. Einmal falsch abgebogen, und schon sieht man, wie eng so eine Stadt ist, wenn man mit einem Linienbus unterwegs ist. Nirgendwo kann man durch, weil es überall zu eng ist. Überall tauchen plötzlich Brücken auf, und manchmal sehen die eben viel höher aus, als sie tatsächlich sind. Umleitungen sind nichts für mich. Edith aus der Zentrale hatte mir die Alternativroute per Funk durchgegeben, und ich hatte natürlich gedacht, dass das auch kürzer geht. Ich kenne doch München mittlerweile wie meine Westentasche. Hatte ich zumindest gedacht. Von wegen ruhiger Job mit geregelten Arbeitszeiten. Nur Probleme hat man als Busfahrer.

Wenn Leute aus dem Büro erzählen, dass ihr Leben sie langweilt, kann ich nur sagen: Meins ist ein Abenteuer. Jeden Tag. Wenn auch oft kein schönes.

Hatte ich mich eigentlich schon vorgestellt?

Mein Name ist Gerhard Bolschewski. Sie können mich aber gerne Gerd nennen. Oder Herr Bolschewski, wie die Fahrgäste. Ich bin 55 Jahre alt und Busfahrer in München. Aber mei, vielleicht fange ich mal ganz von vorne an, damit Sie wissen, wen Sie hier eigentlich vor sich haben und was das Ganze überhaupt soll.

Ich bin nämlich gar kein echter Münchner, müssen Sie wissen, sondern ein Zuagroaster, wie sie hier sagen. Also Zugereister. Dieses Clowns-Deutsch, das die Leute hier sprechen, lerne ich in diesem Leben auch nicht mehr. Geboren wurde ich in der DDR. Genauer gesagt, in Bitterfeld. Kein Witz! Sie kennen Bitterfeld sicher aus dem Fernsehen. Sie nehmen immer Bilder aus meiner Heimat, wenn sie zeigen wollen, wie schlimm das alles war, bevor die Mauer fiel. Alles grau in grau und die Luft so verpestet, dass einem Peking wie ein Luftkurort vorkommt. Na ja, ein bisschen was ist da schon dran, aber eigentlich konnte ich mich nicht beschweren. Ich habe eine schöne Kindheit verbracht in Bitterfeld. Das bisschen Husten und die roten Augen, das soll mir erst mal einer beweisen, dass das vom Braunkohleabbau kommt.

Aber ich schweife ab. Eigentlich wollte ich Ihnen ja die Geschichte erzählen, wie ich nach München gekommen bin. Ans Steuer eines MAN NG 263. Ich erspare Ihnen mal den ganzen Sermon und fange einfach da an, wo es interessant wird: am 9. November 1989. Na, klingelt da was? Genau: Das war der Tag, an dem die Mauer fiel. Da war ich 29. Ich glaube, es war ein schöner Spätherbsttag, aber eigentlich spielt das ja auch keine Rolle. Ich war jedenfalls zu Besuch bei meiner Tante Karin und Onkel Heinz in Ost-Berlin. Ich wollte mal raus aus dem ganzen Alltagstrott und dachte mir, dass ein Besuch in der Hauptstadt der DDR genau das Richtige sei, um mich davon zu erholen, dass meine Freundin Cindy (die Frauen hatten wirklich merkwürdige Namen in der DDR) mich nach neun gemeinsamen Jahren verlassen hatte. Wegen eines Plakats von Katharina Witt, das muss man sich mal vorstellen. Sie war eifersüchtig auf eine Eiskunstläuferin! Gut, ich hatte das schon gerne gesehen, wenn die Kathi im knappen Kostümchen übers Eis geschwebt ist, aber ich habe das Plakat praktisch für meine staatsbürgerliche Pflicht gehalten und es direkt neben das Bild von Erich Honecker über mein Bett gehängt. Aber das wollte sie nicht gelten lassen. Vielleicht lag es auch daran, dass ihr Sandkastenfreund René seinen Trabbi nach neun Jahren endlich geliefert bekommen hatte. Aber wer weiß das schon?

