Alexandra Scherer

Tod am Hexenwasser

Ein Allgäu-Krimi

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Die in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.

Sommer

Es ist heiß. Nur ab und zu bewegen sich die Äste, wenn ein leichter Windhauch seinen Weg vom Flusstal zu ihnen findet. In der Stille ist das Plätschern eines Baches zu hören. Der Warnschrei eines Eichelhähers weckt eine wachende Präsenz im Wald. Die Stille ist greifbar.

Es raschelt. Äste brechen. Lachen.

Ein Mann und eine Frau auf dem Wanderweg. Händchen haltend.

Wie zufällig biegen sie vom Hauptweg ab und folgen einem fast unsichtbaren Pfad. Kurz darauf stehen sie auf einer Lichtung, durch die sich ein kleiner Bach seinen Weg bahnt. Der Bach gurgelt über einen steilen Abhang hinunter in das Flusstal.

Der Anblick der Alpen am Horizont jenseits des Steilhanges verschlägt dem Paar die Sprache. Die junge Frau findet ihre Stimme zuerst wieder. »Wenn ich die Hand ausstrecke, dann kann ich die Berggipfel greifen.«

»Föhn«, erklärt der Mann.

Sie boxt ihn spielerisch in die Schulter. »Alter Spielverderber, sei nicht so nüchtern. Das ist reine Magie. Der Ort hier. Schau mal, der Stein da schaut der nicht aus wie ein riesiger Altar? Ich bin sicher, hier wurden früher Rituale abgehalten.«

Er nimmt sie in die Arme. »Meine kleine Hexe, wenn du mich so ansiehst, dann glaube ich alles was du sagst.«

Sie küssen sich. Während sie sich immer inniger küssen, beginnt sie, an seiner Kleidung zu nesteln. »Komm hilf mir mal. Zeit, dass wir hier unseren eigenen Ritus abhalten.«

»Nicht doch. Wenn jemand vorbeikommt.«

»Wer sollte vorbeikommen? Deine Frau? Komm, da drüben ist es schön moosig. Das ist unser Platz, es ist zu heiß, alle Leute sind in den Schwimmbädern. Sei kein Spießer. Das ist doch ein passendes Geburtstagsgeschenk. Pack mich aus.«

Herbst

Sie wartet. Ihr Herz schlägt schnell. Endlich. Heute verlässt er sie. Kein Verstecken mehr. Liebevoll streichelt sie über ihren Bauch. Lächelt. Sie nimmt ihr Handy aus der Tasche und liest noch einmal die SMS.

Liebes. Bald. Komm zu unserem Platz. Ich habe eine Überraschung für dich. Fünfzehn Uhr.

Sie hat zu Hause alles vorbereitet. Zu Hause. »Es ist nur für den Übergang, bald ziehen wir in was Richtiges. Aber da hat alles angefangen, ein guter Platz für uns, erst mal«, verspricht sie ihrem Bauch. »Er weiß noch gar nicht, dass ich auch eine Überraschung für ihn habe.«

Sie setzt sich auf einen Stein am Bach und betrachtet die Berge, als sie den Schrei eines Bussards hört und in den blauen Himmel blickt. Hoch oben kann sie ihn gerade noch erkennen. Plötzlich: Aufruhr am Himmel. Ein Schwarm Krähen stürzt sich auf den Raubvogel.

Der Radau ist ohrenbetäubend. Die Frau spürt, dass sie nicht allein ist und dreht sich erwartungsvoll lächelnd um.

1.

1. Oktober, Remigius, »Memento Mori« Mittelalter

Der Tag danach

Hauptkommissar Johannes Maier nippte an seinem Kaffee. Kaffee ohne Zucker war genauso wenig nach seinem Geschmack, wie diese morgendliche Besprechung.

»Haben wir schon den Namen der Toten?« Dabei schmeckte er bittere Galle, als er an den Tatort vom Vorabend dachte.

»Leider nein. Die Fingerabdrücke sind nicht im System. DNA-Auswertung läuft. Dauert aber, wie immer. Es gibt auch keine Vermisstenanzeigen die passen würden.« Christine Grabherr, Hannes neue Assistentin schüttelte den Kopf, bevor sie fortfuhr. »Die Rechtsmedizin wird noch ein bisschen dauern. Dr. Bayerlein sagt, er meldet sich.«

Hannes Maier nahm seine Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. »Gut. Schauen wir mal, was wir wissen. Jürgen?«

Jürgen Wagner zückte sein Notepad und dozierte: »Gegen 18:15 Uhr ging gestern Abend ein Notruf über Handy ein. Eine Frau Magdalena Sonnbichler meldete den Fund einer Leiche. Sie gab genaue Anweisungen in Bezug auf Fundort und geographische Besonderheiten. Die Kollegen fanden die Leiche einer jungen Frau vor, wie von dieser Sonnbichler beschrieben. Anschließend verständigten die Kollegen dann die Kripo.«

Der Kommissar nickte. »Damit war mein schöner Feierabend am Arsch. Ein Waldstück, Hexenwasser, Gemarkung Wilder Wald, bei Wangen. Ich hab kurz mit Frau Sonnbichler und Schorsch Ansbach gesprochen und sie dann heimgeschickt. Die zwei waren durchgefroren. Schorsch ist ein guter Freund von mir, für den kann ich mich verbürgen, aber diese Sonnbichler, was wissen wir über sie?«

Jürgens Gesicht verzog sich abschätzig:

»So 'ne Esoteriktussi. Kommt hier aus der Gegend. Da war mal ein Bruder, aber der ist vor einer Ewigkeit bei einem Unfall ums Leben gekommen. Die Eltern sind auch tot. Sie ist Alleinerbin. Da ist einiges an Kohle da. Scheint überhaupt ein glückliches Händchen zu haben mit dem Erben.«

Christina schnaubte. »Du hast ja nur Vorurteile, weil deine Ex bei der Scheidung die Hälfte des Vermögens eingestrichen hat. Ich finde es echt nervig, wie du über andere Menschen immer so abfällig redest.«

Beim Betrachten der Kollegin fiel ihrem Vorgesetzten auf, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Rassepferd hatte, vor allem weil ihr zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar auf und ab wippte. Im Stillen gab er Christine recht. Seit der Scheidung war Jürgen zynisch geworden.

