Robert Preis wurde 1972 in Graz geboren und ist dort aufgewachsen. Nach dem Studium in Wien und einem längeren Auslandsaufenthalt in Kroatien lebt er heute mit seiner Familie wieder in der Nähe seiner Heimatstadt. Er arbeitet als Journalist bei einer Tageszeitung und schrieb zahlreiche Sachbücher und Romane.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © Marija Kanizaj
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-296-8
Originalausgabe
 
Mit Unterstützung durch das Land Steiermark

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Dieses Buch ist meinen Großeltern gewidmet.
Für ihre Erzählungen aus unsagbaren Tagen, die für alle Zeit meine Phantasie genährt haben.

 

»It was not a fantasy. It was a real experience.«

Betty Hill im Jahr 1961.
Sie und ihr Mann Barney gelten als
die ersten Entführungsopfer durch »die Grauen«.

Teil 1

1

1486 v. Chr.–1425 v. Chr.
In den Annalen des Pharao Thutmosis III. wird von »Kreisen aus Feuer« berichtet. Die Kreise wurden mehrere Tage lang am Himmel beobachtet.

Der Himmel über Graz ist hoch und wolkenlos. Wie eine künstliche Kuppel liegt er über der Welt. Unter ihm breitet sich ein riesiges verschachteltes Gebäude mit Leuchtschriften aus, das von Menschen umschwirrt wird wie ein Ameisenhaufen. Weitere, kleinere Gebäudeschachteln sind über das Gelände verstreut, das vor allem aus gewaltigen Asphaltflächen besteht.

Von der Autobahn kriecht der Verkehr in Kolonnen erwartungsvoll auf das krakenhafte Gebilde zu, das zweitgrößte Einkaufszentrum Österreichs. Es nennt sich Shoppingcity Seiersberg, was ein bisschen nach Hollywood und Vergnügungsviertel klingt, tatsächlich aber befindet sich das Einkaufszentrum im Süden von Graz, einer kleinen, dickluftigen Stadt, die von Weinhügeln, Maisäckern und unzähligen Einfamilienhäusern umgeben wird. Sie liegt gleich an der A 9, der Autobahn, die in den Süden führt. Richtung Meer. Richtung Urlaub. Richtung – weit weg.

Das Kind sieht den Mann im Spiegelbild einer Spielzeug-Auslage. Es dreht sich abrupt um und zerrt an der Hand der Mutter, die daraufhin mit der Zunge schnalzt, als hätte sie zum wiederholten Male erfolglos versucht einen Gedanken zu fassen.

»Ich will dahin, Mama, bitte!«

Widerwillig lässt sich die Frau von ihrem quengelnden Sohn quer über die zweite Ebene des Einkaufszentrums zerren. In der anderen Hand trägt sie einen Plastiksack, gefüllt mit Lebensmitteln.

Die Last der Einkaufstasche quetscht das Blut ihrer Finger ab. Sie löst sich von der schwitzigen kleinen Hand ihres Sohnes und stellt die Einkaufstasche zwischen ihre Beine. Als sie aufschaut, steht sie einem Streifenpolizisten gegenüber. Er hat sich gerade noch mit einem anderen Mann unterhalten, bevor er sich nun umdreht und sie mit stahlblauen Augen einschüchternd direkt anblickt.

Es scheint, als falle es ihm schwer, sich von ihr zu lösen, und so wirft er nun einen fast tadelnden Blick auf den Buben, der immer noch aufgeregt an der Seite der Mutter zappelt. Der Beamte zwingt sich zu einem Lächeln. »Na, will der Herr auch zur Polizei?«, brummt er durch seinen Schnauzbart. »Na, da muss er aber noch eine Weile zur Schule. Na, und die Frau Mama? Na, die kann derweil ja ein paar Broschüren mitnehmen. Darf ich Ihnen unsere …?«

Der Mann riecht nach Leder und Rasierwasser. Seine Fingernägel sind kurz geschnitten, seine Haut hat den gleichmäßigen Farbton dezenter Solariumbräune. Der Duft des Rasierwassers steigt ihr durch die Nase direkt ins Gehirn und löst dort eine chemische Reaktion aus.

Sie lächelt verlegen, seltsam berührt. Wie damals in der Schule, als der hübscheste Junge aus der Nachbarklasse sie zum ersten Mal ansprach. »Du-u«, sagte er, nachdem er ihr mit dem Zeigfinger auf die Schulter getippt hatte. »Sind wir Freunde?« Sie hatte mit der Schulter gezuckt und »Okay« gesagt, woraufhin der Junge ihr mit hochrotem Kopf feierlich sein Freundschaftsbuch überreichte.

Sie kommt sich tatsächlich vor wie ein kleines Mädchen. Der Polizist lächelt zurück und blickt sie wieder an.

»Na«, sagt er erneut, diesmal nach einem Räuspern, als müsse er die Worte aus dem Inneren seines Körpers pressen, »vielleicht will der Bub ja ein bisschen in die Kinderbetreuung, während die Mama sich informiert?«

Armin Trost kann das nicht mehr hören. Diese ständig gebrummten »Nas«. Der Kollege hat doch einen Tick, einen Sprachdefekt, so viel steht mal fest. Und mit diesem Defekt macht er sogar wildfremde Mütter an.

Er ist nur zufällig vorbeigekommen, weil er sich nach einem geeigneten Buch für Charlotte umsehen will, die bald Geburtstag hat – und einen Faible für skandinavische Krimis mit mehr als fünfhundert Seiten. Auf dem Weg in den Buchladen hat er den Kollegen der Inspektion Seiersberg getroffen. Er kennt ihn noch aus der Zeit vor der Umstrukturierung der Dienststellen, als er noch Gendarm am Posten war.

Graz ist klein. Man läuft sich immer wieder über den Weg. So oft jedenfalls, dass man nicht einfach aneinander vorübergehen kann, wenn man sich in einem Einkaufszentrum begegnet.

Seit ein paar Minuten sucht Trost bereits nach einem geeigneten Moment, um sich wieder zu verabschieden, doch stets hebt der Kollege an, ihm eine Geschichte zu erzählen, deren Faden er längst verloren hat. »… und dann habe ich gesagt …« Er verteilt eine Polizei-Broschüre, wechselt ein paar Worte mit einer Sandalen tragenden dürren Frau, die dünn lächelt. »… auf jeden Fall sagen die Wiener immer …« Eine Gruppe kichernder Burschen fragt, ob es noch Politessen gibt. »… und Kroatien ist sowieso viel besser als Italien …« Und dann taucht auch noch diese Frau mit dem Buben auf.

»Na, jeder braucht doch einen Freund und Helfer. Sie sicher auch«, säuselt der Polizist gerade. Die hellen Augen unter der Schirmmütze blitzen so blau wie die von Terrence Hill. Seine Mundwinkel zucken.

Trost bildet sich ein, sogar Bläschen auf seinen Lippen auszumachen und zu sehen, wie ein gelber Mitesser unter dem Nasenflügel zum Vorschein kommt. Ihm fällt auch auf, dass die Frau einen Schritt näher tritt und nervös lächelt, wobei sie eine Reihe kleiner dunkelgelber Zähne entblößt. Er glaubt, die elende Mundgeruchmischung aus kaltem Kaffee, Zigaretten und Extrawurst zu erkennen.

