Buch
Althea Vestrit hält endlich ihr heiß begehrtes Schiffszeugnis in den Händen und kann nun alles daran setzen, ihre geliebte Viviace – das Seelenschiff ihrer Familie – zurückzugewinnen. Doch der Pirat Kennit hat die Viviace erobert und bemüht sich, die noch junge Persönlichkeit des Seelenschiffes in seinem Sinne zu beeinflussen. Bevor Althea aufbrechen kann, um ihn zu stellen, hält das Schicksal einen weiteren Schlag für sie und ihre Familie bereit: Eine Söldnerflotte nähert sich ihrer Heimat Bingstadt.
Autorin
Robin Hobb wurde in Kalifornien geboren, zog jedoch mit neun Jahren nach Alaska. Nach ihrer Hochzeit zog sie mit ihrem Mann nach Kodiak, einer kleinen Insel an der Küste Alaskas. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre erste Kurzgeschichte. Seither war sie mit ihren Storys an zahlreichen preisgekrönten Anthologien beteiligt. Mit »Die Gabe der Könige«, dem Auftakt ihrer Serie um Fitz Chivalric Weitseher, gelang ihr der Durchbruch auf dem internationalen Fantasy-Markt. Ihre Bücher wurden seither millionenfach verkauft und sind Dauergäste auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Robin Hobb hat vier Kinder und lebt heute in Tacoma, Washington.
Von Robin Hobb bei Penhaligon erschienen:
Die Chronik der Weitseher
1. Die Gabe der Könige
2. Der Bruder des Wolfs
3. Der Erbe der Schatten
Das Erbe der Weitseher
1. Diener der alten Macht
2. Prophet der sechs Provinzen
3. Beschützer der Drachen
Das Kind der Weitseher
1. Die Tochter des Drachen
2. Die Tochter des Propheten (ab 10/19)
3. Die Tochter des Wolfs (ab 12/19)
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Robin Hobb
Das Geheimnis der Seelenschiffe
Der Freibeuter
Roman
Deutsch von Wolfgang Thon
Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »The Liveship Traders 2. Mad Ship« bei Bantam Books, New York.
Dieser Roman ist bereits in zwei Teilen erschienen unter den Titeln »Die Zauberschiffe 3 – Der blinde Krieger« und »Die Zauberschiffe 4 – Die Stunde des Piraten«. Diese Ausgabe wurde komplett überarbeitet und aktualisiert.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 1999 by Robin Hobb
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München
Redaktion: Maike Claußnitzer
Covergestaltung und Artwork: © Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock (Adrian Niederhaeuser; Aprilphoto)
HK · Herstellung: sam
eBook-Erstellung im Verlag
ISBN 978-3-641-25386-8
V003
www.penhaligon.de
Eine Erinnerung an Flügel
Unter den Seeschlangen wogten die Seegraswiesen sacht in der Strömung der Gezeiten. Das Wasser hier war warm, so warm wie damals im Süden, bevor sie emigriert waren. Trotz Maulkins Erklärung, dass sie der Versorgerin mit dem silbrigen Rumpf nicht länger folgen würden, hing ihr lockender Duft dennoch weiter im Salzwasser. Und sie war auch nicht weit entfernt. Sie folgten ihr immer noch, wenn auch in einigem Abstand. Shreeva überlegte, ob sie ihn deswegen zur Rede stellen sollte, entschied sich aber dagegen. Besorgt betrachtete sie ihren Anführer. Die Verletzungen, die Maulkin bei seinem kurzen Kampf mit der weißen Seeschlange davongetragen hatte, heilten nur langsam. Die Wunden beeinträchtigten das Muster seiner Schuppen. Die goldenen Scheinaugen, die über seinen ganzen Körper verteilt waren und ihn als Propheten auswiesen, waren verblasst und schimmerten nur trüb.
Genauso fühlte sich Shreeva, blass und trüb.
Sie waren auf ihrer Suche nach »Der, die sich erinnert« weit gekommen. Maulkin war am Anfang ihrer Odyssee so zuversichtlich gewesen. Jetzt jedoch wirkte er ebenso verwirrt wie Shreeva und Sessurea. Die drei waren die Letzten, die von dem großen Knäuel Seeschlangen geblieben waren, das diese Wanderung einmal begonnen hatte. Die anderen aus ihrem Knäuel hatten das Vertrauen in ihr Unterfangen verloren und sich von Maulkin abgewandt. Als sie sie das letzte Mal gesehen hatten, waren sie einem großen, dunklen Versorger gefolgt und hatten sich ohne Sinn und Verstand an dem widerstandslosen Fleisch satt gefressen, das er ihnen lieferte. Doch das war schon vor vielen Gezeiten gewesen.
»Manchmal«, vertraute Maulkin Shreeva an, als sie ruhten, »manchmal verliere ich meinen festen Punkt in der Zeit. Mir scheint es dann so, als wären wir hier schon einmal entlanggekommen, als hätten wir diese Dinge schon einmal getan, vielleicht sogar diese Worte schon einmal gesprochen. Manchmal ist meine Überzeugung so stark, dass ich glaube, das Heute wäre einfach nur eine Erinnerung oder ein Traum. Dann glaube ich, dass wir eigentlich nichts tun müssen, weil alles, was uns widerfahren ist, erneut geschehen wird. Oder vielleicht sogar längst passiert ist.« Seine Stimme klang schwach und war ohne rechte Überzeugung.