Erwartungsgemäß plusterte sich Jürgen auf und strich sich über seinen Mark-Spitz-Bart.

»Nö. Fakt. Die Sonnbichler war verheiratet. Aus der Ehe gibt es zwei erwachsene Söhne. Jedenfalls hat sie damals einen guten Fang gemacht. Der Mann stammte aus einer sehr reichen Familie. Als er starb, war sie eine wohlhabende Witwe und musste nie wieder arbeiten.« Jürgens Grinsen wurde anzüglich.

»Hat sich dann dem ganzen Esoterikquatsch zugewandt und war lange mit so einem halbseidenen Kerl liiert.«

Hannes blickte in seinen leeren Kaffeebecher, als würde er dort Erleuchtung erwarten. Unwillig schob er den Becher weit von sich und blickte seinem Untergebenen direkt in die Augen. »Sprich deutlich und in ganzen Sätzen. Was willst mir saga?«

»Die Frau, die gestern den Notruf abgesetzt hat, ist in Stuttgart als medial begabte Heilpraktikerin tätig gewesen und hat den Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche gezogen. Ihr Manager …« Jürgen legte seine ganze Abscheu in das Wort: »Theodor Brück, mit dem sie auch ein Verhältnis hatte, ist einschlägig bekannt als Trickbetrüger, der reichen alten Damen den Kopf verdreht und auf ihre Kosten ein gutes Leben führt. Ein totaler Blender.«

»Ich bezweifle, dass du objektiv bist. Esoterik heißt nicht gleich Betrug«, stichelte Christine.

Jürgen setzte ein überlegenes Grinsen auf. »Schätzchen, bist du wirklich so blöd, wie du blond bist? Sag jetzt nur noch, dass du an den Quatsch glaubst.«

Hannes beschloss einzugreifen, bevor Christine, deren Gesicht rot angelaufen war, ihren Sheepworld-Kaffeebecher als Wurfinstrument einsetzte.

»Jürgen. Lass mal deine persönlichen Befindlichkeiten außen vor. Nichts gegen Gesundbeter und Heilpraktiker. Meine Großmutter hat den Brand weg beten können. Irgendwas ist schon dran. Hast du was Konkretes, das gegen die Frau spricht?«

Jürgen schüttelte den Kopf. »Nein. Nur Gerüchte.« Er klang frustriert. »Ich hab gestern noch einen meiner Spezis in Stuttgart angerufen. Er ist jetzt bei der Kriminalinspektion 3: Wirtschaftskriminalität, Amtsdelikte, Korruption, Umweltdelikte. Theodor Brück ist aktenkundig. Diese Magdalena nicht. Aber … vor einem Jahr gab es da einen Skandal. Sie hat Knall auf Fall ihre Praxis aufgelöst, war dann einige Monate nicht aufzufinden.« Der jüngere Polizeibeamte verzog hämisch sein Gesicht. »Da kann mir keiner sagen, dass die Tusse nicht ihre Finger im Spiel hat. Plötzlich ist sie in Wangen und findet dann auch gleich eine Leiche. Ich fress 'nen Besen, wenn diese Schabracke die junge Frau nicht selber um die Ecke gebracht hat und nun daraus noch Vorteile ziehen will mit einer groß angelegten Publicity-Kampagne.«

Hannes Maier beendete das Geplänkel, bevor Christine und Jürgen handgreiflich wurden. Viel fehlte jedenfalls nicht mehr, so wie seine junge Assistentin den Kaffeebecher umklammerte.

»Lasst Eure Berichte da, ich schau sie noch durch und werd' dann zum Sonnbichlerhof fahren und mit der Frau reden. Jürgen, du besorgst mir noch 'ne topographische Karte von der Gegend. Größtmöglicher Maßstab. Ich will genau sehen, wo dieses Hexenwasser liegt, wo der Wanderweg verläuft und wo die einzelnen Gehöfte stehen. Halt …« bremste er seinen Assistenten, der seine Jacke anzog. »Danach will ich, dass du dich hinsetzt und alles 'rausfindest, was es über Magdalena Sonnbichler und Theo Brück gibt. Aber Fakten, keine wilden Vermutungen. Solange wir den Namen der Toten nicht kennen, ist das unser einziger Ansatzpunkt. Und du Mädle«, wandte er sich an Christine, die wütend aufbegehren wollte, »recherchierst, wer sonst noch in der Nähe vom Tatort wohnt. Versuche, entlastendes Material zu finden, mit dem du Jürgen überzeugen könntest, dass Frau Sonnbichler wirklich nichts mit der Leich‘ zu tun hat.«

2.

29. September, Hieronymus, »Wie lächerlich und weltfremd ist der, der sich darüber wundert, was im Leben vorkommt.« Marc Aurel

Leni Sonnbichler fror. Bibbernd lag sie unter der Bettdecke, ihre Füße Eisklötze. Konfuse Träume hatten sie während der unruhigen und viel zu kurzen Nacht mehrmals aufgeschreckt. Blut. Angst. Kälte. Wut. Leni hatte noch immer eine Gänsehaut. Krähen, die ihr die Augen aushackten, wirres Zeug über Schlangen, Skalpelle und ein weinendes Kind.

»So ein Schmarrn. Saublöde Träumerei und was soll mir der jetzt sagen?« Laut ausgesprochen verjagten die Worte letzte vage Erinnerungen.

Die Konturen im Zimmer wurden deutlicher, als das morgendliche, kalte Herbstlicht durch die Fenster ins Zimmer sickerte. Die Schlafzimmermöbel aus den 1980ern verbreiteten in ihrer verwohnten Schäbigkeit lähmendes Verzagen. Es wäre besser gewesen, ein Hotelzimmer zu nehmen. Aber warum gutes Geld ausgeben, wenn der Hof so oder so leer stand und ihr gehörte?

