WIE ICH VON GEFLÜCHTETEN
LERNTE, ANZUKOMMEN
Kämpfen zu können bedeutet,
nicht mehr kämpfen zu müssen.
Dank an
Stefanie Jaksch
Marie-Theres Euler-Rolle
Markus Gull
Lukas Beck
HERZLICH WILLKOMMEN
DAS LEBEN IST SCHÖN!?
AUGENBLICK DER EWIGKEIT
BRÜDER IM SCHMERZ
IM ANFANG WAR DIE TAT
WELCHE FARBEN SCHMECKT DER AUGENBLICK?
BRUCE LEE LACHT LIEBER
ANGST KENNT KEINE TRÄNEN
KÄMPFEN WIE EIN MÄDCHEN
HEISSE LUFT ALS RÜCKENWIND
MUT ZUR MENSCHLICHKEIT
KAMPF UMS LEBEN
SO SEHEN SIEGER AUS
MUT ZUR LIEBE
WENIGER IST MEHR
MIT DEM HERZEN GEHEN
GETROCKNETE TRÄNEN AM WEGESRAND
EIN LÄCHELN KOSTET NICHTS
SACHERTORTE MIT SCHLAG
PULL SHIT
ANFÄNGERGLÜCK
LIEBER TOT ALS SCHWUL
BRÜCKENSCHLAG IN DIE ZUKUNFT
BRETT VOR DEM KOPF
EIN UNMORALISCHES ANGEBOT
ZORNZWERGE UND GIFTNATTERN
GOTT UND DIE WELT
TODESURTEIL
SCHREI NACH LIEBE
EIN ALBTRAUM
DAS ZWEISCHNEIDIGE SCHWERT
LEKTIONEN IN DEMUT
DIE DÄMONEN FÜTTERN
IN ALLER FREUNDSCHAFT
NARBEN DER VERGANGENHEIT
AUSNAHME-ATHLETEN
CHAMPIONS DER HERZEN
ERTRINKEN IM ÜBERFLUSS
IM DSCHUNGEL
DIE HÖLLE VON MORIA
MENSCHENWÜRDEN
DIE SCHANDE IM SCHAUFENSTER
TREIBJAGD AM BALKAN
HOFFNUNG IN FLAMMEN
WO DIE TOTEN KINDER WOHNEN
JESUS WAR EIN FLÜCHTLING
ROLLENTAUSCH
GEBOT DER STUNDE
„Welcome, Mister Ronny“, sagt der junge Mann und bittet mich höflich hinein.
Wie nett. Seine sanfte Stimme klingt sehr einladend. Ich freue mich. Immerhin ist es draußen bitterkalt. Es regnet und schneit gleichzeitig und ich bin froh, endlich im Warmen zu sein.
Außerdem habe ich schon lange darauf gehofft, die Familie von Ismail kennenzulernen. Ich trainiere Ismail seit einigen Jahren im Kampfsport und seine Eltern haben mich eingeladen, weil sie sich bedanken möchten und mir dabei auch ihre anderen Kinder vorstellen wollen. Vielleicht könnten sie ja auch einmal zu mir ins Training kommen?
Als ich eintrete, stehen alle auf. Der Vater, die Mutter und die fünf Kinder, wie Orgelpfeifen der Größe nach aufgereiht. Der Kleinste ist gerade einmal drei Jahre alt. Der Größte ist siebzehn und heißt Omar. Dazwischen stehen die beiden anderen Söhne und die Tochter Parissa, die ihr Gesicht schüchtern hinter einem Tuch versteckt. Alles wirkt sehr aufgeräumt und die Familie hat sich fein herausgeputzt. Mir ist es fast ein wenig unangenehm, dass ich so heruntergekommen aussehe. Zum Glück habe ich wenigstens die dreckigen Schuhe schon draußen ausgezogen. Der Vater, ein drahtiger Mann um die vierzig, tritt vor und begrüßt mich mit festem Händedruck und einer gleichzeitigen Umarmung. Er sagt nichts, aber ich spüre jetzt schon, wie viel ihm mein Besuch bedeutet. Die Mutter sieht sehr gütig aus, trägt ein buntes Kopftuch und ein langes Kleid und hat sanftmütige Augen. Sie lächelt mir zu und nimmt mir die nasse Jacke ab, um sie gleich auf einen Haken zu hängen. Alles hat hier seine Ordnung.