Sie glitt neben ihn. Sie schwammen nebeneinander, wobei sie ihre Körper wellenförmig bewegten, und wedelten dabei nur so viel mit den Flossen, wie nötig war, um ihre Position zu halten. Unter ihnen schüttelte Sessurea plötzlich die Mähne und stieß eine schwache Giftwolke aus, um sie zu warnen. »Seht! Nahrung!«, bellte er.
Eine Schule von Fischen kam silbrig schimmernd wie ein Segel auf sie zugeschwommen. Hinter den Fischen folgte ein anderes Knäuel von Seeschlangen. Sie hingen wie Schatten über dem Fischschwarm und fraßen von seinem Rand. Es waren drei rote, eine grüne und zwei blaue. Das Knäuel der Jäger war zwar nicht groß, aber sie wirkten lebhaft und gesund. Ihre glänzenden Häute und ihre prallen Körper bildeten einen auffälligen Kontrast zu den matten Schuppen und eingesunkenen Flanken von Maulkins Knäuel.
»Kommt«, forderte Maulkin sie auf und führte sie zu den anderen, um gemeinsam mit ihnen zu fressen. Shreeva gab ein erleichtertes Trompeten von sich. Endlich konnten sie wieder ihre Bäuche füllen. Vielleicht gesellten sich die anderen ja sogar zu Maulkins Knäuel, sobald sie merkten, dass er ein Prophet war.
Ihre Beute waren keine einzelnen Fische, sondern eine ganze Schule, die silbrig glitzerte und das Auge verwirrte. Sie bewegten sich wie eine einzige Kreatur, und doch war es ein Geschöpf, das sich plötzlich aufteilen und um einen ungeschickten Jäger herumfließen konnte. Die Schlangen aus Maulkins Knäuel waren jedoch alles andere als ungeschickte Jäger, und alle drei folgten elegant den Fischen. Das andere Knäuel trompetete ihnen Warnungen zu, aber Shreeva konnte keine Gefahr entdecken. Mit einem kurzen Schlag ihres Schwanzes glitt sie in die Schule und packte mit dem aufgerissenen Maul mindestens drei Fische. Sie weitete ihren Hals, um sie zu schlucken.
Zwei rote Seeschlangen wandten sich plötzlich zur Seite und griffen Maulkin an. Sie schlugen mit den Schnauzen nach ihm, als wäre er ein Hai oder ein anderer gemeinsamer Feind. Die Blauen stürzten sich mit weit aufgerissenen Mäulern auf Shreeva. Mit einer kurzen Drehung wich sie ihnen aus und schoss in die andere Richtung davon. Sie sah, wie der andere Rote versuchte, Sessurea zu umschlingen. Seine Mähne war aufgerichtet, und er spie Gift, stieß Obszönitäten und Drohungen aus. Seine Beschimpfungen entbehrten jedes Sinnes, ja sogar jeder Syntax. Sie spiegelten nur nackte Wut.
Shreeva floh und schrie ihre Angst und Verwirrung heraus. Maulkin folgte ihr jedoch nicht. Er schüttelte die gewaltige Mähne und stieß eine Giftwolke aus, die die Roten beinahe gelähmt hätte. Die Angreifer wichen zurück, schwangen die offenen Mäuler und pumpten mit den Kiemen, um die Gifte wegzuspülen.
»Was ist los mit euch?«, fuhr Maulkin das merkwürdige Knäuel an. Er drehte sich durch einen Knoten und richtete die Mähne drohend auf, während er sie schalt. Seine Scheinaugen schimmerten schwach. »Warum greift ihr uns wie seelenlose Biester an, die sich um Nahrung streiten? Das ist nicht unsere Art! Selbst wenn es nur wenige wären, Fisch gehört immer dem, der ihn fängt, nicht dem, der ihn zuerst gesehen hat! Habt ihr gänzlich vergessen, wer ihr seid und was ihr seid? Hat man euch denn vollkommen den Verstand gestohlen?«
Einen Augenblick schwebten die Seeschlangen des anderen Knäuels bewegungslos im Wasser, bis auf das leichte Zucken ihrer Schwänze, mit denen sie ihre Position korrigierten. Der Fischschwarm floh unbeachtet. Doch als ob die Vernunft in Maulkins Worten sie noch mehr angestachelt hätte, stürzten sie sich plötzlich auf ihn. Alle sechs schossen auf ihn zu, rissen die Mäuler weit auf, zeigten die Zähne, hatten die Mähnen aufgestellt und verströmten ihr Gift, während sie mit den Schwänzen schlugen. Shreeva sah entsetzt mit an, wie sie ihn umklammerten und in den Schlamm hinunterzogen.
»Hilf mir!«, trompetete Sessurea. »Sie werden ihn sonst ersticken!«
Seine Worte brachen ihre Lähmung. Seite an Seite schossen sie hinunter und stürzten sich, stoßend und mit den Schwänzen schlagend, auf das Knäuel, das Maulkin gefangen hielt. Die anderen Seeschlangen bearbeiteten Maulkin mit den Zähnen, als wäre er Beute. Sein Blut vermischte sich mit seinen Giften in einer erstickenden Wolke, während er sich heftig wehrte. Seine Scheinaugen glommen in dem aufsteigenden Schlamm. Shreeva schrie auf, entsetzt über die sinnlose Brutalität dieser Attacke. Dennoch schnappte sie mit den Zähnen nach ihnen, während Sessurea seine größere Körperlänge nutzte und mit dem Schwanz nach ihnen schlug.