Der Bub mustert ihn missbilligend. Wahrscheinlich weil Trost keine Uniform trägt und stört, während seine Mutter hier gerade mit einem richtigen Polizisten anbandelt. Der Junge hat schwarze Augen wie Knöpfe und fixiert ihn wie ein Insekt. Als Trost sich entschuldigt und zwischen die Menschenmenge hindurch in Richtung Toilette schiebt, verabschiedet sich niemand von ihm.

Chefinspektor Armin Trost ist seit dem frühen Vormittag auf den Beinen. Er hat angenommen, im Einkaufszentrum am schnellsten ein geeignetes Geburtstagsgeschenk für Charlotte zu finden. Zuerst hat er in Modeboutiquen, danach in Drogerien gesucht, es aber schließlich aufgegeben und ist dann auf die Buchhandlung zugesteuert. Er ist wieder einmal dem Trugschluss zum Opfer gefallen, dass, wenn man nicht genau weiß, was man schenken soll, die Vielfalt eines Einkaufszentrums hilfreich ist. In Wahrheit ist natürlich das Gegenteil der Fall. Mehr als zweihundert Geschäfte, fünfundachtzigtausend Quadratmeter Verkaufsfläche, eine eigene Welt, die mit einem schier erdrückendenden Angebot für den Unentschlossenen aufwartet.

Irgendwann einmal hat er einen Bericht in der Zeitung gelesen über Leute, die hier ihre Freizeit verbringen. Manche Menschen spazieren durch Parks oder joggen oder sitzen in den Kaffeehäusern der Innenstadt, andere kommen hierher ins überdachte Shopping-Paradies, um den ganzen Tag auf und ab zu schlendern. Vielleicht da und dort ein Bier, eine Pizza, aber im Grunde wollen sie nur in der künstlichen Welt ohne Tageslicht und Wetter Zeit verbringen. Sie regelrecht totschlagen. Und wenn sich zigtausende Menschen durch eine klimatisierte, künstliche und auf einschläfernde Art entrückte Auslagenwelt schieben, kennt man hier immer jemanden.

Wenn Trost zu lange auf hartem Untergrund steht, breitet sich der Schmerz vom Knöchel über die Wade und das Knie bis zu den Lendenwirbeln aus. Ihm tut das Kreuz weh. Und der Kopf. Das ständige Kaufhausgedudel macht ihn wahnsinnig. Er ärgert sich jetzt, noch nicht in der Buchhandlung gewesen zu sein, der einzige Ort im gesamten Center, der nicht mit Musik berieselt wird. Sogar hier auf dem Klo gibt es Musik. Als könne man den Leuten die an einem solchen Ort unvermeidlichen Geräusche nicht zumuten. Er fühlt sich wie in einem Steven-Spielberg-Film: Jede Bewegung, jeder Dialog, einfach alles wird von Musik untermalt. Als hätte es Bedeutung. Aber – was hat in der Realität schon Bedeutung? Trost hat das Bild der zitternden Wasserlache von »Jurassic Park« vor seinem inneren Auge. Automatisch überkommt ihn das Gefühl, eine unbekannte Macht nähere sich mit schweren Schritten. Er stellt sich die Musik von »Der Weiße Hai« vor – tam tam tam tam.

Er fuchtelt so lange vor der Waschbeckenarmatur herum, bis endlich Wasser aus dem Hahn schießt. Mehrere Tropfen treffen seine Hose, weil der vom Sensor ausgelöste Strahl zu stark ist. Er flucht und wischt mit einem Papierhandtuch so lange an dem Hosenbein seiner blauen Jeans herum, bis die Hose an der Stelle kleine Fältchen schlägt. Um auch seinen Ärger wegzuschwemmen, wäscht er sich danach das Gesicht. Während die Tropfen über die langen Barthaare an seinem Kinn rinnen, betrachtet er sich im Spiegel. Sein Vollbart, dessen Farbe an den Rost alter Autos erinnert, ist länger geworden und lässt sein Gesicht rundlicher wirken. Charlotte nennt ihn oft liebevoll »mein Pirat«, seine Tochter Elsa schimpft, er schaue aus wie ein alter Mann, wie ein Opapapa. Jonas, sein Ältester, ignoriert ihn meistens, egal ob mit oder ohne Bart. Die ebenfalls rostig anmutenden Haare kräuseln sich über den Ohren, und die Augen laufen in feine Fältchen aus, sodass er wie jemand wirkt, der viel zu lachen hat. Das kostet ihn nun wirklich einen Lacher. Trost ist kein Mensch, der häufig lacht. Er ist nie so einer gewesen.

Er starrt sein Spiegelbild so lange an, bis er zu schielen beginnt. Die Farben verschwinden. Die Konturen verschwimmen. Einen Sekundenbruchteil lang kommt es ihm so vor, als würde er auf sein Skelett, seinen Totenschädel blicken. Als verfüge er über einen Röntgenblick. Er reißt sich los und reibt sich mit zusammengepressten Augen die Nasenwurzel.

Als er die Augen öffnet, hat sich etwas verändert. Er betrachtet noch einmal sein Spiegelbild, sieht seinen breiten, bulligen Körper, den man auch mit etwas weniger Wohlwollen als untersetzt bezeichnen könnte. Er trägt ein weißes, an den Ärmeln aufgekrempeltes Hemd, das weit genug geschnitten ist, um die Konturen seines Körpers nicht allzu sehr zu betonen. Es hängt lässig über den ausgewaschenen blassblauen Jeans, die Rissstellen aufweisen, was ihn, noch dazu in Kombination mit den jeansfarbenen Stoffturnschuhen, jugendlicher, ja, in einer naiven Hoffnung sogar geradezu verwegen aussehen lassen soll.

Er dreht den Kopf und schaut sich um. Er befindet sich in einem sterilen Nassbereich mit Fliesenboden, auf dem die Reste von Papierhandtüchern und Klopapier kleben. An der Wand hängt eine Tafel, auf der mit krakeliger Schrift die Putzdienste eingetragen sind. Der nächste Rundgang scheint in wenigen Minuten anzustehen und ist, wie Trost findet, auch dringend notwendig. Ein Seifenspender tropft und hinterlässt auf dem Waschbecken ein zähflüssiges gelbes Rinnsal. Auf einer Fliese steht in roter Farbe und in Großbuchstaben: FUCK THE CHURCHES.

Irgendetwas ist anders. Vor wenigen Sekunden noch war das eine ganz gewöhnliche Herrentoilette, also ein nicht wirklich appetitlicher Ort. Doch jetzt hat sich etwas verändert. Oder vielmehr: Etwas fehlt.

Dann fällt es ihm auf. Die Kaufhausmusik ist verstummt. Zum ersten Mal an diesem Tag ist es vollkommen still um ihn herum.

Er macht einen Schritt auf die Schiebetür zu, die sich mit einem Seufzen automatisch öffnet, und tritt auf den Gang hinaus. Auch hier keine Musik, wenngleich es keineswegs still ist. Eine Frau mit Einkaufswagen läuft ihm hysterisch schreiend entgegen.

»FORT! LAUFEN SIE!«, plärrt sie mit sich überschlagender Stimme. In ihrem Einkaufswagen hockt ein weinendes Kind. Die Frau hetzt an Trost vorüber, reißt ihr heulendes Bündel so heftig aus dem Wagen, dass zu befürchten ist, dass es sich dabei verletzt, und stemmt sich gegen die Notausgangstür. Sekunden später sind beide verschwunden.

