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Henning Boëtius: Ich ist ein Anderer

Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
Die rote Stadt
Die Bahre
Die Säge
Die Drehorgel
Höllenfahrt
Brocéliande
Morte d’Arthur
Nachwort
Quellen
Copyright

Autor

Henning Boëtius, geboren 1939, promovierte über Hans Henny Jahnn und leitete anschließend die Herausgabe der historisch-kritischen Brentano-Edition. Seit 1984 arbeitet er als Musiker, Goldschmied, Maler und freier Schriftsteller. Neben seinen Kriminalromanen begründeten vor allem seine Romanbiographien über literarische Außenseiter wie Johann Christian Günther, J. M. R. Lenz, Petrarca und sein sehr erfolgreicher Lichtenberg-Roman »Der Gnom« seinen Ruf.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends, neun Jahre nach seinem Tod am 10. November 1891 im Krankenhaus zur ›Unbefleckten Empfängnis‹, läßt Vitalie Rimbaud ihren Sohn exhumieren, um ihn in einem Familiengrab beisetzen zu lassen. Sein Körper war verfallen, nur wenige Knochen und Rippen hielten noch zusammen, aber seine Haare waren wieder blond und voll wie in seiner Jugend.

Nachwort

Wer war er eigentlich? Dieser James Dean des neunzehnten Jahrhunderts, dieser geniale Verweigerer, der sein Lebenswerk zwischen dem fünfzehnten und dem zwanzigsten Lebensjahr schrieb, der plötzlich verstummte, danach einige tausend Kilometer lief wie ein Besessener, ein radikaler Aussteiger, lange bevor es diese Etikettierung gab?

Zweifellos gibt es kaum eine Person der Literaturgeschichte, die so widersprüchlich ist, so genial und so normal zugleich, so kühn und ängstlich, so voller Liebe und voller Angst, so ekstatisch in den Visionen und so asketisch im Alltag. Fast noch mehr als sein schmales Werk faszinierte die Nachkommen sein plötzliches Verstummen, sein jahrelanges Vagabundendasein. Warum trat dieser Jünglingmann seinen möglichen Erfolg in den Salons im wahrsten Sinne des Wortes mit den Füßen? Zog er die Anonymität vor, nicht aus Bescheidenheit, sondern aus mimosenhaftem Stolz? Sein späteres Leben im Orient, in Afrika, verwickelt in dubiose Geschäfte wie Waffen- und Sklavenhandel, ist eine durchaus praktische Existenz mit exotischem Anhauch, aus der dieser störrische Mann erst durch den Einbruch einer tödlichen Krankheit vertrieben wird.

Rimbaud ist neben Lautreámont der wichtigste Vorläufer der Moderne. Keiner ist damals so modern im Schreibansatz wie er, keiner hat diesen präzisen Kamerablick des Sehers, der die Verhältnisse der Dinge und Menschen pointillistisch zu zerlegen vermag. Er nimmt die Collage vorweg, die surrealen Verformungen der Wirklichkeit, das Environment, den ›nouveau roman‹, ja sogar die Poetik des Verstummens, wie sie viel später bei Celan und Beckett auftritt.

Auch wir Deutsche haben unsere Antihelden der Poesie, Hölderlin, Büchner, Kleist zum Beispiel, aber nur unsere Nachbarn haben einen Mordskerl wie Rimbaud, so wie ihn sich die Stürmer und Dränger einst erträumten, jemanden, der seine orgiastischen Phantasien, seine sprachliche Experimentierfreude nicht im Wahnsinn vernichtet oder in eine Kammer einschließt. Vielmehr tritt er mit großer negativer Energie die Flucht nach vorne an, in das scheinbar nüchterne und asketische Leben eines Händlers. Rimbaud ist in einem kaum nachvollziehbaren Ausmaß ein Mann der Kunst und ein Mann des Handelns zugleich. Ein Weiser und ein verwahrlostes Kind in einem.

Er wollte ein genaues Leben leben. Das schloß den Erfolg genauso aus wie das Scheitern. Vielleicht hätte ihn das Altern einst milder gegen sich und die übrige Welt gestimmt. Die Vorstellung ist nicht abwegig, daß Rimbaud zum Schreiben zurückgekehrt wäre, vielleicht nach der Jahrhundertwende, hätte er sie erlebt. Er wäre dann schließlich erst sechsundvierzig Jahre alt gewesen. Paul Valéry hat eine solche Rückkehr aus jahrelangem Verstummen vorgemacht. Auch er ein junges Lyrikergenie, das früh ins Schweigen einkehrt, um dann im Alter unvermutet mit Meisterwerken zur Sprache zurückzufinden.