Der Vater bittet mich, Platz zu nehmen. Die anderen bleiben stehen und setzen sich erst danach im Kreis auf. Ich bin ein wenig verlegen. Und kann mich nicht erinnern, jemals so höflich empfangen worden zu sein.
Die Mutter holt ein Tablett hervor, auf dem sie mir ein paar Kekse und Getränke entgegenhält. Dann verteilt sie die Getränke an die anderen. Etwas schüchtern nehme ich einen Schluck vom Orangensaft und versuche gleich ins Gespräch zu kommen. „Wie geht es Ihnen?“, frage ich, aber niemand scheint mich zu verstehen.
Zum Glück sitzt Arsalan neben mir. Der junge Mann hat mich hierher begleitet, ist ein guter Freund der Familie und spricht fließend Englisch. Er übersetzt meine Worte. Der Vater hält auch noch sein Mobiltelefon in der Hand, über das sein ältester Sohn Ismail zugeschaltet ist. „Hallo Isi!“, begrüße ich meinen Schüler. „Schau mal, wo ich gerade bin!“ Am Bildschirm sehe ich, wie Isi lächelt. Oder es zumindest versucht. Irgendwie wirkt er dabei sehr traurig. Wahrscheinlich, weil er auch gerne hier wäre.
Über das Handy beginnt Ismail mit seinem Vater zu sprechen. Ich verstehe zwar kein Wort, aber Arsalan und Ismail übersetzen zwischendurch immer wieder.
Der Vater sagt, dass er sich sehr freut, mich kennenzulernen. Dass er sich bei mir bedanken möchte, weil ich mich so gut um seinen ältesten Sohn kümmere. Er hat die Fotos gesehen, die Ismail bei der Siegerehrung zum Staatsmeister im Kickboxen zeigen. Besonders Omar, sein kleinerer Bruder, ist davon sehr angetan, und der Vater lässt fragen, ob Omar vielleicht einmal bei mir mittrainieren könne.
„Na klar!“, antworte ich. „Es wäre mir eine große Freude!“ Omar, der Junge, der mich am Eingang so freundlich begrüßt hat, scheint das Zeug für einen Champion zu haben. Er ist noch ein Teenager, strahlt aber schon eine unglaubliche Ruhe und Kraft aus.
Der Vater steht auf, setzt sich neben mich und beginnt leiser zu sprechen. Er besitzt nicht sehr viel, flüstert er mir zu, aber das Wertvollste, das er hat, ist ein Ring seines eigenen Vaters. Und den möchte er mir heute schenken. Er streift sich den Ring vom Finger und überreicht ihn mir. Es ist ein schöner, großer Silberring mit einem blau leuchtenden Stein. „Das ist ein ganz besonderer Stein, der aus meiner Heimat stammt“, sagt der Vater. „Er soll dich beschützen, Ronny.“
Ich bin sprachlos. Und blicke verlegen zu den anderen.
Omar lächelt mir zu und bittet seinen Vater, mir etwas zu zeigen. Der Vater wischt über den Bildschirm seines Handys und hält es mir näher ran.
Auf einem Video sehe ich zuerst nur eine verlassene Fabrikhalle. Dann schaue ich aber genauer hin. In der Mitte kniet ein Junge und hat die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Zwei vermummte Männer stehen daneben und beginnen plötzlich auf ihn einzuschlagen. Zuerst nur mit den Fäusten, dann, als er schon am Rücken liegt, auch noch mit Fußtritten. Einer der Männer packt den Jungen an den Haaren, richtet ihn brutal auf und hält ihm die Klinge eines großen Messers an die Kehle. Ein anderer schlägt noch einmal auf den wehrlosen Jungen ein, bevor er ihm die Mündung seines Sturmgewehrs an die Schläfe setzt. Die Männer schreien etwas Persisches in die Kamera. Der Junge schreit auch. Er weint. Und fleht um Gnade.