Im richtigen Moment umschlang er Maulkins übel zugerichteten Körper mit seinem und riss ihn mitten aus dem wütenden Knäuel heraus. Er floh mit Maulkin im Griff. Shreeva war froh, dass sie den Angriff abbrechen und ihm folgen konnte. Die anderen setzten ihnen nicht nach. In ihrem vergifteten Wahn stürzten sich die Mitglieder des anderen Knäuels aufeinander, brüllten Beleidigungen und Drohungen. Ihre Schreie waren bloße Klänge, die sie ohne jeden Sinn und Verstand ausstießen, während sie aneinander rissen und sich schlugen. Shreeva sah nicht zurück.
Als sie einige Zeit später den heilenden Schleim aus ihrem Körper auf Maulkins Wunden rieb, sagte er: »Sie haben es vergessen. Sie haben vollkommen vergessen, wer und was sie waren. Es ist einfach zu lange her, Shreeva. Sie haben jeden Fetzen Erinnerung und Sinn verloren.« Er zuckte zusammen, als sie einen abgerissenen Hautfetzen wieder an seine Stelle schob und mit etwas Schleim versiegelte. »Sie sind das, was aus uns werden wird.«
»Schh«, erwiderte Shreeva zärtlich. »Schh. Ruh dich aus.« Sie umschlang ihn noch enger mit ihrem langen Körper und verankerte ihren Schwanz um einen Felsen, damit sie nicht von der Strömung weggerissen wurden. Sessurea hatte sich ebenfalls mit ihnen verwoben und schlief bereits. Vielleicht war er aber auch einfach nur schweigsam und passiv, Opfer derselben Entmutigung, die auch an Shreeva nagte. Hoffentlich war das nicht so. Ihr war kaum genug Mut geblieben, um ihre eigene Entschlossenheit aufrechtzuerhalten.
Aber am meisten sorgte sie sich um Maulkin. Ihre Begegnung mit der silbernen Versorgerin hatte ihn verändert. Die anderen Versorger, die durch die Leere und die Fülle glitten, waren bloße Nahrungsquellen. Aber die silberne war anders gewesen. Ihr Duft hatte in allen Erinnerungen geweckt. Sie waren ihr gefolgt, weil sie davon überzeugt waren, dass ihr Duft sie zu »Der, die sich erinnert« führen würde. Stattdessen jedoch war sie nicht einmal von ihrer Art gewesen. Voller Hoffnung hatten sie sie trotzdem angerufen, aber sie hatte nicht geantwortet. Doch der weißen Seeschlange, die an ihrer Seite gebettelt hatte, hatte sie Fleisch gegeben. Maulkin hatte sich von ihr abgewandt, verkündet, sie könne nicht »Die, die sich erinnert« sein, und gesagt, er wolle ihr nicht länger folgen. Doch seitdem war in allen Gezeiten ihr Duft präsent gewesen. Sie mochte außer Sicht sein, aber Shreeva wusste, dass sie nicht weit entfernt war. Maulkin folgte ihr immer noch, und sie folgten noch immer ihm.
Maulkin stöhnte und rührte sich in ihrer Umklammerung. »Ich fürchte, es ist das letzte Mal, dass einer von uns diese Reise als etwas anderes als ein bloßes Vieh unternimmt.«
»Was meinst du damit?«, wollte Sessurea wissen. Er drehte sich umständlich herum, bis sich ihre Augen gegenüberlagen. Er hatte selbst viele Verletzungen davongetragen, aber keine war wirklich gefährlich. Eine tiefe Wunde an einer seiner Giftdrüsen unmittelbar hinter seinem Kiefergelenk war die schlimmste. Wäre der Biss tiefer gegangen, hätten seine eigenen Gifte ihn getötet. Das Knäuel hatte Glück gehabt, dass es noch existierte.
»Sucht eure Erinnerungen ab«, befahl Maulkin tonlos. »Durchforstet nicht nur die Gezeiten und die Tage, sondern die Jahreszeiten und die Jahre, Jahrzehnte auf Jahrzehnte. Wir waren schon einmal hier, Sessurea. Alle Knäuel sind ausgeschwärmt und in diese Gewässer gewandert, und zwar nicht nur einmal, sondern unzählige Male. Wir sind hergekommen, um die zu suchen, die sich erinnern, die wenigen, denen die gesamten Erinnerungen unserer Art anvertraut worden sind. Das Versprechen war eindeutig. Wir sollten uns versammeln. Wir würden unsere Geschichte zurückbekommen, und wir würden an einen sicheren Ort gelangen, an dem wir unsere Transformation vollziehen könnten. Dort würden wir wiedergeboren werden. Trotzdem wurden wir immer und immer wieder enttäuscht. Zyklus auf Zyklus sind wir ausgeschwärmt und haben gewartet. Ebenso oft haben wir unsere Hoffnungen begraben, unseren Zweck vergessen und sind schließlich wieder in die südlichen Gewässer zurückgeschwommen. Und jedes Mal haben die von uns, die noch über eine Handvoll Erinnerungen verfügten, gesagt: ›Vielleicht haben wir uns geirrt. Vielleicht war das nicht die Zeit, nicht die richtige Jahreszeit, und die Erneuerung kommt erst nächstes Jahr.‹ Aber so war es nicht. Wir haben uns nicht geirrt. Diejenigen, die uns treffen sollten, haben versagt. Sie sind nicht gekommen. Damals nicht, und vielleicht kommen sie auch diesmal nicht.«
Maulkin verstummte. Shreeva sicherte ihn immer noch gegen den Strom des Wassers. Es gab keinen wohltuenden Schlamm, in den man sich hätte verkriechen können, nur grobes Seegras, Steine und Felsbrocken. Sie hätten sich einen besseren Platz zum Rasten aussuchen sollen. Doch bis Maulkin wieder genesen war, wollte sie nicht reisen. Außerdem, wohin sollten sie sich wenden? Sie waren in dieser Strömung voller merkwürdiger Salze auf und ab geschwommen, und sie hatte den Glauben daran verloren, dass Maulkin wusste, wohin er sie führte. Und wenn sie sich selbst überlassen waren, wohin sollten sie gehen? Die Frage schien sie plötzlich niederzudrücken, und sie wollte einfach nicht darüber nachdenken.
