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© 2021 Jupp Hartmann
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7534-4920-3
Das Regenwasser auf dem Feld
fließt in die See,
Worte ins Ohr geflüstert
sind über tausend Meilen hörbar.
(Huainanzi)
Die Erde brennt. Das steht auf einem Pappschild, das ein kleiner Junge in die Höhe hält. An einem kalten Novembertag 2019. Trotz der Kälte sind viele auf die Straße gegangen. Allein in Hamburg über 60.000, sagen die Veranstalter. Es geht um eine andere Klimapolitik. Um die Zukunft der Menschheit. Ist das wirklich der passende Zeitpunkt, um ein Buch über philosophische Debatten zu schreiben, die vor Jahrtausenden geführt wurden?
Manchmal ist es wichtig, Abstand zu gewinnen. Das bringt auf neue Gedanken. Wir leben in einer Zeit, in der zu viel getan wird. Hektik und Leistungsdruck bestimmen unseren Alltag. Es scheint nur eine Richtung zu geben: Immer schneller, immer mehr! Mit verheerenden Folgen.
Kann man das Nichttun lernen? Nichttun als Rebellion. Als Sand im Getriebe. Als Auflehnung gegen eine Logik, die überall nach Nutzen sucht. Aus deren Perspektive die Natur bloß eine Rohstoffquelle ist. Und Menschen bloß Arbeitskräfte. Humankapital.
Gibt es einen Ausstieg aus dem Nützlichkeitsdenken? Ist es möglich, mit dem scheinbar Nutzlosen in Frieden zu leben, es vielleicht sogar respektvoll zu betrachten?
Und was hieße das? Geht das nur über rigorose Einschränkungen oder gibt es attraktivere Wege? Ist Triebverzicht eine Lösung oder können wir unsere Begierden so steuern, dass wir Alternativen zu unserer gewohnten Lebensweise als lustvoll empfinden? Sollte man auf Vorbilder vertrauen? Oder gar auf die Macht der Musik? Können wir uns selbst erziehen? Wie lernen wir zu sein, wer wir sind? Gibt es so etwas wie unsere wahre Natur?
Um Antworten auf diese und viele andere Fragen zu finden, unternimmt dieses Buch eine Expedition ins alte China, eine Zeitreise durch die Jahrtausende. Fernab von den brennenden Problemen der Gegenwart sucht es nach Stoff für aktuelle Debatten. Wenn wir nach neuen Wegen suchen, dann ist es unumgänglich, nicht immer den gleichen ausgetretenen Pfaden zu folgen, sondern einmal andere Richtungen einzuschlagen.
In Europa haben sich sehr wirkungsvolle Erklärungsmuster herausgebildet, mit denen wir der Welt begegnen. Wir verdanken ihnen viel: unsere moderne Technik, medizinischen Fortschritt, auch Freiheit und Menschenrechte. Aber diese Erklärungen haben ihre blinden Flecken, die man von innen kaum wahrnimmt. Darum ist es sinnvoll, den Dunstkreis der eigenen Kultur von Zeit zu Zeit zu verlassen. Nicht weil eine andere besser wäre, sondern weil wir aus der Distanz besser sehen, wo sich unser Denken festgefahren hat. Im Spiegel ferner Länder und fremder Zeiten entdecken wir uns selbst.
Der Kaiser wollte nicht sterben. Niemals! Er hatte entsetzliche Angst vor dem Tod. Das Thema Sterben war in seiner Gegenwart Tabu. Trotzdem beherrschte es sein ganzes Leben. Er wollte für immer herrschen und glaubte, er, der Herrscher über alles unter dem Himmel, habe ein Anrecht auf ewiges Leben. Und falls er doch sterben müsste, wollte er auch im Jenseits der mächtigste aller Potentaten bleiben. Deshalb ließ er sich als Grabbeigabe eine ganze Armee lebensgroßer Figuren aus Terrakotta anfertigen, aufgestellt in Reih und Glied, mit Pferden und Wagen und allem, was dazugehört.
Seine Macht im Jenseits stand allerdings auf tönernen Füßen. Schon wenige Jahre nach seinem Tod dezimierten wütende Bauern die Terrakotta-Armee, warfen viele Figuren um und zertrümmerten sie.
Der Kaiser hatte schließlich doch sterben müssen. Dabei hatte er alles versucht. Als er auf einer Reise durch sein Reich ans Meer kam, hörte er von den fernen Inseln der Unsterblichen. Er schickte Schiffe aus, um von dort das Elixier der Unsterblichkeit zu beschaffen. Die Schiffe kehrten nie zurück. Auch eine weitere Expedition blieb erfolglos. So musste er dem Tod auf einem anderen Weg entrinnen. Er versammelte Heiler um sich, nahm vermeintliche Wundermittel. Die enthielten Quecksilber. Er starb schließlich an einer Quecksilbervergiftung. Je weiter die Krankheit fortschritt, umso paranoider sah er sein Leben von allen Seiten bedroht.
