Inhaltsverzeichnis
Für meine Familie
Roberta, Caroline, Gordon & Karen
PROLOG
Am St. Patrick’s Day (17. März) des Jahres 1996 fährt Daniel Coleman, ein Mitarbeiter des New Yorker FBI-Büros, der für Ermittlungen im Ausland zuständig ist, nach Tysons Corner in Virginia, um eine neue Stelle anzutreten. Die Gehsteige sind noch unter dicken Schneewehen begraben nach dem Blizzard, der vor ein paar Wochen gewütet hat. Coleman betritt ein unauffälliges Regierungshochhaus, das Gloucester Building, und fährt mit dem Aufzug in den fünften Stock, sein Ziel: die so genannte Alec Station.
Andere CIA-Stationen befinden sich in den jeweiligen Ländern, für die sie zuständig sind; Alec ist die erste „virtuelle“Station und liegt nur wenige Kilometer von der Zentrale in Langley entfernt. Im Organisationsschema erscheint sie mit der Bezeichnung „Finanzielle Verbindungen der Terroristen“und wird als eine Unterabteilung des Counterterrorism Center der CIA geführt, doch in der Praxis widmet sie sich den Aktivitäten eines einzigen Mannes, der sich als wichtiger Finanzier des Terrorismus einen Namen gemacht hat: Osama Bin Laden. Coleman hat erstmals 1993 von ihm gehört, als in einer ausländischen Quelle von einem „saudischen Prinzen“die Rede war, der eine Zelle radikaler Islamisten unterstütze, die Anschläge auf bekannte Plätze in New York geplant hatten, wie beispielsweise auf das Gebäude der Vereinten Nationen, den Lincoln- und den Holland-Tunnel und auf Federal Plaza Nr. 26, das Gebäude, in dem Coleman bislang gearbeitet hat.
Die Alec Station hat bereits 35 Ordner mit Material über Bin Laden gesammelt, überwiegend Transkriptionen von Telefonaten, die von den elektronischen Ohren der National Security Agency (NSA) belauscht worden sind. Coleman erscheint dieses Material redundant und wenig aussagekräftig. Dennoch legte er eine Akte über Bin Laden an, vor allem als Platzhalter, falls sich herausstellen sollte, dass doch etwas mehr hinter dem „Islamistenfinanzier“steckt.
Wie viele seiner Kollegen wurde auch Coleman vor allem für den Einsatz im Kalten Krieg ausgebildet. 1973 kam er als Sachbearbeiter zum FBI. Den gebildeten und wissbegierigen Mann zog es zur Spionageabwehr. In den achtziger Jahren war er damit beauftragt, in der vielköpfigen Diplomatengemeinde rund um die Vereinten Nationen kommunistische Spione zu rekrutieren; ein Attaché aus der DDR erwies sich als besonders ergiebige Quelle.
Nach dem Kalten Krieg wurde Coleman in eine Gruppe versetzt, die sich mit dem Terrorismus im Nahen Osten befasste. Auf diese neue Aufgabe war er völlig unzureichend vorbereitet, was jedoch für die gesamte Bundespolizei galt, die den Terrorismus eher als ein lästiges Ärgernis betrachtete, denn als eine reale Gefahr. In diesen unbeschwerten Tagen nach dem Fall der Berliner Mauer konnte man sich kaum vorstellen, dass den USA jemals wieder ein ernst zu nehmender Feind erwachsen könnte.
Doch dann erklärt Osama Bin Laden im August 1996 aus einer Höhle in Afghanistan Amerika den Krieg. Als Grund dafür nennt er die fortdauernde Anwesenheit US-amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien auch fünf Jahre nach dem Ende des Golfkriegs. „Euch zu terrorisieren, während ihr in unserem Land Waffen tragt, ist legitim und unsere moralische Pflicht“, verkündet er. Bin Laden behauptet, im Namen aller Muslime zu sprechen, und spricht in seiner ausführlichen Fatwa sogar den damaligen US-Verteidigungsminister William Perry persönlich an. „Ich versichere dir, William, dass diese jungen Leute den Tod genau so lieben, wie ihr das Leben liebt … Diese jungen Menschen werden dich nicht um Erklärungen bitten. Sie werden dir singend erwidern, dass es zwischen uns nichts zu erklären gibt, es gibt nur Töten und Nackenschläge.“
Außer Coleman interessiert sich in Amerika kaum jemand – auch nicht im FBI – für den saudischen Rebellen. Aus den 35 Ordnern in der Alec Station ergibt sich das Bild eines sendungsbewussten Milliardärs, der aus einer weitverzweigten, einflussreichen Familie stammt, die eng mit dem saudi-arabischen Königshaus verbunden ist. Er hat sich im Dschihad gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan hervorgetan. Aufgrund seiner historischen Kenntnisse weiß Coleman, dass Bin Laden in seinem Schlachtruf auf die Kreuzzüge und die frühen Kämpfe des Islams anspielt. Besonders auffällig an dem Dokument ist, dass die Zeit vor 1000 Jahren stehen geblieben zu sein scheint. Es gibt ein Jetzt, und es gibt ein Damals, doch dazwischen ist nichts. In Bin Ladens Welt, so scheint es, sind die Kreuzzüge noch immer nicht beendet. Auch der blinde Hass erscheint Coleman nur schwer begreiflich. Was haben wir ihm nur angetan?, fragt er sich.
Coleman zeigt Bin Ladens Fatwa Staatsanwälten aus dem Büro des US-Bundesanwalts für den Südlichen Distrikt des Staates New York. Es ist ein eigenartiges, skurriles Dokument, aber ist sein Inhalt auch strafbar? Die Anwälte brüten über dem Text und graben schließlich ein nur selten herangezogenes Gesetz über aufrührerische Verschwörungen aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs aus, in dem die Aufstachelung zur Gewalt und der Versuch, die US-Regierung zu stürzen, unter Strafe gestellt werden. Es erscheint einigermaßen gewagt, dieses Gesetz auf einen staatenlosen Saudi anzuwenden, der in einer Höhle in Tora Bora haust, doch trotz dieser dürftigen Rechtsgrundlage legt Coleman eine Strafakte über jenen Mann an, der später zur meistgesuchten Person in der Geschichte des FBI werden wird. Immer noch arbeitet er ganz allein.
Einige Monate später, im November 1996, reist Coleman zusammen mit den US-Anwälten Kenneth Karas und Patrick Fitzgerald zu einem US-Militärstützpunkt in Deutschland. Dort wird ein verängstigter sudanesischer Informant namens Dschamal al-Fadl in Gewahrsam gehalten, der behauptet, in Khartoum für Osama Bin Laden gearbeitet zu haben. Coleman hat einen Ordner mit Fotos von Bin Ladens bislang bekannten Mitstreitern dabei, und Fadl identifiziert schnell die meisten von ihnen. Der Mann will natürlich seine Story verkaufen, aber er kennt diese Leute zweifellos. Das Problem ist nur, dass er den Ermittlern immer wieder Lügen auftischt, seine Geschichte aufbauscht und sich als Helden darzustellen versucht, der immer nur das Richtige tun wollte.
