Über das Buch

Adam Eastwood weiß, dass eine Tanzschule genau das Richtige für seine quirlige Tochter Mira ist. Den ganzen Tag wirbelt sie im Tutu durch das Haus – warum also nicht einen Profi bezahlen, der ihr beibringt, wie man richtig tanzt? Allerdings hat Adam nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Violet Benson von der berühmten New Yorker Ballettkompanie, Miras Lehrerin sein würde. Violet ist wunderschön und zudem die perfekte Lehrerin für Mira. Und sie ist genau die Art von Frau, nach der Adam sein ganzes Leben lang gesucht hat. Aber kann Adam den Schmerz und die Trauer über das Scheitern seiner Ehe vergessen?

Violet will niemals wieder auf der Bühne zu stehen, auch wenn es bislang ihr Leben war. Doch wie kann sie weitermachen, wenn ihre große Liebe nicht mehr da ist, um sie aufzufangen? Sie waren eine Einheit – nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Leben. Kurzerhand beschließt sie nach Seattle zurückzukehren und sich dort den Traum einer eigenen Tanzschule zu erfüllen. Erst als sie gebeten wird, für »Art in the Park« zu tanzen, wird ihr klar, wie sehr ihr ihr altes Leben und die Bühne fehlen. Wäre es so falsch, ein letztes Mal auf der Bühne zu stehen? Und wer wird sie auffangen, wenn sie den Halt verliert?

Willkommen in Seattle, der Heimat der »Single Dads of Seattle«!

Zehn attraktive alleinerziehende Väter, die jeden Samstagabend Poker spielen, sich gegenseitig helfen und zuhören, ihre Kinder über alles lieben und vor allem eines hoffen: eines Tages wieder die große Liebe zu finden.

Dies ist Adams Geschichte.

Alle Titel der Reihe »Single Dads of Seattle« können unabhängig voneinander gelesen werden.

Über Whitley Cox

Whitley Cox ist an der kanadischen Westküste geboren und aufgewachsen. Sie studierte Psychologie und unterrichtete zeitweise in Indonesien, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte. Heute ist sie mit ihrer Highschool-Liebe verheiratet und Mutter von zwei Töchtern.

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Whitley Cox

Dancing with the Single Dad

Adam

Übersetzt von Michelle Landau aus dem amerikanischen Englisch

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Impressum

For Kathleen Lawless.

You answered my email and changed my life.

I couldn’t imagine my world or writing career without you and your friendship.

Thank you, for everything—especially the champagne!

xoxo

Kapitel 1

»Kann ich mein Prinzessinnenkleid für die Tanzstunde anziehen? Und meine Krone? Und meinen Umhang? Und meine Prinzessinnen-Blinkschuhe? Darf ich meinen Zauberstab mitnehmen? Oh, und meine Feenflügel?«

Angesichts der Aufregung seiner vierjährigen Tochter Mira musste Adam Eastwood ein Lachen unterdrücken. »Ich glaube, lieber nicht, Süße. Hier steht, dass alle Tänzer und Tänzerinnen Strumpfhosen, einen Body und Ballett- oder Jazzschuhe aus Leder anziehen sollen.«

»Und was ist mit dem Tutu?«

»Da steht, man kann einen kleinen Ballettrock anziehen, wenn man möchte.« Er griff nach seinem Handy und rief die E-Mail mit der Anmeldung auf, die letzte Woche in seinem Posteingang gelandet war.

Mira wandte sich von ihrer Kostümtruhe ab und setzte sich neben ihn auf die Couch, wo sie sofort begann, mit ihren kleinen Händen über seinen kurzen Bart zu streichen. Das war eine ihrer absoluten Lieblingsbeschäftigungen. Es vermittelte ihr Geborgenheit. Nachdem ihre Mutter ausgezogen war, hatte sie jede Nacht in Adams Bett verbracht und war eingeschlafen, während sie seinen Bart streichelte. Wenn er ehrlich war, schenkte diese Geste auch ihm inzwischen ein Gefühl angenehmer Geborgenheit.

»Siehst du, Süße. Hier steht: keine Prinzessinnenkleider oder Kostüme. Sie machen sich Sorgen, dass du dich in so einem Kleid nicht richtig bewegen kannst oder es beim Tanzen kaputtgeht.«

Sie blinzelte ein paarmal mit ihren großen blauen Augen, während sie auf die E-Mail der Tanzschule Benson starrte. Dann verzog sie die Lippen zu einer zuckersüßen Schmollschnute, nickte aber schließlich. »Nicht mal mein Krönchen?«

Sie konnte noch nicht lesen, also deutete Adam einfach auf die Adresse. »Steht genau hier: keine Krönchen. Aus demselben Grund, weshalb auch Kostüme verboten sind. Stell dir mal vor, die Krone würde dir beim Tanzen vom Kopf fallen, und jemand würde drauftreten und sie zerbrechen.«

»Dann wäre ich traurig.«

»Eben. Also bleiben wir lieber bei dem neuen Tanz-Outfit, das wir dir gestern gekauft haben, okay?«

Sie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Seine Tochter konnte sehr melodramatisch sein, wenn sie wollte. »Okay.«

Er drückte ihr einen Kuss auf den Kopf. Ihr dunkles, nach Wassermelone duftendes Haar fühlte sich unter seinen Lippen wie Seide an. »Das ist mein braves Mädchen. Dann geh dich mal schnell umziehen. Der Tanzunterricht fängt in einer halben Stunde an.«

Sie rutschte vom Sofa und hüpfte den Flur hinunter. »Kann ich wenigstens meine Prinzessinnenunterwäsche anziehen?«

Er lachte. »Natürlich, Süße, das kannst du gern machen.« Damit stand er ebenfalls auf und schlenderte in die Küche hinüber, um seiner Tochter einen kleinen Snack vorzubereiten, falls sie nach dem Tanzunterricht Hunger bekäme.

Es würde nur eine Stunde dauern, und Adam würde vermutlich die ganze Zeit dort bleiben, zumindest an diesem ersten Tag. Aber wenn ihn der Schwimmunterricht und Miras kurze Gymnastikphase irgendwas gelehrt hatten, dann, dass schon ein paar Minuten Spielen oder Sport ausreichten, um aus seiner mäkeligen Esserin einen ausgehungerten Vielfraß zu machen.