Also brachte ihn der Versuch, sein Leben zu verlängern, vorzeitig ins Grab. Ihn, den mächtigsten Mann der Welt. Ihn, den alle fürchteten. Hier war seine Macht zu Ende. Dabei schien sie wirklich unbegrenzt.
Er hatte es geschafft, nach mehreren Jahrhunderten, die als die Epoche der Streitenden Reiche in die Geschichte eingehen sollten, im Jahre 221 vor unserer Zeitrechnung das chinesische Reich wieder zu einen. Er, der König von Qin, hatte in langen Kriegen die anderen Königreiche besiegt. Alle mussten sich ihm unterwerfen. Er gab sich den Namen Shi Huangdi, erster erhabener Gottkaiser.
Er hatte alles unter Kontrolle. Ein ausgeklügeltes Überwachungssystem sollte sicherstellen, dass seine Macht selbst im letzten Winkel spürbar sei. Auf kleinste Vergehen standen grausame Strafen, und wer fremde Verfehlungen nicht meldete, wurde dafür bestraft, als seien es die eigenen. Qin Shi Huangdi ließ bis zu einer Million Menschen zwangsrekrutieren, zum Bau der Chinesischen Mauer und seines Mausoleums.
So sehr er um sein Leben besorgt war, so wenig kümmerte ihn das Leben anderer. Wer nicht in seine Ordnung passte, wurde liquidiert. Er ließ hunderte Gelehrte lebendig begraben. Die Bücher der Hundert Schulen, einem bunten Nebeneinander philosophischer Strömungen, ließ er verbrennen. Was nicht der Staatslehre entsprach, war verboten.
Damit schien eine jahrhundertealte Diskussion endgültig entschieden zu sein. Im Streit um die richtige Art der Staatsführung hatten sich die Legalisten durchgesetzt, extreme Law and Order Politiker. Gesetze mussten genau befolgt werden. Nach Wortlaut. Wer nicht gehorchte, riskierte sein Leben.
Einmal wäre ein Attentat auf den Kaiser beinahe gelungen, weil niemand unter den Bediensteten wagte, ihm zu Hilfe zu kommen. Denn das hätte geheißen, den gebotenen Mindestabstand zum Kaiser nicht einzuhalten und darauf stand der Tod – Gesetz war Gesetz und musste ohne Wenn und Aber beachtet werden.
Die Legalisten hatten also gesiegt, nicht durch Argumente, sondern durch rohe Gewalt. Ihre Gegner, darunter die konfuzianischen Gelehrten, wurden gnadenlos verfolgt.
Die Konfuzianer hatten eine grundlegend andere Vorstellung von staatlicher Ordnung. Sie waren der Überzeugung, dass Gewalt das falsche Mittel sei, um einen Staat zusammenzuhalten und setzten stattdessen auf die Kultur, vor allem auf Musik und Riten.
Was ist stärker, Kultur oder Gewalt? Um diese Frage ging es. Die Gewalt war scheinbar überlegen. Düstere Zeiten.
Aber das letzte Wort war nicht gesprochen. Gewalt war ein probates Mittel gewesen, um Macht anzuhäufen, aber es zeigte sich, dass sie nicht dazu taugte, stabile Verhältnisse zu schaffen. Der Druck auf die Untertanen war so groß, dass es trotz aller Repressionen zu Aufständen kam, die schon wenige Jahre nach dem Tod des Kaisers seine Dynastie hinwegfegten.
Die Han Dynastie, die nun für ein halbes Jahrtausend den Ton angab, setzte auf Konfuzius, auf Musik und Riten. Ein klarer Punktsieg der Kultur über die Gewalt. Natürlich hatten die konfuzianischen Klassiker die Bücherverbrennung überlebt. In Konfuzius‘ Heimatstadt Qufu kann man noch heute eine Mauer bewundern, in der seine Nachfahren die gefährdeten Schriften in einem Loch versteckt hatten. Gedanken, die einmal in der Welt sind, lassen sich so leicht nicht mehr ausrotten. Der Konfuzianismus wurde unter den Han Kaisern zur Staatsdoktrin. Beamter konnte nur werden, wer die konfuzianischen Klassiker auswendig rezitieren konnte. Mit relativ kurzen Unterbrechungen hielt sich dieses Auslesesystem über viele Dynastiewechsel hinweg bis ins 20. Jahrhundert, als der letzte Kaiser abdankte.
Gewalt durch Kulturtechniken auf ein Minimum zu reduzieren, ist letztlich das Programm des Konfuzianismus. Die chinesischen Kaiser vereinigten auf sich viel Macht. Aber mit der Verehrung des Konfuzius und seiner Lehre bekannten sie sich zu Maßstäben, an denen ihr Umgang mit der Macht gemessen werden konnte.