„Warum sind Sie weggegangen?“, wollen die Ermittler von ihm wissen.
Fadl antwortet, weil er Amerika liebe. Er habe in Brooklyn gelebt und spreche Englisch. Dann erklärt er, er habe sich abgesetzt, damit er einen Bestseller schreiben könne. Er wirkt unruhig, es fällt ihm schwer, stillzusitzen. Offensichtlich weiß er noch sehr viel mehr. Erst nach mehreren Tagen hört er mit seinen Fantastereien auf und gibt zu, dass er Bin Laden mehr als 100 000 Dollar gestohlen habe und damit geflohen sei. Bei diesem Geständnis schluchzt er unaufhörlich. Das ist der Wendepunkt des Verhörs. Fadl erklärt sich bereit, als Zeuge der Regierung aufzutreten, sollte es irgendwann zu einem Prozess kommen, was allerdings mehr als unwahrscheinlich ist angesichts der wenig schwerwiegenden Beschuldigungen, die die Staatsanwälte ins Feld führen können.
Dann beginnt Fadl von sich aus über eine Organisation namens al-Qaida zu sprechen. Die Männer im Verhörraum haben diesen Begriff vorher noch nie gehört. Fadl berichtet von Ausbildungslagern und Schläfer-Zellen. Er spricht davon, dass Bin Laden daran interessiert sei, sich nukleare und chemische Waffen zu verschaffen. Er sagt, dass al-Qaida für einen Bombenanschlag 1992 im Jemen verantwortlich gewesen sei und für die Ausbildung von Aufständischen, die im selben Jahr in Somalia einige amerikanische Hubschrauber abgeschossen haben. Er nennt Namen und skizziert den Aufbau der Organisation. Die Ermittler sind verblüfft über Fadls Aussagen. Zwei Wochen lang gehen sie jeden Tag sechs oder sieben Stunden lang die Einzelheiten immer wieder durch und überprüfen seine Antworten, um herauszufinden, ob seine Angaben verlässlich sind. Fadl verwickelt sich kein einziges Mal in Widersprüche.
Zurück in den USA, scheint sich niemand sonderlich für die Geschichte zu interessieren. Fadls Erklärungen seien zweifellos beunruhigend, heißt es, aber wie könne man der Aussagen eines Diebes und Lügners Glauben schenken? Zudem gibt es andere, dringendere Ermittlungsverfahren.
Eineinhalb Jahre lang setzt Coleman seine einsamen Ermittlungen zu Osama Bin Laden fort. Weil er der Alec Station des CIA zugeordnet ist, vergisst man ihn im FBI mehr oder weniger. Mit Hilfe abgehörter Telefonate kann Coleman eine Karte des al-Qaida-Netzwerks erstellen, das sich über den Nahen Osten, Afrika, Europa und Zentralasien erstreckt. Beunruhigt stellt er fest, dass viele von jenen, die mit al-Qaida kooperieren, Verbindungen in die Vereinigten Staaten haben. Coleman zieht daraus den Schluss, dass es sich um ein weltweites Terrornetz handelt, das entschlossen ist, Amerika zu vernichten, doch er kann seine Vorgesetzten nicht einmal dazu bewegen, seine diesbezüglichen Telefonanrufe zu erwidern.
Coleman muss sich alleine mit all den Fragen beschäftigen, die sich später alle stellen werden. Wo ist diese Bewegung entstanden? Warum will sie Amerika zerstören? Und was kann man tun, um sie aufzuhalten? Er kommt sich vor wie ein Labortechniker, der ein bislang unbekanntes Virus untersucht. Unter dem Mikroskop werden al-Qaidas todbringende Eigenschaften deutlich sichtbar. Die Gruppe ist klein – zu der Zeit gerade mal 93 Mitglieder -, doch sie gehört zu einer größeren radikalen Bewegung, die den Islam vor allem in der arabischen Welt erfasst hat. Es besteht die große Gefahr, dass sie sich immer weiter ausbreitet. Die Männer, die diese Gruppe gegründet haben, sind gut ausgebildet und kampferprobt. Sie verfügen anscheinend über beträchtliche finanzielle Mittel. Zudem sind sie ihrer Sache fanatisch ergeben und davon überzeugt, dass sie siegen werden. Sie werden von einer Philosophie geleitet, die sie so stark in den Bann geschlagen hat, dass sie aus freien Stücken, ja sogar mit Begeisterung ihr Leben dafür zu opfern bereit sind. Doch bis dahin wollen sie so viele Menschen wie möglich in den Tod schicken.
Am erschreckendsten an dieser neuen Bedrohung ist jedoch die Tatsache, dass niemand sie ernst nimmt. Sie erscheint als zu grotesk, zu primitiv und zu exotisch. Aufgrund der Zuversicht der Amerikaner, dass die Moderne, die Technologie und ihre Ideale sie vor den zügellosen Barbaren schützen werden, wirken die herausfordernden Gesten Osama Bin Ladens und seiner Mitstreiter absurd, gar lächerlich. Doch al-Qaida ist mehr als ein Überbleibsel aus dem Arabien des 7. Jahrhunderts. Die Gruppe hat gelernt, sich moderner Instrumente und moderner Ideen zu bedienen, was nicht überrascht, denn die Geschichte al-Qaidas begann in Amerika, und zwar vor nicht allzu langer Zeit.
1 DER MÄRTYRER
In einer Kabine der ersten Klasse auf einem Kreuzfahrtschiff, das vom ägyptischen Alexandria nach New York unterwegs war, durchlebte der Autor und Lehrer Sajid Qutb1, ein schmächtiger Mann in mittleren Jahren, eine Glaubenskrise. „Soll ich nach Amerika reisen wie ein normaler Student mit einem Stipendium, der sich nur für Essen und Schlafen interessiert, oder soll ich etwas Besonderes sein?“, überlegte er. „Soll ich an meinem islamischen Glauben festhalten angesichts der mannigfaltigen Versuchungen der Sünde oder soll ich all diesen Verlockungen erliegen, die mich umgeben?“2 Das war im November 1948. Die neue Welt erhob sich am Horizont, sieghaft, reich und frei. Hinter ihm lag Ägypten, versunken im Elend und in Tränen. Der Reisende hatte sein Heimatland zuvor noch nie verlassen. Und er war auch jetzt nicht freiwillig gegangen.