Bei Tante Karin und Onkel Heinz lief eigentlich immer das Westfernsehen, und so guckten wir an diesem Abend die »Tagesschau«. Ich gebe zu, das ein oder andere Gläschen Sambalita hatte ich bereits intus. Ach, Sie wissen gar nicht, was das ist? Sambalita ist ein Maracuja-Schnaps, den es nur in der DDR gab. Und glauben Sie mir: Näher kam man der Südsee nicht, als Zonenbewohner. Wie auch immer. Irgendwann zeigten sie in der »Tagesschau« einen Ausschnitt, in dem Politbüro-Mitglied Schabowski sagte, dass man nun ohne besonderen Anlass in den Westen rüber könne. Und auf die Nachfrage, ab wann das gelte, sagte er: »Sofort«. Glücklicherweise waren meiner Tante just in diesem Moment die INKA-Zigaretten ausgegangen.

»Wart ma, Tantchen«, sagte ich, »ich hol dir rasch neue.«

Mal gucken, was da so los ist, in West-Berlin, dachte ich, das wär’s doch. Tante Karin und Onkel Heinz hatten wohl gar nicht so recht verstanden, was der Schabowski da erzählt hatte, aber ich hatte die Zeichen der Zeit erkannt.

Tatsächlich ließen mich die Grenzer an der Bornholmer Straße ohne Nachfragen passieren. Gut, sie hatten mir den Pass abgenommen, aber was soll’s, dachte ich, der war sowieso im Großteil der Welt wertlos. Es sah gar nicht so viel anders aus im Westen, und ich war tatsächlich ein bisschen enttäuscht. Trotzdem nahm ich jede Sektflasche an, die mir gereicht wurde, und beschloss, mal zum Ku’damm zu fahren. Den kannte ich aus dem Fernsehen. Bloß: Wie sollte ich da hinkommen? Erstaunlicherweise fanden sich schnell ein paar Wessis, die jeden, der von drüben kam, in ihre Autos einluden, um mit uns Ossis mal ’ne kleine Stadtrundfahrt zu unternehmen. Prima, dachte ich, umsonst zum Ku’damm, da kann man wirklich nicht meckern.

Petra und Jürgen, so hieß das Paar, das mich in seinen Opel Rekord geladen hatte, boten mir an, mich wieder zurück zur Grenze zu fahren. Aber ich lehnte freundlich ab. Wo ich schon mal hier bin, dachte ich, kann ich mir auch alles ansehen. Zurück in den Osten konnte ich ja immer noch. Schön bunt war es hier, das musste ich zugeben. Aber auch hektisch und unübersichtlich. Die Busse rauschten vorbei, und ich wurde beinahe sekündlich angerempelt. Ich ging durch das Lichtermeer und landete irgendwann in einer Spelunke namens »Hanne am Zoo«. Die Luft war stickig. Ich setzte mich trotzdem an den Tresen. Irgendwie erinnerte mich der Dunst an zu Hause, an die gute Bitterfelder Luft. Ich wollte dem Wirt gerade erklären, dass ich meine Geldbörse daheim vergessen hatte, als er rief: »Nee, kiek ma einer an. Is die Mauer grad ma een paar Stündchen uff, da sitzt da erste Ossi bei mich inna Kneipe. Komm Bruda, dit Schultheiß jeht auf’s Haus.« Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, plötzlich wurde ich von wildfremden Menschen eingeladen. Vor allem konnte ich mir gar nicht erklären, wie sie mich so schnell als Bürger der DDR erkannt hatten. Ob es an meiner Moonwashed-Jeansjacke lag? Ich konnte gar nicht so schnell trinken, wie neue Biere und Schnäpse vor mir auf dem Tresen gestellt wurden. »Ihr seid gar nicht so, ihr Wessis«, sagte ich irgendwann und umarmte lachend meine Nebenleute.

Nur ein Gast schien so gar kein Interesse am Feiern zu haben. Ich hörte ihn am Telefon schluchzen: »Ich kann doch auch nichts dafür, Schatz. Kann man das denn wirklich nicht verschieben? … So hab ich’s doch nicht gemeint, ich … Aufgelegt«. Er knallte den Hörer auf, kam an den Tresen und ließ sich auf einen Hocker sinken. Dann verschränkte er die Arme auf dem Tresen und vergrub seinen Kopf darin.

»Was is’n?«, fragte ich ihn. »Die Mauer is auf, und du bläst Trübsal?«

Er drehte den Kopf zu mir und schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an.

