Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg, einem kleinen Dorf am Fusse der Berner Alpen, aufgewachsen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer an einem Gymnasium in Luzern. Er lebt mit seiner Frau auf dem Beatenberg, hoch über dem Thunersee.
Dieses Buch ist ein Roman. Dennoch sind viele Personen nicht frei erfunden, sondern existierten wirklich. Ihre Handlungen beruhen auf einem historischen Hintergrund. Im Anhang befinden sich ein Personenverzeichnis und ein Glossar.
© 2018 Emons Verlag GmbH
© 2018 Peter Beutler
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: joexx/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-401-8
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie regelmässig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Altas, Bern.
Der Mensch erfand die Atombombe, doch keine Maus der Welt würde eine Mausefalle konstruieren.
Albert Einstein
1
Ende Februar bis Anfang März 2011
Die Nebeldecke hing an diesem Mittwoch, den 23. Februar, tief über Murten. Es war kalt und feucht; seit dem Morgen erreichte kein einziger Sonnenstrahl das Städtchen. Um sechzehn Uhr genehmigten sich die fünf Leute der Polizeistation am runden Tisch die Nachmittagsverpflegung. Der Kommandant, Pius Schwaller, zog mit seinem Militärmesser einem Cervelat die Haut ab, schnitt ihn in kleine Rädchen und legte diese behutsam auf ein grosses Stück Ruchbrot, das er mit einer tüchtigen Portion Senf bestrichen hatte. Er schlurfte zur Kaffeemaschine, füllte braunschwarzes Gebräu in einen grossen Pappbecher, goss drei Portionen Crème dazu, leckte die Kaffeerahmdeckeli ab, zog aus seiner grossen Tasche am rechten Hosenbein einen Plastikbeutel heraus und schob sie dort hinein. Die anderen vier sahen ihm dabei gelangweilt zu. Ein Ritual, das die Untergebenen aus Respekt ihrem Vorgesetzten gegenüber in Kauf nahmen. Erst als Schwaller in seine Wurstschnitte biss, begannen sie mit dem Verzehr ihrer Sandwiches und liessen einer nach dem anderen einen Kaffee aus dem Automaten. Ordnung musste sein, das galt auch für die einfachsten Verrichtungen, ganz besonders bei der Stadtpolizei Murten.
Schwaller sah auf die Wanduhr, dann auf sein Handy. «Du, Benjamin», sie nannten ihn so, weil er der Jüngste war, obwohl er Pirmin hiess, «du, Benjamin, die Uhr da oben geht zwei Minuten vor, stell sie gleich zurück.» Pirmin Dahinden, ein baumlanger Kerl, schoss auf und eilte zur Fensterfront, darunter stand ein Schemel, nahm diesen, stellte ihn an der gegenüberliegenden Raumseite unter die Uhr. Dann schrillte es. Er stürzte zum Wandtelefon, das neben der Fensterfront montiert war, hob ab. «Stadtpolizei Murten, Polizeimann Dahinden. Wo brennt’s denn … Einen Moment, ich rufe gleich den Chef.»
Schwaller erhob sich ächzend, fluchte und schlurfte zum Apparat. «Kommando Stadtpolizei Murten, Schwaller. Eilt es? Wenn nicht, rufen Sie bitte in einer halben Stunde wieder an. Wir machen gerade unsere wohlverdiente Nachmittagspause.» Schwaller hörte schnaufend zu, machte plötzlich grosse Augen. «Einen Toten bei der Villa Meichtry? Wir kommen gleich, in einer Viertelstunde sind wir bei Ihnen. – Benjamin, hol den Streifenwagen. Mach schon, es eilt.»
Einige Minuten später raste das Polizeiauto mit Blaulicht und Martinshorn durch die engen Gassen Murtens Richtung See. Fenster öffneten sich, Anwohner sahen diesem Spektakel neugierig zu, denn um diese Jahreszeit war wenig los im Städtchen.