Der nachdenkliche Junggeselle war ein schlanker, dunkelhaariger Mann, hatte eine fliehende Stirn und einen Schnurrbart schmal wie ein Pinselstrich. In seinen Augen lag etwas Herrisches und leicht Verschlagenes. Er wirkte stets sehr förmlich und bevorzugte trotz der heißen ägyptischen Sonne dreiteilige dunkle Anzüge. Für einen Mann, der so viel auf sich hielt, musste die Aussicht, mit 42 Jahren wieder die Schulbank zu drücken, demütigend sein. Andererseits hatte er das bescheidene Ziel, dass er sich einst als Junge in dem kleinen, aus Lehmhütten bestehenden Dorf in Oberägypten gesetzt hatte, nämlich ein geachteter Angestellter des öffentlichen Dienstes zu werden, längst übertroffen. Durch seine literaturkritischen und politischen Texte war er einer der bekanntesten Autoren des Landes geworden. Dies hatte ihm auch den Zorn von König Faruk I. eingetragen, des prunksüchtigen ägyptischen Herrschers, der seine Verhaftung angeordnet hatte. Einflussreiche Freunde hatten dafür gesorgt, dass er das Land verlassen konnte.3
Zu dieser Zeit hatte Qutb („kuh-tub“ausgesprochen) einen guten Posten im Bildungsministerium inne. Er war ein glühender Nationalist und Antikommunist und vertrat damit dieselben politischen Ansichten wie der Großteil der Beamtenschaft.
Die Ideen, aus denen schließlich der islamische Fundamentalismus hervorgehen sollte, waren in seinem Geist noch nicht vollständig ausgereift; er erklärte später sogar, er sei bis zu seiner Reise gar kein sonderlich religiöser Mensch gewesen4, obwohl er schon im Alter von zehn Jahren den Koran auswendig kannte5 und er in seinen Schriften zuletzt konservativere Töne angeschlagen hatte. Wie viele seiner Landsleute war Qutb durch die britische Besatzung radikalisiert worden und verachtete den alternden König Faruk I. wegen dessen Komplizenschaft mit den Briten. Ägypten wurde zu der Zeit von antibritischen Protesten erschüttert, und aufrührerische politische Gruppen setzten sich zum Ziel, die Briten aus dem Land zu vertreiben – und vielleicht auch den König. Es waren vor allem seine unverblümten und scharfzüngigen Kommentare, die diesen unscheinbaren, durchschnittlichen Regierungsangestellten gefährlich machten. Er schaffte es zwar nie in die erste Riege der zeitgenössischen arabischen Literaturszene, was ihn zeitlebens grämte, doch aus dem Blickwinkel der Regierung wuchs er zu einem ernst zu nehmenden Gegner heran.
Qutb war in vielfacher Hinsicht ein westlicher Mensch: in seiner Kleidung, in seiner Liebe zu klassischer Musik und Hollywood-Filmen. Er hatte die Werke von Darwin und Einstein, von Byron und Shelley in Übersetzungen gelesen und sich eingehend mit der französischen Literatur beschäftigt, insbesondere mit Victor Hugo.6 Doch schon vor seiner Reise beunruhigte ihn das Vordringen einer alles verschlingenden westlichen Zivilisation. Trotz seiner Gelehrsamkeit betrachtete er den Westen als eine geschlossene kulturelle Einheit. Die Unterschiede zwischen Kapitalismus und Marxismus, Christentum und Judentum, Faschismus und Demokratie waren unbedeutend im Vergleich zu der großen Scheidelinie im Denken von Qutb: dem Islam und dem Osten auf der einen und dem christlichen Westen auf der anderen Seite.
Amerika allerdings hatte sich jener kolonialistischen Abenteuer enthalten, welche die Beziehungen Europas zu der arabischen Welt geprägt hatten. Am Ende des Zweiten Weltkriegs überbrückte Amerika die politische Kluft zwischen den Kolonisten und den Kolonisierten. Es war in der Tat verlockend, sich Amerika als den Inbegriff des Antikolonialismus vorzustellen: eine unterdrückte Nation, die sich befreit und auf eindrucksvolle Weise ihre früheren Herren überflügelt hatte. Die Macht Amerikas schien auf seinen Werten zu gründen, nicht auf europäischen Vorstellungen von kultureller Überlegenheit oder den Vorrechten bestimmter Rassen und Klassen. Und weil sich Amerika als Einwanderungsland darstellte, konnte es ein entspannteres Verhältnis zum Rest der Welt aufbauen. Wie die meisten übrigen Völker hatten auch Araber Auswandererkolonien in Amerika gegründet, und durch die verwandtschaftlichen Bande wurden auch den Daheimgebliebenen jene Ideale nähergebracht, die dieses Land zu vertreten beanspruchte.
Daher war Qutb wie viele Araber entsetzt und fühlte sich hintergangen, als die US-Regierung nach dem Krieg die zionistische Sache unterstützte. Als Qutbs Schiff aus dem Hafen von Alexandria auslief, befand sich Ägypten zusammen mit fünf weiteren arabischen Armeen im Endstadium eines Krieges, in dessen Gefolge Israel als jüdischer Staat in der arabischen Welt etabliert wurde. Die Araber waren nicht nur über die Entschlossenheit und die Kampfkraft der Israelis verblüfft, sondern auch über die Unfähigkeit ihrer eigenen Truppen und die katastrophalen Entscheidungen ihrer politischen Führer. Diese schmachvolle Erfahrung sollte die geistige Welt Arabiens stärker prägen und bestimmen als jedes andere Ereignis der jüngeren Geschichte. „Ich hasse diese westlichen Menschen und verachte sie!“, schrieb Qutb, nachdem US-Präsident Truman sich für die Übersiedlung von 100 000 jüdischen Flüchtlingen nach Palästina ausgesprochen hatte. „Alle von ihnen, ohne Ausnahme: die Engländer, die Franzosen, die Holländer und schließlich auch die Amerikaner, denen so viele von uns vertraut haben.“7
DER MANN in der Luxuskabine hatte auch die romantische Liebe kennen gelernt, doch in erster Linie deren schmerzhafte Seite. Er hatte eine kaum verfremdete Darstellung einer gescheiterten Beziehung in einen Roman eingearbeitet; anschließend wollte er vom Heiraten nichts mehr wissen. Er erklärte, es sei ihm nicht möglich gewesen, eine passende Braut zu finden unter den „unehrenhaften“Frauen, die sich in der Öffentlichkeit zeigten8, eine Haltung, die dafür sorgte, dass er als Mann in mittleren Jahren allein und verbittert war. Er liebte weiter den Umgang mit Frauen – er pflegte ein inniges Verhältnis zu seinen drei Schwestern -, aber die Sexualität ängstigte ihn, er lehnte sie ab und betrachtete Sex als den Hauptfeind der Erlösung.
Die engste Beziehung seines Lebens war die zu seiner Mutter Fatima, einer ungebildeten, aber frommen Frau, die ihren geliebten Sohn zur Lehrerausbildung nach Kairo geschickt hatte.9 Sein Vater starb 1933, als Qutb 27 Jahre alt war. In den folgenden drei Jahren war er in verschiedenen Schulen in den Provinzen als Lehrer tätig, bis er schließlich nach Helwan versetzt wurde, einem wohlhabenden Vorort von Kairo, wohin er bald seine Familie nachholte. Seine streng konservative Mutter wurde dort nie richtig sesshaft; sie beobachtete argwöhnisch die unterschwelligen ausländischen Einflüsse, die in Helwan viel spürbarer waren als in dem Dorf, aus dem sie stammte. Diese Einflüsse dürften auch ihrem gebildeten Sohn nicht verborgen geblieben sein.