»Na, du hast gut reden. Bist grad raus ausser Zone, kannst aber nach Hause, wann’s dir passt. Ich sitze hier fest. Und morgen soll ich heiraten.«

Ich verstand nur Bahnhof. Der frustrierte Mann erklärte mir, dass er mit seinen Freunden und Arbeitskollegen zu seinem Junggesellenabschied eine Busreise von München nach West-Berlin unternommen habe. West-Berlin hatte damals ja keine Polizeistunde, deshalb hätten sie sich dieses Reiseziel ausgesucht. Es habe auch alles ganz schön angefangen. Charlottenburg sei der Wahnsinn gewesen, von Kreuzberg ganz zu schweigen. So was kenne man in München ja überhaupt nicht, erzählte er: Leichtbekleidete Damen mitten im November und keine Sperrstunde. Und dann die Preise für Bier und Schnaps. Sagenhaft. Kein Vergleich zu München oder zum Ruhrgebiet, wo er aufgewachsen war. Sie hätten sich gefühlt wie im Paradies. Nur sei eben irgendwann diese dumme Geschichte mit dem Schabowski passiert. Ihr Busfahrer sei regelrecht durchgedreht, als er die Nachricht gehört habe. Er müsse wohl Verwandtschaft in der Zone haben und gleich rübergedüst sein. Jedenfalls sei er seit Stunden verschwunden, und der Termin am Standesamt München sei morgen Nachmittag um 16 Uhr. Um 22 Uhr hätten sie losfahren wollen, um rechtzeitig, mit genügend Puffer vor der Trauung, in München zu sein. Mittlerweile war es nach Mitternacht.

»Ja, und nun stecken wir hier fest. 20 Mann, ’nen schönen Setra S 215 vor der Tür und niemanden, der uns in der Scheißkarre nach Hause fährt. Und meine Frau, ich meine, meine zukünftige, na, Sie wissen schon … Die jedenfalls dreht total durch. Haben ’se ja vielleicht grad gehört da am Telefon und … na ja, die Verpackungsfabrik von meinem Vater, die erbe ich nur, wenn ich … «

»Augenblick«, unterbrach ich ihn, »ein Setra ist ein Bus?«

»Ja, was denkst du denn? Aber was hilft das?«

»Kein Problem«, sagte ich mit breiter Brust, »ich fahr euch!« Ich weiß nicht, ob es der Alkohol war, der aus mir sprach, aber ich erzählte dem Fremden, dass ich jahrelang für die Leipziger Verkehrsbetriebe gefahren sei und es überhaupt kein Problem für mich sei, einen Bus zu steuern. Dass ich nicht mal einen Führerschein, geschweige denn einen Busführerschein hatte, erwähnte ich lieber nicht. Stattdessen dachte ich mir: Mensch, Gerd, günstiger kommst du nicht nach München. Oktoberfest, Dirndl, Weißbier. Das kannte ich ja alles aus dem Westfernsehen, und wie schwer konnte das schon sein, so einen Bus zu fahren? Während meines Wehrdienstes bei der NVA, also der Nationalen Volksarmee, hatte ich schließlich Übungsfahrten in einem M48-Panzer gemacht und dabei keinen Unfall gebaut.

Und überhaupt. Wir aus der DDR konnten damals alles fahren, was vier Räder oder eine Panzerkette hatte. Führerschein hin oder her. Ich hätte mich vermutlich auch in einem russischen Atom-U-Boot zurechtgefunden. Wenn man das Prinzip einmal verstanden hat, geht es nur noch um Kleinigkeiten. Wenn Sie schon mal auf ’nem Aufsitzmäher gesessen haben, ist auch ein Sattelschlepper schnell kein Problem mehr, glauben Sie mir, oder probieren Sie’s doch mal aus.

Was mir mehr Sorgen machte, war der Führerschein. Beziehungsweise der nicht vorhandene Führerschein. Dann aber dachte ich, dass die Berliner Polizei an einem Abend wie heute erstens vermutlich Besseres zu tun hatte, als einen Reisebus aus München zu kontrollieren, und zweitens wohl ein Auge zudrücken würde, wenn sie einen Ossi antraf, der auf die Freiheit das ein oder andere Bier zu viel getrunken hatte. Außerdem: Einen Führerschein, den es gar nicht gab, konnten sie mir ja auch nicht wegnehmen. So gelang es meinem alkoholverhangenen Hirn, mich zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass bei diesem Wahnsinn gar nichts weiter dabei sei.

»Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte der Fremde. »Ich heiße Huber, Manfred Huber.«

»Na dann machen wir uns mal auf den Weg, Manni. Ich bin übrigens der Gerd.« Manfred sah mich an und grinste: »Dann wollen wir mal sehen, wie wir die Kiste flottkriegen.«

Wir gingen gemeinsam raus aus der Kneipe zum Bus, den sie am Bahnhof Zoo abgestellt hatten. Ich weiß nicht, wie Manni es schaffte, aber nach wenigen Handgriffen öffnete sich tatsächlich die Tür des riesigen Reisebusses. Manni deutete mit einer einladenden Geste auf die offene Tür: »Na dann mal los, Käpt’n!«, sagte er, und ich ging die drei Stufen hinauf. Verglichen mit einem NVA-Panzer war das hier der pure Luxus.

»Ich muss erst mal alles auf die Verkehrstüchtigkeit überprüfen«, sagte ich zu Manni, um mich einmal überall umzusehen. Ich schritt die Reihen ab und fasste mit der Hand vorsichtig auf die gemusterte Polsterung der Sitze. Edel-Velours! Solche Sitze hatten wir in der DDR nicht einmal im schönsten Kino von Ost-Berlin, geschweige denn in einem Bus. Erst Jahre später sollte ich lernen, dass die schöne Musterung der Sitze nicht in erster Linie das Auge erfreuen soll, sondern dazu dient, dass man Kaugummi- und Kotzflecken, die sich im Laufe der Zeit unweigerlich im Sitzpolster verewigen, nicht so genau sieht.

Als ich etwa in der Mitte des Busses angekommen war, traute ich meinen Augen nicht. An der Decke war tatsächlich ein Fernsehapparat mit Videorekorder angebracht! Der Westen war noch viel dekadenter, als ich es mir jemals vorgestellt hatte.

»Sach ma Gerd, wir müssen mal los, oder?«, hörte ich Manni aus dem vorderen Teil des Busses rufen. Und er hatte ja recht. Ich setzte mich hinters Steuer. Die beiden Lenkstangen des Panzers suchte ich vergeblich, aber das überraschte mich nicht. Ich war zwar ein Ossi, aber kein Idiot! Über die Größe des Lenkrads war ich aber doch ein wenig erschrocken. Ich fühlte mich, als sei ich hinter einem runden Kneipentisch eingeklemmt. »Du Manni, ich hab keine Ahnung, wie man das Ding hier kurzschließt«, musste ich zugeben, nachdem ich gesehen hatte, dass kein Schlüssel im Zündschloss steckte.

Manni klappte die Sonnenblende herunter und zog den Reserveschlüssel hervor: »Willkommen im Westen, wo es sogar Schlüssel im Überfluss gibt«, sagte er und grinste.

Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Der Motor brummte. Ich gab Gas, und der Motor heulte auf. Manni sah mich skeptisch an. »Wollte nur mal sehen, was der unter der Haube hat«, log ich. In Wahrheit hatte ich keinen Gang eingelegt. Ich drücke ein paar Knöpfe, zog hier und da an einem Hebel und war erleichtert, als irgendwann die Scheinwerfer angingen. Ich hatte großes Glück, dass die Gänge auf dem Schaltknüppel eingezeichnet waren. Bei einem Trabbi schaltete man nach Gefühl irgendwohin, das hatte zumindest mein Vater immer gesagt, und soweit ich das von der Rückbank erkennen konnte, hatte er recht. Na ja, und im Panzer hatte ich die Gangschaltung nie gebraucht.

Als ich den Bus stotternd zurücksetzte, piepte es in gleichmäßigem Abstand. Da Manni aber entspannt auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, dachte ich mir nichts dabei. Und tatsächlich, das Piepen verstummte, als ich den ersten Gang einlegte und wir im Schneckentempo vom Parkplatz fuhren.

