Ursula Grether
Aufstieg in die Tiefe

Lektorat:

Richard Reschika

Gestaltung Umschlag:

Gesine Beran

Covermotiv:

© shutterstock | HelloRF Zcool

 

© shutterstock | Anne Mathiasz

Autorenfoto:

© Alexander Berg

Fotos (wenn nicht anders angegeben):

Ursula Grether

Innenteil, Layout/Satz:

Wilfried Klei

eBook Gesamtherstellung:

Bookwire GmbH, Frankfurt a. M.

© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2019
info@kamphausen.media | www.kamphausen.media

ISBN Printausgabe: 978-3-95883-396-8
ISBN E-Book: 978-3-95883-397-5

1. Auflage 2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
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URSULA GRETHER

Aufstieg in die Tiefe

Meine Reise
mit Messner, Buddha
und Parkinson

Für einen sehr spirituellen Freund,

Reinhold,

für dich!

I MESSNER

Erdbeben und Lawine

Nepal

Jomosom

Um den Dhaulagiri

Messners Einladung ins Basecamp

Mount Everest

Anlauf nehmen

Am Busen von Chomolungma

Sagarmatha, Reinhold und ich

Ein großes Tabu wackelt

Und jetzt?

Sir Edmund Hillary

Blühende Einsamkeit

Ambivalenzen und Hindernisse

Ein Leben ohne Hindernisse ist wie ein Bach ohne Steine

Der nackte Berg

Vorbereitungen

Los geht’s!

Messner, dieser Egomane

Im Basislager

Medizinische Herausforderungen und ein Erleuchtungsmoment

Meine erste Gletscherspalte

Das große Warten

Und er bewegt sich doch und lässt sich umarmen

Hindernislauf

Aufregende Alltage

K2 – der Schönste und Schwierigste

Auf in die Wildnis!

Aus! Das Spiel ist aus!

Berge, ade!

Ruhe

Träume, Suche, Sucht

Bedürfnisse und Gewaltfreie Kommunikation

Jobsuche

Ama Dablam als Abschiedsbonbon

II BUDDHA

Schulmedizin in einem bundesdeutschen Krankenhaus

Gesundheitstag – Rettung der Ärztin

Nepal und ein Deutscher

Muktinath

Buddha ruft

Lama Thubten Yeshe

Tashy, mein erster Achttausender

Paradiese und Durststrecken in der Kleinfamilie

Die Petern-Bäuerin

Mein zweiter Achttausender – ein Edelstein

Meditation – Unterstützung oder Belastung?

Kalachakra

Alltag

Luft und Wasser zum Überleben

Nepal for ever

Eine Dreiecksgeschichte

Scheidung

Aufklärungsunterricht für Ani Chöyings junge Nonnen

Annapurna – eine neue Schwangerschaft und Midlife-Crisis

Gehen – Laufen – Wandern – Pilgern

Laufen

Pilgerwanderungen

Pilgern gegen Gewalt mit Claude AnShin Thomas

Alles hängt mit allem zusammen

Pilgerwanderung um den Kailash im Westen Tibets

Versunkenes Königreich Guge

Am Manasarovar-See

Am Tod provoziertes Leben

Übung zum eigenen Tod

Bergsteiger und Tod

Meine Berührungspunkte mit dem Tod

Tod und Medizinstudium

Umgang verschiedener Kulturen mit dem Tod

Todesprovokation und Angst

Nahtoderfahrung

Hospiz

Sterbebegleitung meiner Freundin Regine

Hospiz macht Schule

Mit Ringu Tulku Rinpoche ins wilde Kham nach Tibet

Reiterfest in Tibet

Buddhismus im posttibetischen Berlin

Christian Meyer und Ramana Maharshi

Buddhismus trifft Wissenschaft

Das Ich, das Ego, das Selbst und das Scheitern

Nelson Mandela

Meine Freiheit

Mystik, angewandter Buddhismus und Bodhicharya

III PARKINSON

Abstieg in die Tiefen von Parkinson

Kloster und Ayurveda-Klinik in Nepal

Zurück in mein „Mutterhaus“ Kopan

Tonglen – Mitgefühl

Ayurveda in Kathmandu

Zurück in Berlin

Professor Przuntek

Alltag

Aufstieg in die Tiefe und Freiheit

Dank

Literatur

Glossar

Zur Autorin

I MESSNER

Erdbeben und Lawine

„Ursula! Ursula, an earthquake, an avalanche, directly in the wall!“ (Ein Erdbeben, eine Lawine, direkt in der Wand!)

Terrys Stimme überschlägt sich. Es gelingt ihr, durch die Zeltwand und meine frühmorgendlichen Träume bis zu mir vorzudringen. Noch nie habe ich ihn so aufgeregt erlebt.

Aus dem Tiefschlaf gerissen, versuche ich, mich zu orientieren. Wo? Wer? Was?

Basecamp am Nanga Parbat. Terry, unser Begleitoffizier im Zelt nebenan. Reinhold weit oben in der Wand. Die Augen noch fast geschlossen, der Körper in Aufruhr, der Kopf noch am Sortieren, so krabble ich zum Zeltausgang, verheddere mich im Schlafsack, werfe den Kocher und die danebenliegenden Lebensmittel um, versuche, die Schnüre des Eingangs zu lösen.

„Can you see him?“ (Kannst du ihn sehen?), schreie ich. Mit den Beinen noch im warmen Schlafsack steckend, robbe ich so weit aus dem Zelt, dass ich am kleinen Vordach vorbei die Nanga-Wand sehen kann. Von einer Lawine keine Spur. Ich ziehe eine Hose an, laufe barfuß zu Terry, schnappe mir unser einziges Fernglas. Wo ist Reinholds Punkt? Gestern Abend war er noch da.

Plötzlich kommt ein starker Wind auf, wirbelt mir die langen Haare um den Kopf. Es schneit, Flocken schlagen mir ins Gesicht und ich wende mich ab, kauere mich zusammen. Ein Blick in den strahlend blauen Himmel sagt mir alles: Wieder einmal vermischen sich Traum und Wirklichkeit in mir. Schneegestöber bei blauem Himmel? Das muss ein Traum sein! Die Eiskristalle schmerzen auf der Haut und in den Augen, die nackten Füße frieren.

Ich will nur eins: schnell wieder in den Schlafsack und weiter träumen. Hoffentlich nicht die Fortsetzung dieses Lawinen-Albtraums. Entwarnung.

Doch kurz darauf fällt meine Illusion in sich zusammen. Blauer Himmel und Schneegestöber passen sehr wohl zusammen, nämlich zu einer Lawine. Die Woge ihrer Schnee- und Eismassen ist längst am Fuß der steilen Wand angekommen und im flacheren Gelände ausgelaufen. Davon ist nichts mehr zu sehen.