Während er in seiner Luxuskabine betete, war Sajid Qutb noch immer unschlüssig. Sollte er „normal“sein oder „etwas Besonderes“? Sollte er den Versuchungen widerstehen oder sich ihnen ergeben? Sollte er treu an seinen islamischen Überzeugungen festhalten oder sie beiseite schieben für den Materialismus und die Sündhaftigkeit des Westens? Wie jeder Pilger unternahm auch er zwei Reisen: eine nach außen, in eine größere Welt, und eine nach innen, in seine eigene Seele. „Ich habe mich entschlossen, ein echter Muslim zu sein!“, bekannte er schließlich.10 Doch zugleich fragte er sich: „Bin ich wirklich wahrhaftig oder war das nur eine Laune?“
Seine Gedankengänge wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Vor seiner Kabine stand ein junges Mädchen, das er später als schlank und groß und „halbnackt“beschrieb.11 Sie fragte ihn auf Englisch: „Darf ich heute Abend Ihr Gast sein?“
Qutb antwortete, in seiner Kabine gebe es nur ein Bett.
„In einem Bett haben auch zwei Menschen Platz“, erwiderte sie.
Angewidert warf Qutb die Tür vor ihr zu. „Ich hörte, wie sie draußen auf den Holzboden stürzte, und begriff, dass sie betrunken war“, erinnerte er sich. „Ich dankte sogleich Gott dafür, dass er mir die Kraft gegeben hatte, der Versuchung zu widerstehen und an meinen moralischen Überzeugungen festzuhalten.“
Dies war der Mann – ein bescheidener, stolzer, gepeinigter, selbstgerechter Mensch -, dessen einsamer Genius den Islam erschüttern, Regimes in der gesamten arabischen Welt bedrohen und zu einem Leuchtfeuer werden sollte für eine ganze Generation entwurzelter junger Araber, die nach einem Sinn und einem Ziel in ihrem Leben suchten und es schließlich im Dschihad finden sollten.
Als Qutb in New York ankam, waren dort gerade die prunkvollsten Weihnachtsfeierlichkeiten im Gange, die das Land je erlebt hatte.12 Im Nachkriegsboom verdiente jeder gutes Geld – die Kartoffelfarmer in Idaho, die Autoarbeiter in Detroit, die Banker an der Wallstreet -, und der wachsende Wohlstand stärkte den Glauben an das kapitalistische Wirtschaftssystem, das in der Weltwirtschaftskrise einer so schmerzhaften Prüfung unterzogen worden war. Arbeitslosigkeit erschien nun fast wie etwas Unamerikanisches; die offizielle Arbeitslosenrate lag unter vier Prozent, das hieß, jeder, der einen Job wollte, bekam auch einen. Die Hälfte des Reichtums der Welt befand sich mittlerweile in amerikanischer Hand.13
Den Kontrast zu Kairo muss Qutb als besonders bedrückend empfunden haben, als er durch die Straßen New Yorks wanderte, die in festlichem Glanz erstrahlten. Die Schaufenster der Geschäfte waren ausladend bestückt mit Geräten, die er nur vom Hörensagen kannte – Fernseher, Waschmaschinen -, und in jedem Kaufhaus sprangen ihm die Wunder der Technik in überwältigender Fülle entgegen. Neu errichtete Bürotürme und Wohnblöcke füllten die Lücken in der Skyline von Manhattan zwischen dem Empire State Building und dem Chrysler-Gebäude. Im Stadtzentrum und in den Außenbezirken wurden gewaltige Wohnanlagen gebaut, um die Massen von Einwanderern unterzubringen.
Es passte zu dieser lebhaften und optimistischen Stadt, die in ihrer kulturellen Vielfalt ihresgleichen suchte, dass hier das sichtbarste Symbol der neuen Weltordnung entstand: der Gebäudekomplex der Vereinten Nationen, der über dem East River emporwuchs. Die Vereinten Nationen waren der machtvollste Ausdruck des entschiedenen Internationalismus, des Erbes des Krieges, doch schon die Stadt selbst verkörperte die Träume von universeller Harmonie viel eindrucksvoller, als jede Idee oder Institution es vermochte. Die Welt strömte nach New York, denn hier waren die Macht und das Geld zu Hause und die kulturelle Energie, die alles umwandelte. Fast eine Million Russen lebten in der Stadt, eine halbe Million Iren und ebenso viele Deutsche – ganz zu schweigen von den Einwanderern aus Puerto Rico und der Dominikanischen Republik, den Polen und den ungezählten, oftmals illegalen chinesischen Arbeitern, die in der gastfreundlichen Stadt Unterschlupf gefunden hatten. Der Anteil der schwarzen Bevölkerung war in nur acht Jahren um 50 Prozent auf mittlerweile 700 000 gestiegen, und auch die Schwarzen waren Flüchtlinge, geflohen vor dem Rassismus in den Südstaaten. Gut ein Viertel der acht Millionen New Yorker waren Juden, von denen sich viele vor der Katastrophe in Europa hierher in Sicherheit gebracht hatten.14 Die Schilder vor den Läden und Fabriken in der Lower East Side waren auf Hebräisch beschriftet, und auf den Straßen hörte man häufig Jiddisch. Dies dürfte für den Ägypter in mittleren Jahren, der die Juden hasste, obwohl er bis zu seiner Abreise aus seinem Heimatland noch keinen Juden kennen gelernt hatte, schwer zu ertragen gewesen sein.15
Für viele New Yorker, vielleicht die meisten, gehörte politische oder wirtschaftliche Unterdrückung zu ihrer Lebensgeschichte. Aber diese Stadt hatte ihnen Zuflucht geboten, sie war der Platz, wo sie ihren Lebensunterhalt verdienen, eine Familie gründen und noch einmal von vorn anfangen konnten. Daher wurde die pulsierende Metropole von einem Gefühl der Hoffnung und der Zuversicht geprägt und vorangetrieben. Kairo hingegen war eine der Hauptstädte der Verzweiflung.