Nun galt es, die Reisegruppe in der Stadt einzusammeln. Manni tippte auf den Stuttgarter Platz und die Kurfürstenstraße. Tatsächlich fanden wir nach und nach alle seine Freunde und Bekannten in den umliegenden Bordellen und Bars. Bei einigen hielt sich die Freude darüber, dass Manni den Bus zum Laufen bekommen hatte, komischerweise in Grenzen. Die Stimmung im Bus war eher gedrückt, als ich ihn unter Mannis Anweisungen auf die Stadtautobahn lenkte. Ich hatte mich mittlerweile einigermaßen an die Steuerung gewöhnt und beschloss, zur Auflockerung eine Kassette einzulegen. Ich behielt meine Augen auf der Straße und griff wahllos in den Haufen Kassetten, der auf dem Armaturenbrett lag. »Skandal im Sperrbezirk« von der Spider Murphy Gang tönte kurz darauf durch den Bus. Das sorgte bei einigen meiner Fahrgäste zwar für weitere Missstimmung, weil es sie an ihr soeben abrupt unterbrochenes Abenteuer erinnerte, bei mir aber ließ es die Vorfreude auf München und seine Verheißungen nur noch mehr steigen.

Neun Stunden und etwa 300 Kilometer durchlöcherte Landstraße später – von den blühenden Landschaften bzw. den Soli-finanzierten Straßen und Autobahnen, die Sie heute kennen, waren wir damals noch weit entfernt – kamen wir endlich an der bayrischen Landesgrenze an. Von Lenkzeiten hatte ich damals noch nichts gehört, aber so müde war ich gar nicht. War das ein Hallo unter den Fahrgästen, als ich an der ersten Raststätte hinter der Grenze rausfuhr. Ich hatte den Motor noch nicht ausgeschaltet, da stürmten schon alle ins Freie Richtung Klohäuschen. Mir war das auch ganz recht, die Stimmung im Bus hatte schon darunter gelitten, dass ich nicht wusste, wie man die Bordtoilette entriegelt. Die böse Überraschung kam, als ich den Bus nach der Rast wieder anlassen wollte – der Motor blubberte kurz, aber weiter geschah nichts. Gut, dass ich Manni dabeihatte. Der warf einen Blick aufs Armaturenbrett, das ich auch nach 300 Kilometern immer noch recht verwirrend fand, und wies mich auf das seit einiger Zeit beharrlich rot leuchtende Lämpchen hin: »Mensch Gerd, du musst mal tanken!« Tanken, ja. Hm. Das mussten wir mit dem Panzer natürlich nie.

Von West-Schokoriegeln und Würstchen gestärkt, fanden die Fahrgäste auch nichts dabei, den Bus die paar Hundert Meter zur Zapfsäule zu schieben. Manni half mir bei der Auswahl des passenden Kraftstoffs (davon hatte ich ja auch keine Ahnung). 80 Liter Diesel schluckte der Tank, das machte auf der Uhr knappe 120 DM West. In dem Moment fiel mir siedend heiß ein, dass ich aber keine einzige DM West besaß. Die Fahrgäste mussten ein zweites Mal in die Bresche springen. Manni ging mit seiner Mütze durch den Gang und sammelte von jedem fünf Mark ein. Passend hatte es so gut wie keiner, und so ging die Rechnerei los. Hinter uns an der Zapfsäule hatte sich bereits eine beachtliche Schlange aus Bussen und LKWs gebildet, und die ersten Fahrer fingen an zu hupen. Ich konnte durch die Scheibe sehen, wie die junge Frau im Kassenhäuschen entgeistert zu uns blickte und den Kopf schüttelte. Von hinten hörte ich, wie sich ein Freund von Manni darüber beschwerte, dass er 15 Mark zu wenig rausbekommen hätte, als ich im Rückspiegel sah, wie einer der Brummi-Fahrer aus seinem Führerhäuschen stieg.

Trotz der eisigen Temperaturen trug der Mann nur ein versifftes Unterhemd und eine Lederweste. Er hatte sich offenbar seit Tagen nicht rasiert, und auf seinen enormen Oberarmen prangten Dutzende von Tätowierungen. Die Fahrgäste mussten ihn auch schon gesehen haben, denn plötzlich spielten die 15 Mark Wechselgeld offenbar keine Rolle mehr. »Fahr los, Mann!«, brüllte einer. »Mach bloß die Tür zu«, ein anderer. Der LKW-Fahrer klopfte mit seinem mächtigen Siegelring gegen mein Seitenfenster. »Entschuldigen Sie die Störung, aber ich habe Tulpen aus Amsterdam geladen, die heute früh noch auf den Viktualienmarkt geliefert werden müssen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Platz an der Zapfsäule demnächst zu räumen?«, erkundigte er sich. Oh! Ich war kurz baff, mit solch ausgesuchter Höflichkeit hatte ich jetzt gar nicht zwingend gerechnet.