Während ich noch auf der Achterbahn meiner Gefühle dahinsause, setzt sich Terry – der große, freundliche, meist gelassene und immer zu einem Scherz aufgelegte Mann aus der pakistanischen Armee – auf seinen selbst gebastelten „Fernsehsitz“, jetzt aber wortlos, ohne zu lächeln, voll konzentriert, zum wahrscheinlich spannendsten Krimi seines Lebens. Eine der blauen Transportkisten dient ihm als Sitz, das Gestell eines Rucksacks als Stativ für sein Fernglas, das er sich vors Gesicht hält. Am Tag davor schien es an seinen Augen festgewachsen zu sein.

Er tut das einzig Richtige in diesem Moment: Er versucht, mit eigenen Sinnen die Situation zu klären, und sucht den Punkt. Reinholds Punkt, den wir gestern den ganzen Tag verfolgt hatten.

Mein zappeliges Wesen schwankt zwischen der einen und der anderen Realität, zwischen „das darf nicht sein“ und „oh Gott, wenn doch“, hin und her. Die ganze Palette von Hoffnung bis Verzweiflung ergießt sich wie ein Schauer aus grellen Farben über mich.

Mein Körper rebelliert. Übelkeit und Schwindel setzen ihm zu. Plötzlich, wie von ganz weit her, Terrys jubelnder Aufschrei: „Da ist er! Reinholds Punkt! Und er bewegt sich.“ Zack! Der nächste emotionale Farbeimer leert sich über meinem Kopf! „Er bewegt sich.“ Der am meisten ersehnte, wundervollste und beglückendste Satz.

Aber da gibt es diese Zweifel vom Vortag. Ist es wirklich Reinholds Punkt? Ist er an einem einzigen Tag so weit nach oben gestiegen? Fast unmöglich. Jedoch: Gesetzt den Fall, sein Biwakplatz hätte weiter unten gelegen, so hätte ihn die Lawine mit Sicherheit weggefegt. Als Verdrängungskünstlerin akzeptiere ich Terrys Feststellung: Die Lawine ist direkt unterhalb seines Zeltes abgegangen. Das ist die beste Variante und mein Strohhalm, während mein Hirn weiter vor sich hin rattert. Bei dem Gedanken, Reinhold hätte – wie schon einmal – seinen Start um nur einen Tag verschoben und wir beide wären heute Morgen unweigerlich in der Lawinenrutschbahn gewesen, läuft es mir eiskalt den Rücken runter. Ich schwimme in einem Pool, gefüllt mit Entsetzen, Panik, Dankbarkeit, Hoffnung und Ohnmachtsgefühlen.

Gegen Panik helfen Handeln und objektive Beweise. Ein Blick durchs Fernglas lässt mich strahlen: tatsächlich, ein Punkt, und zwar an der Stelle, wo gestern sein Zelt stand. Und er bewegt sich sogar in Richtung Gipfel, zumindest nach oben. Am liebsten würde ich Terry um den Hals fallen. Aber solche spontanen Freudenausbrüche gestatte ich mir nicht einmal auf 4000 Metern Höhe, wo es außer Murmeltieren, stummen Felsen und Eisbrocken keine Zuschauer gibt. Wir sind hier in Pakistan, und ich hatte im Regierungsbüro unterschrieben, dass ich mich an die strengen islamischen Regeln halten werde.

Aber was um Himmels willen hatte mich auf diese völlig abstruse Idee gebracht, hierherzukommen und mich diesen körperlichen und vor allem psychischen Strapazen auszusetzen? Ganz genau werde ich es wohl nie wissen.

Vielleicht hatten die 18 Jahre in dem kleinen Schwarzwalddorf inmitten der Großfamilie meinen Topf für Routine und Langeweile zum Überlaufen gebracht. Die Regeln und Rollen waren klar festgelegt. Die Tradition ließ zwar meine Wurzeln tief in die Erde wachsen und gab mir Halt, hemmte mich aber in meinen Bewegungen. Vielleicht hatte ich einfach zu viel Energie in meinem Körper und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, diese in etwas Sinnvolles einfließen zu lassen. Vielleicht war ich verrückt, größenwahnsinnig und todessehnsüchtig. Hatte mich Reinhold verhext? Wollte ich einfach etwas Neues ausprobieren oder die Kinnlade von Spießern und Kritikern nach unten fallen sehen?

Wollte ich nur sehen, was passiert, und den erhobenen Zeigefingern, den schmallippigen und -äugigen Gesichtern ein grinsendes „Na und?“ entgegensetzen? Vielleicht …

Was ich weiß, ist, dass alles in Nepal begonnen hatte. Nein, noch früher. Auf meinem geblümten Kanapee, als René, meine erste große Liebe, mir von Nepal erzählt hatte, von den freundlichen Menschen, den Tempeln und den hohen Bergen – damals vor dem Abitur. Er sprach von Nepal und ich verstand – Napalm. Er müsse einen Vortrag über Napalm halten. Dieser schöne, sanfte Mann beschäftigt sich mit Napalm? Es wollte nicht in mein Hirn: Er, der mich mit seinen Reiseerzählungen in eine andere Sphäre katapultierte, der so anders war als die Jungs aus meiner Schule, mit denen ich auf Teenagerbällen herumhüpfte? Er – ein Waffenhändler? Aber in Zeiten des Vietnamkrieges und der großen gesellschaftlichen Revolutionen stand ja einiges Kopf und das in den Medien gängige Wort „Napalm“ rutschte leichter ins Ohr als „Nepal“. Der kleine Buchstabendreher ließ sich bald entwirren und gab den Schmetterlingen in meinem Bauch wieder freie Flugerlaubnis. Die Erzählungen aus der weiten Welt eröffneten eine weitere Freiheit, nämlich die des Wissens.

Das Abitur brachte mir zu meiner großen Überraschung eine schriftliche Bestätigung meiner Reife ein. Eine Überraschung deshalb, weil ich aus meiner Umgebung jahrelang etwas anderes gehört hatte. Dass Mädchen artig und bescheiden sein sollten, dass ich mit meiner großen Klappe eher einen Platz im Bundestag als einen Mann erobern würde, dass ich mir ein Beispiel an Susi und Wolfgang nehmen sollte. Oh je, Susi und Wolfgang!

Selbst die Lehrer des Gymnasiums schienen es darauf abgesehen zu haben, unsere Leichtigkeit und Freude am Leben zu dezimieren und unsere Nasen in den miefigen Ernst des Lebens zu stupsen – so wie es mit jungen Katzen gemacht wird, damit sie lernen, dass der Wohnbereich der Menschen kein Ort für ihre Ausscheidungen ist.

Ich fragte also nicht nach, was meine Reife genau bedeutete, sondern griff nach der neuen großen Freiheit, suchte mir ein Zimmer in der nächsten Universitätsstadt und schnupperte in die Welt der Bildung. Diese roch nach Wissen, aber auch nach Nicht-Wissen, nach Forschen und Dürfen, nach Verantwortung-für-mich-selbst-Übernehmen auf einem erstaunlich weiten Feld. Da gab es reichlich Gegenentwürfe zu Susi und Wolfgang – und reichlich Gelegenheiten, Regeln zu brechen und Grenzen hinauszuschieben, um dann zu sehen, was passiert. Und das war gar nicht so schlimm.