Zugleich war New York aber auch erbärmlich und trostlos – es war überfüllt, düster, durch Konkurrenzkampf bestimmt, frivol und übersät mit Schildern, auf denen es hieß „Alles besetzt“. Schnarchende Betrunkene lagen in den Hauseingängen. Zuhälter und Taschendiebe lungerten im schummerigen Neonlicht von Varietétheatern herum. In der Bowery boten Absteigen Betten für 20 Cent pro Nacht an. Die düsteren Nebenstraßen waren mit Wäscheleinen überspannt. In den Randbezirken streiften Banden umher wie Rudel wilder Hunde. Für jemanden, der nur schlecht Englisch sprach, war die Stadt voller unbekannter Gefahren, und Qutbs natürliche Zurückhaltung erschwerte ihm die Kommunikation obendrein.16 Unstillbares Heimweh packte ihn. „Hier an diesem fremdartigen Ort, dieser riesigen Werkstatt, die man die ,Neue Welt‘nennt, habe ich das Gefühl, dass meine Seele, mein Geist und mein Körper in völliger Einsamkeit leben“, schrieb er an einen Freund in Kairo. „Am dringendsten brauche ich hier jemanden, mit dem ich reden kann“, schrieb er an einen anderen Freund, „über andere Dinge als über den Dollar, Filmstars oder Automarken – mit dem ich ein echtes Gespräch führen kann über Fragen des Menschseins, über Philosophie und die Seele.“17
Zwei Tage nach seiner Ankunft in den USA stieg Qutb zusammen mit einem ägyptischen Bekannten in einem Hotel ab. „Der schwarze Aufzugsjunge mochte uns, weil wir eine ähnliche Hautfarbe hatten wie er“, berichtete Qutb. Der Junge bot den Reisenden an, ihnen etwas „Unterhaltung“zu vermitteln. „Er nannte uns einige Beispiele für diese Art von ‚Unterhaltung‘, wozu auch Abartigkeiten gehörten. So erzählte er uns, was in einigen dieser Räume vor sich ging, in denen sich paarweise Jungen oder Mädchen aufhielten. Sie baten ihn, ihnen ein paar Flaschen Cola zu bringen, und kümmerten sich nicht einmal darum, wenn er eintrat! ‚Haben sie sich denn nicht geschämt?‘, fragten wir. ‚Warum? Sie vergnügen sich einfach und befriedigen ihre besonderen Gelüste.‘“18
Dieses und viele ähnliche Erlebnisse bestärkten Qutb in seiner Auffassung, dass sexuelle Freizügigkeit unvermeidlich zu Abartigkeit führte. Amerika war gerade erschüttert worden durch eine breit angelegte wissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel Das sexuelle Verhalten des Mannes, die Alfred Kinsey zusammen mit Kollegen von der Universität von Indiana herausgebracht hatte. Das 800-Seiten-Werk, vollgestopft mit überraschenden Statistiken und erstaunlichen Kommentaren, zerschmetterte die überkommene viktorianische Prüderie Amerikas wie ein Ziegelstein bemaltes Fensterglas. Kinsey berichtete, dass 37 Prozent der amerikanischen Männer, die er für seine Untersuchung befragt hatte, homosexuelle Erfahrungen bis hin zum Orgasmus gemacht hatten, dass fast die Hälfte schon außereheliche Affären gehabt und 69 Prozent sich bei Prostituierten Sex erkauft hatten. Der Spiegel, den Kinsey Amerika vorhielt, zeigte ein Land, das sich zügellos der Lust hingab, aber auch verwirrt, beschämt, inkompetent und erstaunlich wenig informiert war. Trotz der Vielfalt und der Häufigkeit der sexuellen Aktivitäten sprach zu dieser Zeit in Amerika praktisch niemand über Sexualität, nicht einmal die Ärzte. Ein Mitarbeiter Kinseys interviewte 1000 kinderlose amerikanische Ehepaare, die sich nicht erklären konnten, warum es ihnen nicht gelungen war, Kinder zu zeugen. Dabei waren die Frauen noch Jungfrauen!19
Qutb kannte den Kinsey-Report20 und nahm in seinen späteren Schriften darauf Bezug, um seine Ansicht zu unterstreichen, dass sich die Amerikaner nicht allzu sehr von Tieren unterschieden – „eine unbesonnene, irregeleitete Meute, die nur Lust und Geld kennt“.21 In einer solchen Gesellschaft musste man mit einer hohen Scheidungsrate rechnen, denn „jedes Mal, wenn einem Ehemann oder einer Ehefrau eine neue anziehende Person ins Auge sticht, lechzen sie nach ihr, als wäre dies eine neue Mode in der Welt der Begierden“.22 Wie sehr ihn seine eigenen inneren Kämpfe aufwühlten, wird vernehmbar in seiner Schmährede: „Ein Mädchen sieht einen an, sie erscheint wie eine bezaubernde Nymphe oder eine entsprungene Meerjungfrau, doch wenn sie sich nähert, spürt man den rohen Instinkt in ihr, man spürt ihren brennenden Körper, nicht den Geruch von Parfüm, sondern von Fleisch, von reinem Fleisch. Schmackhaftem Fleisch gewiss, doch nichts weiter als Fleisch.“
AMERIKA WAR SIEGREICH aus dem Krieg hervorgegangen, hatte aber nicht mehr Sicherheit gewonnen. Viele Amerikaner hatten das Gefühl, dass sie den einen totalitären Gegner niedergerungen hatten, nur um festzustellen, dass der andere wesentlich stärker und hinterhältiger war als der europäische Faschismus. „Der Kommunismus schleicht sich unaufhaltsam ein in diese armen Länder“, warnte der junge Evangelikale Billy Graham, „in das vom Krieg zerrissene China, in das ruhelose Südamerika, und wenn die christliche Religion diese Länder nicht retten kann aus den Klauen der Ungläubigen, wird Amerika allein und isoliert dastehen in der Welt.“23
Der Kampf gegen den Kommunismus wurde auch innerhalb Amerikas geführt. J. Edgar Hoover, der machtbewusste Chef des FBI, behauptete, dass einer von 1814 Amerikanern Kommunist sei.24 Unter seiner Ägide konzentrierte sich die Bundespolizei fast ausschließlich auf die Suche nach Beweisen für subversive Verschwörungen. Als Qutb in New York ankam, hatte der „Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten“des US-Repräsentantenhauses gerade damit begonnen, einen leitenden Time-Redakteur namens Whittaker Chambers zu vernehmen. Chambers sagte aus, dass er einer kommunistischen Zelle angehört habe, die von Alger Hiss geleitet worden sei, einem früheren Beamten in der Regierung Truman, der beim Aufbau der Vereinten Nationen eine wichtige Rolle spielte und damals Präsident der Carnegie-Stiftung für den Weltfrieden war. Derartige Anhörungen schienen die Befürchtungen zu bestätigen, dass in den Städten und Vororten Kommunisten in Schläfer-Zellen lauerten. „Sie sind überall“, erklärte US-Justizminister Tom Clark, „in Fabriken, Büros, Metzgereien, an den Straßenecken, in privaten Firmen – und jeder trägt den Keim für den Untergang der Gesellschaft mit sich.“25 Amerika fürchtete, nicht nur sein politisches System einzubüßen, sondern auch sein religiöses Erbe. „Gottlosigkeit“war ein zentrales Merkmal der kommunistischen Bedrohung, und das Land reagierte instinktiv auf das Gefühl, dass das Christentum angegriffen wurde. „Entweder muss der Kommunismus sterben oder das Christentum, denn gegenwärtig tobt ein Kampf zwischen Christus und dem Antichristen“, sollte Billy Graham einige Jahre später schreiben26, womit er einer Stimmung Ausdruck verlieh, die zu dieser Zeit im christlichen Amerika weit verbreitet war.