Trost rührt sich keinen Millimeter. Weitere bleiche Gesichter kommen ihm entgegen. Alle kreischen, rufen und stottern durcheinander. Auch von weiter weg dringen jetzt Schreie und das Weinen von Kindern zu ihm.

Endlich reagiert er und läuft zum Info-Stand, doch vom nervenden Kollegen und seiner jüngsten Eroberung fehlt jede Spur. Ein paar Polizei-Broschüren flattern herum. Wahrscheinlich hat er die Frau mit einem »Na …?« gepackt und ist mit ihr wohin auch immer gerannt. Ob er den Buben mit den Knopfaugen auch mitgenommen hat?

Überall rennen Menschen, einige stürzen, andere stolpern über sie. Manche schauen verwirrt um sich, grinsen verstört, weil sie sich vielleicht in einem Flashmob wähnen, jenem lustigen und gerade sehr modernen Gesellschaftsspiel, das immer auch ein wenig verstören will, bei dem eine Gruppe etwas völlig Unerwartetes tut.

Schreie und Rufe überlagern sich im Echo, das sie selbst verursachen, während Trost noch immer atemlos vor dem Info-Stand steht. Er hält eine Broschüre in der Hand, obwohl er sich nicht erinnern kann, sie aufgehoben zu haben, und ist außerstande, sich zu bewegen. Er versucht zu verstehen, was hier vor sich geht. Und scheitert. Als er sich im Kreis dreht, spürt er, dass sich die Haare seiner Arme aufgerichtet haben. Etwas nähert sich.

Weitere wertvolle Sekunden vergehen, und er weiß, dass sie einer Ewigkeit entsprechen und die Möglichkeiten verringern, was oder wem auch immer zu entkommen. Doch er kann nicht reagieren, fixiert stattdessen nur die Rolltreppe, als folge er einer Intuition. Stufen, die lautlos vom Obergeschoss herabrinnen.

Erst sieht er Sandalen, dann taucht eine dunkelblaue Latzhose auf, gefolgt von einem weißen T-Shirt, unter dem sich der Oberkörper eines jungen, kräftigen, sportlichen Mannes abzeichnet. Ein blasses, kantiges Gesicht mit dem grauen Schatten eines sprießenden Bartes. Kurz geschorenes Haar. Augen, die in tiefen Höhlen nervös hin und her zucken. Rissige Lippen. Eine vor Schweiß glänzende Stirn. Und in der Hand ein Jagdgewehr.

2

11 v. Chr., Rom
Julius Obsequens behauptet in seinem Buch Prodigorium Liber (dt. »Buch der Vorzeichen«), fliegende »Dinge wie Schiffe« und »runde Schilde« am Himmel gesehen zu haben.

Der Dienst in der Einsatzzentrale Seiersberg verläuft bislang wie an fast jedem Tag. Die Anrufe kommen im Minutentakt.

Fritz Gstrein ist schon seit dreißig Jahren Polizist, seit fünf Jahren hier in der Notfallzentrale, mehr oder weniger mit einer Ausnahmegenehmigung. Denn während die Kollegen sich mit Innen- und Außendiensten abwechseln, hat er sich darauf spezialisiert, nur noch Anrufe entgegenzunehmen. Seine Dienste kosten ihn eine Menge Lebenszeit, sind zwölf, manchmal vierundzwanzig Stunden lang. Kein einziger Anruf im Plauderton, alles ist dringlich, die Nerven immer angespannt.

Natürlich gibt es auch Anrufe von Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, Notrufe abzusetzen, doch die bekommen es entweder mit einer saftigen Rechnung zu tun oder Gstrein würgt sie einfach ab. Die überwiegende Mehrzahl aber leiten richtige Einsätze ein. Während Gstrein noch mit den Anrufern spricht, sie zu dem Vorfall befragt und persönliche Daten dokumentiert, läuft im Hintergrund bereits der Einsatz an. Ein eingespieltes Prozedere eines eingespielten Teams. Denn so wie die meisten seiner Kollegen hat auch Gstrein eine für diesen Job entscheidende Eigenschaft verinnerlicht: absolute Ruhe. Absolute Gelassenheit. So als wäre die Welt am anderen Ende des Telefons nicht real. Als spiele sie in seinem wirklichen Leben keine Rolle. Diese Welt kann ihn nicht aus der Fassung bringen. Und Gstrein hat es schon mit vielen Szenarien zu tun gehabt. Eigentlich mit allen, die möglich sind.

Manchmal, wenn er in seine Zwei-Zimmer-Wohnung in Eggenberg heimkommt, begegnet er der Haushälterin. Sie ist eine der wenigen Menschen, die es schafft, ihm etwas aus seinem Berufsleben zu entlocken. Dann berichtet Gstrein ihr von Verkehrsunfällen, Diebstählen oder Lärmbelästigungen im Studentenviertel. Natürlich nennt er dabei niemals Namen. Niemals verrät er Interna. Eher berichtet er wie eine Zeitungsüberschrift. Wie ein Korrespondent aus einem anderen Land. Und genießt das erstaunte Gesicht der Haushälterin, die ihn für sein abenteuerliches Leben bewundert.

In Wahrheit ist sein Leben natürlich gar nicht abenteuerlich. Schon lange nicht mehr. Seit seine Frau vor mehr als zwanzig Jahren mit den Kindern und einem jungen Musiker fortgelaufen ist. Und seit er in der Notrufzentrale sitzt, ohnehin nicht mehr. Nichts, was ihn noch erschüttern könnte. Alles ist geradlinig. Eben. Ein Tag gleicht dem anderen, eine Minute der anderen. Notruf hin oder her.

»Seiersberg von Seiersberg eins, kommen«, knackt es im Kopfhörer, und dann hört Gstrein etwas, das ihn doch überrascht. Zwar nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber doch gerade so lange, dass er geräuschvoll die Luft zwischen den Zähnen einsaugt. Die Kollegen, die über ein sensibles Sensorium für Abweichungen von der Norm verfügen, wenden sich ihm sofort in ihren Drehsesseln zu und wechseln einen Blick. Gstrein stellt den Lautsprecher des Telefons an und legt die Stirn in Falten.

»… ich wiederhole, Amoklauf in der Shoppingcity … Verstärkung angefordert …«

Doch nach einer Sekunde, einer seltenen Schrecksekunde, ist die Überraschung auch schon wieder vorüber, und die Routine übernimmt die Oberhand. Während Gstrein mehr in Erfahrung bringt, leitet ein Kollege bereits den Einsatz ein.

Ein Einsatzwagen ist bereits vor Ort, verständigt soeben die Zentrale und wartet auf Unterstützung. In weniger als zwei Minuten trifft die erste Sektorstreife mit eingeschaltetem Martinshorn vor dem Einkaufszentrum ein. Die Kollegen stimmen sich ab, debattieren kurz, während motorisierte Einheiten zu ihnen stoßen. Weitere Streifenwägen sichern mit quietschenden Reifen die Straßen ab, die Autobahnabfahrt wird gesperrt, die Straßen durch den lediglich aus Einfamilienhäusern und Geschwindigkeitsbeschränkungen bestehenden Ort Seiersberg werden blockiert.