Vor fünf Jahren, zur Beerdigung der Mutter, hatte sie einige Tage hier gewohnt, danach den Sonnbichlerhof und alles, was damit zusammenhing, in eine Rumpelkammer ihres Gedächtnisses gestopft, die Tür zugemacht und verbarrikadiert.

Seitdem war das Haus unbewohnt und das sah man ihm an.

Leni seufzte.

Genug in Selbstmitleid gebadet. Zeit aufzustehen.

Mit einem Ruck schlug sie die Decke zurück und sprang aus dem Bett, zog schnell die klammen Sachen vom Vortag über und fischte aus einem der herumstehenden Umzugskartons ein Paar dicke Wollsocken für ihre eiskalten Füße.

Für Anfang Oktober waren die Tage noch mild, doch im Haus merkte man wenig davon.

Jetzt was Warmes zu trinken! Sie füllte den Wasserkocher. Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu sprudeln anfing, schaltete sie die zwei elektrischen Heizkörper ein, die sie letzte Nacht in der Küche aufgestellt hatte.

Wenn ich nicht schnell herausfinde, ob die Heizung funktioniert, dann kann ich dem Stromversorger gleich mein ganzes Vermögen überweisen.

Leni blickte nachdenklich auf den Beistellherd.

Außer an den heißesten Tagen im Jahr hatte die Mutter darauf gekocht. Der elektrische Herd war selten zum Einsatz gekommen. »Wozu teuren Strom benutzen, wenn ich das Holz umsonst hab?«, hatte Lenis Mutter argumentiert.

So war die Küche das Herz des Hauses, in dessen Zentrum immer ein Feuer brannte.

Für Außenstehende war Josef, ihr Vater, der Herr im Haus. Doch Maria Sonnbichler zog die Fäden im Hintergrund. Selten sind Entscheidungen im Hause Sonnbichler gegen ihren Wunsch durchgesetzt worden.

Mutter hat uns alle manipuliert. Christian und ich haben es nur nicht gemerkt. Vater war so von sich eingenommen, dass er wirklich dachte, alles wäre auf seinem Mist gewachsen.

Leni erinnerte sich an den bitter-würzigen Geruch des brennenden Holzes, das Knacken, die angenehme Wärme, das Gefühl der Geborgenheit.

Sollte sie es wagen? Was, wenn der Kamin zu brennen anfängt? Lieber nicht.

Der Wasserkocher schaltete sich ab. Leni löffelte löslichen Kaffee, der noch aus der Zeit ihrer Mutter stammte, in einen Becher und goss Wasser auf. Das heiße Getränk würde ihr gut tun.

Sie stand mit ihrem Kaffeebecher am schmutzigen Küchenfenster und sah auf die graue und unfreundliche Landschaft hinaus, die ihre eigene Stimmung wiedergab. Ganz in Gedanken rührte sie das dunkle Gebräu um.

Leni nahm ihr schemenhaftes Spiegelbild in der Fensterscheibe wahr. Geisterhaft zeichnete sich ihr Gesicht vor den Bäumen auf der nebligen Obstwiese ab. Ein Schwarm Krähen flog auf. Sie nahm einen Schluck Kaffee, zog eine Grimasse und stampfte mit dem Fuß auf.

»Was mach ich eigentlich hier?«, fragte sie laut das Universum. »Hab ich nicht genug damit zu tun, Stuttgart und den ganzen Mist mit Theo zu verarbeiten? Wieso bin ich so deppert und komm hierher zurück?«

Wie üblich blieb das Universum stumm.

Leni graute es, in dem ausgekühlten, lange unbewohnten Haus den Winter zu verbringen. Zwischen dem Staub und den Spinnweben hatten sich viele ungute Erinnerungen verfangen:

Die Engstirnigkeit und die permanent schlechte Laune des Vaters. Fast spürte sie, wie sie hilflos auf der Eckbank gesessen hatte, verängstigt den Schimpftiraden ihres Vaters ausgeliefert. Der Streit, als Leni die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium schaffte. Christians Beerdigung. Die Verunsicherung, als ihre empathischen Fähigkeiten sich immer häufiger bemerkbar machten. Die abfälligen Bemerkungen des Vaters über hysterische Weiber, eingebildete Talente und Hexen, die verbrannt gehörten. Die Bestrafungen, wenn sie es wagte, aufzumucken.

Damals begann sie, innere Dialoge zu führen. Wer auch immer ihre inneren Gesprächspartner gewesen waren, sie ließen sie wenigstens ausreden. Wenn auch nicht immer ohne Widerspruch.

»Wenn du nicht bald die Kurve kriegst, versinkst du in einem schwarzen Loch aus Selbstmitleid und Depression und der Vater hat gewonnen«, tadelte sie sich selbst laut.

Beim Gedanken, was alles auf sie zukam, fühlte sie Tränen aufsteigen. Typisch. Erst bringt ihr mich mit spontanen Eingebungen in Schwierigkeiten, aber dann nicht antworten! Leni empfand die Stille des Hauses als abwartend und zuhörend. Trotzig und gleichzeitig um Verständnis heischend wandte sie sich wieder laut an das Universum.

»Es war eine Schnapsidee! Das Haus hat zu lange leer gestanden. Die Erinnerungen sind zu stark, das alles erdrückt mich. Da ist wahnsinnig viel zu tun. Ich kann das nicht! Und dann muss ich auch noch diesen blöden Kaffee trinken! Der schmeckt widerlich.«

Selber Schuld, was trinkst auch so einen Scheiß? Hättest dir halt einen Bohnenkaffee gekauft, als du in der Stadt warst.

Leni war nicht bereit, ihrer inneren Stimme der Vernunft zuzuhören. Sie genoss ihr Bad in Selbstmitleid.