Ich kann zuerst gar nicht glauben, was ich da gerade sehe und gehe noch näher ran. Mir stockt der Atem. Der Junge, der so verzweifelt um sein Leben schreit, das ist ja – Omar, der gerade neben mir sitzt. Stille. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Der Vater hält sich die Hände vors Gesicht und beginnt verzweifelt zu weinen. Die Mutter und die Kinder blicken mit erstarrter Miene zu Boden.
Irgendwann durchbricht Omars Stimme die Stille. Er spricht zu seinem Vater und nimmt ihn dabei liebevoll in den Arm. Wir anderen sitzen alle stumm da. Am kalten und dreckigen Boden. Auf nassen Decken und alten Zeitungen.
Wir sitzen mitten in Moria, dem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos. Genauer gesagt sitzen wir im „Dschungel“ von Moria. So nennen sie die Zeltstadt in den Olivenhainen, wo alle Zuflucht suchen, die im Lager keinen Platz mehr fanden.
Aus Pappkartons, alten Holzpaletten und Plastikplanen hat sich die siebenköpfige Familie dort eine notdürftige Unterkunft gebaut. Durch die löchrigen Planen tropft der Regen. Drinnen ist es gerade einmal so groß, dass wir alle eng nebeneinandersitzen können. Es ist nass und eiskalt. Immer wieder pfeift der Wind durch die Plastikplanen. Warmes Wasser, Strom und sanitäre Anlagen gibt es hier nicht.
Der Vater erzählt mir die ganze Geschichte. Die Familie kommt ursprünglich aus Kabul in Afghanistan. Dort hatten sie ein eigenes Haus und ein gutes Leben. Im Krieg wurde zuerst ihr Haus zerstört. Dann verlor der Vater seinen Job. Als Terror-Milizen seinen Sohn entführten und mit einem Video hohes Lösegeld erpressten, verkaufte der Vater sein letztes Hab und Gut. Sein Sohn kam frei, die Familie flüchtete in der gleichen Nacht. Zuerst in die Türkei, wo sie sich Schleppern anvertraute und insgesamt 7000 Dollar für die Überfahrt nach Griechenland bezahlte.
Das überfüllte Schlauchboot kenterte zweimal und die Familie kämpfte im eiskalten Mittelmeer um ihr Leben. Beim dritten Versuch hat es geklappt. Jetzt sind sie schon seit zwei Monaten hier in Moria.
Ismail ist ihr ältester Sohn. Er flüchtete schon vor vier Jahren, nachdem er bei einem Bombenanschlag fast ums Leben gekommen ist. Der Vater hat ihn dazu ermutigt. „Du musst sofort weg, wenn du leben willst“, waren seine letzten Worte. Ismail hat es bis nach Wien geschafft. Hier habe ich ihn kennengelernt. Und lieben. Ich habe Ismail versprochen, dass ich seine Familie besuche, wenn ich auf Lesbos bin. Jetzt bin ich hier. Mitten im Dschungel von Moria. Ich bin schockiert. Ergriffen. Und tief berührt.
Sie haben alles verloren und leben unter unmenschlichsten Bedingungen in einem provisorischen Zelt. Im Winter, im Regen, im Dreck. Und dann empfangen sie mich mit einer Höflichkeit und Würde, die ich niemals zuvor erlebt habe. Bieten mir ihre letzten Getränke an und schenken mir das Wertvollste, das sie noch besitzen.
Ich kann es nicht begreifen. Wie kann es sein, dass so wunderbare und anständige Menschen unter solch verheerenden Umständen leben müssen? Mitten in Europa.
Ich verspreche dem Vater, dass ich ihm seinen Ring zurückgeben werde. Im Hotel Sacher in Wien, wo sein Sohn Ismail eine Lehre zum Koch absolviert.