Ich entdeckte, dass mein früherer Mut, über breite Bäche zu springen, sich vergrößern ließ. Der Bach wurde zum Ozean und das andere Ufer hieß zunächst Argentinien und ein paar Jahre und Reisen später Indien.

Nach einigen Wartesemestern in Sport, Biologie und Tiermedizin war ich 1977 endlich Medizinstudentin und beschloss, praktische Erfahrungen in einem Krankenhaus in Indien zu sammeln. Nach drei Tagen verzweifelter Suche im heißen und hektischen Delhi fand ich – stolz auf meine detektivischen Fähigkeiten und erleichtert – das Krankenhaus und den Kollegen, der für mich verantwortlich war und dessen schriftliche Zusage ich in der Hand hielt.

Aber zu seinem theatralisch dargebrachten großen Bedauern konnte er gar nichts für mich tun. Die Zuständigkeit für den Bereich der Auslandsstudenten habe inzwischen gewechselt und ich müsse einen neuen Antrag stellen, um im Krankenhaus mitarbeiten zu dürfen. Bla, bla, bla. Ich merkte sofort, Argumente wären hier wirkungslos. Auf die Idee, dass er vielleicht ein Bakschisch erwartete, kam ich nicht.

Dieser unstillbaren Lust auf Anträge, Papiere, Stempel und Genehmigungen sollte ich in Indien noch oft begegnen. In dieser Hinsicht hatten sie gut gelernt von ihren englischen Kolonialherren. Jetzt verstand ich auch die Empfehlung in der einschlägigen Traveller-Literatur, nie ohne irgendeinen Stempel und mit vielen Passbildern zu reisen. Man braucht sie oft. Ein deutscher Stempel, leicht verrutscht und undeutlich, beeindruckte auf meinen späteren Fahrten viele Schalterbeamten.

Damals in Delhi war ich noch nicht so kaltschnäuzig. Artig bat ich per Brief meine Freundin zu Hause, erneut die Empfehlungen von zwei Professoren und die erforderlichen Papiere über meinen Studienstand einzuholen. Aus der Aussicht auf randvoll gefüllte Tage in einem indischen Krankenhaus war plötzlich ein ungeplantes Zeitloch von vier Wochen geworden. Da hinein sickerte recht schnell meine einst von René übernommene Neugier auf Nepal, die seitdem weitergewachsen war.

John Lennons berühmten Satz: „Life is what happens to you while you‘re busy making other plans“ kannte ich noch nicht. Noch glaubte ich an das Richtige oder Falsche, und natürlich wollte ich alles richtig machen und alles genau so, wie ich es mir vorgenommen hatte beziehungsweise wie es sich mein kleines Ego wünschte. Letzterem wollte ich zu wahrer Größe verhelfen, wie ich es von meiner bisherigen Umgebung übernommen hatte. Das Ich sollte stark sein, sollte wissen, was es will, und seine Ziele unbeirrt verfolgen. Indien war mein eigentliches Ziel, Nepal nur eine Warteschleife, der ich folgte, die sich aber als lustvolles und bereicherndes Abenteuer entpuppte. Durfte ich mir erlauben, etwas lustvoll zu erleben, das mein Ego nicht als richtig empfunden und das ich nicht geplant hatte? Ich tat es einfach und nahm in Kauf, dass meine hehre Egotheorie die ersten Schrammen abkriegte.

Nepal

Jetzt kam der Moment für das Samenkorn Nepal (nicht Napalm), ein Geschenk der Götter. Mein weiser innerer Führer und der untergewichtige Geldbeutel empfahlen den Überlandbus nach Kathmandu, Nepals Hauptstadt, und meine anfängliche Frustration über den indischen Verwaltungsapparat wich recht bald einer fast heiligen Idee und Vorfreude.

Schon saß ich in dem völlig überladenen Vehikel, und zwar auf dem glatten, abschüssigen Blech neben dem Fahrersitz. Eigentlich kein Platz für Passagiere, sondern nur die Abdeckung des Motors und anderer Autoteile. Ohne die Möglichkeit, mich anzulehnen, aber glücklich, überhaupt einen Platz ergattert zu haben, thronte ich da im Schneidersitz und hielt mich an der Kante vor der Windschutzscheibe fest. Der denkbar intensivste Himalaja-Film lief vor meinen Augen ab, brachte mein Gemüt zum Zittern und mich meinem Traumziel näher: Kathmandu.

Das Kathmandu-Tal liegt in einer Höhe von circa 1200 Metern und wird fast vollständig von Zwei- bis Dreitausendern umrahmt. Mich erinnerten sie an die blauen Schwarzwaldberge. Sie wirkten auf die Entfernung gemütlich und beschützend.

In Kathmandu stieg ich auf ein Fahrrad um – allerdings auf eines mit zwei Rädern.

Damals hatten Radfahrer auf den wenigen holprigen Straßen kaum Konkurrenz durch motorisierte zwei-, drei- oder vierrädrige Vehikel. In guter Luft konnte man das Tal erobern, musste allerdings höllisch auf die zum Teil riesigen Löcher in der Straße achten. Aufgerissene Gräben waren nicht markiert, was besonders nachts in der laternenfreien Stadt zu ungewollten Abenteuern führen konnte.

Eine Rikscha, das einfachste Taxi Asiens. Meine Kraft bewegte nicht einmal diese lachenden Leichtgewichte von der Stelle. Profis transportieren damit ganze Familien und deren Hausrat.

Ich fühlte mich gut unter den anderen Hippies. Wir tauschten Erfahrungen und brandaktuelle (Reise-)Tipps aus. Wohlhabende Touristen sah ich selten, da die wenigen, die es gab, sich in den vereinzelten großen Hotels bewegten. Auch kein Bergsteiger kreuzte meine Wege, zumindest identifizierte ich niemanden als solchen. Um etwas zu er-kennen, muss man es kennen.

Jomosom

Im Kreis der jungen Weltenbummler hörte ich viel über Trekking und blätterte in einem kleinen Büchlein mit verschiedenen Routen. Ein Ziel hatte es mir besonders angetan: das Annapurna-Sanctuary, ein von hohen Bergen umgebener und geschützter heiliger Ort. Vielleicht trugen meine Lateinkenntnisse ihren Teil dazu bei. Sanctus bedeutet geweiht, unantastbar, unschuldig, erhaben, fromm. Hm!