»Pack meine Wasserflasche ein, Daddy«, rief Mira aus dem Flur. »Und einen Müsliriegel. Einen mit Schokolade.«

Adam verdrehte die Augen. Sie wusste, was sie wollte, das musste er ihr lassen. Allerdings klang sie dabei meistens wie eine kleine Diktatorin.

»Sie wird mal eine echte Anführerin«, würde seine Großmutter sagen. »Eine Wirtschaftstitanin.«

»Oder sie erobert irgendein Land und versklavt die Bevölkerung«, würde sein Großvater hinzufügen.

Seine Großmutter würde nur lachen, Mira in die Arme nehmen, sie auf ihren Schoß ziehen und ihr durch die Haare wuscheln. »Unser kleiner Napoleon.«

Miras laut klatschende Schritte hallten durch den Flur, als sie mit ihren langen Beinen auf ihn zugerannt kam. Für ihr Alter war sie recht groß, aber auch ziemlich schlaksig, sie bestand fast nur aus Armen und Beinen. »Kannst du mir mit den Trägern helfen, Daddy? Die sind verdreht.« Sie verzog das Gesicht, wie um zu zeigen, was sie meinte, mit gezwirbelten Lippen und kraus gezogener Nase.

Er beugte sich zu ihr hinunter und entwirrte die Träger ihres Bodys, dann nahm er ihr den Rock aus der Hand und half ihr, hineinzusteigen. »Bist du fertig?«

Sie strahlte. »Jap. Ich muss nur noch meine Ballettschuhe holen.«

»Okay, aber beeil dich. Wir wollen an deinem ersten Tag doch nicht zu spät kommen.«

Sie war schon wieder halb den Flur zurückgerannt. »Okaaaaay!«

***

Violet Benson holte tief Luft und strich den schwarzen Stoff des Ballettrocks über ihren Beinen glatt.

Heute war die große Eröffnung. Ein wundervoller Tag. Die Sonne schien, die Vögel sangen. Es war der erste Mai, und die Tanzschule Benson war ab heute offiziell geöffnet.

Ihr Traum – ihrer beider Traum – wurde endlich wahr.

Und ihr war zumute, als müsste sie sich gleich übergeben.

»Es wird alles gut gehen«, sagte ihre Empfangsdame Kathleen beruhigend, während sie eifrig auf ihrer Tastatur herumtippte. »Du hast ein wundervolles Tanzstudio aufgebaut. Alle werden es lieben. Sie werden dich lieben.«

Violet schluckte. »Das hoffe ich.«

Sie rückte das Foto von Jean-Phillipe zurecht, obwohl es schon ganz gerade hing. Sein Lächeln zog schmerzhaft an ihrem Herzen. Das hier war sein Traum gewesen. Und dann war es zu ihrem gemeinsamen Traum geworden. Jetzt war es nur noch ihr Traum, und sie hatte ihn endlich, nach viel zu langer Zeit, wahr gemacht.

»Er ist schon jetzt so stolz auf dich«, sagte Kathleen, als sie sah, wie Violet mit einem Finger über Jean-Phillipes Wange strich. »Du wirst hier Großartiges vollbringen, tolle Shows auf die Beine stellen, und er wird immer dabei sein. Dir zusehen und dich anfeuern.«

Violet lächelte Kathleen an, doch es war ein gezwungenes Lächeln, das nicht aus ihrem Herzen kam und das sie kaum länger als ein oder zwei Sekunden aufrechterhalten konnte. »Wir hätten heute gemeinsam unsere ersten Schüler begrüßen sollen.«

Kathleen stand auf und ging um den Schreibtisch herum, um in einer mütterlichen Geste einen Arm um Violets Schulter zu legen. »Und das werdet ihr. Er ist im Geiste hier bei dir.«

Die Glocke über der Eingangstür klingelte, und mit einem Mal war der Raum voller Menschen.

Es war so weit.

»Herzlich willkommen, liebe Jungs und Mädchen, Eltern und Großeltern. Ich bin Miss Violet, eure Tanzlehrerin, und ich freue mich sehr, dass ihr die Tanzschule Benson ausprobieren wollt.«

Zehn Kinder, alle zwischen vier und sechs Jahren, saßen zu ihren Füßen auf dem Boden. Die Eltern hatten auf Stühlen entlang der Wand Platz genommen. Aus großen, erwartungsvollen Augen sahen die Kinder zu ihr auf.

»Wie viele von euch haben denn schon einmal Tanzunterricht genommen?«

Ein paar Hände wurden gehoben.

»Und die Eltern? Haben wir auch tanzerfahrene Eltern dabei?«

Ein oder zwei Mütter winkten kurz.

Und der einzige Vater.

Mhm.

»Okay, also haben wir ein paar erfahrene Tänzer dabei und ein paar Anfänger. Das ist wunderbar. Hier ist jeder willkommen.«

Ein kleines Mädchen mit zusammenpassendem lila Body und Röckchen hob die Hand.

»Ja? Wie heißt du denn, Süße?«

Sie stand auf, vor Selbstbewusstsein nur so strotzend. »Ich heiße Mira.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Mira. Und wie alt bist du?«

Mira hielt vier Finger hoch. »Ich bin viereinhalb.«

Violet lachte leise in sich hinein. »Vier ist ein tolles Alter.«

Mira nickte. »Einhalb.«

»Richtig! Das halbe Jahr ist natürlich sehr wichtig. Wolltest du etwas fragen, Mira?«

Sie nickte wieder. »Dürfen wir hier keine Krönchen tragen, weil du dir Sorgen machst, dass sie runterfallen und jemand drauftreten könnte?«

Von der Elternwand klang verhaltenes Lachen herüber. Der Mann, der vorher die Hand gehoben hatte – ein sehr attraktiver Typ mit blauen Augen, kupferbraunem Haar und kurzem Bart –, bemühte sich, nicht zu lachen, scheiterte jedoch kläglich. Seine breiten, muskulösen Schultern vibrierten in dem dunkelblauen Polohemd.