Als ich mich auf den Heimweg mache, regnet es noch immer. Ich kann den steilen Weg durch die Baracken und Zelte kaum noch finden. Immer wieder rutsche ich aus. Meine Augen brennen von den Rauchschwaden, die über das Lager ziehen, mir ist eiskalt und es riecht überall nach verbranntem Plastik. Aus den Zelten höre ich kleine Kinder weinen. Irgendwann sehe ich Lichter am Ende des schlammigen Feldweges. Ich setze mich in mein Auto, drehe die Heizung auf und schließe meine Augen. Vor mir sehe ich die Mutter, den Vater und die Kinder. Ich spüre ihr Leid. Und ihre Herzenswärme. Ich weine. Und denke daran, wo meine Reise begonnen hat.
„Wie geht’s dir?“, fragte mich der flüchtige Bekannte, den ich frühmorgens auf der Straße traf. „Danke, gut!“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen und ging schnell weiter. Ich hatte es eilig. Und antwortete auf solche Fragen sowieso immer das Gleiche, ohne groß darüber nachzudenken. Diesmal war es anders. Die Frage regte mich auf. Wie sollte es mir schon gehen? Ich hatte eine wunderbare Familie und viele Freunde. Eine große Wohnung, immer gut zu essen und einen Job, der mir große Freude machte und den ich nicht mal als Arbeit empfand. Immerhin hatte ich mir meinen Traum verwirklicht und leitete ein großes Trainings-Studio im Zentrum von Wien. Dort unterrichtete ich die Kampfkunst Shinergy und war für mehr als vierzig Trainer sowie viele Mitglieder, die wir tagtäglich mit Yoga, Pilates, Fitness und Kampfsportkursen in Bewegung brachten, verantwortlich. Daneben schrieb ich Bücher, hielt Vorträge und coachte Unternehmen im Krisen- und Konfliktmanagement. Was sollte also die komische Frage?
Die morgendliche Begegnung ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Irgendetwas stimmte nicht. Ich wurde misstrauisch. Und wie immer, wenn ich nicht mehr weiterwusste, fuhr ich nach Hohenau, wo ich aufgewachsen bin, um zur Ruhe zu kommen. Dort, wo March und Thaya sich treffen, erheben sich tiefe Auwälder einer unberührten Natur. Für mich ist das ein besonderer Ort. Schon seit meiner frühen Kindheit, als ich mit der Diagnose auf Knochenmarksentzündung und der Aussicht auf ein Leben ohne Sport konfrontiert wurde. Damals hat meine Faszination für Kampfsport begonnen. Ich bewunderte den Mut der ruhmreichen Samurai und verschlang alles zum Thema Zen, Meditation und asiatische Kampfkunst. Ich war mir sicher: Eines Tages würde ich ein großer Kämpfer sein und allen zeigen, was in mir steckt. Meine Umgebung war davon wenig begeistert. Nach monatelanger Bettruhe und Unmengen an Infusionen durfte ich mich kaum bewegen. Ich verbrachte die meiste Zeit alleine in meinem Zimmer, musste meine Schultasche auf einem Rollwagen, wie ihn alte Leute benutzten, hinterherziehen und saß beim Sport immer auf der Ersatzbank. Ich wurde belächelt. Ausgegrenzt. Und war ein Außenseiter.
Zum Glück konnte ich mich damals hinter meinen Büchern verschanzen. Und in den Wäldern. Dort konnte ich ungestört meditieren, trainieren und von großen Taten träumen. Manchmal spielte ich auf einer Wiese Siegerehrungen nach und hielt Dankesreden. Niemand konnte mir dort meinen Traum zerstören.
Das Beste daran? Dass meine kindlichen Träume später Wirklichkeit wurden – und zwar genau so, wie ich mir das immer vorgestellt hatte. Ich begann in einem Taekwondo-Verein zu trainieren, nahm an ersten Turnieren teil und wurde mit 21 Jahren jüngster Staatsmeister im Vollkontakt. Danach wurde ich ins Nationalteam einberufen, kämpfte erfolgreich bei Turnieren in ganz Europa, Asien und den USA und krönte meine Karriere mit US-Open-Medaillen und einem Weltmeistertitel. Und doch bin ich daran fast zerbrochen. Meine Trainer hielten spirituelle Inhalte alter Kampfkünste meist für unnötigen Humbug und trieben mich an. Sponsoren und Verbandsfunktionäre wollten Erfolge sehen, und ich quälte mich mehrmals täglich über meine Grenzen hinaus. Ich wurde dabei immer verbissener und war ständig in Schlägereien verwickelt.