Jean-Luc Meichtry besass ein grosses Grundstück am See, auf dem gerade ein Graben ausgehoben wurde. Neben dem Bagger, dessen Schaufel etwa einen Meter über Grund hing, standen zwei Männer, die sich erregt unterhielten. Der eine elegant gekleidet, der andere in Klamotten mit Leuchtstreifen, das war wohl der Bauarbeiter. Als sie den Streifenwagen durch die Zufahrt preschen sahen, winkten sie ihn zu ihrem Standort.
Die beiden Polizisten stürmten aus dem Fahrzeug, Dahinden grüsste militärisch zackig, Schwaller streckte einem der beiden die Hand entgegen. Es war der Besitzer der Liegenschaft. «Guten Abend, Herr Doktor, wo liegt die Leiche?»
Meichtry zeigte auf die Baggerschaufel. «Dort! Ich glaube, es war ein Mann.»
«Ein Mann?», wiederholte Schwaller. «Was führt Sie zu dieser Annahme?»
«Sein Gesicht kann man zwar nicht erkennen, aber er hat dort Haare, wo bei lebenden Menschen der Bart wächst.»
Schwaller ging nun zur Baggerschaufel. «Richtig, das ist zweifellos ein Mann.»
Dort lag der Tote, mit abgetrennten Beinen.
«Das gibt es ja nicht. Der Mann ist noch nicht völlig verwest. Es erweckt den Eindruck, dass er hier nicht lange gelegen hat.»
«Das habe ich mir auch gedacht. Jedoch lag er im Moorboden. Und Moorleichen halten sich über längere Zeit, sodass sie noch nach Jahren Fleisch am Knochen haben.»
Schwaller beauftragte Dahinden, der während der ganzen Zeit vermieden hatte, ein Auge auf die Baggerschaufel zu werfen, den Fotoapparat aus dem Polizeifahrzeug zu holen, um die Leiche abzulichten.
Dahinden, der mit dem Fotoapparat in der rechten Hand auf die Leiche sah, wurde blitzartig schneeweiss. Er legte den Apparat unter die Schaufel und rannte wie der Blitz zur benachbarten Hecke, wo er sich übergab.
Schwaller schrie ihm zornig nach: «Wie steht es mit deiner Belastbarkeit, Benjamin? Das darf doch nicht wahr sein. Bist du ein Polizist oder ein Waschlappen? Ich werde veranlassen, dass man dich einen ganzen Tag lang in die Leichenhalle des Kantonsspitals Freiburg einsperrt.»
«Wie geht es weiter?», fragte er dann und gab gleich selbst die Antwort darauf. «Wir werden die Leiche in das Gerichtsmedizinische Institut der Universität Bern einliefern. Dort wird sie untersucht. Auch ihr Alter kann auf einige Jahre genau ermittelt werden. Sollte es zutreffen, dass sie bereits», Schwaller rechnete kurz nach, «dass sie bereits vor 1981 hier gelegen hat, wäre der Fall für uns sowieso erledigt. Dreissig Jahre nach der Tat ist in der Schweiz auch ein Kapitalverbrechen verjährt.» Schwaller kniff die Augen zusammen. «Das wäre dann ein Glück für Sie. Sie hätten nichts mit dem Mord zu tun. Wie lange wohnen Sie eigentlich schon in diesem Haus?»
Meichtry blinzelte Schwaller zunächst fragend zu. «Warum wollen Sie denn das wissen?»
Schwaller, etwa einen Kopf kleiner als Meichtry, musterte diesen von unten herauf mit bösem Blick. «So kommen wir nicht weiter. Ich werde Sie auf den Posten mitnehmen, dort werden Sie vernommen, und wir protokollieren das.»
Jean-Luc Meichtry war ziemlich irritiert und fühlte sich erniedrigt, als er am langen Holztisch im Vernehmungsraum der Polizeistation Platz nahm. Ihm gegenüber sassen Schwaller und Dahinden.
«Bin ich jetzt verhaftet?»