Violet wandte sich wieder Mira zu. »Genauso ist es, Mira. Ich hätte ein ganz schlechtes Gewissen, wenn du eine Krone oder ein Krönchen mit zum Unterricht bringen würdest und es dann runterfällt und kaputtgeht. Deswegen ist es besser, das Verkleiden für zu Hause aufzuheben.«

Mira drehte sich um und sah ihren Vater an. Der zuckte mit den Schultern, woraufhin Mira wieder zu Violet herumwirbelte. Ihre Lippen hatten sich zu einem breiten Schmollmund verzogen, aber in ihren Augen stand noch immer Kampfgeist. »Und was ist mit einer Papierkrone?«

Noch mehr Lachen von den Eltern.

Violet mochte dieses Mädchen schon jetzt.

»Weißt du was, Mira, ich hab eine Idee. In ein paar Wochen machen wir eine besondere Tanzstunde, zu der alle in ihren Lieblingskostüm kommen dürfen, mit Krönchen und allem Drum und Dran. Was hältst du davon?«

Die blauen Augen des Mädchens leuchteten auf, und es nickte. »Okay. Das klingt gut.«

Violet lächelte. »Super.«

Mira setzte sich wieder, wandte sich noch einmal halb zu ihrem Vater um und gab ihm ein Daumen-hoch-Zeichen. Als Antwort streckte er ebenfalls beide Daumen in die Luft.

Vom Eingang her drang plötzlich das Läuten der Türglocke an ihre Ohren, gefolgt von einigem Tumult. Ihr war klar gewesen, dass sie zu spät kommen würden. Jayda hatte erst um halb drei Schulschluss, und dann mussten sie noch quer durch die Stadt.

Ihr Bruder Mitch und ihre Nichte Jayda kamen ins Studio gerannt, beide mit erhitzten Gesichtern und außer Atem.

»Sorry«, sagte Mitch lautlos in ihre Richtung, bevor er neben Miras Vater Platz nahm.

Jayda rannte zu der Gruppe Kinder, einen Tanzschuh schon am Fuß, den anderen noch in der Hand. Sie ließ sich neben Mira auf den Boden plumpsen und begann hastig, ihren zweiten Schuh anzuziehen. »Hi, Tante Violet«, flüsterte sie. »Tut mir leid, dass wir zu spät sind. Da war ein Unfall, und wir standen im Stau.«

»Kein Problem, Süße.« Violet wandte sich den Eltern zu. »Wir möchten Sie bitten, das Studio während des Unterrichts zu verlassen. Draußen gibt es einen Warteraum für Eltern, inklusive Kaffee und Tee. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Kinder besser auf die Anweisungen des Tanzlehrers hören, wenn die Eltern nicht im Raum sind.«

Sämtliche Eltern nickten, erhoben sich und verließen nacheinander den Saal. Alle außer Miras Vater. Er blieb mit Besorgnis im Blick zurück, obwohl Mira überhaupt nicht auf ihn achtete, sondern völlig in ihr Gespräch mit Jayda vertieft war, die den gleichen Rock trug wie sie.

»Im Warteraum gibt es auch einen Spionspiegel«, sagte Violet. »Durch den können sie ins Tanzstudio sehen und uns zuschauen, ohne uns abzulenken.«

Die saphirblauen Augen von Miras Vater, die von fast schon lächerlich langen Wimpern umrahmt waren, hellten sich bei ihren Worten auf, und sein Lächeln brachte Violet beinahe zum Schmelzen. »Danke.« Dann verließ er den Raum.

Sie war dankbar für Kathleens Vorschlag mit dem Spionspiegel, denn Miras Vater im Studio zu haben wäre auf jeden Fall eine Ablenkung gewesen, wenn auch nicht für seine Tochter. Seit sie zurück nach Seattle gezogen war, hatte Violet keinen so attraktiven Mann mehr gesehen. Nicht seit Jean-Phillipe.

Schuld und Trauer bohrten sich wie ein doppelter Messerstich in ihren Magen.

Jean-Phillipe.

Wie konnte sie auch nur an einen anderen Mann denken, wenn die Liebe ihres Lebens fort war und das Bild im Flur und sein Traum, ein Tanzstudio zu eröffnen, das Letzte waren, was sie noch von ihm hatte?

Doch sie konnte nicht zulassen, dass der Schmerz in ihrem Herzen sie lähmte. Nicht heute. Nicht am Eröffnungstag. Sie wandte sich wieder den Kindern zu, klatschte dreimal in die Hände und zwang das strahlendste Lächeln auf ihr Gesicht, zu dem sie fähig war. Irgendwann würde sie es nicht mehr vortäuschen müssen. Irgendwann würde das Lächeln wieder echt sein … oder?

»Also los, Kinder, dann lasst uns mal tanzen. Verteilt euch im Raum, sodass ihr alle genug Platz habt.« Sie ging zu der großen Stereoanlage an der Wand und drückte auf Play. Fröhliche, beschwingte, poppige Musik mit einem lebhaften Beat drang aus den Lautsprechern, und in die Kinder kam Bewegung. »Wir schütteln uns jetzt erst mal richtig aus, bevor wir mit ein paar Übungen beginnen.«

Dann – als ob es ihr egal wäre, dass Miras Vater ihnen durch den Spiegel zusah, auch wenn es ihr alles andere als egal war – tat sie das, was sie am besten konnte, und überließ der Musik die Kontrolle über ihren Körper. Ließ sie ihre Seele füllen und ihre Glieder bewegen. Sie musste ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er da war. Dass er Mira zusah. Violet zusah. Seltsamerweise machte es ihr nichts aus.

Sie lächelte in den Spiegel, als sie aus einer Pirouette kam, suchte Blickkontakt zu dem Mann hinter dem Glas, und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte sich ihr Lächeln echt an.

Kapitel 2

Adam streckte dem einzigen anderen Vater im Warteraum die Hand entgegen. »Adam.«

Der andere Mann nahm seine Hand und schüttelte sie. »Mitch, freut mich. Welches ist denn Ihres?«

Adam deutete auf Mira, die einen Narren an Mitchs Tochter gefressen zu haben schien, denn sie ahmte jede ihrer Bewegungen nach. »Die da. Die, die Ihrer Tochter alles nachmacht.«

Mitch lachte. »Violet ist meine Schwester, Jayda tanzt also schon eine Weile mit ihr.«

»Wie alt ist sie?«

»Sechs. Und Ihre?«

»Vier, auch wenn sie mich sofort korrigieren und betonen würde, dass sie schon viereinhalb ist.«

Mitch lachte wieder. »Halbe Jahre sind sehr wichtig.«

»Das sind sie.«

»Was machen Sie denn beruflich?«, fragte Adam, während er die Kaffee-Pads beäugte, die sich auf einem Tisch in der Ecke neben einem Kaffeeautomaten stapelten. Er spürte deutlich, wie seine Koffeinsucht ihren hässlichen Kopf hob. Er schlenderte hinüber zum Tisch, bereitete sich eine Tasse zu und fragte Mitch mit einer Geste, ob er auch eine wollte. Der nickte.