Qutb entging die Obsession nicht, welche die amerikanische Politik zu beherrschen begann. Er war aus ähnlichen Gründen ein entschiedener Antikommunist; in Ägypten waren die Kommunisten viel aktiver und einflussreicher als in Amerika. „Entweder wir gehen den Weg des Islams oder den Weg des Kommunismus“, hatte Qutb ein Jahr vor seiner Abreise nach Amerika geschrieben27 und damit eine ähnlich kraftvolle Formulierung gewählt wie Billy Graham. Zugleich sah er in der Partei Lenins eine Schablone für die Politik des Islams in der Zukunft28 – einer Politik, die er selbst entwickeln sollte.
In Qutbs leidenschaftlicher Analyse gab es nur einen geringen Unterschied zwischen dem kommunistischen und dem kapitalistischen System; beide, so glaubte er, sorgten sich nur um die materiellen Bedürfnisse der Menschen und ließen deren geistige Sehnsüchte unerfüllt. Er prophezeite, dass Amerika, wenn der gewöhnliche Arbeiter eines Tages seine Hoffnung aufgeben würde, dass auch er reich werden könne, unvermeidlicherweise in den Kommunismus abgleiten werde. Das Christentum würde diese Entwicklung nicht verhindern können, denn es existierte nur im Bereich des Geistes – „wie eine Vision in einer reinen, idealen Welt“.29 Der Islam dagegen sei ein „vollständiges System“mit Gesetzen, sozialen Normen, wirtschaftlichen Regeln und einer eigenen Regierungsform.30 Nur der Islam habe eine Formel für die Schaffung einer gerechten und guten Gesellschaft zu bieten. Der eigentliche Kampf werde nicht zwischen Kapitalismus und Kommunismus ausgetragen werden, sondern zwischen dem Islam und dem Materialismus. Und der Islam werde dabei unweigerlich den Sieg davontragen.
Der Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen war Weihnachten 1948 zweifellos weit jenseits der Vorstellungswelt der New Yorker. Aber trotz des neuen Wohlstands, der sich in der Stadt ausbreitete, und der Selbstgewissheit, die mit dem Sieg einherging, war eine allgemeine Zukunftsangst zu spüren. „Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte erscheint die Stadt zerstörbar“, hatte der Essayist E. B. White in diesem Sommer geschrieben. „Ein einziges Flugzeuggeschwader, nicht größer als ein Schwarm Wildgänse, kann dieser Trauminsel schnell ein Ende bereiten, die Türme niederbrennen, die Brücken zum Einsturz bringen, die Röhren der Untergrundbahnen in Todeskammern verwandeln und Millionen Menschen zu Asche verbrennen.“Whites Text wurde am Beginn des Nuklearzeitalters geschrieben, als das Gefühl für die eigene Verletzlichkeit noch ganz neu war. „Für den Geist eines irregeleiteten Träumers, der den Blitz auslösen kann“, bemerkte er, „muss New York einen unwiderstehlichen Reiz ausüben.“31
KURZ NACH BEGINN des neuen Jahres zog Qutb nach Washington, wo er am Wilsons Teachers College Englisch studierte.32 (Das Wilson Teachers College schloss sich 1977 mit drei weiteren Instituten zur Universität des District of Columbia zusammen.) „In Washington kann man gut leben“, bekannte er in einem Brief, „vor allem, da ich in unmittelbarer Nähe der Bibliothek und meiner Freunde wohne.“Er verfügte über ein großzügiges Stipendium der ägyptischen Regierung. „Ein gewöhnlicher Student muss mit 180 Dollar im Monat auskommen“, schrieb er. „Ich aber gebe im Monat zwischen 250 und 280 Dollar aus.“33
Obwohl Qutb aus einem kleinen Dorf in Oberägypten stammte, entdeckte er in Amerika „eine Primitivität, die an die Zeit der Dschungel- und Höhlenbewohner erinnert“.34 Gesellschaftliche Zusammenkünfte seien geprägt durch oberflächliches Geschwätz. Die Menschen besuchten zwar Museen und Symphoniekonzerte, aber nicht um dort etwas zu sehen oder zu hören, sondern aus dem narzisstischen Verlangen heraus, von anderen gesehen und gehört zu werden. Die Amerikaner legten zu wenig Wert auf Förmlichkeit, beobachtete Qutb. „Ich bin hier in einem Restaurant“, schrieb er an einen Freund, „und vor mir sitzt ein junger Amerikaner. Anstelle einer Krawatte prangt auf seinem Hemd das Bild einer orangefarbenen Hyäne, und auf dem Rücken hat er anstatt einer Weste eine Kohlezeichnung eines Elefanten. Das ist der amerikanische Farbengeschmack. Und dann erst die Musik! Das will ich mir für später aufheben.“Das Essen, so klagte er, „ist sehr eigenartig“. Er berichtete von einem Erlebnis in der College-Cafeteria, wo er eine junge Amerikanerin beobachtete, die eine Melone mit Salz bestreute. Er sagte boshaft zu ihr, dass die Ägypter Pfeffer bevorzugten. „Sie versuchte es und meinte, das schmecke köstlich! “, schrieb er. „Am nächsten Tag erklärte ich ihr, dass manche Ägypter lieber Zucker auf die Melonen streuen, und auch das fand sie schmackhaft.“35 Selbst über die Frisuren schimpfte er. „Immer wenn ich beim Friseur war, komme ich nach Hause und richte mir die Haare mit den eigenen Händen.“36
Im Februar 1949 ließ sich Qutb in der George-Washington-Universitätsklinik die Mandeln entfernen. Dort entsetzte ihn eine Krankenschwester, die unverblümt schilderte, welche Qualitäten sie an einem Liebhaber schätze. Er war bereits auf der Hut vor dem forschen Auftreten der amerikanischen Frau, „die sich der Schönheit ihres Körpers wohl bewusst ist, ihres Gesichts, ihrer aufregenden Augen, ihrer vollen Lippen, ihrer schwellenden Brüste, ihres sich wölbenden Gesäßes und ihrer schlanken Beine. Sie trägt helle Farben, die niedere sexuelle Instinkte wecken und nichts verbergen, und dazu kommt das betörende Lachen und der herausfordernde Blick.“37 Es lässt sich erahnen, was für ein unwiderstehliches Objekt sexueller Anzüglichkeiten er abgegeben haben muss.