Für jede Trekkingtour musste man sich eine Genehmigung besorgen. Der Mann am Schalter fragte nach meiner Ausrüstung, den Trägern, Proviant, Feuerholz etc., denn für die letzten zwei Tage vor dem Sanctuary musste man sich selbst versorgen. Peinlich. Ich hatte weder Ausrüstung noch überhaupt eine Ahnung, was ich alles nicht wusste. Die Anforderungen und damit die Schwierigkeiten hatte ich überlesen. Darin war ich gut. Doch diesmal hatte ich Glück, weil ich rechtzeitig gestoppt wurde. Aber nicht immer kommt frau mit einem einfachen Nein des Schalterbeamten davon. Manchmal kann gedankenloses Losstürmen teuer oder tödlich sein.

Zwei Trekker, die die Szene schmunzelnd beobachtet hatten, fragten, ob ich nicht mit ihnen nach Jomoson und zum hinduistischen Pilgerziel Muktinath wandern wolle. „Oh je, Jomosom! ‚Die Autobahn‘ unter den Trekks“, dachte ich mit innerem Naserümpfen. Da mir die neu gelernte Regel einfiel, möglichst nicht allein in die Berge zu ziehen, und die Jungs einen sympathischen Eindruck machten, sagte ich trotzdem ja.

In der Pigalley gönnte ich mir einen letzten köstlichen Apfelkuchen und in der Freakstreet einen warmen Pullover, denn in den Bergen wartete nur einheimisches Essen auf uns und es konnte kalt werden.

Der Franzose, der Neuseeländer und ich, die Deutsche, bestiegen am nächsten Tag den „luxuriösen“ Swiss-Bus nach Pokhara. Luxuriös, weil er nur selten stoppte und keine Hühner beziehungsweise andere Tiere oder Güter zum nächsten Marktflecken transportierte.

Eine Schweizerin gesellte sich zu uns. Sie wollte vor dem Aufstieg noch eine Bekannte besuchen, die im nahe gelegenen Krankenhaus als Ärztin arbeitete. Klasse, so bekam ich nebenbei ein Missionshospital zu Gesicht: mehrere schmale Flachbauten. Im Außenbereich der Küche wurde Gemüse geputzt, wurden Kartoffeln geschält und wurde Geschirr gespült, daneben kochten Angehörige für kranke Familienmitglieder. Im Labor gab es Mikroskope und Messgeräte. In den Krankensälen befanden sich viele Patienten, die zum Teil nur durch Stoffbahnen, die als Sichtschutz dienten, getrennt waren. Die meisten Patienten waren auch im Falle übel aussehender Verletzungen und Krankheitsbilder sehr geduldig und wurden von ihren Angehörigen gepflegt. Vor der Ambulanz bildeten sich lange Schlangen, aber alles lief ohne Drängelei ab.

Ich staunte und verliebte mich in dieses „Lambarene“ von Pokhara. Schade, „mein“ Krankenhaus in Delhi, in dem ich nach meinem kurzen Zwischenstopp „richtig“ famulieren wollte, war ganz anders: In dem mehrgeschossigen weißen Gebäude mitten in der Großstadt gab es Operationssäle und Anästhesieabteilungen fast wie im Westen, kleinere Krankenzimmer und sogar Einzelzimmer. Alles wirkte sauber und steril.

Gerne wäre ich einen weiteren Tag im gemütlichen Pokhara geblieben, denn langsam machte sich ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend breit. Meine ganze Wandererfahrung bestand nämlich aus Nachmittagsspaziergängen im Schwarzwald. Ich war noch nie in großer Höhe oder tagelang gelaufen und kannte meine Begleiter kaum. In Kathmandu war ich vollauf beschäftigt gewesen, was meine Angst in Schach gehalten hatte. Jetzt, in der Ruhe und vor dem Start, gelang das weniger. Aber zurück wollte ich auf keinen Fall und meinen sportlichen Beinen vertraute ich. Also, Flucht nach vorn! Darin war ich gut.

Die Nachmittagssonne knallte auf uns herunter. Ich lief und lief bergauf – und die Schweißperlen an mir hinab. Meine Oberschenkel und Waden wogen zunächst das Doppelte, dann das Dreifache. Schließlich wollten sie nicht mehr. „Tja, Ursula, gleich am ersten Tag schlappmachen? Du wolltest doch unbedingt in die Berge! Jetzt schau, wie du damit klarkommst!“, hielt ich mir selbst vor und schob mich weiter. Schritt für Schritt. Reserven, von denen ich nichts geahnt hatte, verliehen mir allmählich neue Kraft.

Meine „indische Ausrüstung“ aus Armee-Turnschuhen, Wollpullover, Regenschirm und einer Baumwolltasche mit Rucksackhenkeln lehrte mich, was man besser zu Hause lassen sollte. Die anderen waren ähnlich hinderlich ausstaffiert. Abends massierten wir uns gegenseitig den Nacken und pflegten unsere wunden Füße.

Danach tranken wir Unmengen gesüßten Milch-Tee zum Dal Bhat, dem nepalesischen Nationalgericht aus Linsen und Reis, das köstlich schmeckte. Es war ab jetzt unsere Hauptenergiezufuhr. Wir schliefen – wie in den nächsten Tagen auch – im beheizten Raum eines der Tea-Shops, die es an der Wanderstrecke für die Versorgung von ausländischen Trekkern und Einheimischen gab.

Die Plätze um den zentralen Ofen waren begehrt. Wer zu spät kam, musste mit dem kälteren Rand der Hütte vorliebnehmen. Während wir ruhten, krochen kleine Tierchen aus der Matte. Diese gab’s als „Gratis-Bonbon“ zum üblichen, aber für uns geringen Übernachtungsgeld.

Obwohl wir bei der ersten Etappe nur wenige Höhenmeter überwunden hatten, froren wir nachts und zogen all unsere Kleidungsstücke übereinander an. Erst die morgendlichen Sonnenstrahlen, das freundliche Lächeln der Nepalesen und die grandiose Landschaft tauten uns wieder auf und bewirkten ein gnädiges Vergessen.

Der Weg nach Jomosom ist eine alte Handelsstraße nach Tibet und daher relativ gut ausgebaut, und weil er der einzige Verkehrsweg der Gegend ist, wird er von Einheimischen viel benutzt. Heute ist er weitgehend zu einer Straße für Autos ausgebaut, damals nutzten ihn nur „Füße“. Ich hatte schnell herausgefunden, dass es günstiger ist, auf der Bergseite zu laufen, vor allem dann, wenn einem die Esel mit ihren ausladenden Lasten entgegenkommen. Mal bergauf, mal bergab wanderten wir vorbei an Tea-Shops, Feldern, Orangenbäumen, Wiesen mit Ziegen und Kühen oder Dzos, einer Kreuzung aus Yak und Hausrind. In Tatopani lockten sogar heiße Quellen. Fast immer prunkte ein Sechs- oder Siebentausender am Horizont und irgendwann zeigte sich der alles überstrahlende Dhaulagiri – mit seinen 8167 Metern der siebthöchste Berg der Welt.