«Noch nicht», bemerkte Schwaller brummend. «Wir sind nur eine Stadtpolizei. Verhaftungen dürften wir gar nicht vornehmen – allenfalls nur in Notfällen. Verbrechen wären Sache der Kantonspolizei. Aber leider ist der kantonale Posten in Murten nur zeitweise besetzt. Und da haben sich die Leute im Städtchen angewöhnt, zuerst an uns zu gelangen.»
«Was meinen Sie mit ‹noch nicht›?»
«Es kommt ganz darauf an, was am Ende des Verhörs herauskommt. Könnte sein, dass ich Sie danach festnehme und Sie die Nacht in unserer Arrestzelle verbringen müssen. Morgen Vormittag wird der Staatsanwalt entscheiden, ob Sie wieder nach Hause dürfen oder ins Untersuchungsgefängnis überstellt werden.»
Bevor Schwaller mit dem Verhör begann, hielt er ein graues Kästchen in die Höhe. «Damit wird diese Vernehmung aufgenommen. Dahinden schreibt das Protokoll, am Schluss werden Sie gebeten, es zu unterzeichnen. Sollten Sie sich weigern, werden wir Ihnen das Gespräch abspielen. Dann ist Ihre Unterschrift nicht mehr nötig.»
Schwaller fragte Jean-Luc Meichtry nochmals, wann er in die Villa eingezogen sei.
Meichtry musste überlegen. «Das erste Mal im Juni 1973, als meine Mutter das Haus von Alfons Vonlanthen kaufte – vier Jahre nach dem Verschwinden meines Vaters. Drei Jahre später zog ich aus. Ich war damals zwanzig und begann an der ETH Zürich mit meinem Chemiestudium.»
«Seit wann wohnen Sie wieder in der Villa?»
«Seit 1992, nach dem Tod meiner Mutter.»
«Im Städtchen munkelt man, Ihre sexuelle Ausrichtung –»
Meichtry unterbrach Schwaller dezidiert. «Kommandant, das geht zu weit. Die sexuelle Ausrichtung eines jeden Menschen ist dessen Privatsache.»
Schwaller wies Dahinden an, das mit der «sexuellen Ausrichtung» nicht ins Protokoll zu schreiben.
«Es gibt da eben ein Problem, Herr Doktor.» Schwaller zog ein Papier aus seiner schwarzen Ledermappe und schob es Meichtry zu. «Das ist eine Vermisstenanzeige, die Sie 1997 hier aufgegeben haben. Ich persönlich nahm sie entgegen. Was sagen Sie dazu?»
Meichtry warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt, zuckte mit den Schultern. «Das war Alexej, ein Junge von neunzehn Jahren. Er lebte in meinem Haus.»
«Wie lange?»
Meichtry überlegte. «Genau kann ich das nicht sagen. Drei Monate, vielleicht etwas länger. Dann war er von einem Tag auf den anderen weg, seither ist er verschollen.»
«Hatte er Verwandte?»
«Wahrscheinlich schon. Aber er verlor nie ein Wort über seine Herkunft. Auch nicht über das persönliche Umfeld, in dem er vorher gelebt hatte.»
«War er ein Russe?»
«Seine Muttersprache war Russisch, aber er ist in Kiew, in der Ukraine, aufgewachsen, hat er mir jedenfalls gesagt.»
«Wie stand es um seine Deutschkenntnisse?»
«Hervorragend.»
«Der ortsübliche Dialekt?»
Meichtry lachte. «Was ist daran so Besonderes, dass man den erlernen müsste?»
Schwaller schleuderte Meichtry einen zurechtweisenden Blick entgegen. «Die Fragen stelle ich, Herr Doktor.»
Schwaller sah sich seine Notizen an und fragte nach einer Weile: «Was war eigentlich mit Ihrem Vater los?»
«Gute Frage. Wenn ich das so genau wüsste. Zum letzten Mal habe ich ihn beim Frühstück am 21. Januar 1969 gesehen. Ich war damals dreizehn. Mein Vater arbeitete an diesem Tag als Physiker im Versuchsatomkraftwerk Lucens. Einige Stunden später geriet es ausser Kontrolle.»