»Ich bin Fotograf«, antwortete Mitch. »Und Sie?«

»Biologieprofessor.«

»Oh, cool, an der UW?«

Adam nickte und reichte Mitch seinen Kaffee. »Ja, ich leite dort ein Labor. Wir arbeiten an der Genkartierung von Aquakultur.«

Mitchs Augen wurden groß, er sah jedoch eher verwirrt als interessiert aus. Adam war klar, dass er sein Fachgebiet in einfacheren Worten erklären musste.

»Im Grunde funktioniert das wie diese Websites, die anhand einer DNA-Probe herausfinden, mit wem man verwandt ist. Nur eben für Fische.«

»Ah, verstehe. Sehr cool.«

»Was für Bilder machen Sie?« Sie setzten sich auf eine Bank, von der aus sie die tanzenden Kinder perfekt im Blick hatten, und nippten an ihren Tassen.

»Ich mache alles Mögliche. Hochzeiten, Firmenevents, Landschaften, Tiere, Stillleben, Familienporträts. Ich bin auf die Kunsthochschule gegangen und habe meinen Abschluss in Fotografie gemacht, also kann ich eigentlich so ziemlich alles. Vi hat mich gebeten, Fotos von den Tänzern und den Aufführungen zu machen, für ihre Website.«

Während der Zubereitung des Kaffees hatte Adam versucht, Mira im Blick zu behalten. Sie hatte dem Tanzunterricht so sehr entgegengefiebert, und soweit er das beurteilen konnte, schlug sie sich großartig. Allerdings wurde er immer wieder von der Tanzlehrerin abgelenkt. So gern er seiner Tochter beim Tanzen zusah, so gern betrachtete er auch Miss Violet dabei. Was sicherlich zum Teil daran lag, dass die Frau einfach umwerfend aussah. Eigentlich hatte er kein Interesse an Dating und seit Paige auch keine Beziehung mehr gehabt, obwohl ihre Trennung nun schon eine ganze Weile zurücklag – und Paige in den letzten Monaten ihrer Ehe nicht mehr wirklich anwesend gewesen war, weder mental noch emotional noch körperlich, bevor sie eines Tages dann einfach gegangen war. Ihre Trennung war zwar freundschaftlich verlaufen, aber das hieß noch lange nicht, dass er damit glücklich war.

Seitdem hatte er andere Frauen nicht mal mehr wahrgenommen. Aber in dem Moment, als er ins Tanzstudio getreten war und Miras Lehrerin, Mitchs Schwester, ihn angelächelt hatte, war etwas in ihm erwacht, von dem er nicht sicher gewesen war, ob er es jemals wieder empfinden würde. Er konnte nicht aufhören, diese Frau anzusehen.

Er hatte gezögert, das Tanzstudio zu verlassen, und Violet musste geglaubt haben, er wolle Mira nicht aus den Augen lassen. Aber das war es nicht. Er ließ Mira schließlich jeden Tag in der Vorschule allein. Nein, er hatte Violet nicht aus den Augen lassen wollen. Hatte sie tanzen sehen wollen.

Adam liebte es zu tanzen. Das verdankte er seiner Großmutter.

Sein Blick hing noch immer an Violet, fasziniert davon, wie ihr Körper über den Tanzboden wirbelte. Es war, als wäre sie mit Musik in den Adern geboren worden. Ihre Bewegungen waren so fließend, so elegant, so … friedvoll. Als ob irgendetwas sie quälte und sie nur im Tanz Erlösung finden konnte. Sie tanzte, als hinge ihr Leben, ihre Seele, ihr Verstand davon ab. Und die Kinder beobachtete sie voller Bewunderung. Genau wie Adam.

»Kommen Sie aus Seattle?« Mitchs Stimme brachte ihn zurück ins Hier und Jetzt.

Er schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. »Was? Oh, ähm, nein. Nicht ursprünglich. Ich komme aus South Carolina. Und Sie?«

»In Seattle geboren und aufgewachsen, aber dann bin ich nach Arizona gezogen. Ich habe die Liebe meines Lebens getroffen, als ich dort Aufnahmen für ein Wildtiermagazin gemacht habe.«

»Was hat Sie zurück nach Seattle gebracht?«

Mitchs Gesicht verdüsterte sich. »Sie ist gestorben. Also bin ich mit Jayda zurück nach Seattle gezogen, um näher bei meiner Familie zu sein. Vi ist auch um die Zeit hierher zurückgezogen, deswegen haben wir zusammen ein Haus gekauft. Sie hilft mir, Jayda großzuziehen.«

»Oh, verdammt. Das tut mir sehr leid.«

Mitch nickte nur. »Danke. Es ist erst ein knappes Jahr her, dass Melissa von uns gegangen ist. Wir sind seit neun Monaten hier, Vi seit etwas mehr als einem Jahr. Sie hat ihren Partner verloren, Jean-Phillipe, kurz bevor ich Melissa verloren habe.«

»Ihren Tanzpartner?«

Er nickte wieder. »Tanzpartner und Lebenspartner. Man hat einen Tumor an seiner Wirbelsäule gefunden, und er ist auf dem Operationstisch gestorben.«

Oh, scheiße.

»Melissa ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

Liebe Güte.

»Und dann ist vor sechs Monaten auch noch unser Vater an den Komplikationen einer Lungenentzündung gestorben.«

Das gottverdammte Universum. Eine Familie so niederzuschlagen, wenn sie ohnehin schon am Boden lag … Was zum Teufel?!