Über die Karlauerstraße stadtauswärts Richtung Süden rasen bereits zwei Busse mit den besten Polizisten des Landes heran. Die Cobra-Süd-Einheiten ziehen sich schwarze Strumpfmasken über, schließen ihre Overalls, überprüfen ihre Sturmgewehre, die Scharfschützen checken die Zielfernrohre. Über den Dächern von Graz rattern die Rotorblätter des soeben gestarteten Polizeihubschraubers, dessen Insassen beobachten, wie schnell sich rund um das Einkaufszentrum ein Stau bildet. Es ist Freitagnachmittag kurz vor den Sommerferien, die halbe Stadt ist schon auf dem Weg ins Wochenende.

Keine zehn Minuten nach dem Eingehen des Notrufs wimmelt es in den Rettungsgassen von Einsatzfahrzeugen. Aus allen Himmelsrichtungen rasen Streifen in Richtung Seiersberg, Rettungswägen sind angefordert, die Verhandlungsgruppe Süd, ein psychologisch geschultes Team, trifft bereits am Parkplatz ein und verschafft sich einen Überblick über die Lage. Kartenmaterial wird auf Kühlerhauben aufgebreitet, Funkgeräte knacken, hastig fummeln nervöse Hände an Uniformen herum.

Aus den Bussen, die gerade mit quietschenden Reifen eingetroffen sind, schwärmen jetzt die Cobra-Einheiten aus und zwängen sich durch die ihnen aus dem Inneren des Gebäudes entgegenströmenden Massen. Die Leute rennen weiter, obwohl sie längst in Sicherheit sind. Auch ein Polizist ist unter ihnen, an einer Hand hält er eine Frau, an der anderen zieht er einen Buben mit sich. Der Bub schaut ihn mit großen dunklen und bewundernden Augen an. Der Polizist riecht nach Leder und Rasierwasser und trägt immer noch seine Schirmmütze. »Na, das ist einmal ein Abenteuer, was?«, ruft er.

Die Cobra-Truppe dringt so zielstrebig ins Einkaufszentrum ein, als wüsste sie längst, wo genau sich der Amokläufer aufhält. Im selben Moment setzt die Kaufhausmusik wieder zögerlich ein, langsam, als kurble jemand dafür an einem Leierkasten. »It’s not unusual …« Einige Sekunden später verstummt Tom Jones wieder, um danach neuerlich einzusetzen: »… to be loved by anyone …«, und hört schließlich abermals auf.

Statt der Musik tönt nun eine Stimme aus den Lautsprechern. Sie klingt wie eine Bahnhofsdurchsage, und Armin Trost kann sie wegen des vielmaligen Echos, das sie hinter sich herzieht, kaum verstehen. »Achtung, A-A-A-ch-ch-tu-ng-ng. Die Not-ot-ot-aus-ot-gäng-aus-not-gäng-verfü-gä-bar …« Dann hört er zum ersten Mal Schüsse. Ein kurzes, knappes Geräusch. Ein Geräusch, das an zuschlagende Türen erinnert und ihn aus seiner lähmenden Haltung reißt.

Trost rennt in Richtung Rolltreppe, biegt zuvor jedoch scharf links ab und taucht in den schmalen Gängen eines Lebensmittelmarkts unter.

»Raus hier, alles raus hier!«, ruft er, doch seine Stimme verliert sich im allgemeinen Chaos. Wieder hört er Kinder schreien, und sein Herz hämmert so laut in seinem Schädel, dass er kaum einen klaren Gedanken fassen kann.

Gerade als er eine Frau mit einem Baby im Arm sieht, taucht keine dreißig Meter hinter ihr wieder der Mann mit dem Jagdgewehr auf. Er fuchtelt mit der Waffe herum, zielt in ihre Richtung, schießt und verfehlt sie nur knapp. Das Geschoss trifft ein Regal voller Bio-Lebensmittel. Flüssigkeiten spritzen durch den Raum, Scherben, Splitter und undefinierbare Verpackungsinhalte fliegen umher.

Trost stolpert über einen Korb mit Aktions-Schokolade und schlägt ein beinah lupenreines Rad. Benommen rappelt er sich auf, während unter ihm die Rippen der Schokoladentafeln knacken. Den Amokläufer sieht er nicht, doch seine Schüsse sind zu hören. Und seine Schreie. »AAAH, SCHLEICHTS EUCH

Als kurz Stille einsetzt, rekapituliert Trost. Vier Schüsse. Der Mann muss alle vier Schüsse nachladen.

Er packt die Frau mit dem Baby bei der Hand und zerrt sie mit sich. Mit ihr hechtet er über umgestoßene Einkaufswägen, reißt am Arm eines gestürzten Jugendlichen und nimmt auch ihn an der Hand. Hinter sich vernimmt er abermals zwei Schüsse, die nicht ihnen gelten. Das Baby schreit nicht, gibt überhaupt keinen Ton von sich. Es spürt instinktiv, dass seine Mutter Angst hat. Plötzlich geht der Jugendliche an Trosts Seite zu Boden und greift sich ans Bein. Es blutet, seine Jeans hängen in roten Lappen über sein Knie. Eine Kugel muss ihn getroffen haben. Stumm starrt er Trost aus großen Augen an. Er zittert. Trost reißt ihn unsanft hoch und zerrt ihn wieder hinter sich her. Als ein dritter Schuss fällt, spürt Trost einen Ruck an seiner Schulter. Der Bub an seiner Seite wird schwerer, entgleitet ihm, geht zu Boden und blutet aus dem Hals. Er lebt nicht mehr.

Vor dem Notausgang hat sich eine Traube gebildet. Panisch schiebt Trost die Leute vor sich her. Ein vierter Schuss fällt, und als er über seine Schulter blickt, nähert sich ihnen der Mann, während er im Gehen nachlädt. Einen Moment denkt Trost, er könnte ihn überwältigen, einfach hinrennen und mit bloßen Fäusten ums Überleben kämpfen, aber der Mann reagiert schnell. Schon wieder hebt er den Lauf. Ein freudloses Lächeln hat sich auf seine Lippen gelegt. Das Gewehr mit beiden Händen in Hüfthöhe haltend, geht er auf ein Kind zu, das weinend am Boden sitzt. Verwirrt und ängstlich starrt es den Mann an. Es versteht nicht, was vor sich geht. Was der Fremde von ihm will. Als sich die Mündung des Gewehrs in Richtung des Kindes bewegt, löst Trost sich aus der Menschentraube vor dem Notausgang und steuert auf den Fremden zu.

Der Mann schaut auf und hebt seine Waffe, sodass nun Trost seinerseits in die Mündung blickt und nur noch flach atmet.

»Ich kann Sie von hier wegbringen«, sagt er. »Fahren wir mit dem Auto davon. Einfach fort. Aus dem Gebäude kommen Sie auf eigene Faust nie mehr raus.«

Die Mündung des Gewehrs, bei dem es sich um eine schwarze Repetierbüchse mit Zielfernrohr handelt, senkt sich. Der Blick des Amokläufers wandert wieder zu dem Kind.

»Schauen Sie mich an!«, ruft Trost. Seine Stimme überschlägt sich. Er macht einen weiteren Schritt auf den Bewaffneten zu, will dessen Aufmerksamkeit wieder auf sich lenken.