Der vorliegende Roman versucht, dem Geheimnis der Person Arthur Rimbaud auf die Spur zu kommen. Während Biographien mit ihrem Anspruch einer Rekonstruktion der tatsächlichen Abläufe an einem Gegenstand, der von sich aus bereits die Selbstmystifikation betreibt, scheitern müssen, erlaubt der Roman, das Faszinosum einer solchen Gestalt ohne ängstliche Rückversicherungen bei überlieferten Dokumenten vor die Augen des Lesers zu bringen. Natürlich sind die bekannten Fakten zu Rimbauds Leben eingearbeitet, aber sie sind nicht mehr als die Wegmarkierungen in einer schwierigen und komplexen Landschaft.

»Was uns ein Romancier erzählt«, schrieb Butor einmal, »ist nicht überprüfbar, infolgedessen muß das, was er uns sagt, genügen, um den Anschein des Wirklichen zu erwecken. Wenn ich einem Freund begegne und dieser mir eine erstaunliche Geschichte erzählt, so hat er, um mich zu überzeugen, immer die Möglichkeit, mir zu versichern, daß der oder jener ebenfalls Zeuge war oder daß ich die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung nur da und da nachzuprüfen brauche. Wenn aber ein Schriftsteller das Wort Roman auf den Umschlag seines Buches setzt, so erklärt er damit, daß es vergeblich wäre, irgendwo eine Bestätigung dieser Art suchen zu wollen. Durch das, was er uns sagt, und durch das ganz allein, müssen uns seine Personen überzeugen, müssen sie ›leben‹, wie man sagt, sogar auch dann, wenn sie tatsächlich existiert haben sollten.«1

Im gleichen Aufsatz nennt Butor den Roman das »Laboratorium des Berichtens«. Dies bringt die Sache auf den Punkt. Zwei Beispiele für die experimentelle Arbeitsweise in diesem Roman seien genannt: Daß Rimbaud in Marseille einst jenen Mister Georges, der sich später Joseph Conrad nannte, getroffen hat, ist nicht nachweisbar. Sie waren jedoch zur gleichen Zeit am gleichen Ort, sie arbeiteten beide am Hafen, sie tranken beide gerne, und sie hatten, was besonders wichtig ist, eine starke und magnetische Ausstrahlung. Wie wahrscheinlich also ist es, daß sie sich gekannt haben? Ein zweites Beispiel: Für die Liebesgeschichte mit Henrika gibt es ein einziges Zeugnis. In den ›Illuminations‹ heißt es einmal wie beiläufig: »O dieser warme Februarmorgen! Der unpassende Südwind belebte unsere dürftigen und absurden Erinnerungen, die Misere unserer Jugend.

Henrika hatte einen baumwollenen Rock an, weiß und braun kariert, wie man ihn in einem vergangenen Jahrhundert trug, eine Haube mit Bändern und ein seidenes Halstuch. Das sah noch viel trostloser aus als Trauerkleidung. Wir machten einen Spaziergang durch die Vorstädte. Der Himmel war bedeckt, und dieser Wind aus dem Süden entfachte all die widerwärtigen Gerüche der verwüsteten Gärten und verdorrten Wiesen.

Das schien meine Frau nicht im gleichen Maße zu ermüden wie mich. Sie machte mich auf die winzigen Fische in einer Wasserlache aufmerksam, die auf einem hochgelegenen Fußweg von der Überschwemmung des vorigen Monats übriggeblieben war.« (Übs. d. V.)

Eine solche Rimbaud-typische kleine Szene von hoher Bildkraft wirkt wie ein Kristallisationskern, der unter günstigen Umständen eine romanhafte Entfaltung erlaubt. Weniger Rimbauds gereimte Gedichte, die im übrigen unübersetzbar sind wie alle dem Reimzwang unterworfene Lyrik, als seine Kurzprosa ist es denn auch, die bis heute ihre inspirierende Kraft beweist. Er war der Pionier dieser Kunstform, die viele Fortsetzer fand. Erinnert sei nur an René Char.

Der Roman ›Ich ist ein anderer‹ ist ein Spiel mit der Wirklichkeit unter Einhaltung des Prinzips der Möglichkeit, eine Projektion von Laterna-magica-Bildern in den dunklen Raum der Geschichte. Als reale Versatzstücke gibt es eine Reihe von Rimbaud-Texten. Um dem Leser ihre Identifikation zu erleichtern, werden sie im folgenden aufgeführt.