Gerade wollte sie es sich in ihrem emotionalen Tief bequem machen, als das Telefon klingelte. Irritiert zuckte sie zusammen. Sie war davon ausgegangen, dass der Anschluss nach dem Tod der Mutter stillgelegt worden war.

Kurzes hektisches Suchen führte zu einer Kommode im Gang. Dort stand der altmodische Apparat mit runder Wählscheibe aus ihrer Kindheit. Sie hob ab.

Der Hörer lag schwer in ihrer Hand. »Sonnbichler«, meldete sie sich abweisend.

Am anderen Ende der Leitung atmete jemand tief ein. Was soll das denn jetzt? So ein Perverser, der ins Telefon schnauft?

»Leni, bist du das? Ich bin's, der Ansbach Schorsch. Sag jetzt nicht, dass du dich nicht mehr an mich erinnerst. Das wäre peinlich.«

Die Stimme klang tiefer und reifer.

Nein. Nicht vergessen. Verdrängt!

Nach all den Jahren brachte der Klang seiner Stimme die Schmetterlinge in ihrem Bauch immer noch zum Flattern. Lenis Sprachzentrum sprang auf Autopilot, während ihr Hirn noch mit verschiedenen Satzformulierungen beschäftigt war, die höfliche, aber bestimmte Ablehnung bedeuten sollten.

»Hallo Georg.« Wenigstens benutzte sie seinen Taufnamen und signalisierte somit Distanz. Lenis Herz schien davon nichts wissen zu wollen, denn es schlug heftig. »Woher weißt du denn, dass ich hier bin?«

»Du, das war komisch. Gestern hatte ich eine Erscheinung. Ich dachte, ich hätte dich auf dem Wochenmarkt in Wangen gesehen. Es ist fast dreißig Jahre her, deshalb war ich mir nicht sicher. Ich wollte mich nicht blamieren, indem ich eine wildfremde Frau anspreche und mir dann vielleicht noch a Watsch'n einfange. Bis ich Mut gefasst hatte, genauer zu schauen, warst du verschwunden. Ich wollte das Ganze schon abtun, als ich dann im Fidelisbäck den Kilian getroffen habe, vom Huberhof. Der erzählte, dass sein Knecht jemanden auf dem Sonnbichlerhof gesehen hätte. Ich dachte dann heute Morgen, guck mal, ob der Telefonanschluss noch geht. Wie du siehst: Dem Tapferen winkt das Glück. Ich freue mich, dass du da bist. Über die Jahre hab ich immer wieder an dich denken müssen. Deine Eltern waren nicht die Gesprächigsten und dein Vater wollte mit mir eh nie reden. Nach der Sache damals.«

Leni schluckte.

Die Sache damals.

Plötzlich war alles wieder da. Das Gefühl des Verlassenseins, das Nichtverstehen, die Trauer und die Tränen.

Ihr Wunsch, zwischen sich und diese Stimme aus der Vergangenheit Distanz zu bringen, wirkte wie eine kalte Dusche auf die Schmetterlinge im Bauch.

Mist! Schorsch bedeutet Probleme. Ich sollte sofort auflegen.

Ihre anerzogene Höflichkeit verhinderte, dass sie das Gespräch abrupt beendete.

Sie griff zu allgemein üblichen Floskeln. »Das hat mich doch sehr gefreut, dass du dich nach all den Jahren noch erinnert hast. Wir müssen uns mal zu einem Kaffee treffen und über die alten Zeiten plaudern. Melde dich, wenn du Zeit hast, damit wir Termine abgleichen können.«

… und wenn du denkst, ich würde dich treffen, dann bist du dümmer, als ich dich in Erinnerung hab.

Leni gratulierte sich, dass sie dem Problem so diplomatisch aus dem Weg gegangen war.

Georg Ansbach schien sich nicht nur an Lenis Aussehen zu erinnern, sondern auch an ihre Ausweichstrategien.

»Das trifft sich gut, ich hab heute grade Zeit. Wie wär`s? Sollen wir uns treffen? Wo magst hin? Zum Walfisch oder lieber ins Café Knabe?«

Erwischt! Sie hatte vergessen, wie spontan die Allgäuer sein konnten und wie gekonnt zarte Andeutungen überhört wurden, wenn es gerade in den Kram passte.

Leni beschloss, schwerere Geschütze aufzufahren. »Du, das passt grade schlecht. Ich bin erst seit Kurzem da. Es ist noch gar nichts aufgeräumt, das ganze Haus ist staubig und muss ganz dringend geputzt werden. Damit wollte ich heute anfangen und schauen, was ich brauche, wenn ich hier überwintere. Später gerne, aber grade heute …« Sie ließ die Stimme leicht bedauernd klingen, damit die Absage weniger schroff klang.

Hoffentlich ist der Wink mit dem Zaunpfahl jetzt endlich deutlich genug, oder muss ich dem Schorsch den Prügel über den Schädel hauen, damit er merkt, dass ich kein Treffen will?

Georg Ansbach hatte ein dickes Fell. »Das ist super, ich langweile mich gerade total. Weißt was? Ich besorge uns a gscheite Brotzeit und komm vorbei und helfe dir beim Aufräumen. In einer Stunde bin ich bei dir. Bis gleich!« Er legte auf, bevor Leni Gelegenheit hatte, Luft zu holen und ein deutliches NEIN! zu formulieren.

Leni knallte den Hörer auf die Gabel und musste dann doch grinsen. Typisch Schorsch.

Das Schicksal in Form von Georg Ansbach hatte beschlossen, dass es Zeit war, aus dem Selbstmitleid aufzutauchen. Sie stellte sich der Herausforderung, wenn auch der Form halber noch leise vor sich hin grummelnd.

Sie würde mit der Wohnküche anfangen, dort Ordnung schaffen. Kurz danach sah sie sich zufrieden im Raum um.

Eigentlich ist es ja gut so. Wenn ich den Winter über auf dem Sonnbichlerhof bleibe, muss ich anfangen, mich häuslich einzurichten. Was mach ich jetzt, bis der Kerl auftaucht?