Sie reinigte die Linse ihrer Augen und sah dann an ihrem Körper entlang, der mit denen der anderen verschlungen war. Das Rot ihrer Schuppen war hell und strahlend, aber vielleicht wirkte das auch nur im Vergleich zu Maulkins trüber Haut so. Seine goldenen Scheinaugen schimmerten blassbraun. Die eiternden Bisswunden entstellten sie. Er brauchte Futter, Wachstum und eine neue Haut. Dann würde er sich wieder besser fühlen. Sie alle würden sich dann besser fühlen. Shreeva äußerte diesen Gedanken laut. »Wir müssen fressen. Wir sind alle ganz schwach vor Hunger. Meine Giftsäcke sind beinahe leer. Vielleicht sollten wir nach Süden gehen, wo es mehr Nahrung gibt und das Wasser warm ist.«
Maulkin drehte sich in ihrer Umschlingung herum und sah sie an. Seine großen Augen verfärbten sich kupfern vor Sorge. »Du verschwendest zu viel von deiner Kraft an mich, Shreeva«, tadelte er sie. Sie spürte, wie viel Mühe es ihn kostete, seine Mähne freizuschütteln und sie aufzurichten. Ein zweiter Ruck löste eine schwache Wolke seines Giftes aus. Es reizte und weckte sie, erneuerte ihre Bewusstheit. Sessurea beugte sich dichter zu ihnen heran und umwickelte sie mit seinem längeren Körper. Er nahm Maulkins Gifte in sich auf, sog sie mit pumpenden Kiemen ein.
»Alles wird gut«, versuchte Sessurea sie zu beruhigen. »Du bist nur müde. Und hungrig. Wie wir alle.«
»Todmüde«, bestätigte Maulkin erschöpft. »Und fast wahnsinnig vor Hunger. Die Entbehrungen des Körpers beeinträchtigen das Funktionieren des Geistes. Aber hört mir zu, ihr beiden. Hört mir zu und merkt es euch und haltet euch daran. Wenn alles andere vergessen ist, hegt und pflegt diesen Gedanken: Wir können nicht wieder nach Süden gehen. Wenn wir diese Gewässer verlassen, dann ist es endgültig. Solange wir denken können, müssen wir hier bleiben und nach ihr suchen, nach ›Einer, die sich erinnert‹. Ich weiß es instinktiv. Wenn wir diesmal nicht wiedergeboren werden, dann werden wir uns niemals erneuern. Wir und alle von unserer Art werden untergehen und von da an für immer unbekannt sein im Meer, in der Luft oder auf dem Land.« Er sprach die merkwürdigen Worte langsam aus, und einen Moment glaubte Shreeva, sie könnte sich an das erinnern, was sie bedeuteten. Nicht die Fülle oder die Leere. Die Erde, der Himmel und das Meer, die drei Teile ihres Hoheitsgebietes und früher einmal die drei Sphären von … von irgendetwas.
Maulkin schüttelte erneut seine Mähne. Diesmal öffneten Shreeva und Sessurea die Kiemen weit, um seine Gifte und die darin enthaltenen Erinnerungen tief in sich einzusaugen. Shreeva sah auf die behauenen Felsbrocken hinunter, die sich auf dem Meeresboden türmten, auf die Schichten von Muscheln und das Seegras, das wie ein verhüllender Vorhang über dem Bogen des Eroberers hing. Der schwarze Stein, den silbrige Adern durchzogen, schien nur an wenigen Stellen hindurch. Die Erde hatte ihn in einem gewaltigen Beben heruntergeworfen, und das Meer hatte ihn geschluckt. Früher einmal, vor Äonen, war sie auf diesem Bogen gelandet, hatte die gewaltigen Schwingen ausgebreitet und dann hinter ihren Schultern zusammengefaltet. Sie hatte dem Gefährten ihre Freude in dem frischen Morgenregen zutrompetet, und ein strahlender blauer Drache hatte ihr seine Antwort entgegengeschmettert. Früher einmal hatten die Uralten ihre Ankunft mit Blumen und Willkommensrufen begrüßt. Früher einmal, in dieser Stadt unter einem strahlend blauen Himmel …
Es verblasste. Und es ergab keinen Sinn. Die Bilder verflogen wie Träume nach dem Erwachen.