Dann dachte ich: Tulpen? Für den Viktualienmarkt? Lag der nicht in München? Das war ein Zeichen!

Stammelnd und angemessen zerknirscht erläuterte ich ihm das Problem. Kaum hatte er erfahren, woher ich kam und wie ich auf diese Tankstelle geraten war, hellte sich sein Gesicht schlagartig auf. »Ein Ossi? Gerade über die Mauer geklettert sozusagen? Junge, komm an mein Herz! Klar habt ihr da drüben einen anderen Zeitbegriff als wir im Westen, andere Zeitzone, hahahaha!« So flugs, wie ich es ihm bei seiner Körpermasse nicht zugetraut hätte, kletterte er in seinen Truck und kam mit einer Flasche Bier und einem angeschmolzenen Schokoriegel zurück. »Hier, dass du mir nicht vom Fleisch fällst, und so was Gutes hattet ihr ja eh nicht. Ein echter Ossi. Ich werd nicht wieder.« Kichernd entfernte er sich, und ich machte, dass ich den Fuß aufs Gaspedal bekam. Manni hatte in der Zwischenzeit bezahlt.

Als wir die Stadtgrenzen von München erreichten, wurde es schon wieder dunkel. Ich hatte 16 Stunden hinter dem Steuer gesessen. (Ja, die Fahrt hatte sich gezogen. Sie glauben gar nicht, wie oft 20 Herren im besten Alter unterwegs auf die Toilette müssen, und ich traute mich einfach nicht, jemanden zu bitten, mir bei der Bordtoilette zu helfen.) Der Fahrersitz war schon ein bisschen mein Zuhause geworden, aber ich war froh, bald wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ich parkte den Bus im Depot am Ostbahnhof. Als ich den Motor ausgeschaltet hatte, brandete Applaus auf. Das gefiel mir gut. Ich fühlte mich wie ein Pilot, der sein Flugzeug sicher gelandet hatte. Ich stieg aus. Hinter mir schloss sich die Tür. Ich stand vor dem Depot, war geschafft und sehr müde. Ich wollte nur noch nach Hause. Aber ich hatte kein Zuhause. Jedenfalls nicht hier.

Den Bus konnte ich schlecht nehmen. Den hatte ich ja gerade abgestellt. Also folgte ich dem Laternenlicht, an einer Hecke vorbei in eine Wohnsiedlung. An der ersten Kreuzung, nur ein paar Meter vom Busbahnhof entfernt, sah ich hinter einer Einmündung eine Leuchtreklame: »Die Haltestelle«. Von außen war nicht viel zu sehen, aber es brannte noch Licht. Ich drückte die Tür auf, ging einen Schritt hinein und stand direkt vor einer Theke. Wimpel, Pokale, irgendwelcher Kitsch an der Wand. Auf Barhockern zwei Männer mit Hosenträgern. Polierte Glatze, Lederweste. Eine dicke Frau mit einem Vogel-Tattoo im Dekolleté sah mich an, als hätte sie schon auf mich gewartet. Das sah jetzt nicht so richtig einladend aus, und ich war noch gar nicht sicher, ob ich bleiben wollte, da stand schon ein Bier auf dem Tresen.

»Oh, schönen Dank«, sagte ich. Die dicke Frau sah mich an, als würde ich mit mir selbst reden. Der Mann mit der Lederweste griff mit der linken Hand nach dem Glas und zog es zu sich rüber, ohne hinzusehen.

»Auch eins?«, fragte sie, wartete aber gar nicht auf meine Antwort, dann stand da schon das nächste Bier.

»Schönen Dank«, sagte ich, und der mit der Lederweste schnappte sich erneut mit der linken Hand das Glas und stellte es seinem Kollegen vor die Nase.

»Und?«, fragte sie.

»Bier«, sagte ich.

Der Typ mit der Lederweste drehte sich zu mir um, musterte mich.

»Ois kloar bei dir?«

»Ja ja, alles in Ordnung. War wohl ’n bisschen zu lang, der Tag.«

»Woher kimmst’n?«

»Ich war stundenlang mit dem Bus unterwegs.«

»Och, wos du net sogst.«

»Sieht man das?«, fragte ich unsicher.