»Na los, ihr habt mir das eingebrockt, jetzt brauch ich ein bisschen Unterstützung«, forderte sie laut von ihren unsichtbaren Gesprächspartnern.

Leni stand im großen Vorraum, von dem alle Räume und die Treppe in die oberen Stockwerke abging, und sah sich um. Das ganze Haus benötigte dringend eine Reinigung und dies nicht nur auf stofflicher Ebene. Die Mauern hatten über die Jahre viel zu viele lähmende Erinnerungen und Emotionen der Bewohner gespeichert. Staub und Dreck waren leichter zu entfernen und wirkten sich nicht so subtil auf ihre Stimmung aus. Wo sie vor einer halben Stunde noch am Verzweifeln war, fühlte sie nun Zuversicht und Tatkraft.

Leni schloss die Augen, um sich besser auf ihr inneres Zentrum konzentrieren zu können.

Sobald sie ihren Ruhepunkt gefunden hatte, steuerte sie wie zufällig diverse Umzugskartons an, die in der Eingangshalle standen.

Über einen stolperte sie. »Hergottsakrament. Des gibt an blauen Zehen! Wär es nicht sanfter gegangen?«

Die Stimme in Lenis Kopf klang belustigt: Mach halt die Augen auf. Du bist doch diejenige, die wie ein vergeistigtes Medium mit geschlossenen Augen durch die Gegend latscht.

Leni wollte sich nicht mit ihrer inneren Stimme streiten, also öffnete sie den Karton und inspizierte den Inhalt.

»Passt. Genau das, was jetzt nötig ist. Ich räuchere erst mal den ganzen Mist aus. Hausputz kann warten.«

Sie grinste. »Hoffentlich hat der Schorsch keine Hausstauballergie«.

3.

29. September, Hieronymus, »Wie lächerlich und weltfremd ist der, der sich darüber wundert, was im Leben vorkommt.« Marc Aurel

Leni wusste nicht, wie viel Zeit ihr blieb, bis Schorsch Ansbach vor der Tür stehen würde. So entschied sie sich für eine Schnellversion des Räucherns.

Sie packte die Utensilien aus dem Karton und legte sie der Reihe nach auf den Küchentisch: Räucherschale, Kohle, Kerze und diverse Räuchermischungen und Räucherstäbchen.

Leni zündete die Kerze an, brachte die Räucherkohle zum Glühen und legte sie in die mit Sand gefüllte Schale. Anschließend gab sie die vorbereitete Räuchermischung auf die Kohle und atmete den würzigen Rauch ein. Still ein Gebet und einen Segen sprechend, schritt sie einmal rund um die Küche und stellte die Räucherschale anschließend in die Eingangshalle mitten auf den Boden. Danach verteilte sie glimmende Räucherstäbchen in jedem Zimmer des Hauses. Sie beschloss, Keller und Dachboden auszulassen. Es würde mehrere Durchgänge erfordern, bis sie den ganzen alten Mief vertrieben hätte.

Vor dem Schlafzimmer der Eltern zögerte sie, mit der Hand auf dem Türgriff. Schließlich drückte sie ihn energisch nach unten und stellte glimmende Stäbchen auf die Spiegelkommode ihrer Mutter. Maria Sonnbichler hatte das Schlafzimmer mit in die Ehe gebracht. Dafür hatte sie sich ihre Rentenansprüche auszahlen lassen.

»Das Schlafzimmer war meine Mitgift. Ich wollte nicht, dass meine Schwiegerleut mir nachsagen konnten, ich hätte bettelarm auf den reichen Hof eingeheiratet. Und die Rente? — Ich hab deinen Vater geheiratet. Wieso sollte ich dann eine eigene Rente brauchen? Es heißt: In guten wie in schlechten Zeiten.« Die Geschichte hatte Maria ihrer Tochter oft erzählt, wenn sie gemeinsam die Matratzen ausgeklopft und die Betten frisch bezogen hatten. Dabei hatte ihre Mutter mit rauen Händen über das helle glatte Holz der Nachtschränkchen gestrichen.

Ein Zimmer betrat Leni nicht.

Christians Zimmer, das schaff ich nicht. Da brauch ich mehr Ruhe.

Sie zögerte, holte ein Seelenlicht aus dem Karton, aus dem sie auch die Räucherwaren genommen hatte, und stellte es zusammen mit einigen Räucherstäbchen vor die verschlossene Zimmertür ihres Bruders. Zum Zeichen der Versöhnung stellte sie ein weiteres brennendes ewiges Licht in das Elternschlafzimmer.

Abschließend öffnete sie die Fenster, damit der frische Herbstwind die alte verbrauchte Luft aus dem Haus pusten konnte. Der graue Hochnebel wurde von der strahlenden Herbstsonne vertrieben, ähnlich wie die Rauchschwaden die dunklen Schatten aus dem Haus vertrieben hatten.

Ein Auto bog in den Hof ein.

Schnell wusch sie sich Hände und Gesicht und kämmte mit ihren noch feuchten Fingern ihr zerzaustes Haar. Auf dem Weg zur Haustür band sie sich ihren Pferdeschwanz frisch. Gerade als Schorsch Ansbach die Klingel drücken wollte, öffnete Leni die Tür.

Vor Leni stand ein Mann circa 1,90 groß, nicht mager, nicht fett. Ein leichter Bauchansatz zeichnete sich unter dem T-Shirt ab. Ergrautes struppiges Haar umrahmte ein von vielen Fältchen durchfurchtes Gesicht.

Die letzten dreißig Jahre haben bei ihm ihre Spuren hinterlassen. Aber mei! Die Augen sind immer noch so toll, da könnt ich stundenlang einfach so reinschauen. Ob der noch so super küsst? Es ist lang her, dass ich mal so richtig gut durchgeküsst wurde.

Die erwachsene Leni mischte sich sofort ein, ob dieser unkeuschen Gedanken: Hör mit dem Blödsinn auf, benimm dich nicht wie ein verliebter Teenie.