Um den Dhaulagiri

Zu diesem Berg war eine Expedition mit angeschlossener Trekking-Gruppe unterwegs. Aus der Ferne begutachteten wir deren Camp: schicke, saubere Zelte, mit europäischen Köstlichkeiten beladene Tische, voluminöse, farbenprächtige Daunenjacken. Sherpas verteilten Tee. „Lauter Schnickschnack“, urteilte mein verlogener innerer Zensor. Denn damals musste ich meine eigenen Wünsche nach mehr Komfort verdrängen. Also wertete ich ihn bei dieser Gruppe ab.

Zur Expedition gehörten auch ein Filmteam und ein Bergsteiger aus Kalifornien. Er, Michael, war ein interessanter Vogel, ganz und gar nicht so, wie ich mir einen Bergsteiger vorgestellt hatte. Ihn zierten eine lange Mähne und eine Nickelbrille und er rauchte öfter mal einen Joint. Wir verstanden uns auf Anhieb gut. Als Schlusslicht der Trekkinggruppe ging er nicht in deren Pulk. Und so wanderten wir zwei Tage gemeinsam, und ich hörte zum ersten Mal, wie es sich im kalifornischen Yosemite-Nationalpark klettert. Außerdem erfuhr ich von der Existenz eines Menschen namens Reinhold Messner, der die Expedition leitete, aber mit einem Teil der Gruppe nach Jomosom geflogen war und sich von der anderen Seite dem Berg näherte. Bald bog die kleine Exotengruppe ab zum Dhaulagiri. Ich wünschte ihnen viel Glück und ahnte nicht, dass ich das Filmteam bald wieder treffen würde.

Dass die Autobahn unter den Trekkern ihrem flapsigen Titel keineswegs gerecht wurde, überraschte mich angenehm. Sie war weder langweilig noch einfach, zudem nicht allzu überlaufen.

Im Kali Gandaki, der tiefsten Schlucht der Welt zwischen den beiden Achttausendern Annapurna und Dhaulagiri.

Wir zogen vorbei an Rhododendronhainen und entlang des Kali-Gandaki-Flusses, den wir zweimal mit großem Herzklopfen durchwaten mussten.

Aus der Entfernung sieht ein ruhig dahinfließender, sehr breiter Bach schnuckelig aus. Einzelne sichtbare Steine gaukeln geringe Wassertiefe vor. Die anderen Stellen bemerkt man erst, wenn man in die Fluten stapft und bis zu den Oberschenkeln darin verschwindet. Die unterschiedlich starke Strömung erfreut mit ihrem fröhlichen Gurgeln nicht etwa das Ohr, sondern öffnet im Adrenalinspeicher die Stauklappe, sodass das Stresshormon die Adern flutet. Meist fiel uns gar nicht auf, dass unsere Schuhe und Klamotten nass wurden. Die heiße Sonne trocknete tagsüber alles rasch und die Schuhe passten danach wie angegossen.

Der Kali Gandaki entspringt in Mustang an der Grenze zu Tibet und gräbt zwischen den beiden Achttausendern, dem Dhaulagiri und der Annapurna, die tiefste Schlucht der Welt. Er fließt dort auf einer Höhenlage von 1300 bis 2600 Metern und liegt somit 5500 bis 6800 Meter tiefer als die Gipfel der beiden Achttausender im Osten und Westen seines Flusstals, die nur 35 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt sind. Bis 1976 war die Route für Touristen gesperrt. Die heute bestehenden komfortablen Hängebrücken gab es damals nicht.

Neben der Natur ist in Nepal auch die Gefährdung der Gesundheit grandios. Obwohl wir uns nach dem Motto „koch es, schäl es oder lass es“ ernährten, erwischte uns der Reihe nach eine Magen-Darm-Infektion. Dass dann einer der Freunde nicht weit entfernt wartete, auch wenn er nicht wirklich Beistand leisten konnte, tat so gut. Zumindest fühlte ich mich nicht so allein, als ich kraftlos und verzweifelt am steilen Abhang des Kali Gandaki hinter einem Felsen saß, sich alle meine Körperschleusen öffneten und über mir ein riesiger Vogel kreiste. Es war ein Adler, aber ich vermutete schon die Geier, die auf mich lauerten. Und noch heute kriecht kurzfristig Angst in mir hoch, wenn über mir ein großer Vogel fliegt, selbst wenn es einer meiner geliebten Fischreiher am Berliner Badesee ist. Große über mir fliegende Vögel erinnern mich an mein Ohnmachtsgefühl von damals.

Monate später erzählten mir meine Reisegefährten in ihren Briefen, dass sie eine Hepatitis A durchgemacht hatten, genau wie ich.

Buddhisten sagen, dass eine Leberentzündung eine grundlegende Reinigung des Organs sowie auch des Geistes bewirke. Womöglich wurde auch mein Geist gereinigt, zumindest hielten neue Gedanken und Wünsche Einzug. Auch eine sich leise verändernde Haltung zum Leben deutete sich an: mehr Akzeptanz, mehr Gelassenheit, weniger penible Forderungen nach Sauberkeit. Meine Oma bemerkte Letzteres nach meiner Rückkehr und meinte schmunzelnd, dass ich da ruhig wieder hinfahren könnte, denn ich wäre weniger etepetete. Die größere Akzeptanz von Dreck und Keimen hatte eine subtilere Bedeutung, eine spirituelle Dimension. Es ging darum, dass ich begann, eher zu akzeptieren, dass Verhältnisse, Abläufe und Ansichten nicht meinem Wollen, meinem Planen und meiner Einordnung in richtig oder falsch entsprachen. Das Leben machte, was es wollte, und ich unternahm immer weniger Anstrengungen, meine Pläne durchzusetzen – entsprechend John Lennons Feststellung.

Ich kehrte zurück ins laute, lärmende Delhi, um das Arztpraktikum abzuleisten. Mein Herz aber blieb in Nepal.

Messners Einladung ins Basecamp

Wieder daheim in Deutschland sah ich zufällig, dass Reinhold Messner einen Vortrag über seine Dhaulagiri-Expedition halten würde. Das war d i e Gelegenheit, in Erfahrung zu bringen, wie es Michael und dem Filmteam im weiteren Verlauf der Expedition ergangen war. In der Presse hatte ich von Streit und Misserfolg gelesen.

Während der Pause schmökerte ich am Bücherstand, als Messner plötzlich neben mir auftauchte. Ich fragte ihn nach Michael. „Ach, Sie sind seine Freundin?“ – „Nein, wir hatten nur zwei Tage lang den gleichen Weg in Nepal“, sagte ich cool. Dass ich dabei mehrfach hatte sterben wollen, war in sehr entfernte Ecken der Erinnerung entschwunden, auch, dass es meine erste richtig große Wanderung gewesen war. Aber die wunderbaren Menschen, ihr einfaches Leben in der grandiosen Natur hatte ich voll auf dem Schirm.