Der Mann ist groß wie ein Schrank. In seinen klobigen Händen wirkt das Jagdgewehr wie eine Wasserspritzpistole. Das T-Shirt, das an der Schulter Blutspritzer zieren, spannt sich um seinen Brustkorb. Seine Jeans hängt ihm tief in der Hüfte, die Zehen, die aus seinen Sandalen ragen, sind schmutzig. Der Nagel des linken großen Zehs ist blau, die Sandalen wirken ausgetreten.

Jetzt sieht der Mann Trost tatsächlich wieder an. Sein Gesichtsausdruck ist unendlich traurig, er atmet schwer, sieht aus, als würde er jeden Augenblick heulend zusammenbrechen.

»Lassen Sie das Kind gehen«, versucht es Trost mit weicherer, zitternder Stimme. »Sie haben ja jetzt mich.«

Schaufensterpuppen starren sie an. Ein Buchstabe einer Leuchtschrift hängt herab, für Trost ein Anzeichen dafür, dass der Verrückte nicht nur auf Menschen zielt oder aber kein sehr geübter Schütze ist. Von irgendwoher ertönt plötzlich das Geräusch einer Sirene, und Trost überlegt kurz, ob in dieser Situation tatsächlich jemand den Nerv gehabt haben könnte, Waren aus Geschäften mitgehen zu lassen. »Ver-ver-lassen-n-n-das-Gebäude …«, hebt die Stimme aus den Lautsprechern des Einkaufszentrums wieder an. Irgendjemand muss noch in diesem Moment vor einem Mikrofon sitzen und unnötige Kommandos durch die großteils längst leeren Gänge des Einkaufszentrums brüllen.

Der Amokläufer betrachtet Trost genauer. Amokläufer, schießt es Trost plötzlich durch den Kopf. Er liefert sich soeben einem Amokläufer aus. Einem Verrückten, der wer weiß wie viele Menschen aus welchem Grund auch immer bereits auf dem Gewissen hat. Vielleicht weil er an einen anderen Gott glaubt und davon überzeugt ist, dass nur sein Glaube der richtige ist. Möglicherweise ist er ein Extremist, der sich entschlossen hat, vor nichts zurückzuschrecken, der mit nichts zu stoppen ist, am allerwenigsten mit Argumenten. Oder aber er will sich einfach nur Gehör verschaffen. Weil sein Chef ihn vor die Tür gesetzt hat oder ihm seine Frau davongelaufen ist. Weil er seine Tabletten nicht genommen hat. Weil, weil, weil … Fest steht jedenfalls: Der Mann hat eine Waffe und er nicht.

Trost muss daran denken, dass er sich in Graz befindet. In keiner Großstadt, keinem Film, nein, nur in Graz, einem Ort, in dem solche Dinge normalerweise nicht passieren. In Kaffs wie diesem gibt es nur Zeitungen zu kaufen, die andauernd von solchen Dingen aus aller Welt berichten, weil die Leute diese Nachrichten des Grauens brauchen. Sie brauchen sie, um sich glücklich zu schätzen, nicht draußen in der großen, weiten Welt zu sein, wo alles viel schlechter ist.

Er hat einen Bleigeschmack im Mund und fürchtet plötzlich, seine Blase nicht mehr kontrollieren zu können. Wirre Dinge gehen ihm durch den Kopf, zum Beispiel, dass es ein Glück ist, eben noch auf der Toilette gewesen zu sein.

Aus dem Gesicht des Amokläufers ist auf einmal jede Verunsicherung, jeder Anflug von Panik verschwunden. Zurück bleiben die geweiteten Pupillen eines Wahnsinnigen, die an die theatralischen Nahaufnahmen aus alten Schwarz-Weiß-Filmen erinnern. Aufgerissene Augen, hochgezogene Oberlippe, geblähte Nasenflügel. Doch Trost weiß, dass das hier kein inszeniertes Theater ist.

Das Kind läuft davon, während die Menschentraube weiterhin schreiend, stoßend und fluchend durch den Notausgang ins Freie drängt. Draußen auf dem Parkplatz, außerhalb von Trosts Blickfeld, stürzen die Leute davon. Sie springen über Motorhauben, reißen einander gegenseitig um und kreischen, als habe soeben ein unbekanntes Flugobjekt auf dem Dach des Einkaufszentrums einen Zwischenstopp eingelegt. Oder als schieße ein Amokläufer wie von Sinnen auf Menschen.

Die beiden Männer starren sich noch immer an, dann öffnet der Mann den Mund, und Trost hört zum ersten Mal die Stimme seines Gegenübers. Nicht sein Schreien und Toben, sondern den Klang seiner Stimme. Die Miene des Fremden zeigt verwirrte Überraschung. So als wecke Trost in ihm eine Erinnerung. »Die Toten kehren auf die Erde zurück«, sagt er, und es klingt, als wolle er sich rechtfertigen. Dabei wendet er seinen Blick nicht von Trost, so als suche er in dessen Gesicht nach einem Funken Verständnis. Nach ein bisschen Zustimmung. Doch Trost ist zu keiner Reaktion fähig. »Die Toten, die kehren auf die Erde zurück«, wiederholt der Fremde leise.

Trost hat keine Ahnung, was er erwidern könnte, das Sinn machen würde. Dann ist der Amokläufer mit zwei Schritten bei ihm, schlingt einen Arm um seinen Körper und drückt mit dem anderen den Lauf der Waffe gegen Trosts Kopf. Im selben Moment tauchen neben ihnen maskierte Schatten auf. Ein paar knien sich hin, ein paar stehen, ein paar schreien, ein paar blinzeln, ein paar haben einen Pulsschlag von über zweihundert, andere fast keinen. Doch alle zielen auf den Amokläufer.

In diesem Moment findet auch Trost seine Stimme wieder. »ICH BIN ARMIN TROST, MORDGRUPPE! NICHT SCHIESSEN! ES IST ALLES IN ORDNUNG

Und niemand schießt. Aber nichts ist in Ordnung. Es ist fast unmöglich, unter Stress einen klaren Gedanken zu fassen. Sosehr man sich auch bemüht, das Gehirn schafft es nicht einmal, das Zittern der Hände abzustellen, wie also soll es da einen Ausweg aus einer so komplexen Situation wie einer Entführung finden?

Aber genau genommen handelt es sich ja auch um keine Entführung. Trost hat sich selbst ausgeliefert. Er hat sich angeboten, mit einem völlig Irren eine Spritztour zu machen, um das Kind und die anderen Leute in Sicherheit zu bringen. Jetzt muss er Zeit gewinnen, den Wahnsinnigen von dieser Menschenansammlung fortschaffen, die vor den Schüssen aus dem Jagdgewehr flieht.

Ob ihm das eines Tages als Beihilfe angelastet wird? Oder wird er als großer Retter dastehen? Werden sie seine Kopfform kopieren und in Stein meißeln, um ihn in irgendeinem Park aufzustellen, der in der Nacht von Junkies und Vergewaltigern und tagsüber von Tauben bevölkert wird? Vielleicht wird er ja bald im Volkspark mit Blick auf jenes Haus stehen, in dem jahrelang eine Peepshow florierte, bis das Geschäft mit den nackten Damenkörpern nicht mehr genug Geld abwarf. Vielleicht wird seine Büste aber auch im Innenhof irgendeines Genossenschafts-Wohnprojekts von ausgesiedelten Obersteirern stehen. Oder aber eine Gasse im Speckgürtel wird nach ihm benannt. Oder eine Süßspeise. Oder … Trost hat seine Gedanken nicht mehr unter Kontrolle. Genauso wenig wie seine Unterlippe, die zittert.