Damals fühlte ich mich als Opfer und redete mich nach Prügeleien darauf heraus, dass ich ja nie angefangen hatte. Heute weiß ich, dass ich sehr wohl dafür verantwortlich war. Weil meine innere Aggression, meine Widerstände und mein übertriebenes Ego all jene auf den Plan riefen, die das gleiche Problem hatten. Und ich auf jede Provokation sofort reagierte. Zuerst nur mit verletzenden Worten. Wenn das nichts half, auch mit den Fäusten.
Ich verbrachte meine Tage mit Training, Wettkämpfen und dem ständigen Streben nach Erfolg. Die Zeit dazwischen überbrückte ich an der Uni, mit Nebenjobs als Türsteher und in wilden Nächten.
Irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich war völlig erschöpft und andauernd krank. Ich war alles andere als in meiner Mitte. Von den Idealen meiner Jugend hatte ich mich weit entfernt. Was nun?
Mit dem brachialen Kräftemessen im Kampfsport konnte ich schon lange nichts mehr anfangen. Was zählte, waren meist Kraft, Härte und der Sieg. Intellekt, Einfühlungsvermögen und der Respekt vor dem Gegner waren weniger gefragt. Viele aufgeblasene Champions waren außerhalb des Rings richtige Arschlöcher. Auf der anderen Seite standen Schöngeister asiatischer Kampfkunst, die ihre eigene Unsicherheit hinter Kalendersprüchen versteckten und sich im Training nie dem direkten Kampf stellten. Völlig verkrampft und in asiatische Tracht gewandet, führten sie ihre starren Bewegungschoreografien vor. Begleitet von ernster Miene, völlig veralteten Trainingsmethoden und Techniken, die jedem halbwegs wachen Straßenkämpfer höchstens Lachtränen in die Augen trieben.
Die einen konnten nur noch kämpfen. Die anderen konnten es gar nicht. Ich glaubte, dass beides möglich war. Ich glaubte daran, dass die geistigen Inhalte der Kampfkunst überall anwendbar sind und Körper wie Geist wappnen können. Im Kampf wie im Alltag. Das war der Start für einen langen Umdenkprozess und die Rückbesinnung auf meine jugendliche Begeisterung. Ich begann die Prinzipien alter Weisheitslehren in eine Bewegungsmethodik zu übersetzen und auf neueste Erkenntnisse der Sportwissenschaft zu bauen. Im Mittelpunkt stand eine Geisteshaltung absoluter Gegenwärtigkeit in Angst- und Stresssituationen sowie die effektive Anwendung der Techniken. Ich gründete „Shinergy“ und unterrichtete eine Selbstverteidigung, die auch gegen stärkere Gegner funktioniert. Darüber hinaus vermittelt Shinergy die spirituellen Inhalte der Kampfkunst, auf die es letztendlich ankommt. Denn nur, wer seine Wut, Angst und Aggression konstruktiv integrieren kann und den Gegner als Spiegelbild seiner eigenen Widerstände erkennt, kann Konflikte friedlich lösen. Und seinen Frieden finden. Kämpfen zu können bedeutet, nicht mehr kämpfen zu müssen.
Das funktionierte auch bei mir selbst gut. Ich war jetzt viel ruhiger. Ich unterrichtete in meiner eigenen kleinen Kampfsportschule, schrieb Bücher und hielt Vorträge über die Anwendung der Shinergy-Prinzipien im beruflichen und privaten Alltag. Irgendwann war mir das zu wenig und ich nahm einen großen Kredit bei der Bank auf. Ich eröffnete ein riesiges Trainingszentrum und posierte für Prospekte und Magazine. Ich war erfolgreich. Zumindest erweckte es den Eindruck.
Denn hinter meinen selbstbewussten Posen, dem ständigen Lächeln und energiegeladenen Auftritten lauerten sie wieder: Die Erschöpfung. Die Angst. Und der ständige Kampf.