Meine Begeisterung vom Vorjahr muss aus mir herausgesprudelt sein. Was ich denn studiere, wollte er wissen. Aha, Medizin …

Dann kam relativ schnell die Frage, ob ich nicht Lust hätte, ihn auf einen Berg zu begleiten. Er plane ein kühnes Abenteuer und brauche noch eine Expeditionsärztin.

Warum ich ihn nach dieser klaren Frage nicht mit offenem Mund angestarrt habe, ist mir bis heute unbegreiflich. Angeschaut habe ich ihn schon. Die Cowboystiefel fand ich etwas affig; Jeans und Reisejacke waren adäquat; auch die Haarpracht – artig geföhnt. Aber dann diese Augen – mein Gott, diese Augen: unruhig, stets auf der Hut, die Umgebung erforschend, tief liegend, schwer einsehbar und funkelnd. Zusammen mit den kleinen Falten drum herum und dem breiten Lachen eine Etage tiefer signalisierten sie mir auch Leichtigkeit und Lebensfreude, sehr viel Jungenhaftes und Unbekümmertes. Eine interessante Mischung. Trotz der spontan in mir aufsteigenden Angst vor ihm, ließen mich Faszination, Neugierde und ein Kribbeln standhalten und die Konversation fortsetzen: „Wollen Sie meine Expeditionsärztin werden?“ rangiert in einer anderen Preisklasse als „Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?“.

Weder Angst noch Kribbeln sind gute Ratgeber. Aber beide lassen dir selten die Wahl. Mein Kopf funktionierte noch ganz gut und stellte Fragen, die man so stellt, wenn man etwas Ungeheuerliches gefragt worden ist: Wie? Wo? Was? Wann? Das erforderte mehr als die zehn Minuten Pause zwischen zwei Vortragseinheiten. Er bat mich, am nächsten Morgen kurz in sein Hotel zu kommen.

Dort, im hektischen Gewimmel der Lounge vor der Rezeption, erfuhr ich ein wenig mehr über seine Pläne. Die Genehmigung für einen Alleingang zum Nanga Parbat im nächsten Sommer habe er bereits. Er brauche aber dringend noch eine Expeditionsärztin. Davor müsse er Vorträge halten und Geld für seine Reisen verdienen. Im Februar, weniger als ein halbes Jahr vor der geplanten Expedition zum Nanga Parbat, wolle er nach Nepal und den Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff besteigen. Es gebe eine komplette Expeditionsmannschaft, unter anderem mit zwei Ärzten. Ob ich nicht Lust hätte, ihn im Basecamp zu besuchen. Dort hätten wir viel Zeit, alles zu besprechen. Ich könne mich umschauen und dann entscheiden.

„Ja, aber in Ruhe“, dachte ich, als er sich losriss und den unzähligen Menschen nachgab, die ihn zum nächsten Vortrag, zu einer Signierstunde oder zu sonst etwas drängten. Verwirrt schaute ich ihm nach, als er im Pulk verschwand. „Mein Gott, hat der ein Tempo drauf!“, dachte ich nur, nicht ahnend, dass ich ihn das nächste Mal einige Breitengrade südlicher, einige Längengrade östlicher und circa 5000 Meter höher wiedertreffen würde.

Wenige Briefe und ein paar Monate später, in den Semesterferien, besuchte ich ihn tatsächlich am Everest.

Das äußere Geschehen erzählt sich relativ kurz und ruhig. Aber in meinem Inneren tobte ein Orkan, den ich mit logischem Denken und meinem wachen Bewusstsein weder verstehen noch beeinflussen konnte. Nie zuvor und nie mehr danach haben sich so hohe ambivalente emotionale Wellen in mir aufgetürmt.

Ich war fasziniert von dieser ungewöhnlichen Kombination, die mir in der Gestalt Messners begegnete. Genauer gesagt, ich war fasziniert von dem, was ich auf ihn projizierte: ungezähmte Wildheit, immense Kraft, gepaart mit starkem Willen und schnellem Intellekt. Er sagte klar an, was er wollte, und strahlte einen jungenhaften Charme aus – und ein offenes, entwaffnendes Lachen hatte er auch noch. Er war weder lockend noch zudringlich oder grenzüberschreitend gewesen. Er hatte lediglich sein Angebot unterbreitet und seine Fragen gestellt.

Ich hörte seine Vorschusslorbeeren und seinen Glauben an mein Können heraus und fühlte mich natürlich geschmeichelt. Nur ganz leise meldete sich meine Skepsis: Vielleicht ist er so sehr unter Druck, dass ihm Details egal sind. Schließlich kennt er dich gar nicht.

Und damit gesellte sich zur Faszination meine ebenso große Angst.

Einerseits kannte ich mittlerweile die Medienberichte, die ihn als draufgängerischen Egomanen beschrieben, der über Leichen gehe, kein Verantwortungsgefühl für andere und nur sein Ziel im Auge habe. Warum sollte er diese bis dahin erfolgreiche Strategie plötzlich ändern? Bedeutete das für mich, auf Sicherheit zu verzichten? Die Erfüllung dieses Grundbedürfnisses zumindest hintanzustellen? Sollte und wollte ich das?

Doch was viel schwerer wog, war die Frage: Fürchtete ich mich vor meiner eigenen Bereitschaft, sein Angebot tatsächlich anzunehmen? Es passte so verdammt gut zu meiner Abenteuerlust und der überschüssigen, noch nicht abgerufenen Kraft. Hier wurde auch meine existenzielle Sinnsuche berührt. Ich ahnte, dass der Tod der unmittelbarste Wegweiser ist.

Was Messner tat, war eine Provokation des Todes. Und für mich? Den Tod wollte ich nicht, aber den direkten Weg zu meinem Gipfel, einer extremen Erfahrung und Sinnfindung, schon. Danach sehnte ich mich. Dass diese Direttissima (der umweglose Aufstieg zum Gipfel) nicht nur zum Sinn des Lebens, sondern ebenso direkt in den Tod hätte führen können, diese Warnung war nie ganz zu überhören gewesen und hat einen Großteil des Nervenkitzels ausgemacht.

Die spirituelle Dimension meiner Sehnsucht war mir damals weitgehend unbewusst. Ich fühlte mich frei, ungebunden, wollte meine Grenzen austesten und erweitern. Extreme reizten mich, am meisten das Gefühl von Freiheit, so wie ich sie mir damals vorstellte. Ich wollte Mitglied in einem guten Team sein, das interessante Aufgaben bewältigt, und ich wollte meinen Beitrag dazu leisten. Vielleicht hatte ich vor, den unüberbietbaren Beweis für meine jungenhaften Qualitäten zu liefern und dafür Anerkennung einzuheimsen.

Ich wünschte mir die Möglichkeit der intensiven Selbsterfahrung in fremden Kulturen und Lebenssituationen und erachtete es als wunderbare Sache, eine Ausnahmegestalt wie Messner erleben, begleiten und unterstützen zu dürfen. Ja, unterstützen wollte ich ihn, aber nicht aus einem Helfersyndrom heraus. Ich wollte schlichtweg etwas dazu beitragen, dass Menschen wie er ihre Visionen leben und der Menschheit ihre Möglichkeiten vor Augen führen können. Träge und gelangweilte Menschen in Komfortnischen gab es reichlich.