Am 12. Februar 1949 wurde Hassan al-Banna, der Führer der Muslimbruderschaft, in Kairo ermordet. Qutb berichtete, dass es vor seinem Krankenhausfenster auf der Straße einen Tumult gegeben habe. Er erkundigte sich nach dem Anlass für den Jubel. „Heute ist der Feind des Christentums im Orient umgekommen“, teilten ihm die Ärzte laut seiner Aussage mit. „Heute ist Hassan al-Banna getötet worden.“38 Es erscheint allerdings kaum glaubhaft, dass sich Amerikaner im Jahr 1949 so sehr für die ägyptische Politik interessierten, dass sie die Nachricht vom Tod al-Bannas feierten. Immerhin war die Ermordung der New York Times eine Meldung wert: „Scheich Hassans Anhänger waren ihm fanatisch ergeben, und viele behaupteten, nur er allein könne die arabische und die islamische Welt retten“, berichtete die Zeitung.39 Für Qutb, der hier in einem fremden Land im Krankenhaus lag, war die Nachricht ein schwerer Schock.40 Qutb und Banna waren sich zwar nie persönlich begegnet, aber sie schätzten sich sehr.41 Sie waren beide im Oktober 1906 geboren worden, mit nur wenigen Tagen Abstand, und hatten dieselbe Schule besucht, Dar al-Ulum, eine Lehrerausbildungsstätte in Kairo, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Ähnlich wie Qutb war Banna eine gebildete und charismatische Persönlichkeit, aber auch ein Mann der Tat. Er gründete 1928 die Muslimbruderschaft, die sich das Ziel setzte, Ägypten in einen islamischen Staat umzuwandeln. Schon nach wenigen Jahren hatte sich die Bruderschaft im ganzen Land ausgebreitet und bald auch in der arabischen Welt, wo sie den Keim für die kommende islamische Erhebung legte.
Bannas Stimme verstummte zur selben Zeit, als Qutbs Buch Soziale Gerechtigkeit im Islam erschien, jenes Werk, das ihn als bedeutenden islamischen Denker ausweisen sollte. Qutb hatte sich demonstrativ von Bannas Organisation ferngehalten, obwohl er ähnliche Auffassungen hinsichtlich der politischen Zielsetzungen des Islams vertrat; nach dem Tod seines Zeitgenossen und intellektuellen Rivalen stand seinem Beitritt zu den Muslimbrüdern nichts mehr im Wege. Dies war ein Wendepunkt, sowohl im Leben Qutbs als auch für die Entwicklung der Organisation. Aber in diesem schicksalsträchtigen Augenblick war der natürliche Anwärter für die Führung der islamischen Erweckungsbewegung fern der Heimat, allein, krank und unerkannt.
Doch Qutbs Anwesenheit in Washington blieb nicht völlig unbeachtet. Eines Abends wurde er von James Heyworth-Dunne eingeladen, einem britischen Orientalisten, der zum Islam konvertiert war. Dunne warnte Qutb vor den Muslimbrüdern, die seiner Ansicht nach die Modernisierung der islamischen Welt verhinderten. „Sollten die Muslimbrüder an die Macht gelangen, wird Ägypten niemals vorankommen und ein Hindernis für die Zivilisation sein“, erklärte er Qutb angeblich.42 Dann bot er Qutb an, sein neues Buch ins Englische zu übersetzen und ihm ein Honorar von 10 000 Dollar zu zahlen43, eine fantastische Summe für ein solch spezielles Werk. Qutb lehnte ab. Später äußerte er die Vermutung, Heyworth-Dunne habe ihn möglicherweise als Zuträger für die CIA rekrutieren wollen. „Ich war entschlossen, der Bruderschaft beizutreten, schon bevor ich sein Haus verließ“, erklärte er.44
GREELEY in Colorado war eine prosperierende ländliche Siedlung nordöstlich von Denver, als der Rekonvaleszent Qutb im Sommer 1949 dort ankam und im Colorado State College of Education Kurse belegte. (Heute ist dies die Universität von Northern Colorado.) Dieses College galt damals als eine der fortschrittlichsten Lehrerbildungseinrichtungen in Amerika. Die Sommerkurse waren sehr gefragt bei Lehrern aus allen Landesteilen, die sich hier weiterbildeten, das angenehm kühle Wetter genossen und Ausflüge in die nahe gelegenen Berge unternahmen.45 Abends fanden klassische Konzerte statt, Vorträge, Veranstaltungen zur Erwachsenenbildung und Freiluft-Theateraufführungen auf dem Collegegelände. Das Institut stellte Zelte auf, um alle Kursteilnehmer unterzubringen.
Qutb verbrachte sechs Monate in Greeley, die längste Zeit, die er jemals in einer amerikanischen Stadt verbrachte. Greeley bildete einen schroffen Kontrast zu Qutbs unerfreulichen Erlebnissen in den schnelllebigen Städten New York und Washington. Es gab wohl kaum einen anderen Ort in den USA, der Qutbs strengen moralischen Maßstäben wenigstens halbwegs genügen konnte. Greeley war 1870 als Abstinenzlerkolonie von Nathan Meeker gegründet worden, dem Landwirtschaftsredakteur der New York Tribune. Meeker hatte davor im Süden von Illinois gelebt, in der Nähe von Cairo, oberhalb des Zusammenflusses des Ohio und des Mississippi, einem Gebiet, das „Klein-Ägypten“genannt wurde. Er war überzeugt, dass die größten Menschheitskulturen in Flusstälern entstanden waren, und errichtete daher seine Kolonie im fruchtbaren Delta zwischen den Flüssen Cache la Poudre und South Platte.46 Durch künstliche Bewässerung hoffte Meeker die „Große Amerikanische Wüste“in ein Agrarparadies verwandeln zu können – wie es die Ägypter seit Anbeginn der Zivilisation getan hatten. Meekers Vorgesetzter Horace Greeley, der Chefredakteur der Tribune, unterstützte das Vorhaben tatkräftig, und die nach ihm benannte Stadt wurde bald zu jenem Siedlungsprojekt, über das in den Zeitungen am häufigsten berichtet wurde.47
Die ersten Siedler waren keine jugendlichen Pioniere, sondern Leute in mittleren Jahren. Sie kamen mit dem Zug, nicht mit dem Planwagen oder der Kutsche, und brachten ihre eigenen Wertvorstellungen und Maßstäbe mit. Sie wollten eine Gemeinschaft aufbauen, die als Modell für die Städte der Zukunft dienen konnte, eine Gemeinschaft, welche die obligatorischen Siedlertugenden verkörperte: Fleiß, Rechtschaffenheit und Abstinenz.48 Auf dieser Grundlage, so lautete das Credo, würde eine makellose und prosperierende Gesellschaft entstehen. Und zu der Zeit, als Sajid Qutb aus dem Zug stieg, war Greeley bereits die bedeutendste Siedlung zwischen Denver und Cheyenne.