Die Zeiten damals waren wirtschaftlich sehr angespannt und ich kämpfte jeden Tag darum, den Betrieb meines Zentrums aufrechtzuerhalten. Eigentlich tat ich gar nichts anderes mehr. Die hohen Mietkosten, die Gehälter und zu wenig Mitglieder – ich jonglierte Millionen. Und hatte dennoch nichts. Außer der ständigen Furcht zu scheitern. Nichts mit Freiheit. Nichts mit Freude. Angst und Burnout hießen meine Begleiter. Ich kämpfte wie besessen. Gegen Konkurrenten, Stress und Zweifel. Und gegen mich selbst.
„Nicht schon wieder“, dachte ich damals in den Wäldern meiner Heimat. „Ich muss mein Leben ändern und sie wiederfinden. Die Freude. Und die Freiheit.“
Aber wie? Ich trug große Verantwortung und hatte so viele Verpflichtungen. An ein Aufgeben war nicht zu denken. Dafür steckte ich schon viel zu tief drinnen und die offenen Rechnungen trieben mich vor sich her – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn ich hetzte durch meinen Alltag und erfüllte nur widerwillig alle Pflichten und Ansprüche. Um mich jeden Abend leer und ausgebrannt zu fühlen. Unfrei und als Gefangener der Umstände. Von meinen Mitarbeitern verlangte ich natürlich das Gleiche. Ich konnte ihnen die Gehälter zwar nicht pünktlich zahlen, hatte aber auch kein Verständnis für ihre berechtigten Beschwerden. „Wenn ich mein Letztes gebe, dann kann ich das auch von euch verlangen“, nach diesem Motto hielt ich alle auf Trab. Immerhin kämpften wir um unsere Existenz.
Und mein Training? Dazu war nur mehr selten Zeit, mein Unterricht hatte sich stark verändert. Früher unterrichtete ich viel mehr Partnerübungen, Wettkampftechnik und realistische Selbstverteidigung. Die meisten Leute wollten aber nur einen Ausgleich zu ihrem Alltag und ein wenig fitter werden. Für die Übungen mit Körperkontakt oder gar Sparring waren nur wenige bereit. Dazu muss man wissen, dass die Philosophie von Shinergy kein Spaziergang ist. Sie ist ein steiniger Weg, der den großen Mut erfordert, sich mit unterdrückten Schattenseiten seiner Persönlichkeit, mit Wut, Angst und Aggression auseinanderzusetzen. Und mit dem eigenen Ego.
Trotzdem strich ich diesen Teil immer mehr aus dem Training. Mehr Technik. Mehr Fitness. Nur nicht zu viel Kampf. Das wollten die meisten nicht. Und ich wollte es jedem recht machen. Ich brauchte mehr Mitglieder.
Die Anfängerkurse waren gerammelt voll. Im Fortgeschrittenen-Training stand ich meist nur noch mit einer Handvoll Frauen und Männer im Raum. Und das Wettkampfteam, mit dem wir immer so erfolgreich waren, schien sich langsam aufzulösen. Ich hatte einfach keine Zeit mehr, mich darum zu kümmern und meine Wochenenden in Sporthallen zu verbringen. Nur einige wenige Unentwegte machten weiter.
Und ich? Ich verlor immer mehr die Lust an meiner Arbeit. Fühlte mich wie im falschen Film. Ich hatte so lange trainiert, so viele Turniere gewonnen, und jetzt? Jetzt stand ich geschniegelt da, lächelte mich durch jugendfreie Motivationssprüche und heuchelte Interesse an den Problemzonen der Wohlstandsgesellschaft. Dazwischen beschäftigte ich mich mit Yoga und Pilates-Trends, den neuesten Methoden zur Fettverbrennung und anderen Ingredienzien zur Selbstoptimierung.
Im Trainings-Zentrum spielte ich den Strahlemann. Niemand durfte merken, wie es mir wirklich ging. Zu Hause war ich erschöpft, frustriert und ständig gereizt.