Ich wollte an der Erfahrung wachsen und daraus lernen – für mich und für andere. Schließlich war ich eine fast fertig ausgebildete Ärztin und interessierte mich für Psychiatrie, also für Ver-rückte im Sinne von Nicht-an-die-Norm-Angepasste. Und jenseits der Norm war Messner ja allemal. Ich sehnte mich außerdem nach einem einfachen Leben in der Natur, nach Kontakt zu den Göttern, die überall in Nepal und Indien, vor allem in den Bergen, zugegen sind.

Bei den Einheimischen hatte ich die Grundstimmung aus Zugehörigkeit, Hingabe, Akzeptanz und Vertrauen ins Leben wahrgenommen. Ohne genauer beschreiben zu können, warum, faszinierte mich diese Lebenshaltung.

In mir loderte eine unbändige Kraft, der ich einen Raum verschaffen wollte, in dem sie sich entfalten könnte – für mich genießbar und sinnvoll und für andere nützlich. Auf Reisen war mir das zum Teil gelungen. Im Team mit Messner würde ich an Orte und in Situationen kommen, die mir allein verschlossen waren. Meine Zusage würde mich auf meinem Traumweg ein großes Stück weiterbringen.

Ein wenig kam ich mir vor wie der kleine Zaunkönig, der sich beim Wettflug der Vögel im Gefieder des Adlers versteckt und dergestalt in Höhen gelangt, die er aus eigener Kraft nie erreichen könnte. Aber anders als der Zaunkönig kam ich ums Schummeln herum. Der Adler schien mich zu brauchen und hatte mir einen Platz auf seinem Rücken angeboten.

Bevor ich einen Vertrag als Ärztin für die Expedition zum Nanga Parbat unterschrieb (was ich formell nie tat), schien es mir unerlässlich, mich in einer ähnlichen Situation zu testen.

Die Everest-Expedition einer österreichischen Gruppe um Wolfgang Nairz bot sich insofern an, als Reinhold sich bei ihr eingekauft hatte. Außerdem war es für mich die letzte Möglichkeit, einen Expeditionsarzt in Aktion zu erleben.

Da ich nicht mitten im Semester davonlaufen wollte, sagte ich Reinhold vage zu, später nachzukommen. Noch war der Kampf in meinem Inneren unentschieden. Ich wollte Reinhold nicht – wie er vorgeschlagen hatte – bei seinem Anmarsch begleiten, sondern, wenn überhaupt, ohne Druck schauen, wie weit ich käme.

Mount Everest

Meine Wanderung zum Everest-Basecamp markierte einen wichtigen Schritt in eine mir bis dahin unbekannte Welt. Da musste die ganz große Freiheit liegen. Ob es mir dabei bewusst um Freiheit ging, vermag ich nicht zu sagen. Ich sprang in die Spur und durchlief einen Prozess mit vielen kleinen Überraschungserfolgen, der mich berauschte und mir manchmal auch das Gefühl von grenzenloser Freiheit gab.

Ein wenig größenwahnsinnig fühlte ich mich durchaus, als ich von zu Hause aufbrach. Von Reinholds Einladung erzählte ich nur den allerbesten Freunden; schließlich kannte ich ihn nur aufgrund zweier kurzer Gespräche und einiger Briefe. Vielleicht hatte ich Angst, dass mich jemand naiv und dumm nennen würde und ich mich dann nicht mehr zu springen traute.

Anlauf nehmen

Wie meist bei meinen Reisen zog ich allein mit einem billigen Ticket los, diesmal nach Bangkok. Ganz in meinem Tempo erkundete ich zunächst Burma (heute Myanmar) und Kalkutta und kehrte zurück in mein geliebtes Kathmandu, Nepals Hauptstadt. Dort verdaute ich Kalkutta und den Anblick von Wunden und schweren Krankheiten und von Sterbenden in den Straßen oder von Kindern, die absichtlich von ihren Eltern verstümmelt worden waren, damit sie erfolgreicher bettelten. Bewusst hatte ich mich diesen sehr belastenden Situationen ausgesetzt. Ich wollte das Unvorstellbare mit eigenen Augen sehen.

Dann besorgte ich mir in aller Ruhe einen Flug nach Lukla, dem 2866 Meter hohen Ausgangspunkt meiner Wanderung in der Everest-Region. Nur einmal, im Jahr davor, hatte ich mich für wenige Tage in dieser Höhe aufgehalten. Mein angestrebtes Ziel lag fast doppelt so hoch.

Zunächst lief alles gut, auch ich. In Namche Bazar, auf einer Höhe von 3500 Metern, erwarb ich einen zusätzlichen Schlafsack und eine Daunenjacke, war es doch bedeutend kälter, als ich erwartet hatte.

In Pheriche fachsimpelte ich mit Jim, dem jungen neuseeländischen Doktor aus dem Hillary Hospital in Khunde, der mir erzählte, er steige bald hoch ins Everest-Basislager zu der Expedition, an der dieser Verrückte teilnahm, der den Everest ohne Flaschensauerstoff ersteigen wolle. Er habe von der Expedition eine von jenen Einladungen erhalten, die sich viele erhofften.

Der Weg von Lobuche, der letzten Hütte, bis zum Basislager war lang, gefährlich und führte über Gletscherzungen, die ständig in Bewegung waren. Hin- und Rückweg waren am selben Tag kaum zu schaffen. Und bereits in Lobuche verkündeten im Boden verankerte Schilder, dass nur eingeladene Menschen im Camp willkommen seien, also Aussicht auf Verpflegung und ein schützendes Zelt hätten. Auf diese Art und Weise wollte man ungebetene Gäste, die es reichlich gab, fernhalten. Eigentlich redeten alle Trekker von dem geplanten Tabubruch und sehr viele träumten von einem kurzen Blick in jenes sagenumwobene Lager.

Ich kam mir etwas unfair vor, als ich Jim verschwieg, dass auch ich eine Einladung hatte. Warum eigentlich? Meine mangelnde Selbstsicherheit hinderte mich an einem offenen Austausch, denn ich befürchtete, ja erwartete fast die Blamage, den Weg bis ins Basecamp gar nicht zu schaffen. Es wäre die Gelegenheit gewesen, mit Jim über meine Ängste, die Unsicherheit oder die Warnungen der Mediziner und ihre Skepsis diesem Versuch gegenüber zu reden und auch seine in Höhenmedizin geschulte Fachmeinung zu erfahren. Feige vergab ich diese Chance.

Auch als ich am nächsten Tag Jims Einladung folgte und in Khunde das kleine, von Edmund Hillary gebaute Krankenhaus besichtigte, sperrte ich mich in meinem Schweigen ein.