Adam fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Das tut mir wirklich wahnsinnig leid. Für Sie alle. Meine Eltern sind auch bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich war damals erst sieben und mein Bruder vier.«

Mitch wandte sich zu ihm um. Er war offensichtlich sehr darum bemüht, nicht die Fassung zu verlieren. An seiner Schläfe pulsierte eine dicke Ader, und sein Kiefer war angespannt. »Tut mir leid, Mann. Das ist echt scheiße. Wer hat euch – sorry, aber ich glaube, es ist Zeit, dass wir zum Du übergehen – wer hat euch denn dann aufgezogen?«

»Die Eltern meiner Mutter.«

Mitch nickte und nippte wieder an seinem Kaffee. Ein paar Minuten saßen sie einfach nur da, keiner von beiden sagte etwas. Adam hatte diesem Fremden einiges über sich anvertraut, aber seltsamerweise kam er ihm gar nicht wie ein Fremder vor. Mitch hatte auch viel über sich preisgegeben. Vielleicht lag es daran? Er war alleinerziehender Vater, genau wie Mitch, und zog wie er eine Tochter groß. Sie waren keine Fremden. Sie waren so etwas wie Brüder. Er kannte Mitch zwar kaum, aber er schien ein netter Kerl zu sein. Ein Typ, mit dem Adam sich auf ein Bier treffen könnte, ein Typ, der gern seinen Samstagabend mit Kumpels, Zigarren, Alkohol und Kartenspielen verbrachte. Liam hatte gesagt, er könne einladen, wen er wolle – als ihr Gastgeber war er immer auf der Suche nach neuen Mitspielern, die er um ihr hart verdientes Geld bringen konnte.

Adam räusperte sich. »Also, ähm, ich bin da in so einer Männergruppe, eine Art Club. Wir sind eigentlich nur ein paar alleinerziehende Väter, die sich jeden Samstag zum Pokerspielen treffen. Manchmal gibt’s auch ’ne Grillparty oder so was, Treffen mit den Kindern, wenn wir es zeitlich hinkriegen, aber ausnahmslos jeden Samstag ist Pokerabend. Wäre das was für dich?«

Mitch musterte ihn neugierig. »Wo denn?«

»Bei Liam Dixon, ich kann dir die Adresse schicken. Er ist einer von den Vätern und Scheidungsanwalt. In seinem Beruf bekommt er mit, wie unfair Väter oft von ihren Ex-Frauen und dem Justizsystem behandelt werden. Außerdem gibt es echt wenig Unterstützung für alleinerziehende Väter, deswegen hat er diese Gruppe ins Leben gerufen. Er hat ein paar von uns vor Gericht vertreten, aber man darf dem Club erst beitreten, wenn man nicht mehr sein Klient ist. Ein paar andere hat er einfach kennengelernt und eingeladen. Und wir können auch einladen, wen wir wollen, solange derjenige ein alleinerziehender Vater ist.«

Mitch fuhr sich mit der Hand übers Kinn und dachte kurz nach. »Vi ist samstags bis um fünf hier beschäftigt. Danach könnte sie sicher auf Jayda aufpassen. Um wie viel Uhr geht’s los?«

Adam lächelte. »Um sieben.«

»Okay, das klingt gut. Poker also. Spielt ihr um echtes Geld?«

Adam sah den Kindern dabei zu, wie sie in Jetés quer durch den Saal sprangen. »Ja, um echtes Geld.«

Violet warf einen Blick zum Spiegel und lächelte, ihre gold-grünen Katzenaugen strahlten. Ihm war bewusst, dass sie ihn nicht sehen konnte, aber die Art, wie sie direkt in den Spiegel sah, und das süße, fast schüchterne Lächeln, das über ihr Gesicht huschte, gaben ihm das Gefühl, dass sie ihn direkt anlächelte.

Er lächelte zurück.

»Dir ist schon klar, dass sie dich nicht sehen kann, oder?«, sagte Mitch mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Er schien amüsiert, aber gleichzeitig etwas verärgert zu sein. Und der Beschützerinstinkt eines älteren Bruders schwang definitiv auch darin mit.

Adam lachte peinlich berührt. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

Mitch warf ihm von der Seite einen vielsagenden Blick zu. »Ist klar.«

***

Ein Geräusch wie Donnergrollen erfüllte das Studio, als fast ein Dutzend Kinder auf den Ausgang zustürmten, jedes mit einem Sticker auf dem Handrücken, als Belohnung für die gute Arbeit. Nur Mira blieb stehen.

»Miss Violet?«, fragt sie mit ihrer hohen Stimme, in der nicht ein Hauch von Unsicherheit oder Schüchternheit mitschwang.

Violet wandte sich zu ihr um, nachdem sie die Stereoanlage ausgeschaltet hatte. »Ja, Süße?«

»Danke für die Tanzstunde und den Sticker.«

Violets Herz schmolz dahin. Dieses kleine Mädchen war so niedlich und hatte sich während des Unterrichts solche Mühe gegeben, hatte Violet und Jayda hoch konzentriert beobachtet und ihre Bewegungen nachgeahmt, so gut sie konnte. Sie war für die Bühne geboren.

»Sehr gern geschehen, Süße. Hat es dir denn Spaß gemacht?«

Mira nickte. »Ich liebe tanzen.«

»Das habe ich gesehen. Du hast das ganz toll gemacht. Übst du denn oft zu Hause?«

»Jap. Mit meinem Daddy. Der hat früher auch getanzt.«

Violet sah auf, als sich plötzlich schwere Schritte näherten. Und einen Moment später stand er auch schon vor ihnen: Miras Vater. Sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte und ihre Brustwarzen sich steif aufrichteten. Sein Blick huschte zu ihren Brüsten, wo der dünne Stoff ihres Bodys vermutlich absolut nichts der Vorstellungskraft überließ.

Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, wandte er hastig den Blick ab. »Mira, Süße. Wir müssen los.«

Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu und streckte ihm die Arme entgegen. »Ich habe Miss Violet erzählt, dass du früher getanzt hast.«

Seine Wangen liefen unter dem Dreitagebart rot an. Sexy. Mit einer Hand strich er über Miras kastanienbraunes Haar. »Das ist aber schon lange her.« Dann streckte er Violet seine Hand entgegen. »Ich bin übrigens Adam, Miras Vater.«

Sie schüttelte seine Hand, die groß und warm und etwas rau in ihrer lag. Sie wollte seine Hand noch nicht wieder loslassen, doch als er sie zurückzog, ließ sie ihn.

Er hatte also getanzt.

Interessant.