«Die Vernehmung ist beendet», sagte Schwaller kurz angebunden.
«Und? Darf ich wieder nach Hause gehen?»
«Ja.»
Am kommenden Morgen wurde Jean-Luc Meichtry von zu Hause abgeholt und in den Verhörraum geführt, wo bereits Staatsanwalt Stulz und Kommandant Schwaller sassen. Er wurde angewiesen, ihnen gegenüber Platz zu nehmen.
«Herr Dr. Jean-Luc Meichtry?» Der Staatsanwalt sah ihn an.
Meichtry nickte.
«Was für einen Beruf üben Sie aus?»
«Ich bin Chemiker.»
«Wo arbeiten Sie?»
«Meist zu Hause. Ich arbeite als Berater verschiedener Firmen.»
Der Staatsanwalt lächelte. «Gut für Sie, wenigstens müssen Sie heute keinem Arbeitgeber Rede und Antwort stehen, warum Sie gestern festgenommen worden sind.»
Auch das wäre für ihn kein Problem gewesen, denn er sei sich nicht bewusst, etwas Unrechtes getan zu haben, sagte Meichtry in einem Ton, der an Gelassenheit nichts zu wünschen übrig liess.
«Ich habe das Vernehmungsprotokoll von gestern Abend durchgelesen. Es sind da noch einige Fragen offen. Um eine Antwort darauf zu finden, brauchen wir aber die Ergebnisse der Obduktion. Es sei denn, Sie können uns schon vorher aufklären, weil Sie vielleicht wissen, wie der Tote, der in Ihrem Garten gefunden wurde, umgekommen ist. Können Sie uns diesbezüglich weiterhelfen?»
Meichtry verneinte.
«Gut. Ich erlasse vorerst keinen Haftbefehl. Das heisst aber nicht, dass Sie von jeglichem Verdacht entbunden sind, mit dem Ableben dieses Mannes etwas zu tun gehabt zu haben.»
Meichtry stand auf.
«Bitte setzen Sie sich noch einmal. Eine Auskunft hätte ich noch gern von Ihnen. Können Sie eine präzise Aussage über die Körpergrösse ihres 1997 verschollenen Freundes Alexej machen?»
«Ein Meter zweiundachtzig.»
«Wie können Sie das so genau wissen und sich heute noch daran erinnern?» Der Staatsanwalt lächelte. «Diese Grösse haben Sie übrigens auch im Formular angegeben, das Sie bei seiner Vermisstenmeldung ausfüllen mussten.»
«Mein Vater war genau gleich gross und auch ich.»
Der Staatsanwalt notierte das, sah auf und sagte: «Das macht die Sache nicht einfacher. Könnte der Tote theoretisch nicht auch Ihr Vater sein?»
Schwaller schoss auf seinem Stuhl auf und rief: «Vollkommen unmöglich, dazu ist dieser Kadaver noch zu gut erhalten.»
Stulz musterte ihn mit einem strafenden Blick. «Schwaller, ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten. Und schon gar nicht darf man von einem Kadaver sprechen.»
Jean-Luc Meichtry schloss die Möglichkeit nicht aus, dass die Leiche die seines Vaters Jean-Louis war.
«Dann wäre der Fall für uns erledigt, wenn das Verbrechen verjährt ist.» Stulz runzelte die Stirn. «Aber bis wir das genau wissen, können wir Sie nur unter Auflagen freilassen. Sie dürfen das Stadtgebiet von Murten nicht verlassen. Jeden Abend um siebzehn Uhr haben Sie sich auf der Polizeistation zu melden. Ich kann für Sie nur hoffen, dass die Leiche älter als dreissig Jahre ist. Haben Sie noch etwas, das Sie jetzt loswerden möchten?»
«Ja. Bei der Obduktion sollte eine DNA-Analyse vorgenommen werden. Würde es sich um meinen Vater handeln, wäre ich dann endgültig entlastet.»