Der Last empfundener Fremdbestimmung konnte ich damals nur noch durch das Aufwärmen alter Geschichten von ruhmreichen Kämpfen und anderen Abenteuern entfliehen, mit denen ich meine Trainer und Freunde langweilte. Oder ich flüchtete mich ins Nacht-Café, wo ich mir abends oft ein Bierchen zu viel genehmigte. Das schaffte zumindest ein wenig Erleichterung. Bis zum nächsten Morgen.
Ich erinnere mich noch gut an den Morgen, an dem ich wieder einmal übernächtigt ins Büro hetzte. Ich wollte mir beim Bäcker noch schnell ein Frühstück holen, blieb aber am Titelblatt einer Zeitung hängen, die jemand am Tisch liegen gelassen hatte.
„Drama an unserer Grenze“, las ich dort. Und sah das Bild von hunderten Menschen, die mit gesenktem Kopf über ein verlassenes Feld gingen. Ihre letzten Habseligkeiten und kleinen Kinder auf dem Rücken tragend. Ich las im Artikel, dass tausende Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Afghanistan an unserer Grenze standen. Mit nichts, außer dem, was sie am Leib trugen. Das Flüchtlingslager in Traiskirchen sollte bereits heillos überfüllt sein.
Für die üblichen Verdächtigen der rechtsnationalen FPÖ schien dies ein gefundenes Fressen zu sein. Auf der nächsten Seite schürte wieder irgendein wohlstandsverwahrlostes Milchgesicht die Angst vor Fremden. Und sprach im Interview von globaler Bedrohung, Umvolkung und was uns die Geflüchteten nicht alles wegnehmen werden.
„Das darf doch nicht wahr sein“, schoss es mir durch den Kopf. „Ich muss etwas tun.“
Ich empfand es damals fast als Pflicht, zumindest aber als meine Verantwortung. Wir, die den Luxus haben, im Fitnessstudio zu trainieren, wir haben die Verantwortung dort zu helfen.
Ich ging ins Büro und fertigte ein großes Plakat an, auf dem ich unsere Mitglieder aufrief, Kleidung zu spenden. Für die Menschen, die nichts mehr hatten und nur einige Kilometer weit entfernt leiden. Ich würde die Sachen dann nach Traiskirchen bringen.
Ich hing das Plakat auf und definierte daneben einen Ort, wo die Spenden hinterlegt werden konnten. Wie sich herausstellen sollte, reichte der Platz nicht lang aus. Bereits am nächsten Tag brachten unsere Mitglieder unzählige Säcke und Taschen. Mit Kleidung, Schuhen, Hygieneartikeln und Spielzeug. Am zweiten Tag war es schon ein ganzer Berg an Spenden, und mein Auto reichte kaum noch aus, um die Sachen nach Traiskirchen zu bringen. Ich fuhr fast täglich hin und gab die Spenden am Haupteingang des Flüchtlingslagers ab.
Ich war beeindruckt und rief die Luxus-Tempel der Fitnessbranche damals zur vereinten Hilfe auf, bekam aber nie eine Antwort. Die meisten schienen sich weiterhin nur um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Um ihren Bauch, um Beine und Po. Keiner scherte sich um die große Not vor der eigenen Haustür.
In den folgenden Wochen spitzte sich die Situation dramatisch zu. Das Lager in Traiskirchen war endgültig überfüllt, es gab keinen Platz mehr und Neuangekommene mussten auf den Äckern rings ums Lager campieren. Auf alten Decken, Zeitungen und ohne ein Dach über den Kopf. Auch im Regen.
Ich beschloss, die Spenden nicht mehr am Eingang abzugeben, sondern sie direkt an die Menschen auf den Feldern zu verteilen. Das war gar nicht so einfach. Wenn ich mit meinem Wagen vorfuhr und die Heckklappe öffnete, bildete sich sofort eine Menschentraube. Alle wollten etwas von den Spenden haben und drängten nach vorn. Ich konnte das gut verstehen, wusste aber auch um die Gefahr solcher Situationen. Und dass die Schwächeren dabei immer leer ausgehen.