»Seid stark!«, forderte Maulkin. »Wenn es uns nicht bestimmt sein sollte zu überleben, dann wollen wir wenigstens bis zum Ende kämpfen. Soll uns doch das Schicksal auslöschen, nicht unsere eigene Verzagtheit. Um des Schicksals unserer ganzen Art willen sollten wir dem treu sein, was wir sind.« Sein Kamm stand aufgerichtet und giftig von seinem Hals ab. Wieder einmal sah er aus wie der visionäre Führer, der vor so langer Zeit Shreevas Loyalität gewonnen hatte. Ihr Herz schwoll an vor Liebe zu ihm.
Plötzlich verdunkelte sich die Welt, und sie hob den Blick zu dem großen Schatten, der über ihnen entlangschwebte. »Nein, Maulkin«, trompetete sie leise. »Wir sind nicht dem Untergang geweiht und auch nicht dem Vergessen. Sieh nur!«
Ein dunkler Versorger glitt träge über ihnen dahin. Als er sich direkt über ihren Köpfen befand, warf er ihnen Futter zu. Das Fleisch sank langsam zu ihnen herab und bewegte sich sacht in der Strömung hin und her. Es waren tote Zweibeiner. An einem hing noch eine Kette. Sie würden nicht um ihre Nahrung kämpfen müssen. Sie brauchten sie nur zu akzeptieren.
»Kommt«, drängte sie Maulkin, als Sessurea sich von ihnen löste und eilig dem Futter entgegenschwamm. Sanft zog sie Maulkin mit sich, als sie sich erhob, um die Spende des Versorgers in Empfang zu nehmen.
Die Brise wehte kalt und frisch über sein Gesicht und seine Brust, aber etwas in ihr versprach die baldige Ankunft des Frühlings. Die Luft schmeckte nach Jod, und es herrschte Ebbe. Der Saum aus Seetang direkt an der Wasserlinie war deutlich zu erkennen. Der grobe Sand unter seinem Rumpf war noch feucht von den starken Regenfällen der letzten Tage. Und der Rauch von Ambers Feuer kitzelte ihn in der Nase. Die Galionsfigur drehte den Kopf zur Seite und kratzte sich.
»Es ist ein schöner Abend, findest du nicht?«, fragte Amber im Plauderton. »Der Himmel ist ganz klar. Da sind zwar noch ein paar Wolken, aber ich kann den Mond und sogar ein paar Sterne sehen. Ich habe Muscheln gesammelt und sie in Algen eingewickelt. Sobald das Feuer stärker brennt, nehme ich ein bisschen Holz weg und koche sie auf den glühenden Steinen.« Sie machte eine erwartungsvolle Pause.
Paragon antwortete nicht.
»Möchtest du welche probieren, wenn sie gar sind? Ich weiß, dass du nicht essen musst, aber vielleicht findest du die Erfahrung interessant.«
Er gähnte, reckte sich und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Er war viel besser in diesem Spiel als sie. Dreißig Jahre Zwangspause am Strand hatten ihn wahre Geduld gelehrt. Wie sie wohl heute Abend reagieren würde? Wütend oder traurig?
»Was nützt es uns beiden, wenn du dich weigerst, mit mir zu sprechen?«, fragte sie. Er spürte, dass ihre Geduld allmählich schwächer wurde. Aber er machte sich nicht einmal die Mühe, die Schultern zu zucken.
»Paragon, du bist ein hoffnungsloser Idiot! Warum sprichst du nicht mit mir? Begreifst du denn nicht, dass ich die Einzige bin, die dich retten kann?«
Wovor retten?, hätte er gefragt. Wenn er mit ihr geredet hätte.
Paragon hörte, wie sie aufstand und um ihn herum zu seinem Bug ging. Gelassen drehte er den Kopf von ihr weg.
»Na gut, dann tu so, als ob du mich ignorierst. Mir ist es gleich, ob du mir antwortest oder nicht, aber du musst zumindest zuhören, was ich dir zu sagen habe. Du schwebst in Gefahr, und zwar in einer sehr konkreten Gefahr. Ich weiß, du willst nicht, dass ich dich von deiner Familie loskaufe, aber ich habe ihnen trotzdem ein Angebot gemacht. Sie haben es abgelehnt.«
Paragon ließ sich zu einem kurzen, verächtlichen Schnauben herab. Natürlich hatten sie das getan. Er war das Seelenschiff der Familie Lutglück. Sie würden ihn niemals verkaufen, ganz gleich, wie sehr er in Ungnade gefallen war! Zwar hatten sie ihn dreißig Jahre lang auf diesem Strand vertäut liegen lassen, aber sie hatten ihn niemals verkauft! Weder an Amber noch an die Neuen Händler. Das würden sie auch nicht tun. Das hatte er die ganze Zeit über gewusst.