Es gab natürlich einige Männer im Tanzgewerbe, wenn auch nicht annähernd so viele wie Frauen, aber sie fand es immer wieder spannend zu erfahren, wie ein Mann seine Liebe zum Tanz entdeckt hatte. Und ob es überhaupt Liebe war oder er nur dazu gezwungen worden war, zum Beispiel von einer Mutter, die viel lieber eine Tochter gehabt hätte. Geschichten dieser Art hörte sie häufig.

»Was haben Sie denn getanzt?«, fragte sie, weil sie mehr wissen wollte, noch nicht bereit war, die beiden – ihn – gehen zu lassen.

Er rieb sich mit einer Hand den Nacken. »Hauptsächlich Standardtanz. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, und die waren begeisterte Standardtänzer. Aber als mein Großvater aufgrund seiner Diabetes ein Bein verloren hat, konnte er nicht mehr mit meiner Großmutter tanzen. Also habe ich das übernommen.«

Konnte dieser Mann noch liebenswerter werden? Ein Mann, der seine Großmutter liebte.

Schmacht.

»An der Uni habe ich dann auch noch ein bisschen getanzt.« Er verzog das Gesicht, wie um zu sagen, dass das keine große Sache war, doch sein Lachen klang gezwungen und machte deutlich, dass er lieber das Thema wechseln würde. »Aber das waren nur Wahlkurse. Kein richtiger Unterricht mit Hausaufgaben und so. Dafür hätte ich auch gar keine Zeit gehabt bei dem Riesenpensum, das ich ohnehin schon hatte.«

Violet lachte. »Was haben Sie denn studiert?«

»Daddy ist ein Doktor«, mischte sich Mira ein.

»Ich bin Biologieprofessor«, korrigierte Adam. »Aber ja, theoretisch bin ich ein Doktor. Allerdings nicht die Art, die einen aufschneidet und wieder zunäht. Eher die Art, die den ganzen Tag vor einem Computer oder Mikroskop sitzt und Daten analysiert.«

Violet lächelte. Im nächsten Moment strömte ihre nächste Klasse, die älteren Kinder, geräuschvoll ins Studio.

Adam drehte sich zu dem plötzlichen Lärm um, bevor er sich wieder an Violet wandte. Sein Blick ging ihr durch und durch. »Mira, Süße, wir sollten jetzt wirklich los. Wir müssen auf dem Nachhauseweg noch einkaufen gehen.«

»Kommt Mira zweimal wöchentlich oder einmal?«, fragte Violet in der Hoffnung, dass sie die beiden schon am Donnerstag wiedersehen würde und nicht bis nächsten Dienstag warten musste.

»Einmal wöchentlich«, antwortete er.

Ihr Herz sank.

Mira zog an seiner Hand. »Kann ich nicht zweimal kommen, Daddy?«

Adam sah mit verhaltener Ungeduld auf seine Tochter hinab. »Willst du dir nicht erst ganz sicher sein, dass es dir auch wirklich Spaß macht, bevor du dich da festlegst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich liebe es, Daddy. Ich liiiiiieeebe tanzen. Ich will mal eine richtige Ballerina werden, wie Miss Violet.«

»In der Donnerstagsgruppe ist noch Platz«, sagte Violet und hoffte, dass sie nicht zu aufdringlich war. Allerdings hoffte sie noch mehr, dass Mira ihren Vater dazu bringen konnte, sie für einen zweiten Tag anzumelden. »Jayda ist auch in der Gruppe. Ihr beide scheint euch ja schon gut angefreundet zu haben.«

Mira hüpfte auf und ab. »Ich mag Jayda total gern. Sie ist sechs und ich bin viereinhalb, aber wir sind trotzdem Freundinnen.«

Ach, verdammt. Violet hätte Mira in den Warteraum schicken und die zusätzliche Stunde mit Adam allein besprechen sollen. Außer Hörweite des kleinen Mädchens. Wenn er jetzt aus irgendeinem Grund Nein sagen musste, wäre er dank ihr der Böse. Und sie würde sich deswegen miserabel fühlen. Das hätte sie besser wissen müssen. Sie und Mitch machten mit Jayda doch genau dasselbe durch.

Sie hielt den Atem an.

Adam atmete geräuschvoll aus, und seine Schultern sackten unmerklich nach vorn, aber sein Lächeln war voller Liebe, als er seine Tochter ansah. »Na gut. Wenn du das Tanzen so sehr liiiieebst, dann sollten wir dich wohl für die zweite Stunde am Donnerstag anmelden.«

Mira quietschte auf und schlang die Arme um ein Bein ihres Vaters. »Danke!«

Er hob den Kopf und lächelte Violet an. »Dann sehen wir Sie wohl am Donnerstag.«

Ihr Herz klopfte heftig in ihrer Brust. »Das werdet ihr. Ähm, Sie.«

Adam lachte. »Gern Du. Bis Dienstag, Violet.«

Kapitel 3

Es war Donnerstag, und der Anfängerkurs Ballett/Jazz begann in fünf Minuten. Violet begutachtete sich im Spiegel in ihrem Büro, band ihr langes sandblondes Haar zum üblichen hohen Ballettdutt zusammen und strich ein paar lose Haare glatt.

Normalerweise trug sie kaum Make-up, doch heute hatte sie etwas Mascara und Rouge aufgelegt. Ihr getönter Lipgloss war irgendwo zwischen ihren Stiften und Kugelschreibern vergraben, aber sie fand ihn und strich sich hastig etwas davon auf die Lippen.

»Oh, du bist aber hübsch heute«, sagte Kathleen kichernd, als sie hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm. »Steht was Besonderes an?«

Violet grinste im Spiegel erst sich selbst an und dann Kathleen. Sie wollte schon so etwas sagen wie »Ich möchte einfach nur hübsch aussehen«, als sie aus dem Augenwinkel Jean-Phillips Bild und sein warmes Lächeln wahrnahm.

Ihr eigenes Lächeln erstarb, und sie wischte sich den Lipgloss mit dem Handrücken von den Lippen.

»Was ist denn jetzt passiert?«, fragte Kathleen und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee.

Violets Herz zog sich zusammen. »Nichts.«

Die Türglocke ertönte, und die Tanzschule wurde wieder vom Getöse junger Schüler und ihrer Eltern erfüllt.