Stulz wog den Kopf hin und her. «DNA-Analysen kosten viel Geld. Sind wir sicher, dass die Leiche schon vor 1997 in Ihrem Garten vergraben wurde, es also nicht Alexej ist, werden wir die Ermittlungen gegen Sie so oder so einstellen.»
Zwei Wochen später lag der Obduktionsbericht auf Schwallers Schreibtisch. Er las nur die einleitende Zusammenfassung:
Die gut erhaltene Leiche – sie lag in moorigem Boden – weist Spuren einer tödlichen Kopfverletzung auf. Die Schädeldecke wurde mit einem schweren Gegenstand eingeschlagen. Der Tod muss vor vierzig oder mehr Jahren eingetreten sein.
Schwaller rief Jean-Luc Meichtry an und teilte ihm mit, die Staatsanwaltschaft werde keine Untersuchung einleiten.
***
Staatsanwalt Stulz liess der Leichenfund in Murten keine Ruhe. Er sah sich tags darauf, am Freitag, den 11. März noch einmal sämtliche Protokolle der Zeugenaussagen an. Um elf Uhr vormittags drehte er das Radio an, um die Nachrichten zu hören.
Im Nordosten Japans hat sich heute am frühen Nachmittag, Ortszeit, ein gewaltiges Seebeben ereignet. Das Epizentrum lag vor der Küste der Präfektur Miyagi, etwa dreihundert Kilometer nordöstlich von Tokio. Die Stärke wird mit der Momentenmagnitude 9,1 angegeben, was bedeuten würde, dass es sich um das stärkste je in Japan gemessene Erdbeben handelte. Da die Verbindungen zu den betroffenen Gebieten noch unterbrochen sind, liegen Angaben über die Opferzahlen und Schäden derzeit nicht vor. Was man aber seit einigen Minuten weiss: Das Beben hat einen verheerenden Tsunami ausgelöst. Eine weitere beunruhigende Nachricht: Das nahe der Kleinstadt Ōkuma liegende Atomkraftwerk Fukushima Daiichi meldet ernsthafte Probleme, die vor allem durch die bis fünfzehn Meter hohen Tsunamiwellen ausgelöst worden seien. Nach der Betreibergesellschaft Tepco handelt es sich um einen «nuklearen Notfall».
Stulz fuhr den Computer hoch, um sich im Internet nähere Informationen über die sich anbahnende Atomkatastrophe zu holen. Er lud zunächst Bilder über Zerstörungen durch den Tsunami herunter. Das etwa zehntausend Einwohner zählende Ōkuma schien dem Erdboden gleichgemacht zu sein. Dann wurden Fotos von Luftaufnahmen des sich zwei Kilometer nördlich davon befindenden Atommeilers Fukushima Daiichi ins Netz gestellt. Man erkannte darauf beträchtliche Zerstörungen der Anlagen auf der Küstenseite, Rauch- und Dampffahnen deuteten auf Brände hin. Immer wieder versuchte Stulz sich zwischendurch aus dem Internet schlauzumachen. Er fand stets neue Schreckensnachrichten über das ausser Kontrolle geratene Atomkraftwerk. Um halb eins hörte er die Mittagsnachrichten am Radio. Und da war es offiziell.
Neben den vielen Todesopfern durch das Erdbeben und den nachfolgenden Tsunami scheint sich gerade eine weitere Katastrophe anzubahnen. Kurz nach neunzehn Uhr Ortszeit, elf Uhr mitteleuropäischer Zeit, hat die japanische Regierung den nuklearen Notstand ausgerufen.