Amber ließ nicht locker. »Ich habe direkt mit Amis Lutglück gesprochen. Es war nicht gerade leicht, zu ihr vorzudringen. Als wir uns unterhielten, tat sie, als wäre sie schon von meinem bloßen Angebot schockiert. Sie behauptete, dass du nicht zu verkaufen wärst, zu keinem Preis. Und sie hat dasselbe wiederholt, was du gesagt hast, nämlich dass keine Händlersippe aus Bingstadt ihr Seelenschiff verkaufen würde. Dass man so etwas einfach nicht täte.«
Paragon konnte sich das Lächeln nicht verkneifen, das ihn unwillkürlich überkam. Er war ihnen also noch nicht gleichgültig. Wie hatte er das jemals bezweifeln können? In gewisser Weise war er geradezu froh, dass Amber dieses lächerliche Kaufangebot gemacht hatte. Jetzt, da Amis Lutglück einer Fremden gegenüber zugegeben hatte, dass er immer noch zu ihrer Familie gehörte, würde sie sich vielleicht auch bewegt fühlen, ihm einen Besuch abzustatten. Und wenn Amis ihn erst einmal besucht hatte, konnte das möglicherweise noch ganz andere Dinge nach sich ziehen. Vielleicht würde er sogar bald wieder die Meere befahren, mit einer wohlwollenden Hand am Ruder. Seine Phantasie trug ihn davon.
Doch Ambers Stimme riss ihn abrupt wieder in die Realität zurück. »Sie tat, als wäre sie sogar darüber entsetzt, dass Gerüchte in Umlauf sind, sie würde dich verkaufen wollen. Ihren Worten nach beleidige das die Familienehre. Und dann sagte sie …« Ambers Stimme wurde plötzlich ganz leise, und ein Unterton von Angst schwang darin mit. »Sie sagte, dass sie einige Männer engagiert hätte, die dich von Bingstadt wegschleppen würden. Dass es vielleicht besser wäre, wenn du außer Sicht kämst und niemand mehr an dich dächte.« Amber machte eine bedeutungsvolle Pause.
Paragon fühlte, wie sich etwas in seiner Brust aus Hexenholz zusammenzog.
»Deshalb habe ich sie gefragt, wen sie denn engagiert hätte.«
Er hob beide Hände und stopfte sich die Finger in die Ohren. Er wollte nicht zuhören. Sie wollte ihm nur Angst machen. Seine Familie wollte ihn also wegschleppen. Das musste noch gar nichts bedeuten. Es war vielleicht ganz nett, einmal woanders zu sein. Vielleicht würden sie ihn diesmal ja sogar aufbocken, wenn sie ihn an Land zogen. Er hatte es satt, immer Schlagseite zu haben.
»Sie erwiderte, das würde mich nichts angehen.« Ambers Stimme wurde lauter. »Dann habe ich sie gefragt, ob es Bingstädter Händler wären. Sie hat mich nur angesehen. Also habe ich sie ganz direkt gefragt, ob Mingsleh dich irgendwo hinbringen würde, um dich anschließend auseinandernehmen zu lassen.«
Paragon begann verzweifelt zu summen. Laut. Amber redete weiter, aber er konnte sie nicht hören. Er wollte sie nicht hören. Er schob die Finger weiter in die Ohren und sang aus Leibeskräften: »Ein Pfennig für ein süßes Brötchen, ein Pfennig für eine Pflaume, ein Pfennig für die Rennen, um die Pferdchen laufen zu sehen …«
»Sie hat mich rausgeworfen!«, schrie Amber. »Als ich draußen war und ihr zugerufen habe, dass ich diese Sache vor den Rat bringen würde, hat sie ihre Hunde auf mich gehetzt. Sie hätten mich fast erwischt!«
»Schwing mich tief, schwing mich hoch, schwing mich bis in den Himmel hinauf.« Paragon sang verzweifelt sein Kinderlied. Sie irrte sich, sie musste sich irren. Seine Familie würde ihn irgendwohin in Sicherheit bringen. Das war alles. Es spielte nicht die geringste Rolle, wen sie dafür engagiert hatten. Sobald sie ihn zu Wasser gelassen hatten, würde er bereitwillig segeln. Er würde ihnen zeigen, wie einfach es sein konnte, ihn zu segeln. Ja. Das war eine Chance, sich ihnen zu beweisen. Er konnte ihnen zeigen, dass ihm all das leidtat, wozu sie ihn gebracht hatten.
Sie redete nicht mehr weiter. Er sang langsamer und summte schließlich nur noch. Bis auf seine eigene Stimme herrschte Ruhe. Vorsichtig nahm er die Finger aus den Ohren. Nichts war mehr zu hören bis auf das Klatschen der Wellen, den Sand, den der Wind über den Strand trieb, und das Knacken von Ambers Feuer. Plötzlich schoss ihm eine Frage durch den Kopf, und er sprach sie laut aus, bevor ihm einfiel, dass er gar nicht mit ihr hatte sprechen wollen.
»Wirst du mich auch an meinem neuen Platz besuchen?«
»Paragon, du kannst das nicht einfach verdrängen. Wenn sie dich hier wegholen, dann werden sie dich wegen deines Hexenholzes auseinandernehmen.«
Die Galionsfigur erwiderte: »Das ist mir egal. Es wäre ganz schön, tot zu sein.«
Amber klang leise und verzagt. »Ich weiß nicht, ob du dann wirklich tot bist. Ich fürchte, sie werden dich von dem Rest des Schiffs trennen. Wenn dich das nicht umbringen sollte, werden sie dich nach Jamaillia bringen und dort als Monstrosität verkaufen. Oder dich dem Satrapen zum Geschenk machen, im Tausch gegen Ländereien und andere Gefälligkeiten. Ich weiß nicht, wie du dort behandelt wirst.«
»Wird es wehtun?«, fragte Paragon.
»Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß zu wenig über das, was du bist. Hat es … Als sie dein Gesicht zerhackt haben, hat das wehgetan?«
Er wandte sein entstelltes Gesicht von ihr ab, hob die Hände und fuhr mit den Fingern über das zersplitterte Holz, wo einmal seine Augen gewesen waren. »Ja.« Er runzelte die Stirn. Doch im nächsten Atemzug fügte er hinzu: »Ich erinnere mich nicht mehr. Es gibt eine Menge, woran ich mich nicht mehr erinnern kann. Meine Logbücher sind verschwunden.«
»Manchmal ist es das Bequemste, wenn man sich nicht erinnert.«
»Also glaubst du, dass ich lüge, ja? Du glaubst, ich könnte mich erinnern, wenn ich nur wollte, hm?« Er sagte das, weil er hoffte, damit einen Streit vom Zaun brechen zu können.
»Paragon, wir können das Gestern nicht ändern. Wir sprechen vom Morgen.«
»Sie kommen schon morgen?«
»Das weiß ich nicht! Es war nur ein Bild, eine Metapher.« Sie trat näher heran und legte die Hände flach auf seinen Rumpf. Wegen der Kälte trug sie Handschuhe, aber er fühlte die Umrisse ihrer Hände als zwei warme Flecken an seiner Beplankung. »Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass sie dich einfach in Stücke hacken. Selbst wenn es nicht wehtun sollte und auch wenn es dich nicht umbringt. Ich ertrage diesen Gedanken nicht.«
»Du kannst nichts dagegen tun«, erklärte er. Plötzlich hielt er es für angebracht, diese Überlegung zu äußern. »Wir können beide nichts dagegen tun.«
»Das ist fatalistisches Gerede«, erklärte Amber wütend. »Wir können eine ganze Menge dagegen tun. Und ich schwöre dir, dass ich mich hier hinstelle und gegen sie kämpfe.«
»Du könntest nicht gewinnen«, erwiderte Paragon. »Es wäre dumm zu kämpfen, wenn du von vornherein weißt, dass du nicht gewinnen kannst.«
»Das mag sein«, antwortete Amber. »Und hoffentlich kommt es erst gar nicht dazu. Ich habe nicht vor zu warten, bis die Lage so verzweifelt wird. Ich will handeln, bevor sie es tun. Paragon, wir brauchen Hilfe. Wir brauchen jemanden, der sich beim Händlerrat für uns einsetzt.«
»Kannst du das nicht tun?«
»Das weißt du genau. Nur ein Alter Händler kann an diesen Versammlungen teilnehmen. Wir brauchen jemanden, der zu ihnen geht und sie überredet, den Lutglücks das zu verbieten.«
»Aber wen?«
»Ich hatte gehofft, du wüsstest jemanden, der für uns spricht«, antwortete Amber kläglich.
Paragon dachte eine Weile schweigend nach. Dann lachte er barsch auf. »Für mich wird sich niemand einsetzen. Das ist vergebliche Liebesmüh, Amber. Denk nach. Nicht einmal meine eigene Familie kümmert sich um mich. Ich weiß, was man über mich sagt. Ich wäre ein Mörder. Und das Schlimme daran ist, es stimmt, oder etwa nicht? Ich habe ganze Besatzungen verloren. Ich bin gekentert und habe sie alle ertränkt, und das nicht nur einmal. Die Lutglücks haben recht, Amber. Sie sollten mich verkaufen und in Stücke hauen lassen.« Verzweiflung überkam ihn, eisiger und stärker als jede Sturmwelle. »Ich wäre gern tot«, erklärte er. »Ich würde gern enden.«
»Das willst du nicht wirklich«, widersprach Amber leise. Doch er erkannte an ihrem Tonfall, dass sie es wusste. Er meinte es ernst.
»Würdest du mir einen Gefallen tun?«, fragte er schließlich.
»Was für einen?«
»Töte mich, bevor sie es können.«
Er hörte, wie sie nach Luft schnappte. »Ich … Nein, das könnte ich nicht.«
»Wenn du wüsstest, dass sie kommen, um mich in Stücke zu hacken, könntest du es. Ich werde dir die einzige sichere Methode verraten. Du musst auf mir Feuer legen. Und zwar nicht nur an einer Stelle, sondern an vielen gleichzeitig, damit niemand es löschen und mich retten kann. Wenn du trockenes Holz sammelst, jeden Tag ein bisschen, und es in meinen Laderäumen aufschichtest, dann …«
»Sprich nicht einmal von solchen Dingen«, erwiderte Amber schwach. Zerstreut fügte sie hinzu: »Ich koche jetzt die Muscheln.« Er hörte, wie sie im Feuer stocherte, und dann zischte das feuchte Seegras auf den heißen Kohlen. Sie kochte die Muscheln bei lebendigem Leib. Sollte er sie darauf hinweisen? Das würde sie nur aufregen, sie jedoch nicht unbedingt für seine Sache einnehmen. Er wartete, bis sie wieder zu ihm kam. Sie setzte sich in den Sand und lehnte sich an seinen Rumpf. Ihr Haar war sehr fein. Als es an seinen Planken vorbeistrich, verfing es sich in den Fasern und blieb am Holz hängen.