Sie bemühte sich um einen unverbindlich höflichen Gesichtsausdruck.

Schorsch Ansbach grinste. »Hallo Leni, schön, dass du dich fast nicht verändert hast. A bissle mehr bist geworden, des steht dir aber gut. Nur einen graden Scheitel kannst immer noch nicht ziehen.«

Er hielt Leni einen großen Geschenkkorb entgegen.

Unverschämtheit, mich als dick zu bezeichnen! Ich sollte ihm den Korb an den Kopf schmeißen! Was hat er jetzt vor?

Schorsch Ansbach stellte sich in Positur, zog ein Stück Papier heraus, hielt es auf Armeslänge, kniff die Augen zusammen und las vor: »Liebe Magdalena Sonnbichler, zum Einzug wünsche ich dir: Glück und Zufriedenheit und habe hier zwei Gaben bereit. Das Brot: Es gehe niemals aus«, er zeigte auf die feinen Seelen im Geschenkkorb, »und Salz, das würze jeden Schmaus und halte alles Böse raus! Solang du in diesem Hause weilst und Brot mit deinen Freunden teilst, solang hast Brot und Salz zu Haus und Not und Böses bleiben draus.«

Schorsch sah verlegen aus: »Ich freu’ mich sehr, dass du wieder da bist. Ich dachte, dass der Brot-und-Salz Segen dir gefallen könnte. Du hattest früher ein Faible für solche Traditionen.«

Verstohlen zwinkerte Leni eine Träne aus den Augenwinkeln und bedankte sich mit typisch allgäuerischem Überschwang:

»Ich dank recht schee! Des hätt's jetzt nicht gebraucht.« Die beabsichtigte dämpfende Wirkung wurde durch ihr strahlendes Lächeln in den Augen neutralisiert. »Wenn du schon da bist, dann komm halt rein.«

Schorsch folgte ihr in die Wohnküche und blieb im Türrahmen stehen. Leni wiederholte ihre Einladung. »Ich weiß, es ist nicht aufgeräumt, aber ich hab dich gewarnt. Mach die Tür zu, es ist kalt!«

»Ich hab gerade gedacht, es schaut noch genau so aus, wie damals, als ich manchmal bei euch zum Essen eingeladen war. Fast könnt man meinen, der Christian käm' gleich vom Stall her mit deinem Vater.«

»Ja, das ist lang her, dass der Christian seinen Unfall hatte.« Ein schmerzliches Thema, das es zu vermeiden galt. Sie inspizierte die Leckereien im Korb.

»Sag einmal, spinnst du?«, rief sie entsetzt. »Das muss ein Vermögen gekostet haben! Die Seelen, der Kaffee, der Käse und das teure Rauchfleisch! Du bisch wahnsinnig!«

Schorsch lachte: »Hätte ich einen Strauß rote Rosen mitbringen sollen?«

»Den hätte ich dir um die Ohren gehauen. Des woisch aber gwies! Zwei Stück Kuchen hätten gereicht.«

Schenk mir nie Rosen, wenn du es nicht ernst meinst, Kerle, des hast schon mal gemacht. Ich glaub, das könnt ich nicht ertragen.

»Eben. Eine Kirchenmaus bin ich nun auch nicht. Es kommt nicht alle Tage vor, dass eine Freundin nach langer Zeit wieder da ist. Da darf man wohl aus dem Vollen schöpfen. Ich verspreche, ich werde es nicht zur Gewohnheit werden lassen.«

Ihr Sinn fürs Praktische mischte sich ein: Jetzt mach kein Theater: schau, da ist Kaffee und er hat sogar an Milch gedacht. Wenn es auch nur Kaffeesahne ist.

»Ja, dann machen wir jetzt erst einmal zünftig Brotzeit. Hilf mit, den Tisch zu decken, du weißt, wo des Geschirr ist. Musst es kurz abspülen. Ist noch alles staubig.«

Während Schorsch den Tisch deckte, machte Leni sich ans Kaffeekochen.

»Echter Bohnenkaffee. Der Kaffee riecht toll, ich hoffe, du hast keine Probleme, mit Satz in der Tasse. Ich hab keine Filterblätter und brühe den auf die altmodische Art auf.«

»Nein, des passt schon. Woisch no? Deine Mutter hat den immer so gemacht.«

»Ja und dann hat sie gewitzelt wegen dem Kaffeesatz am Boden: Da hont ihr was zum Lesen.«

Leni saß am Kopfende des Tisches, Schorsch gegenüber , die Ellbogen aufgestützt, den Kaffeebecher mit beiden Händen umschlungen. Sie atmete den Duft des frisch aufgebrühten Bohnenkaffees ein und seufzte zufrieden.

»Ich hatte vergessen richtigen Kaffee zu kaufen und musste heute Morgen ein Gebräu aus altem Pulverkaffee trinken. Das Glas stammt noch aus Mutters Beständen.«

Mit einem kleinen Lächeln bedankte sie sich bei Denen, die ihr zu dem dringend benötigten und leckeren Gebräu verholfen hatten.

Obwohl: eine Lösung ohne Schorsch Ansbach hätte sie bevorzugt.

»Siehste, ich bin die Antwort auf deine Gebete.«

Leni prustete in ihren Kaffee, so dass die Flüssigkeit heraus spritzte. »Träum weiter. Gib die Butter rüber, ich möchte mir eine Seele schmieren«, verlangte sie, während sie sich mit einer Serviette trocken tupfte. »Es ist lang her, dass ich eine hatte.«

»Als seelenlos würde ich dich nicht bezeichnen.« Georg Ansbach reichte ihr die Butter. »Sag Leni. Was hast denn all die Jahre gemacht? Hast geheiratet? Hast Kinder? Wie alt? Wo warst?«

Nachdem sich Leni die Lachtränen aus den Augen gewischt hatte beschmierte sie eines der langen Dinkelbrote mit Butter und belegte es mit Rauchfleisch. So gewann sie Zeit, ihre Antwort zu formulieren.