2
Herbst 1939 bis Februar 1943
Jean-Louis Meichtry immatrikulierte sich im Wintersemester 1939/40 an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich für das Studium der Agronomie. In der Mensa der ETH traf er auf ein bekanntes Gesicht: das von Alfons Vonlanthen, einem ehemaligen Kameraden der Parallelklasse am Gymnasium in Biel. Vonlanthen hatte sich für Maschinenbau eingeschrieben. Eigentlich würde er lieber Physik studieren, beklagte er sich. Doch sein Alter wolle, dass er später als Maschineningenieur den elterlichen Betrieb, eine kleine Fabrik, die Senklochdeckel produziere, übernehme. Jean-Louis Meichtry seufzte. Ihn belaste dasselbe Problem. Er könne nichts mit der Landwirtschaft anfangen. Sein Vater habe ihn vor die Wahl gestellt, entweder Tierarzt oder Ingenieur-Agronom zu werden. Er habe sich dann für das Letztere entschieden. Sein Berufsleben dereinst in Kuhställen zu verbringen würde ihn früher oder später in den Selbstmord treiben. Physik würde ihn mehr interessieren. Es gebe da einen weltberühmten Professor, Otmar Mettler, den Direktor des Instituts für Experimentalphysik. Vonlanthen hakte sofort ein. Das wäre doch was. Seines Wissens sei es an der ETH möglich, auch eine Vorlesung ausserhalb des eigenen Fachgebiets zu belegen.
Sie beschlossen spontan, Otmar Mettler einen Besuch abzustatten. Ein vermessenes Vorhaben. Als neu eintretende Studenten die grösste Koryphäe einer europäischen Eliteuniversität unangemeldet zu überfallen war jenseits von Gut und Böse, das wussten sie und bekamen es auch von der Sekretärin, die im Vorzimmer des Professors arbeitete, zu hören. Sie hätten noch die Eierschalen am Hintern und sollten sich schleunigst davonmachen. Die Tür zu Mettlers Büro war einen Spalt weit offen, sodass er das Anliegen der beiden Studenten mitbekam. Als sie sich wie begossene Pudel zum Gehen anschickten, stand er im Türrahmen und rief: «Kommen Sie doch auf einen Sprung zu mir.»
Es war ein langes Gespräch, mit einem für Vonlanthen und Meichtry folgenreichen Ende. «Ich erwarte Sie morgen um acht in meiner Vorlesung. Aber vergessen Sie nicht, dass Sie in den Fächern, die Sie ordnungsgemäss belegt haben, auch Ihre Leistungen erbringen müssen. Sie werden dort die Zwischenprüfungen zu bestehen haben, andernfalls droht Ihnen der Rauswurf aus unserer Schule.»
Jean-Louis Meichtry war als zweitjüngster von sieben Söhnen auf einem der grössten Gutsbetriebe im Seeland aufgewachsen. Er fiel schon in der Primarschule durch eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe und eine phänomenale geistige Beweglichkeit auf. Mit elf Jahren wurde er in das Progymnasium der Stadt Biel aufgenommen. Da sich der Hof der Meichtrys in Studen befand, einem bäuerlich geprägten Dorf wenige Kilometer südöstlich von Biel, war sein Schulweg unwesentlich länger als zuvor. Nachdem er dort das erste Jahr absolviert hatte, erlaubte man ihm seinen brillanten Leistungen wegen, eine Klasse zu überspringen. Im Sommer 1939, ein paar Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, bestand er mit Bestnoten die Maturitätsprüfung.
Vonlanthen hatte die Matura gleichzeitig gemacht. Er war ebenfalls ein Spitzenschüler, aber an Meichtry kam er nicht heran. Das war auch an der ETH so, jedenfalls bei den Übungen und Klausuren, die begleitend zu Otmar Mettlers Vorlesung stattfanden. Der Professor hatte seine helle Freude an den beiden und nahm sich vor, sie zu überzeugen, Physik zu studieren. Er liess es sich nicht nehmen, deren Eltern dafür aufzusuchen. Und er hatte damit Erfolg. Im Oktober 1940 wechselten Jean-Louis Meichtry und Alfons Vonlanthen ins Fach Physik über. Einen Monat später erhielt Vonlanthen, der ein Jahr älter als Meichtry war, das Aufgebot für die Rekrutenschule. Das ging ihm gründlich wider den Strich. Er wandte sich mit der Bitte an Mettler, alles zu unternehmen, ihn vom Militärdienst zu dispensieren. Mettler überzeugte den jungen Studenten, dass das nicht machbar sei, und fügte bei: «Rund um die Schweiz tobt ein grässlicher Krieg. Es ist für mich keine Frage, dass unser Land jeden Tag in ihn hineingezogen werden könnte. Allenfalls werde ich Hand bieten, Sie vom nachfolgenden Aktivdienst zu befreien. Unsere Armee wird dereinst mit Sicherheit auf Physiker wie Sie angewiesen sein.»