Dass ein Herrscher wie Qin Shi Huangdi, der nach einer möglichst großen Machtfülle strebte, seine Probleme mit der konfuzianischen Lehre hatte, kann von daher nicht verwundern. Zwar bringt diese dem Kaiser höchste Verehrung entgegen, aber der Preis ist hoch: Der Herrscher hat moralisches Vorbild zu sein, er soll Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Aufrichtigkeit, Sittlichkeit und Weisheit verkörpern. Ist das nicht der Fall, verliert seine Herrschaft ihre Legitimation. Ein Ja zu Konfuzius ist also auch ein Ja zu moralischen Grenzen der Macht.
Konfuzius verehrte Riten und die Verehrung des Konfuzius wurde schließlich selbst zum Ritus. Konfuziustempel wurden errichtet, mit Altären für Opfergaben. Generationen von Kaisern pilgerten dorthin und zeigten ihre Ehrerbietung. Die wenigsten von ihnen dürften wirklich dem Ideal eines konfuzianischen Herrschers entsprochen haben. Unter ihnen waren manche Despoten. Zwischendurch gab es auch immer wieder Zeiten voller Chaos.
Der Konfuzianismus konnte keine heile Welt hervorbringen. Aber er wirkte doch über mehr als zwei Jahrtausende hinweg zivilisierend. Unter seinem Einfluss kam es zu kulturellen Blütezeiten. Wie konnte er das schaffen? Was ist sein Geheimnis? Können wir davon für unsere Zeit etwas lernen?
Von Konfuzius lernen? Ist das eine ernsthafte Option für unsere moderne Welt? Verlangt der Konfuzianismus nicht, dass der Untertan sich dem Herrscher unterordnet, die Frau dem Mann, der Sohn dem Vater und der jüngere Bruder dem älteren? Widerspricht das nicht fundamental so vielen positiven gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte? Disqualifiziert sich jemand mit solchen Vorstellungen nicht von vornherein?
Der Konfuzianismus, eine im Gestern erstarrte Lehre, überdeckt vom Staub der Jahrtausende, der jeden neuen Ansatz erstickt. Das war auch das Bild, das viele junge chinesische Intellektuelle im frühen 20. Jahrhundert hatten, als sie sich Gedanken darüber machten, warum ihr Land im Vergleich zu den westlichen Ländern zurückgeblieben war.
China war tief gedemütigt. Die westlichen Barbaren waren ins Reich eingefallen. Die Briten hatten Mitte des 19. Jahrhunderts die Chinesen in zwei Kriegen gezwungen, ihnen den Verkauf von Opium zu erlauben und Plätze für den Handel und die Mission zu öffnen. Die Europäer waren militärisch überlegen und irgendwie gelang es ihnen, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, auch kulturell und moralisch überlegen zu sein; sie kolonisierten und missionierten und niemand in China hatte die Macht, das zu verhindern.
Warum war die Begegnung mit dem Westen für China ein solches Desaster? Der Schuldige war schnell gefunden: Konfuzius. Sein Denken sollte für jahrhundertelangen Stillstand verantwortlich sein. Seinetwegen hatten Wissenschaft und Technik sich nicht so entwickelt wie im Westen. So wurde Konfuzius zum Feindbild vieler, die von einem modernen China träumten. Der Kampf gegen Konfuzius gipfelte schließlich in der Kampagne, die unter Mao gegen ihn geführt wurde.
Nun ist es nicht ganz falsch, Konfuzius für jahrhundertelangen Stillstand verantwortlich zu machen, und erschwerend im Sinne der Anklage kommt ein gewisser Vorsatz hinzu. Der Stillstand ist beabsichtigt. Die Idee eines gesellschaftlichen oder technischen Fortschritts im modernen Sinn hat im konfuzianischen Denken überhaupt keinen Platz. Das Ziel ist nicht Entwicklung, sondern Stabilität – und was ist stabiler als ein Zustand, der über Jahrhunderte hinweg weitgehend der gleiche bleibt?
Könnte man also vielleicht von Konfuzius Nachhaltigkeit lernen? Konfuzius als Philosoph einer Postwachstumsgesellschaft? So einfach ist es nicht. Rezepte für die Lösung unserer heutigen Probleme werden wir bei Konfuzius kaum finden. Aber der Versuch, ihn zu verstehen, gibt Einblick in eine so fremde Welt, dass manche Ideen unserer Zeit – auch die von Wachstum und Fortschritt – plötzlich gar nicht mehr selbstverständlich erscheinen.
Die Menschheitsgeschichte als Fortschrittsgeschichte. Von dem Tier, das den aufrechten Gang erlernt hat, über den Speer werfenden Jäger bis hin zum Mondflieger. Eine berauschende Erzählung. Aber nicht die einzig mögliche. Statt als Pfeil, der immer weiter in eine Richtung fliegt, kann man den Lauf der Geschichte auch als Kreis sehen. Alles ist im ständigen Wandel, aber letztendlich doch nur, damit der Kreislauf immer wieder neu beginnen kann.