Mein Vorhaben, das selbst ich für überdreht hielt, wurde durch eine massive Knöchelverstauchung noch unwahrscheinlicher. Leichtsinnig und übermütig war ich nach der Besichtigung des Krankenhauses barfuß von einem hohen Stein gehüpft und umgeknickt. Jeder umsichtige Bergsteiger hätte das wahrscheinlich zu verhindern gewusst. Michl Dacher, den ich in der K2-Expedition ein Jahr später traf, hätte verschmitzt gesagt: „Ja Ursula, das Leben in den Bergen ist hart, aber gerecht.“

Der sympathische Doc Jim, den ich humpelnd nochmals aufsuchte, reagierte ähnlich und verweigerte die von mir gewünschte Röntgenaufnahme. Er brauche seine restlichen zwei Röntgenbilder für wichtigere Fälle und sei sich sicher, dass nichts gebrochen war. Und dann gab er mir eine Empfehlung, die sich in keiner Weise mit dem deckte, was ich in meinen Medizinbüchern gelernt hatte. Ich solle am nächsten Morgen den Fuß mit einer elastischen Binde stramm wickeln, mich irgendwie in den Schuh zwängen und so viel laufen, wie ich könne, und zwar immer im Uhrzeigersinn um die vielen Chörten.

Chörten oder Stupas sind tibetisch-buddhistische Symbole. Ihre Größe reicht von winzigen Tonformen bis zu riesigen Gebäuden, die oft Reliquien enthalten und von Gläubigen verehrt und umrundet werden. In Tibet und Nepal gibt es entlang viel begangener Wege viele dieser Häuschen artigen Steinhaufen. Jim meinte, sie richtig zu umrunden, gefalle den Göttern und resorbiere den Bluterguss. Ich war irritiert über seinen Therapieansatz, enttäuscht von der mangelnden Solidarität unter Kollegen und gleichzeitig beschämt über meinen egoistischen Wunsch nach einer Röntgenaufnahme. Außerdem plagten mich Versagensängste und Selbstvorwürfe. Warum um alles in der Welt hatte ich mich freiwillig in diese hoffnungslose, mich überfordernde Lage gebracht?

Vor Schmerzen und nagenden Gedanken bekam ich nachts kein Auge zu. Am Morgen musterte ich meinen auf den doppelten Umfang angeschwollenen Knöchel und realisierte, dass ich auf jeden Fall von hier wegmüsste, und zwar aus eigener Kraft. Ein langwieriges Auskurieren vor Ort schien mir unmöglich, und eine Versicherung, die eine Rettung finanzieren würde, hatte nicht in mein schlankes Budget gepasst – noch weniger zu meiner schlanken Bereitschaft und Fähigkeit, Gefahren real einzuschätzen. Mein Urteil über mich selbst fiel vernichtend aus: dumm, blauäugig, unfähig. Ich hatte null Empathie mit mir.

So leicht ich mich in Euphorie versetzen ließ, so schnell machte ich mir durch maßlose Selbstkritik das Leben schwer. Das war ein Strickmuster nach meiner starren Richtig-oder-falsch-Vorlage. Vielleicht auch ein Versuch, mich auf unsicherem, unbekanntem Terrain zu orientieren. Er sollte mich nötigen, mich mehr anzustrengen, indem er mir das mögliche Versagen vor die Nase hielt. Diese noch größere Anstrengung hätte meinen bereits maximal geforderten Körper auch zu Fall bringen und aus der Knöchelverstauchung einen Bruch oder noch Schlimmeres entstehen lassen können. Heute schmerzt mich bereits die Erinnerung an mein mangelndes Selbstmitgefühl von damals.

Die ersten Schritte taten höllisch weh. Aber zu leiden, wenn es sinnvoll und unumgänglich war, hatte ich schon früh geübt.

In der Schule hatte ich mich meist für die „Tatze“ entschieden: einen kurzfristig sehr schmerzhaften Hieb mit einem dünnen Stock. Die Alternative im Arsenal der möglichen Strafen für Quatschen im Unterricht oder vergessene Hausaufgaben wäre ein Aufsatz von einer Seite gewesen – und das hätte den Besuch im Schwimmbad gefährdet. Also lieber kurz und intensiv leiden, als sich lange quälen. Auch die frühmorgendliche unangenehme Arbeit in Vancouvers Wurstfabrik zu verrichten war mir leichter gefallen, als mit einem Dirndl verkleidet abends und nachts im „Old Heidelberg“ langweilige Gäste zu bedienen. So hatte ich mehr Freizeit und Freiheit bei ähnlicher Bezahlung.

Im Himalaja verstand ich mich so gut aufs Leiden, dass ich an der Wegkreuzung, an der ich mir abzusteigen vorgenommen hatte, nach oben abbog. Einen Tag noch wollte ich dem großen Abenteuer eine Chance geben.

Ohne es zu wissen, praktizierte ich den Weg der kleinen Schritte, bei dem ich nach jedem Schritt neu entschied. Das bewährt sich auch im normalen Alltag. Man bleibt lockerer, weil bei den kleinen Etappen weniger auf dem Spiel steht und deshalb der Angstpegel sinkt.

Mein Knöchel brannte und mein Hirn ratterte vor sich hin. Ich ließ keinen Chörten aus, umrundete alle in der für Buddhisten richtigen Richtung, das heißt im Uhrzeigersinn, auch wenn es einen längeren Weg bedeutete.

Ich klammerte mich an die Götter, und ganz tief in meinem Inneren, von mir selbst kaum zugelassen, sehnte ich mich danach, wieder wie in Kindertagen beten zu können, einfach alle meine Sorgen einer höheren Macht zu übergeben, voller Hoffnung und Zuversicht.

Leider war mir die Naivität des kleinen Mädchens versperrt. Ich selbst verbot mir Gebet und Hingabe. Ich war eingemauert in einem Wust komplexer Gedanken und politisch angesagter Theorien, die mir allenfalls erlaubten, lachend über die Götter zu reden.

Dabei ist Hingabe die einzige Möglichkeit, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht. Zu erkennen, dass sie auch sonst oftmals die beste Wahl darstellt, fällt uns modernen „Omnipotenzlingen“ unglaublich schwer. Dreißig weitere Jahre brauchte ich, um das zu lernen.

Bis zum Kala Patthar hatte ich den Weg aus eigener Kraft geschafft. Dieses beliebte Trekkingziel auf über 5600 Meter Höhe bietet einen grandiosen Rundumblick auf die nahen Sechs- bis Achttausender der Khumbu-Region. Auch den Mount Everest kann man (auf dem Foto im Hintergrund) gut und erstaunlich klar sehen.

Am Busen von Chomolungma

Ob mit, durch oder trotz Hingabe und von welchen Mächten auch immer wundervoll geborgen, spazierte ich wenige Tage später ins Basislager – unsicher grinsend und zum Umfallen erschöpft.

SherpaSherpa