Das Familienleben bildete den Mittelpunkt der Gesellschaft von Greeley; es gab keine Bars oder Schnapsläden, und fast an jeder Straßenecke stand eine Kirche. Das College rühmte sich, eine der besten Musikfakultäten des Landes zu besitzen, wo häufig Konzerte stattfanden, die der Musik liebende Qutb sicherlich genossen haben dürfte. Abends sprachen berühmte Pädagogen in der Volkshochschule. James Michener, der vor kurzem für sein Buch Die Südsee den Pulitzer-Preis gewonnen hatte, kehrte zurück, um an jener Schule, an der er von 1936 bis 1941 studiert und gelehrt hatte, einen Workshop über das Schreiben zu veranstalten.49 Qutb war in eine Gemeinschaft geraten, die sich denselben Dingen widmete, die auch ihm am Herzen lagen: Bildung, Musik, Kunst, Literatur und Religion. „Das kleine Städtchen Greeley, in dem ich jetzt lebe, ist sehr, sehr schön“, schrieb er kurz nach seiner Ankunft. „Jedes Haus sieht aus wie eine blühende Blume, und die Straßen sind wie Gartenwege. Man sieht, wie sich die Bewohner in ihrer freien Zeit mit ihren Häusern beschäftigen, ihre Gärten gießen und den Rasen schneiden. Das scheint ihre Haupttätigkeit zu sein.“50 Das hektische Getriebe New Yorks, das Qutb ablehnte, war weit weg. Auf der Titelseite der Greeley Tribune erschien in diesem Sommer ein Artikel, in dem über die erfolgreiche Überquerung einer Straße in der Innenstadt durch eine Schildkröte berichtet wurde.
Doch selbst in Greeley gab es gefährliche Strömungen unter der Oberfläche, die Qutb alsbald wahrnahm. Eineinhalb Kilometer südlich des Collegegeländes gab es eine kleine Siedlung mit Saloons und Schnapsläden namens Garden City.51 Hier hatten die Abstinenzler von Greeley nichts zu melden. Die Ortschaft hatte ihren Namen in der Zeit der Prohibition erhalten, als örtliche Rumschmuggler dort in Wassermelonen Flaschen versteckten, die sie dann an die College-Studenten verkauften. Immer wenn eine Party stattfand, suchten die Studenten den „Garten“auf, um sich Nachschub zu beschaffen. Qutb registrierte verblüfft den Gegensatz zwischen der nüchternen Fassade Greeleys und der Halbwelt von Garden City. Den Niedergang der amerikanischen Abstinenzlerbewegung verfolgte Qutb mit Verachtung, denn er sah darin den Beweis, dass das Land es nicht schaffte, ein geistiges Bekenntnis zur Nüchternheit abzulegen, ein Bekenntnis, das wohl nur ein allumfassendes System wie der Islam durchzusetzen imstande war.
In Amerika wurde ihm schmerzhaft zu verstehen gegeben, dass er ein Farbiger war. In einer der Städte, die er besuchte (er nannte ihren Namen nicht), erlebte er, wie ein Schwarzer von einem weißen Mob verprügelt wurde. „Sie traten ihn mit den Schuhen, bis sich sein Blut und sein Fleisch auf der Straße vermischten.“52 Man kann nachempfinden, wie bedroht sich dieser dunkelhäutige Reisende gefühlt haben muss. Sogar in der liberalen Siedlung Greeley verbreiteten sich Rassenängste. In der Stadt lebten nur sehr wenige schwarze Familien. Die meisten Indianer vom Stamm der Ute waren aus dem Bundesstaat vertrieben worden, nachdem in einer Schlacht 14 Kavalleristen getötet worden waren und Nathan Meeker, der Gründer von Greeley, seinen Skalp verloren hatte.53 In den zwanziger Jahren waren für die Arbeit auf den Feldern und in den Schlachthäusern mexikanische Arbeiter geholt worden. Zwar waren die Schilder abgenommen worden, auf denen Mexikanern der Aufenthalt in der Stadt nach Einbruch der Dunkelheit untersagt wurde, doch die katholische Kirche hatte nach wie vor separate Eingänge für Nichtweiße, die oben sitzen mussten. In dem gepflegten Park hinter dem Gerichtsgebäude war den weißen Bürgern die Südseite und den Latinos die Nordseite vorbehalten.
Die ausländischen Studenten befanden sich in diesem von Rassenspannungen aufgeheizten Umfeld in einer schwierigen Lage. Die Studenten aus Afrika, Lateinamerika und Asien sowie viele Studenten aus Hawaii bildeten den Kern des Internationalen Klubs, dem sich auch Qutb anschloss. Am College gab es auch eine kleine Gruppe von Studenten aus dem Nahen Osten, darunter Flüchtlinge aus Palästina und einige Mitglieder der irakischen Königsfamilie.54 Die Ausländer wurden von den Bürgern Greeleys im Allgemeinen freundlich aufgenommen und häufig auch nach Hause zum Essen oder zu Feiern eingeladen. Einmal wurde Qutb und einigen seiner Freunde der Zutritt zu einem Kino verwehrt, weil dessen Betreiber sie für Schwarze hielt. „Aber wir sind Ägypter“, protestierte einer aus der Gruppe. Der Kinobesitzer entschuldigte sich und wollte sie nun einlassen, aber Qutb verzichtete darauf, weil er sich darüber empörte, dass schwarze Ägypter Zutritt bekamen, schwarze Amerikaner aber nicht.55
Trotz der Spannungen, die sich in der Stadt ausbreiteten, bewahrte sich das College eine fortschrittliche Einstellung in Rassenfragen. In den Sommermonaten strömten schwarze Studenten aus den Lehrerbildungsinstituten in den Südstaaten zuhauf nach Greeley, doch während des regulären Studienjahres gab es hier nur wenige schwarze Studenten. Einer von ihnen war Jaime McClendon, der Footballstar der Hochschule, der dem Internationalen Klub angehörte und einen Palästinenser als Zimmerkollegen hatte. Weil sich die Friseure in Greeley weigerten, ihn zu bedienen, musste er jeden Monat nach Denver fahren, um sich die Haare schneiden zu lassen. Schließlich begleiteten ihn mehrere arabische Studenten zu einem der örtlichen Friseurgeschäfte und erklärten, sie würden erst wieder gehen, bis McClendon bedient worden sei.56 Qutb schrieb später, dass „der Rassismus Amerika heruntergeholt hat vom Gipfel an den Fuß des Berges – und mit ihm auch den Rest der Menschheit“.57
Die Footballsaison 1949 verlief katastrophal für das Colorado State College of Education. McClendon fiel wegen einer Verletzung aus, die Mannschaft verlor sämtliche Spiele und erlitt gegen die Universität von Wyoming mit 103:0 eine denkwürdige Niederlage. Das Spektakel, das um den amerikanischen Football veranstaltet wurde, bestärkte Qutb in seiner Ansicht, dass es sich um einen sehr primitiven Sport handele. „Der Fuß spielt in diesem Spiel überhaupt keine Rolle“, berichtete er. „Vielmehr versucht jeder Spieler den Ball mit den Händen zu greifen, mit ihm zum Ziel zu rennen oder ihn dorthin zu werfen, während die gegnerischen Spieler ihn mit allen Mitteln daran zu hindern versuchen, wobei sie ihm in den Bauch treten oder die Arme oder die Beine brechen können … Unterdessen brüllen die Fans ‚Brich ihm das Genick! Zerschmettere ihm den Schädel!‘ “58