H. B.

Quellen

Alle Mottos der sieben Kapitel stammen aus den ›Illuminations ‹ und der ›Saison en Enfer‹. ›Morte d’Arthur‹ ist der Titel des Artus-Romans von Th. Malory.

Ref 1: Die Sonne war noch warm ... im Jahre 1503. Schulaufsatz von 1862 od. 63, übersetzt von Walther Küchler. (Sämtliche Dichtungen, S. 7, im folgenden zitiert als SD) Das Wort ›Gesichtern‹ am Anfang wurde vom Autor konjiziert. Es ist im Original offenbar unleserlich.

Ref 2: Geschrei ... Tanz!, ›Saison‹, SD, S. 213

Ref 3: Ich werde ... zurückkehren. ›Saison‹, SD, S. 75

Ref 4: Das Sommerabendblau (Empfindungen), Übersetzung Karl Krolow in: Enid Starkie, Das Leben des Arthur Rimbaud, München 1990 (im folgenden zitiert als ›Starkie‹), S. 58

Ref 5: Die Quelle weint ..., SD, S. 29

Ref 6: Wenn des Knaben rote Stirn ..., Übersetzung Alfred Wolkenstein, in Starkie, S. 205 f.

Ref 7: Auf einer Lichtung ..., Übersetzung Henning Boetius

Ref 8: Hinab glitt ich die Flüsse ..., Bateau Ivre. Übersetzung Paul Celan, Wiesbaden 1958

Ref 9: In meiner letzten Stunde ..., Lautreámont, Das Gesamtwerk, Hamburg 1988, übersetzt von Ré Soupault, S. 29

Ref 10: Zur Zeit wühle ich mich ..., die ›Seherbriefe‹, zitiert aus ›Arthur Rimbaud, Briefe, Dokumente, übersetzt von Curd Ochwadt, Hamburg 1964 (S. 19ff.), im folgenden zitiert als ›Briefe‹

Ref 11: Mein traurig Herz.., SD, S. 91f.

Ref 12: Und ich-verstrickt ..., Bateau Ivre. s.o.

Ref 13: Schlürft, auf das Wohl der Königin ..., aus: ›Die Pariser Orgie‹, SD, S. 79f.

Ref 14: Sobald die Erinnerung ..., ›Illuminations‹, SD, S. 155

Ref 15: Elende Mohrrübenfee ..., Starkie, S. 325

Ref 16: Einst, wenn ich mich recht erinnere ..., ›Saison‹, SD, S. 205

Ref 17: Graue Kristallhimmel ..., ›Illuminations‹, SD, S. 173

Ref 18: Und so wie ich ...., ›Illuminations‹, SD, S. 173

Ref 19: Aufbruch. ›Illuminations‹, SD, S. 165f.

Ref 20: Sie ist wiedergefunden ..., ›Saison‹, SD, S. 233

Ref 21: Wenn ich ..., ›Briefe‹, S. 47

Ref 22: Was das Abkratzen.., ›Briefe‹, S. 48f.

Ref 23: Ja, ich habe ein Laster ..., Entwürfe zur ›Saison‹, SD, S. 319

Ref 24: Einst, wenn ich mich recht erinnere.., s. o.

Ref 25: Ich hatte recht ..., ›Saison‹, SD, S. 237

Ref 26: Und nun finde ich mich.., ›Saison‹, SD, S. 209

Ref 27: Manchmal .... ›Saison‹, SD, S. 243

Ref 28: Ja, die neue Stunde ..., ›Saison‹, SD, S. 243f.

Ref 29: Die Glut des Sommers ..., ›Illuminations‹, SD, S. 195

Ref 30: Der unterzeichnete Arthur Rimbaud ..., ›Briefe‹, S. 59

Ref 31: Ich habe eine tüchtige ... Menschen, ›Saison‹, SD, S. 215f.

Ref 32: EINE LAST ..., ›Briefe‹, S. 149

Ref 33: Oh! Ich leide ... Herzens. ›Saison‹, SD, S. 221

Ref 34: Dort, sind dort nicht ... Erden. ›Saison‹, SD, S. 217

Ref 35: Ich will alle Geheimnisse entschleiern ... schade. ›Saison ‹, SD, S. 217f.

Ref 36: Geehrter Herr ... werden muß ..., ›Briefe‹, S. 150

Ref 37: Ach was! Laßt mich alle ... Müdigkeit. ›Saison‹, SD, S. 219