Sollte sie ihm in einer Viertelstunde ihr ganzes vergangenes Leben erzählen? Sicherlich nicht.

»Ich versuch die Kurzfassung: Ich hab jung geheiratet.«

Wenn ich ehrlich bin, um dir, mir und dem Vater zu zeigen, dass auch andre Männer an mir interessiert waren und um von hier wegzukommen.

»Mein Mann war viel im Ausland tätig. Deshalb sind wir viel gereist. Ich hab zwei Kinder gekriegt. Henry ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, da waren meine Söhne fünf und drei.«

Dass seine schwangere Geliebte mit umkam, geht dich einen Dreck an! — »Ein paar Jahre sah es nicht so rosig aus, finanziell und so …« Leni schluckte und hielt kurz inne. »Ich musste mit den Kindern eine Weile auf dem Hof bei meinen Eltern wohnen. Kannst dir vorstellen, war nicht lustig. Gerade als es anfing, schlimm zu werden, erfuhr ich, dass Henry aus reichem Haus stammte.« — Ich frag mich heute noch, wie blöd ich war, ihm all die Jahre zu glauben, dass er keine Familie mehr hätte. — »Plötzlich war ich finanziell unabhängig und verließ den Sonnbichlerhof zum zweiten Mal.«

»Und dann? Hast du das Leben einer reichen Frau in Luxus und Nichtstun geführt? Erzähl.«

»So in der Art.« Leni wiegelte ab.

Es geht dich eigentlich absolut nichts an, was ich die letzten fünfundzwanzig Jahre so gemacht hab. Theo und das Theater in Stuttgart erst recht nicht.

»Aber das ist nicht weiter interessant. Erzähl lieber, wie ist es dir ergangen? Du hast ja damals relativ überstürzt geheiratet.« — Und mich ohne Erklärung sitzen gelassen. — Leni bemühte sich, ihre Stimme emotionslos klingen zu lassen. »Wie geht's Karin?«

»Das Letzte was ich gehört hab, gut. Sie lebt in Spanien. Wir sind geschieden. Die Ehe hat nicht lang gehalten.«

Da schau an.

Schorsch drehte den Becher in seinen Händen hin und her, schien sich einen Ruck zu geben, blickte hoch, direkt in Lenis Augen. »Du, Leni … Weißt …« Sein Handy klingelte.

Er sah sie entschuldigend an. »Der Fluch des 'Immer-erreichbar-Seins'. Ist es okay, wenn ich ran gehe? Ich kann auch wegdrücken.«

»Passt scho. Wir sind eh fertig mit Essen. Ich räume derweil ab.«

»Griaß di, Kilian. … Ich bin ganz in deiner Nähe. Bei der Leni Sonnbichler. Magst mit ihr reden? … Ah okay. Wart mal … Der Kilian Huber lässt fragen, ob wir nicht zum Kaffee vorbeikommen wollen. Seine Frau würde sich sehr freuen. Was meinst? Hast Lust?«

Sie wollte doch ihre Ruhe. »Eigentlich sollte ich endlich mit dem Aufräumen anfangen.«

»Komm, das läuft dir nicht weg. Das Wetter ist schön und der Spaziergang zum Huberhof täte uns beiden gut. Gib deinem Herzen einen Ruck.«

Der Spaziergang wäre eine Möglichkeit, Schorsch hinterher höflich und bestimmt zu verabschieden.

»Also gut. Lass mich schnell mit dem Kilian reden.« Leni nahm Schorschs Handy entgegen. »Servus Kilian. … Ja ich bin's wirklich. Was muss ich da hören? Dich hat endlich eine geheiratet? Wer ist die Tapfere? … So, Käthe heißt sie? Da bin ich aber gespannt. Sie weiß, dass du mir versprochen warst?«, sagte Leni und lachte.

»Gut. … In circa einer Stunde. Passt das? … Schön. Sag mal, lebt deine Mutter noch? … Toll. Sag ihr liebe Grüße, ich hab oft an sie denken müssen. Sie hat mir damals sehr geholfen. … Ja, klar, ich sehe sie nachher. Gut. Bis dann. Tschüss. Ich geb' dir den Schorsch noch mal. Wart kurz.«

»Ich bin oben, mich umziehen, bis gleich.« Leni gab das Handy zurück an Schorsch und ging nach oben.

4.

1.Oktober, Remigius »Memento Mori« Mittelalter

Der Tag danach

Hannes Maier rieb sich die Augen. Der bittere Geschmack in seinem Mund war stärker geworden. In der Zwischenzeit hatte er mit dem Gerichtsmediziner telefoniert, der einen vorläufigen Bericht abgegeben hatte. Die Tote war eine junge Frau, circa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt. Doktor Bayerlein schätzte, anhand des Verwesungsgrades, dass die Frau schon mehrere Tage im Wald gelegen hatte.

»Ich denke, so circa zwischen fünf oder sieben Tage. Die Aasvögel haben ganze Arbeit geleistet. Wundert mich eigentlich, dass die Füchse und Ratten noch nicht an ihr genagt haben.« Bayerleins Stimme klang fast bewundernd, ob der Gründlichkeit von Mutter Natur. Hannes war froh, dass der Gerichtsmediziner, weit weg in seinem Labor saß und durch das Telefon nicht mitbekam, wie ihm, dem erfahrenen Kriminaler, übel wurde.

Im Landkreis Ravensburg waren die Leute sicherlich nicht gesetzestreuer als im restlichen Ländle. Es gab jedes Jahr auch Tötungsdelikte. Aber Hannes konnte sich nicht erinnern, dass er in seiner ganzen Dienstzeit jemals mit einem Fall zu tun gehabt hatte, in der die Leiche so brutal zugerichtet worden war.

»Mindestens fünfzig Stiche. Mein Assistent zählt grad nochmal. Die Stiche sind unterschiedlich tief. Da hat sich jemand wirklich ausgetobt. Auch im Gesicht. Allerdings kann ich noch nicht sagen, welche Verletzungen von der Tatwaffe stammen und welche von den Vögeln«, so Doktor Bayerlein.