In Trosts VW-Bus, einem T4, Siebensitzer, Baujahr 98, brettern sie über die 9 Richtung Norden. Die Armaturen vibrieren bei der Geschwindigkeit, die lahme Lüftungsanlage heult und bläst zu warme Luft in den ohnehin schon heißen Innenraum. Draußen hat es an die dreißig Grad, hier drinnen müssen es an die vierzig sein. Hätte Trost Zeit dafür gehabt, er hätte sich Sorgen um den Wagen gemacht, aber stattdessen schweift sein Blick hastig über die Straße, über die links und rechts vorbeifliegenden Autos, die sie hinter sich lassen, und über die wie ein zu schnell geschnittenes Video übers Autodach hinwegrasenden Überkopfwegweiser. Die Tachonadel pendelt sich bei über einhundertfünfzig Sachen ein.

Trost hat den alten Polizeibus erst kürzlich umlackieren lassen und sich damit einen Traum erfüllt. Im Sommer wollen er und Charlotte mit den Kindern quer durch Europa fahren. Sogar Jonas will mitkommen, weil Trost ihm versprochen hat, französische Wehrburgen und das Schlachtfeld von Waterloo zu besichtigen. Für Elsa steht Disneyland auf dem Programm, für Charlotte Paris. Er selbst will eigentlich nur Auto fahren, aber ob es jemals zu der Reise kommen wird, ist noch nie so unsicher gewesen wie in diesem Augenblick.

Der Wagen quält sich. Das Gaspedal ruckelt, die Bodenplatte bebt. Sie sind viel zu schnell, und das Schreien seines Beifahrers macht die Situation auch nicht gerade besser.

»SCHNELLER, FAHR SCHNELLER, OIDA!«, brüllt er ihn an. »IHR HUNDE!« oder »IHR BLINDEN!«, schreit er anschließend aus dem Fenster.

Trost weiß nicht, was ihm mehr Stress bereitet: der in seine Richtung weisende Gewehrlauf oder die wüsten Beschimpfungen des offenbar Verwirrten. Das Schimpfwort »Hunde« kennt er eigentlich nur aus synchronisierten alten John-Wayne-Filmen.

»SACKRATTEN!«, plärrt der Mann jetzt, »WICHSSCHÄDEL

Trost erinnert sich, dass es eine Krankheit gibt, die Menschen zu solchen Schimpftiraden zwingt, doch der Name fällt ihm nicht ein. Er muss deeskalierend auf den Mann einwirken. Sein Kopf schwirrt ihm schon von dem Geschrei.

»Versuchen Sie sich zu beruhigen! Bitte!«, ruft er über das brüllende Motorengeräusch hinweg und fängt dafür einen Blick auf. Es ist der Blick eines gehetzten Tieres, das sich plötzlich entscheidet zuzubeißen. Trost erschrickt, als sich die Pupillen des Amokläufers weiten.

»AH, DER MORDGRUPPEN-MANN WILL, DASS ALLES WIEDER GUT WIRD? DAS KANN ER HABEN, DER TROTTEL

Dann folgt ein Schlag auf seinen Kopf, der für einen Sekundenbruchteil Trosts Sichtfeld verschiebt. Seine Augen flattern, Schmerzblitze zucken durch seine Stirn. Er verreißt den Wagen, steuert plötzlich auf die linke Leitschiene zu, zerrt noch einmal am Steuer wie ein Fallender an einem rettenden Seil und fegt dann mit quietschenden Reifen quer über die Fahrbahn nach rechts. Er spürt, wie sich die rechte Flanke des Fahrzeugs hebt, der Schwerpunkt sich ändert und der Bus zu kippen droht. Im letzten Moment fängt sich der Wagen wieder, schlingert bedenklich. Die Achsen krachen, ehe sie sich in der Abbiegespur Richtung Salzburg wiederfinden. Hier, kurz vor dem Verteilerkreis Webling, der den Verkehr im Süden der Stadt in Bahnen lenkt, teilt sich die Autobahn. Zwei Spuren führen geradewegs in den Kreisverkehr, die anderen beiden gehen rechts ab, fügen sich in eine sanfte, leicht abfallende Linkskurve, die in der Einfahrt zum Plabutschtunnel mündet, einer Röhre, die den Berg der Länge nach durchbohrt und die Stadt von Süden nach Norden umfährt. Zehn Kilometer weit, doppelspurig.

Mit mittlerweile mehr als einhundertsiebzig Stundenkilometern brettern sie in den Tunnel. Trost blickt unwillkürlich auf die Kamera der Section Control an der Einfahrt, die dort zur Geschwindigkeitskontrolle angebracht ist. Er fragt sich, wie lange es wohl dauern wird, bis die Kollegen eine Straßensperre errichten. Im Kopf überschlägt er das Alarmszenario, als die Ampel des Tunnels auf Rot schaltet.

Normalerweise brauchen sie keine fünf Minuten, um den Tunnel abzuriegeln. Auf beiden Seiten. Einsatzfahrzeuge errichten Straßensperren. Alles, was verfügbar ist, wird an den Ausfahrten platziert. Bis er mit dem Amokläufer das andere Ende des Tunnels erreicht hat, sollte sich die halbe Stadt versammelt haben. Autos aus Gratkorn, Gratwein, die Sektorstreifen, eine Verhandlungsgruppe, vielleicht ist sogar der Landespolizeikommandant dabei.

Im Tunnel wirkt das Brüllen des Busses noch lauter. Trost hasst den Tunnel. Wann immer es möglich ist, meidet er ihn, fährt lieber durch den Stau der Stadt, als sich durch den Berg zu wagen. Er findet es widersinnig, sich in einem Loch fortzubewegen. Je länger eine Fahrt durch einen Tunnel dauert, desto unbehaglicher wird das Gefühl, das nackte Gestein werde ihn im nächsten Augenblick erdrücken, auf ihn einstürzen und ihn zerquetschen. In Momenten wie diesen lenkt er sich ab, versucht zu ergründen, warum ein Tunnel tatsächlich dem Gesteinsmassiv eines ganzen Berges widerstehen kann, ist dabei aber nie wirklich erfolgreich. Bisher ist ihm die Natur des Tunnels ein Rätsel geblieben. Und die Ablenkung durch die Frage funktioniert auch nie lange. Doch jetzt, während dieser Tunnelfahrt, plagen ihn andere Sorgen.

Der Wahnsinnige auf dem Beifahrersitz scheint sich im Tunnel ebenfalls unwohl zu fühlen und droht nun, vollends die Beherrschung zu verlieren. Er schaut aus dem Wagenfenster wie ein Tier aus einem Käfig, starrt mit offenem Mund und Augen auf die vorüberfliegenden Leuchtröhren. Hinter jeder Haltebucht vermutet er einen Einsatzwagen mit Polizisten, die auf ihn schießen könnten. Vereinzelt überholen sie Autos, auf die er zielt wie ein Großwildjäger auf Elefantenjagd. Dann beginnt er unvermittelt zu heulen, zu toben und mit den Füßen zu trampeln, als zwinge ihn ein innerer Schmerz dazu. Trost spürt, wie er ihn fixiert, als erkenne er jetzt erst, wo er sich befindet. Als realisiere er in diesem Moment, wer Trost wirklich ist. Der Mann verzieht seine Unterlippe, presst ein Geräusch hervor, das mehr tierisch als menschlich klingt – und schießt.