»Miss Violet, Miss Violet!« Mira kam mit einem kleinen Straß Tulpen in der Hand auf sie zugerannt. »Die sind für dich.« Sie streckte Violet die knallorangen Blumen entgegen und strahlte sie erwartungsvoll an.

Violet beugte sich zu ihr hinunter und nahm die Tulpen entgegen. »Danke, Mira. Die sind wunderschön. Aber womit habe ich die denn verdient?«

Adam trat hinter seine Tochter. »Mira hat die Blumen gesehen, als wir gerade an der Supermarktkasse standen, und wollte sie unbedingt für dich mitbringen.« Sein Lächeln war beinahe verlegen, aber in seinen Augen blitzte es spitzbübisch. War es wirklich nur Miras Idee gewesen, die Blumen zu kaufen? Oder hatte Adam ihr das überhaupt erst in den Kopf gesetzt?

Sie erhob sich wieder und drückte den Strauß an ihre Brust. »Na dann, vielen Dank dafür« – ihr Blick fand Adams – »euch beiden. Die passen wunderbar in meine Küche.«

Mira strahlte. »Ich freue mich so, dass ich jetzt zweimal die Woche tanzen darf.«

»Ich freue mich auch. Denn jetzt können wir dich alle doppelt so oft tanzen sehen.«

Das kleine Mädchen kicherte, setzte sich auf den Boden und zog die Schuhe aus.

»Hey, Schwesterherz.« Mitch und Jayda kamen um die Ecke. Kaum hatte Jayda Mira entdeckt, leuchteten ihre Augen auf. Mitch und Adam nickten einander zu, und Jayda ließ sich neben Mira auf den Boden sinken. Die beiden fingen sofort an, zu kichern und zu tuscheln wie jahrelange Freundinnen, während sie ihre Ballettschuhe anzogen.

Es war schon verrückt, wie leicht Kinder Freundschaften schlossen. Violet fiel das alles andere als leicht. Sie war schon immer eher schüchtern gewesen. Mauerblümchen hatte ihre Mutter sie genannt. Zumindest, bis sie ihre Liebe zum Tanz entdeckt hatte. Dann hatte sie es geliebt, auf der Bühne und im Rampenlicht zu stehen. Solange sie, von den Scheinwerfern geblendet, im Bann der Musik und voll konzentriert auf ihren Partner, das Publikum nicht sehen konnte, war es kein Problem für Violet, vor Tausenden von Leuten auftreten.

Genau das hatten sie und Jean-Phillipe getan. Sie hatten sich in ihrem ersten Jahr in der renommierten Marie-Claude Rousseau Tanzkompanie in New York City kennengelernt. Jean-Phillipe, der ursprünglich aus Quebec kam, hatte damals gerade seinen Abschluss an der Juilliard gemacht und Violet ihren an der Pacific Northwest School of Dance and Art. Sie wurden Tanzpartner und verliebten sich innerhalb eines Monats unsterblich ineinander, zogen sogar zusammen. Sie machten Schlagzeilen, und alle Zeitungen des Landes schrieben begeistert über ihre mitreißenden Auftritte, darüber, wie überzeugend die Romantik und die Gefühle zwischen den beiden waren und dass die Welt seit Jahrzehnten kein Tanzpaar mehr gesehen hatte, das auf der Bühne so sehr im Einklang miteinander war.

Sechs Jahre lang hatten Violet und Jean-Phillipe für die Kompanie getanzt, immer in den führenden Rollen, und waren mit der Zeit selbst zu Direktoren und Scouts aufgestiegen. Doch dann hatten Jean-Phillipes Rückenschmerzen begonnen. Sie waren zum Chiropraktiker gegangen, zum Physiotherapeuten und zur Akupunktur. Er hatte alles ausprobiert. Doch erst als er nicht mehr schlafen, gehen oder sitzen konnte, ohne hochdosierte Schmerzmittel zu nehmen, hatte ihn sein Arzt zum MRT geschickt. Und da wurde er schließlich entdeckt: der bösartige Tumor, der an seiner Wirbelsäule wuchs.

Ab dem Zeitpunkt war ihr Leben zu einer endlosen Aneinanderreihung von Arztterminen und Überweisungen, Tests, Tests und noch mehr Tests geworden. Sie mussten aufhören zu tanzen, die Proben zu leiten und nach neuen Talenten zu suchen. Ihr gesamtes Leben drehte sich nur noch um den Tumor. Er war zur dritten Person in ihrer Beziehung geworden.

Violet hasste den Tumor. Die Vorstellung eines Dreiers hatte ihr noch nie gefallen.

Sie probierten es mit Bestrahlung und Chemotherapie, aber nichts davon schlug wirklich an. Eine Operation war die beste Option, barg jedoch das hohe Risiko einer Querschnittslähmung. Es war die schwerste Entscheidung ihres Lebens gewesen, und am Ende hatte Violet in Tränen aufgelöst vor Jean-Phillipe auf die Knie fallen müssen, damit er der Operation zustimmte.

»Ich habe dich lieber in einem Rollstuhl für den Rest unseres Lebens an meiner Seite als gar nicht. Du könntest dann immer noch unterrichten, Regie führen und scouten. Du könntest noch so viel tun. Aber wenn du dich weigerst, der Operation zuzustimmen, könnten wir dich für immer verlieren.«

»Aber ich bin nicht ich, wenn ich nicht tanzen kann«, hatte er gesagt und sich vorgebeugt, um ihr eine Hand an die Wange zu legen. Vor Schmerz war er zusammengezuckt. »Wenn ich nicht mit dir tanzen kann. Es würde mich umbringen, dich mit einem anderen tanzen zu sehen. Seine Hände auf deinem Körper zu sehen, zu sehen, wie er dir auf der Bühne in die Augen schaut, so wie ich dich anschaue. Wenn ich dich auf dem Tanzparkett nicht in meinen Armen halten kann, bin ich sowieso tot.«

Letztendlich war es der Schmerz gewesen, der Jean-Phillipe umgestimmt hatte, es war unerträglich geworden. Erst als er schon aufgeschnitten auf dem OP-Tisch lag, entdeckten die Ärzte, dass der Krebs sich ausgebreitet hatte und so große Teile seiner Wirbelsäule überzog, dass es praktisch ausgeschlossen war, dass er jemals wieder laufen würde.