»Da war doch eine Stofftasche mit einem Küchenmesser, das die Spurensicherung gefunden hat. Könnte das die Tatwaffe sein?« Hannes konnte sich zwar nicht vorstellen, warum der Täter die Leiche unbekleidet zurücklassen würde, um dann die Tatwaffe in einem Stoffbeutel liegen zu lassen, aber wer verstand schon das Hirn eines Mörders? Er sicherlich nicht. Seine Maria war ihm vor zehn Jahren genommen worden. Der Schuldige nie gefasst.

»Ich denke nicht. Das Messer ist recht stumpf. Vom Verletzungsmuster her vermute ich eine Art Teppichmesser oder Skalpell. Sehr scharf und kurze Klinge. Wir untersuchen das Messer gerade auf Blutspuren. Sicher ist sicher. Meinen vollständigen Bericht bekommen Sie spätestens heute Nachmittag … zumindest, alles, was ich bis dahin sicher ermitteln kann.«

Hannes bedankte sich für die Vorabinformationen und beendete das Telefonat. Er legte seine Hände auf den Schreibtisch, fühlte die Kühle der splittrigen Resopalplatte, während sein Hirn die bisher erhaltenen Informationen sortierte. Die erhoffte Erleuchtung blieb aus.

»Christine, hast du was Neues?« Die Assistentin war während des Telefonats eingetreten und saß an ihrem Schreibtisch. Er konnte hinter der Barrikade aus Topfpflanzen, die als Grenze zu Jürgens Arbeitsplatz diente, gerade noch ihren Kopf erahnen.

Christine rollte mit ihrem Bürostuhl an den Rand ihres Schreibtisches, damit sie ihren Chef ansehen konnte. »Ich war bei der Familie Huber. Kilian Huber hat gestern die Kollegen zum Hexenwasser gebracht. Er besitzt einen großen Bauernhof und ist Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr, wie die meisten von diesen Landbewohnern.« Christine konsultierte ihr Notizbuch, dessen Außenseite mit einem großen gelben Pokemon verziert war.

»Er ist fünfundvierzig Jahre alt, seit Mai 2008 verheiratet mit Käthe Huber, geborene Störtebecker. Die ist dreißig. Dann gibt es noch Maria Huber, neunundsechzig, Witwe. Die zwei Huberfrauen vermieten neben der Landwirtschaft noch Ferienwohnungen.«

»Gibt es da zur Zeit Gäste? Wird jemand vermisst?« Hannes Maier setzte sich auf. Mit etwas Glück, war der Fall doch schneller gelöst, als gedacht.

Christine schüttelte den Kopf. »Nein. Laut Käthe Huber wohnt ein Ehepaar Schmied in einer der Wohnungen. Ich hab sie nicht angetroffen. Ich hab eine Visitenkarte an die Tür geheftet, dass sie sich bei uns melden sollen.«

»Wie schätzt du die Hubers ein? Könnte es sein, dass er eine Geliebte hatte und entweder er oder seine eifersüchtige Frau was mit der Tat zu tun haben?« Hannes wusste, unter dem harmlosen rosa-Girlie-Gehabe von Christine verbarg sich ein wacher Verstand.

Die Polizistin zuckte mit den Schultern. »Möglich ist alles. Es würde mich wundern, wenn da ein Eifersuchtsdrama abliefe. Ich war nach den Hubers noch kurz in einem süßen kleinen Café in Wassersried. Das wird von zwei älteren Damen betrieben. Die haben neben super leckerem Kuchen auch den ganzen Tratsch und Klatsch in der Gegend. Was interessant ist: Der Kilian Huber soll früher mal mit der Frau Sonnbichler verlobt gewesen sein.«

Jürgen, der gerade ins Büro gekommen war unterbrach Christine: »Ich dachte, wir sind hier bei der Polizei und nicht bei Tantchens Kaffeeklatsch. Wen interessiert es, ob irgendein Bauer seine Bäuerin gefunden hat? Früher oder später wird sie ihn betrügen und mit seinem Geld durchbrennen.«

Hannes blickte Jürgen scharf an. Er war sich nicht sicher, inwieweit Jürgens persönliche Probleme sich auf die Professionalität des Polizisten auswirkte. Es war wohl an der Zeit, ein ernstes Wort mit Jürgen zu wechseln. Aber nicht vor Christine.

»Jürgen, ist das die topographische Karte, die ich wollte?« Der Kommissar zeigte auf die Karte in der Hand seines Assistenten. »Dann lass uns mal die lokalen Begebenheiten eintragen.«

Jürgen befestigte die Landkarte an einer der drei großen Pinnwände, die Hannes hatte hereinbringen lassen. Noch waren die mit dunkelblauem Stoff bespannten Wände fast leer. Die hellgrauen Stahlgerüste stachen in der abgewohnten Schäbigkeit des Büros zusammen mit den modernen Computerflachbildschirmen ins Auge.

»Hier ist der Huberhof. All das gehört zu dem Anwesen.« Christine umrandete die Grenzen des Hubergehöfts mit einem dunklen Filzstift. »Der Sonnbichlerhof grenzt an den Huberhof hier im Wald. Der Leichenfundort gehört zu Frau Sonnbichlers Land, aber die Grenze verläuft am Wanderweg entlang.« Auch diese Grenzen zeichnete die Polizistin gewissenhaft ein.

Jürgen platzierte drei farbige Stecknadeln. »Magdalena Sonnbichler und Ihr Spezi kamen laut Aussage hier entlang und fanden dann die Leiche.«

Hannes Maier starrte eine ganze Weile auf die zwei bunten Stecknadeln, die Georg Ansbach und Magdalena Sonnbichler markierten und auf die einzelne schwarze, die Jürgen für die unbekannte Tote gewählt hatte.

»Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mich mit dieser Frau mal genauer unterhalte. Da stimmt was definitiv nicht. Entweder kann die Frau hellsehen oder sie wusste, was da zu finden war.«