Später stolpert Armin Trost auf der anderen Seite der Tunnelröhre aus dem Inneren des Berges. Wie viel Zeit vergangen ist, kann er unmöglich abschätzen. Es können zehn Minuten, es kann aber auch eine ganze Stunde sein. Zeit spielt keine Rolle mehr, nur so viel weiß er: Allein die Zeit, die es dauert, das Wort »Zeit« zu sagen, kann über Leben und Tod entscheiden.

In Sekundenbruchteilen brechen die Eindrücke über ihn herein. Das Licht der Nachmittagssonne fällt auf seine Füße, wandert über seinen Körper. Ehe es seinen Kopf erreicht, bleibt er stehen und schaut zurück. Hinter ihm erstreckt sich die undurchdringliche Finsternis des Plabutschtunnels wie ein dunkles Geheimnis.

Er schaut wieder nach vorn, wo er ein Szenario erblickt, das es in dieser Form in dieser Stadt noch nie gegeben hat. Dutzende Polizeiwägen versperren die Straße wie in einem Burt-Reynolds-Streifen aus den Siebzigern. Signallichter flackern unruhig, Funkgeräte knacken, irgendwo plärrt eine Stimme in ein Megafon. Hinter den Polizisten stehen Menschen in Zivil. Zuschauer, Gaffer. Sie haben Kameras und Fotoapparate dabei. Auch ein ORF-Übertragungswagen parkt am Seitenstreifen. Wie schnell das alles geht, denkt sich Trost und stolpert weiter.

Jemand kommt auf ihn zu, stützt ihn, bevor er fällt. Er erkennt den Mann, es ist Johannes Schulmeister, ausgerechnet der Kollege in seiner Abteilung, in dessen Armen er sich am wenigsten gern wiederfindet. Weiche, speckige Hände packen ihn unter den Achseln.

Schulmeister atmet schwer. Er kommt Trost vor wie ein Riese, dabei weiß er doch, dass dieser Eindruck nur von Schulmeisters Körperfülle herrührt. Der Kollege hat einen roten Kopf, als wäre Trosts Gewicht zu viel für ihn. Über seinen Augen treten blaue Adern hervor, die hohe Stirn glänzt vor Schweiß. Seine stahlblauen Augen irritieren Trost. Sie sind keinesfalls so selbstgefällig, wie er sie in Erinnerung hat. Und dabei gibt es kaum einen Moment, in dem Schulmeister nicht anderen das Gefühl gibt, etwas falsch gemacht zu haben. Ganz alltägliche Handgriffe wie etwa das Einschenken von Kaffee reichen schon aus, um mit seinem tadelnden Blick bedacht zu werden. Nicht dass es oft vorkommen würde, aber erst gestern oder zumindest vor Kurzem hat Trost das Gefühl gehabt, netter in seiner Abteilung sein zu müssen. Er hat also Kaffee gemacht und zur allgemeinen Pause aufgerufen. Verwunderte Beamte erhoben sich hinter den Bildschirmen und kamen dankbar für die unerwartete Unterbrechung näher. Lächelnd schenkte Trost ihnen Kaffee ein, einem nach dem anderen. Als Schulmeister an der Reihe war, ging beim Einschenken etwas Kaffee daneben und tropfte auf den Tisch. Trost wusste sofort, was jetzt passieren würde. Er schaute auf und sah Schulmeisters vernichtenden Blick. So wie der eines Vaters, der seinem Sohn wortlos mitteilt, dass er enttäuscht sei, weil der die einfachsten Dinge nicht auf die Reihe kriegt.

Aber nein, jetzt ist Schulmeisters Blick anders. Sein Kollege wirkt ehrlich besorgt, geradezu beunruhigt. Und trotzdem: Was hätte Trost jetzt für einen von diesen Schulmeister-Tadel-Blicken gegeben. Trost schüttelt den Kopf. »Schau nicht so scheinheilig, mir geht’s eh gut.«

Aber Schulmeister lässt ihn nicht los, schafft es, ihn so lange auf den Beinen zu halten, bis ein zweiter Arm unter seine Schulter greift. Die Berührung fühlt sich gleich viel besser an. Trost dreht den Kopf und wird sich im selben Moment bewusst, Annette Lemberg noch nie so nah gewesen zu sein.

Sie trägt das Haar wie immer streng zurückgekämmt. Wie hat sie das nur geschafft? Es war sicher nicht Zeit genug, um sich für diesen Auftritt herzurichten, und dennoch sieht sie aus, als hätte sie sich in aller Ruhe vor einen Schminktisch gesetzt, sich aus Tuben und Dosen bedient und, ein Lied summend, so lange gekämmt, bis das Haar elektrisch knistert. Vielleicht aber rennt die Lemberg, seine deutsche Kollegin, die er wegen ihrer Intelligenz und der direkten, unverblümten Art, auf die Dinge zuzugehen, gern seinen »Glückstreffer« nennt, auch ständig mit Spiegel und Kamm in ihrer Handtasche herum. Jedenfalls sieht sie aus wie ein Fotomodell. Was macht so eine wie sie nur bei der Polizei? Trost hat das nie begriffen. Mit dem Gesicht wie aus einem Frauenmagazin, der Figur wie aus einem Kinofilm, mit der Stimme wie aus einem Hörspiel und mit diesem Duft wie frisch geduscht.

Er fühlt sich gar nicht mehr so schwach. Nur müde. Jemand zieht ihm eine schwarze Mütze über den Kopf, in der für Augen, Nase und Mund Löcher sind. Der Chefermittler der Mordgruppe soll nicht erkannt werden, wenn die Kameras ihn erfassen. Er kennt den Grund für die Maßnahme, kommt sich mit der Maske dennoch seltsam vor, als wäre er einer von der falschen Seite. Wie er so liebevoll in Sicherheit gebracht wird, hätte ein Außenstehender ihn auch für einen Bankräuber halten können, den die Beamten geschnappt haben und nun mit sich zerren.

Wie nah alles beisammenliegt: Trost und Häme, Fürsorge und Gewalt, Gut und Böse. Armin Trost muss lächeln und ist froh, dass niemand es sehen kann. Verrückt, wenn die Gaffer sähen, dass sie einen Lachenden fortschleppten!

Spezialeinheiten mit Helm und Schild rennen an ihm vorbei ins Dunkel des Tunnels. Trost dreht den Kopf, blickt ihnen nach, will rufen, da sei nichts mehr, was ihnen Angst machen könnte. Denn alles ist vorbei. Nur mehr das Gestein droht einen noch zu erdrücken. Eine unübersehbare Masse an gewaltigem, boshaftem Gestein.