»Das ergibt wenig Sinn«, meinte er freundlich. »Du hast geschworen, du würdest hier bleiben und für mich kämpfen, obwohl du weißt, dass du verlieren musst. Aber diese einfache, sichere Gnade verweigerst du mir.«
»Tod durch Verbrennen ist alles andere als eine Gnade.«
»Sicher. Wenn man in Stücke gehackt wird, ist das vermutlich weit angenehmer«, konterte Paragon sarkastisch.
»Du wechselst so schnell von kindlicher Wut zu eiskalter Logik«, erklärte Amber nachdenklich. »Bist du ein Kind oder ein Mann? Was bist du wirklich?«
»Vielleicht beides. Aber du lenkst ab. Komm schon, versprich es mir.«
»Nein«, erwiderte sie flehentlich.
Paragon seufzte. Sie würde es tun. Er hörte es in ihrer Stimme. Wenn es keinen anderen Weg gab, ihn zu retten, dann würde sie es tun. Ein merkwürdiger Schauer überlief ihn. Es war ein seltsamer Sieg, den er da errungen hatte. »Und Ölfässer«, sagte er. »Wenn sie kommen, bleibt dir vielleicht nicht mehr viel Zeit. Öl lässt das Holz schneller brennen. Und heißer.«
Ein langes Schweigen folgte seinen Worten. Als sie wieder sprach, hatte sich ihre Stimme verändert. »Sie werden versuchen, dich heimlich zu verlegen. Sag mir, wie sie es machen werden.«
»Vermutlich auf dieselbe Weise, wie sie mich an Land gezogen haben. Wahrscheinlich nutzen sie die höchste Flut des Monats, in der Nacht. Sie kommen mit Walzen, Eseln, Männern und kleinen Booten. Natürlich ist das kein leichtes Unterfangen, aber erfahrene Leute sollten es schnell bewerkstelligen können.«
Amber dachte nach. »Ich muss meine Sachen in deinen Laderaum bringen. Wenn ich dich bewachen soll, muss ich an Bord schlafen. Ach, Paragon«, rief sie plötzlich. »Hast du wirklich niemanden, der sich beim Händlerrat für dich einsetzen würde?«
»Nur dich.«
»Ich werde es versuchen. Aber ich bezweifle, dass sie mir eine Chance geben werden. In Bingstadt bin ich eine Außenseiterin. Sie hören gewöhnlich nur auf ihresgleichen.«
»Du hast mir einmal gesagt, dass du in Bingstadt respektiert wirst.«
»Das stimmt. Sie respektieren mich als Künstlerin und Geschäftsfrau. Aber ich bin keine Alte Händlerin. Sie hätten nicht viel Nachsehen mit mir, wenn ich mich in ihre Angelegenheiten einmischen würde. Vermutlich säße ich dann bald ohne Kunden da. Oder es würde etwas noch Schlimmeres passieren. Durch die ganze Stadt zieht sich eine Kluft zwischen Alten Händlern und Neuen Sippen. Es kursiert sogar das Gerücht, dass der Rat von Bingstadt eine Delegation mit der Originalcharta zum Satrapen geschickt hat. Sie verlangen, dass er sich an das Wort hält, das ihnen einst der Satrap Esclepius gegeben hat. Und angeblich bestehen sie weiterhin darauf, dass der Satrap alle Neuen Händler zurückruft und die Landschenkungen an sie zurücknimmt. Sie wollen den Satrapen Cosgo auffordern, sich in Zukunft an die Originalcharta zu halten und von weiteren Landschenkungen ohne die Einwilligung der Bingstädter Händler Abstand zu nehmen.«
»Ein sehr genaues Gerücht«, bemerkte Paragon.
»Ich habe ein sehr scharfes Ohr für Gerüchte und Klatsch. Und das hat mir mehr als einmal das Leben gerettet.«
Sie schwiegen.
»Ich wünschte, ich wüsste, wann Althea zurückkommt«, sagte Amber plötzlich sehnsüchtig. »Ich könnte sie bitten, für uns zu sprechen.«
Paragon spielte mit dem Gedanken, Brashen Trell zu erwähnen. Brashen war sein Freund. Brashen würde für ihn sprechen. Brashen war ein Alter Händler. Aber noch während er das dachte, fiel ihm wieder ein, dass Brashen enterbt worden war. Für die Familie Trell war Brashen genauso eine Schande wie Paragon für die Lutglücks. Es wäre nicht gut, wenn Brashen sich für ihn einsetzte, selbst wenn er den Rat dazu bringen könnte, ihn anzuhören. Es war, als würde ein schwarzes Schaf zugunsten eines anderen sprechen. Niemand würde sich davon beeindrucken lassen. Er legte die Hand über die Narbe auf seiner Brust und verdeckte kurz den primitiven siebenzackigen Stern, der ihn brandmarkte. Nachdenklich strich er mit den Fingern darüber, seufzte und holte dann tief Luft.
»Die Muscheln sind gar. Ich kann sie riechen.«
»Möchtest du eine kosten?«
»Warum nicht?« Er sollte alles Neue ausprobieren, solange er es noch konnte. Vielleicht dauerte es nicht mehr lange, bis er nie mehr die Möglichkeit hatte, Neues zu erfahren.