Also beendete ich die Verteilung immer sehr schnell und setzte sie an einem anderen Platz in Traiskirchen fort. Irgendwann hatte ich alles verteilt und setzte mich zu den Menschen auf den Acker. Dort, am kalten Boden, saß ich mit Angekommenen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Somalia zusammen. Sie alle waren von der langen Flucht und den schwierigen Lebensbedingungen gezeichnet. Ihre bunte Kleidung und bedruckten T-Shirts waren offensichtlich Spenden, meist waren sie viel zu groß oder zu klein. Die meisten waren jüngere Männer, es waren aber auch viele Frauen und kleine Kinder dabei. Ich konnte ihre Sprache nicht verstehen, aber oft fand sich jemand, der ins Englische übersetzen konnte.
Es entstanden lange Gespräche. Die Menschen erzählten von ihrer Heimat. Sie sprachen über Krieg, Terror und ständige Angst. Über das Zurücklassen von allem, was sie hatten. Das Haus, die Familie und ihre Freunde. Sie erzählten mir über den beschwerlichen Weg bis hierher. Über brutale Schlepper, die Angst vor dem Ertrinken und dem Verdursten. Über Hunger, Entbehrung und unbeschreibliches Leid.
Was ich hier erfuhr, berührte mich zutiefst, aber auch das Lachen kam nicht zu kurz. Wenn sie erzählten, wie sie es geschafft hatten, wie sehr sie sich darüber freuten und wie erleichtert sie waren, endlich in Sicherheit zu sein.
Irgendwann fragten mich die Menschen um mich herum auch, woher ich käme. Warum ich eigentlich hier sei und was ich beruflich machte. Als ich einer Gruppe junger Männer von meinem Beruf als Kampfsport-Trainer erzählte, sah ich, wie sich dabei ihre Gesichter veränderten, ihre Augen strahlten und sie die Mundwinkel hoben. Einige sprangen sofort auf, hüpften mit Kampfsport-Tritten über das Feld und zeigten mir, was sie schon alles konnten. Das fand ich damals immer sehr lustig. Was mich aber tief berührte, war der Blick einiger Burschen, die neben mir saßen. In diesem Moment schien die Zeit stillzustehen und unsere Blicke trafen sich in Stille und Verbundenheit. Wir sprachen kein Wort, sahen uns nur an und es schien, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Diesen Augenblick werde ich nie vergessen.
Da saßen wir nun auf dem nassen Acker. Ein fast 50-jähriger Kampfsportlehrer. Und eine Handvoll junge Männer, die gerade erst um ihr Leben gerannt waren. Die ihre Heimat verlassen mussten und nun ganz allein waren. Ich hatte alles, was ich mir erträumt habe. Sie hatten alles verloren, nichts mehr zu verlieren. Aber sie hatten dieses unbeschreibliche Leuchten in ihren Augen. Man musste nur genau hinsehen. Hinter dem Schleier aus Angst und Verzweiflung konnte ich es genau erkennen. Da waren Mut, Hoffnung und Kampfgeist.
Mit Kampfgeist meine ich nicht die Bereitschaft zu Aggression und Kampf. Das hat für mich auch nichts mit Wut und Angst zu tun. Im Gegenteil: Für mich zeigt sich der Kampfgeist im Mut. Im Mut, alles aufzugeben, was man hat. Oder zumindest glaubt zu haben. Was dann noch übrig bleibt, ist das Einzige, wofür es sich immer zu kämpfen lohnt: Das eigene Leben.
Ich habe mich sicherlich nicht ohne Grund seit meiner frühesten Jugend mit den spirituellen Inhalten asiatischer Kampfkunst beschäftigt und war immer davon fasziniert, welch grenzenlose Kraft uns innewohnt und sich als Kampfgeist zeigt. Mit äußerer Erscheinung, Härte und Muskelpaketen hat das nichts zu tun. Meist sind es sogar eher unscheinbare Menschen, die den Zugang zu ihrer innersten Kraft finden und über sich hinauswachsen. Menschen, die schwere Zeiten durchmachen mussten, eine Sucht oder eine schwere Krankheit überwunden haben. Die Schreckliches