Doch er kann nicht mehr rufen. Die Bilder beginnen zu verschwimmen. Schulmeister wird immer roter und breiter und schweißiger, und seine Bartstoppeln scheinen mit jeder Sekunde grauer zu werden. Er sieht aus, als hätte ihn jemand am Computer nicht eben wohlwollend bearbeitet. Dagegen wird die Lemberg immer hübscher und zurechtgemachter und an den richtigen Stellen üppiger. Sie ist das ganze Gegenteil zu Schulmeister.

Trosts Müdigkeit ist groß. So groß.

Dann kippt seine Welt.

Teil 2

3

24. September 1235 n. Chr., Japan
Während des Nachtlagers mit seiner Armee beobachtet der Shōgun Kujō Yoritsune Lichter am Himmel. Yoritsune ordnet eine Untersuchung an – mit dem Ergebnis: Der Wind müsse die Sterne hin und her bewegt haben.

Er dreht das Autoradio ab, und Tom Jones, der zum Standardrepertoire des Regionalsenders gehört, verstummt. Den Wagen hat er von seiner Werkstatt geliehen, einen grauen Alfa Giulietta mit Sportlenkrad, Schalthebel mit Silberknauf und knurrendem Motorengeräusch. Er sitzt tief im Ledersessel und lässt ganz automatisch einen Ellbogen aus dem offenen Fenster hängen. Der Wagen liegt perfekt in der Kurve, und wenn er aufs Gas steigt, drückt die Geschwindigkeit sein Gesäß in den Sitz. Insgeheim wünscht er sich, dass seine Werkstatt den alten VW-Bus nicht so schnell wieder straßentauglich kriegt.

Immer wieder schaut er in den Rückspiegel, als wolle er prüfen, ob sein Gesicht auch wirklich in das Auto passt. Aber es passt perfekt, findet er jedenfalls. Seiner Meinung nach weckt der Wagen in ihm sogar die Illusion, jünger zu sein. Um mindestens zehn Jahre. Trost spürt förmlich, wie er auf seine Ausstrahlung abfärbt. Wie er plötzlich Blicke auf sich zieht, die ohne den Wagen interesselos an ihm vorübergeglitten wären. Er sieht gut in ihm aus. Richtig gut. Als Armin Trost anhält und aussteigt, tritt er in eine Wasserlacke. »MAAH

Der Effekt des Autos ist schnell verflogen. Beim Gehen wechselt sich das schmatzende Geräusch des vom Pfützenwasser durchtränkten Schuhs mit dem Knirschen von Kies ab. Schlff, kss, schlff, kss …

In einer Hand trägt er eine lederne Sporttasche im Stil der siebziger Jahre. Ohne Seitentaschen und Schulterriemen ist sie überaus unpraktisch, sieht dafür aber »saucool« aus, wie Jonas sagen würde. Über ihm ist der Himmel von weißen Schlieren durchzogen. Sie lassen ihn so plastisch wirken, als habe er eine feste Form.

Zuvor haben sie im Radio davon gesprochen, dass sich eine neuerliche Gewitterfront nähert. Sie wälzt sich aus dem Süden des Kontinents auf die Steiermark zu, ein Adria-Tief, das für ein paar Tage mit dem Sonnenschein und dem Sommer-im-Juni-Getue in Graz aufräumen wird. Eine Eigenheit des Landes: Während sich in der Hauptstadt die Schanigärten mit lässigen Sonnenbrillenträgern füllen, die über den ewigen Stress und die schlechten Zeiten lamentieren, regnet es im Umland. Dann ist es so wie jetzt: Die Luft ist noch ein wenig feucht und schwül vom vergangenen Regen, während sie im Radio schon den nächsten Schauer ankündigen.

Doch noch ist davon nichts zu merken. Der Tag ist viel zu hell. Die Sonnenbrille, die einen jeden Tag gelbstichig im Gute-Laune-Teint erscheinen lässt, hat er im Handschuhfach vergessen, aber er ist zu faul, um die paar Schritte zurückzugehen und sie zu holen. Der blendend weiße Ball am Himmel spiegelt sich in glatten Oberflächen und schmerzt in den Augen, sodass er die Landschaft, die ihn umgibt, nicht wirklich erkennen kann. Wald, Wiesen, Obstbäume. Eine Landschaft, so simpel wunderschön, wie sie Kinder zeichnen würden.

Schlff, kss, schlff, kss …

Auf dem Parkplatz, den er gerade überquert, parken kaum andere Fahrzeuge. Kein gutes Zeichen für ein Hotel. Es scheint nicht viele Gäste zu haben. Auch die Fensterfront des Hauses spiegelt das Licht der Sonne, das Gefühl, ungesehen beobachtet zu werden, löst den unbequemen Impuls in Trost aus, schneller zu gehen. Bevor er sich dem Haus so weit nähert, dass er den automatischen Auslöser für die Schiebetür aktiviert, fällt ihm ein auf die Türscheibe geklebtes Plakat auf: »PLATZWAHL 2013. Unterschreiben Sie für den Pöllauberg, den schönsten Fleckerl der Steiermark!«.

Erst im Schatten der Eingangshalle kann er wieder klar sehen und denken. Und stellt sogleich fest, dass das Wort »Eingangshalle« übertrieben ist. Viel eher handelt es sich dabei lediglich um einen Raum mit hellen Möbeln, Kleiderständer, einem plätschernden Brunnen mit Lichtspielen, wie man ihn in den Feng-Shui-Ecken der Baumärkte bekommt, und bewusst platzierten Blumenarrangements. Die Eingangshalle sieht aus wie ein geräumiges Vorzimmer.

Der Teppich verschluckt das Geräusch seiner Schritte, sogar das Schmatzen seines Schuhs ist nicht mehr zu hören, und so taucht Trost nahezu lautlos vor der Dame an der Rezeption auf, die sich dennoch nicht von ihm überraschen lässt und ihn breit und erwartungsvoll anlächelt.

Sofort fällt ihm auf, dass es sich bei ihr um den Typ Mensch mit Wackelkopf handelt. Solchen Menschen sitzt der Kopf so lose auf dem Genick, dass er bei jeder Bewegung nachzuwippen scheint, sie erwecken den Anschein, als wären sie schüchtern, unsicher oder kränklich.

Trost stellt sich vor und sagt, er würde gern ein paar Tage bleiben. Sie blickt auf den Monitor eines Laptops, Wackelkopf, lächelt breit, Wackelkopf, fragt ihn, ob er über dieses Haus informiert sei, und noch ehe er die Frage beantworten kann, fährt sie fort: »Ich muss mich entschuldigen. Übermorgen ist Vollmond, da ist unser Haus traditionell spärlich besetzt. Wissen Sie, der Vollmond beeinflusst die Menschen, sie schlafen schlecht, sind schlecht gelaunt und weniger aufnahmefähig. Alles, was ihnen widerfährt, schieben sie auf die kosmischen Veränderungen. Deshalb haben wir beschlossen, unsere Therapieeinheiten rund um den Vollmond stark runterzufahren. Wir bitten Sie um Nachsicht, wenn nicht alles angeboten wird. Nur noch drei Tage, dann ist der Spuk wieder vorbei.«

»Na, hoffentlich spukt es nicht wirklich.«

Ihre Holzohrringe klacken aneinander, als sie die Augen so weit aufreißt, dass das Weiß darin hervorquillt wie eine bewegliche Masse. Sie macht ein Geistergeräusch – »Uaah« –, bevor sie kichert: »Ich glaube schon.«