Die Prozedur war lang und voller Komplikationen, und am Ende gelang es den Ärzten nicht, ihn zu stabilisieren, ihn wiederzubeleben.

Er starb.

Violet würde sich bis an ihr Lebensende an diesen Tag, diesen Moment erinnern. Ihre Seele war in tausend Teile zerbrochen. Das Herz war ihr aus der Brust gerissen worden, und ihre Liebe für den Tanz war von ihr abgefallen wie ein abgestorbenes Blütenblatt.

Während sie sich auf Jean-Phillipes OP vorbereiteten, hatten sie darüber gesprochen, was sie nach seiner Genesung alles tun wollten. Sie mussten einfach über die Zukunft reden, mussten Pläne schmieden, Ziele haben. Sonst versank er in einem dunklen Loch, aus dem ihn Violet kaum noch befreien konnte. Sie entschieden, New York und die Tanzkompanie nach der OP zu verlassen und nach Westen zu ziehen, wo Violet aufgewachsen war, um dort ein eigenes Studio mit Tanzschule zu eröffnen. Sie würde unterrichten, er das Studio leiten und sich um die geschäftliche Seite kümmern.

Sie hatten genug Geld beiseitegelegt, um ein angemessen großes Studio zu mieten, und wenn sie die ersten zwei Jahre sparsam lebten, würde es reichen, bis es Profit abwarf. Vielleicht müssten sie einen kleinen Kredit aufnehmen, aber Jean-Phillipe wollte ein paar Kurse in Buchhaltung belegen, damit er den Papierkram selbst machen und sie so noch etwas Geld einsparen konnten.

Dieser Plan war das Einzige, was sie noch aufrechthielt. Der Traum von ihrem eigenen Studio, ihrer eigenen Tanzkompanie. Doch all diese Träume hatten sich in dem Moment in Luft aufgelöst, als der Arzt damals mit müden Augen und ernstem Gesicht aus dem OP gekommen war.

An jenem Tag hatte Violet ihr Herz verloren. Und Herzen wuchsen nicht nach.

»Könntest du Samstagabend auf Jayda aufpassen?«

Schnipp, schnipp.

»Erde an Vi.«

Schnipp, schnipp.

Eine sanft schüttelnde Hand auf ihrer Schulter holte sie schließlich aus ihren schmerzhaften Erinnerungen. Mitch sah sie an, seine Augen – so grün wie ihre – voller Sorge. »Alles okay?«

Sie schluckte schwer. »Ja. Alles gut.«

Er kannte sie zu gut. Er wusste, dass sie log. Mit einer festen Hand unter ihrem Ellbogen führte er sie ein Stück von dem sich rasch füllenden Warteraum weg. Adam sah ihnen neugierig nach, wurde dann aber von Mira abgelenkt.

Sie gingen um eine Ecke und landeten in der kleinen Abstellnische, in der sie Putzzeug und übrig gebliebene Ballettstangen aufbewahrte.

»Was ist los? Du warst total in Gedanken versunken, und dir standen Tränen in den Augen. Ist wirklich alles okay?«

Sie wischte sich über die Augen und schniefte. »Ich musste nur an ihn denken.«

Ihr Bruder nickte. Sie würde es natürlich niemandem wünschen, erst recht niemandem, den sie liebte, aber die Tatsache, dass ihr Bruder genau wusste, wie es ihr ging, machte alles ein klein wenig erträglicher. Er verstand ihre Trauer. Verstand ihre plötzlichen Stimmungswechsel; dass es ihr in einem Moment gut ging und sie im nächsten in einem dunklen Loch versank. Weil es ihm ganz genauso ging. Sie stützen sich gegenseitig. Passten aufeinander auf. Weil sie sonst niemanden mehr hatten.

»Er wäre so stolz auf dich, Vi, auf all das, was du hier auf die Beine gestellt hast. Du hast seinen Traum, euren Traum, wahr werden lassen.« Er ließ seine Hand an ihrem Arm hinabgleiten und nahm ihre Hand in seine.

Violet wischte sich noch einmal über die Augen. »Er fehlt mir einfach so. Er hatte das Selbstvertrauen, das mir noch immer fehlt. Er …« Ein Schluchzen brach aus ihr hervor.

Ihr Bruder zog sie in seine Arme, strich ihr über den Kopf. »Ich weiß. Ich weiß«, murmelte er.

Sie ließ die Tränen fließen. »Was soll ich nur machen, Mitch? Wie soll ich das alles ganz allein schaffen?«

Er strich weiter beruhigend über ihr Haar. »Das musst du doch gar nicht. Du hast mich. Du hast Jayda. Und irgendwann wirst du auch noch andere Tanzlehrer anstellen können. Warte mal sechs Monate, und dein Studio wird eine Warteliste für neue Schüler haben, das verspreche ich dir.«

Die Geräusche aus dem Warteraum wurden lauter. Ihre Schüler warteten auf sie. An der Tür hing ein Schild, auf dem stand: 15 Minuten zu früh = pünktlich, pünktlich = zu spät, zu spät = tot. Sie konnte also nicht selbst zu spät kommen. Erst recht nicht am dritten Tag nach der Eröffnung.

Sie löste sich aus der Umarmung ihres Bruders und blinzelte ein paarmal, dann lächelte sie, auch wenn noch immer Tränen in ihren Wimpern hingen.

Ihr machte es zwar nichts aus, aber Mitch störte es gewaltig, dass sie beinahe gleich groß waren. Es wurmte ihn gewaltig, dass seine kleine Schwester nur vier Zentimeter kleiner war als er. Aber sie war nun mal die geborene Tänzerin mit ihren schlanken einsachtundsiebzig und den langen Armen und Beinen.

»Ich sollte zurückgehen«, sagte sie und griff nach einem Papiertuch, mit dem sie sich die Augen trocken tupfte. »Ich darf nicht zu spät kommen.«

Er nickte, auch seine Augen traurig und glasig. Er und Jean-Philippe hatten sich gut verstanden, aber Violet wusste, dass er gerade nicht an Jean-Phillipe gedacht hatte. Er dachte an Melissa.

Mit einer Hand schon auf dem Türbogen, hielt sie noch mal inne. »Was hast du mich vorhin gefragt?«

Er trat neben sie, und gemeinsam gingen sie zurück zum Warteraum. »Ob du Samstagabend nach der Arbeit auf Jayda aufpassen kannst.«