»Des net«, sagte der Mann. Ich zog den Hocker zu mir rüber, setzte mich an die Theke und trank einen Schluck. »Aber mir san alle Busfahrer«, sagte er.

»Ach«, sagte ich.

Und dann fing auch der mit der Glatze an zu sprechen.

»I bin die 14«, sagte er.

So exakt konnte ich gar nicht sagen, wer ich war, aber wir verstanden uns trotzdem ganz gut. Dann fiel mir wieder ein, dass ich nach Hause wollte, das aber nicht ging, weil ich hier kein Zuhause hatte. Die Dicke mit dem Tattoo, Jenny, bot mir an, ich könnte auch bei ihr schlafen. Aber der Glatzköpfige fiel ihr gleich ins Wort und stellte klar, dass er mich mitnehmen würde. Ich war plötzlich sehr begehrt und erfuhr erst später auf dem Weg nach Hause, was mich bei Jenny zu Hause erwartet hätte. Sie hatte ein Faible für Busfahrer, und offenbar mussten sehr viele bei ihr Station machen.

Der Glatzköpfige hieß Walther. Ich war ihm sehr dankbar, konnte das aber nicht mehr ausdrücken. Günther, der andere, schlug mir auf die Schulter. Ich verlor das Gleichgewicht, wankte und kippte in ein Beet. Walther schimpfte mit Günther, der Walther ebenfalls Vorwürfe machte. Mir war gar nichts passiert, aber jetzt waren sie noch etwas hilfsbereiter als vorher. Der eine stützte mich links, der andere rechts. Das war gar nicht nötig, in meinem Zustand aber ganz angenehm. Also sagte ich nichts. Irgendwann luden sie mich auf einem Gästebett ab. Ich schlief sofort ein und wachte gleich wieder auf, weil mir die Sonne ins Gesicht leuchtete. Dazwischen hatten gut elf Stunden gelegen.

Beim Frühstück erzählte Walther, sie hätten sich schon Sorgen gemacht, ob ich die Nacht überhaupt überleben würde. Dass ich das geschafft hatte, schien ihnen zu imponieren. Wo ich herkäme und warum sie mich noch nie gesehen hätten, wo wir doch Kollegen waren, wollten sie wissen. Als ich meine Geschichte erzählt und klargemacht hatte, dass ich einigermaßen verzweifelt war in der fremden Stadt, sagte Walther: »Is doch jetztat wohl kloar, wie des weitergeht.«

»Ja, wie denn?«, fragte ich.

»Na, du musst Busfahrer werden.«

Davon war auch Günther überzeugt, und beide fingen an, vom Busfahrer-Spirit zu schwärmen. Vom Teamgeist. Von aufregenden Nachtschichten. Vom neuen Solar-Gelenkbus. Und irgendwas muss mich geritten haben, direkt am nächsten Tag eine Bewerbung, die ich auf Walthers Schreibmaschine geschrieben hatte, in den Briefkasten zu werfen.

Die nötigen Passfotos hatte ich am Bahnhof in einem Automaten gemacht. Walther hatte mir 50 Mark in die Hand gedrückt und gesagt: »Gibst mir von deinem ersten Lohn zurück.« Er schien absolut überzeugt zu sein, dass sie mich nehmen würden. Auf dem Weg vom Bahnhof zurück zu Walthers Wohnung sammelte ich erste Eindrücke von München. Und je mehr ich von der Stadt sah, umso mehr hoffte ich, dass er recht behalten würde.

Ich hatte nicht mal Zeit, die Bewerbung zu vergessen, denn schon zwei Tage später rief Helmut Mohrmann an, Verkehrsbetriebe München.

»Wir wollen Sie einladen«, sagte er.

»Das ist aber nett«, antwortete ich. Er ging nicht weiter darauf ein und fragte gleich: »Haben Sie morgen Zeit?«

»Oha, das geht aber schnell.«

»Wir sind nun mal von der schnellen Truppe«, sagte er.

So schnell war die Truppe dann aber offenbar doch nicht. Am nächsten Morgen wartete ich fast zehn Minuten auf die Linie 5, die mich zur Zentrale der Verkehrsbetriebe bringen sollte. Dann fuhr sie endlich vor. Die Tür öffnete sich.

»Viel los?«, fragte ich beim Einsteigen.