Vonlanthen biss in den sauren Apfel und rückte Ende Januar 1941 in die Artillerierekrutenschule auf dem Waffenplatz des waadtländischen Bière ein. Er stellte sich dabei so dumm an, dass man ihn bereits nach der ersten Woche als dienstuntauglich nach Hause entliess.
Ein Jahr später traf es Jean-Louis Meichtry. Er rückte im Februar 1942 zur Rekrutenausbildung in Thun, dem grössten Schweizer Waffenplatz, ein. Er sollte Panzergrenadier werden. Sein Vater, Oberst der Dragoner, wollte das so. Jean-Louis, wenn er denn schon in die Armee musste, hätte den waffenlosen Dienst bei den Sanitätstruppen vorgezogen. Doch er fügte sich, das war so seine Art, die ganz und gar nicht zu seiner mächtigen Körpergrösse und imposanten Positur zu passen schien.
Als er nach siebzehn Wochen seine militärische Grundausbildung hinter sich gebracht hatte, freute er sich riesig, wieder an die ETH zurückzukehren. Professor Mettler hatte ein Gesuch an das Eidgenössische Militärdepartement gestellt, um Meichtry vom Aktivdienst zu befreien. Aus Angst vor einer nazideutschen Invasion, die seit Sommer 1941 akut drohte. Er hatte dabei an die Massaker des Ersten Weltkriegs gedacht, als die intellektuelle Elite Frankreichs, Deutschlands, Österreichs, Italiens, Belgiens und der Niederlande an vorderster Front kämpfend beinahe zu hundert Prozent hingemetzelt worden war. Meichtrys Chancen wären klein gewesen, dem sinnlosen Heldentod zu entrinnen. Der grösste Teil der Schweizer Soldaten war damals in den Festungen der Alpen stationiert. Nicht so die Infanteristen und Grenadiere. Sie wären der geballten mechanisierten Wucht der deutschen Wehrmacht mit ihren hoch überlegenen Kettenfahrzeugen und Kampfbombern ohne Luftdeckung entgegengeworfen worden.
Doch Meichtrys Freude war von kurzer Dauer. Kaum vierzehn Tage waren vorüber, als in seinem Briefkasten das Aufgebot zur Unteroffiziersschule lag. Er ging damit schnurstracks zu Mettler, der viel Verständnis für sein Anliegen zeigte, auf diese Weiterbildung zu verzichten.
Meichtry hatte aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Wirt war diesmal sein Vater, der sich einen ETH-Absolventen ohne Offiziersgrad schlicht nicht vorstellen konnte. So rückte Jean-Louis widerwillig wieder in die Thuner Dufourkaserne ein – das auch noch mit der beklemmenden Aussicht, sich dort ein Jahr später der Ausbildung zum Leutnant zu unterziehen. Nach dem Abverdienen der Unteroffiziersschule weigerte sich Meichtry aber erfolgreich, eine Bewerbung zum Eintritt in die Offiziersschule zu schreiben.
Das Jahr 1943 hatte begonnen. Das Kriegsglück wendete sich gegen Nazideutschland. Die deutsche 6. Armee unter Generaloberst Paulus wurde in Stalingrad von den Sowjets eingekesselt und dezimiert. Damit war für Jean-Louis Meichtry klar, dass die Tage des Dritten Reichs gezählt waren.
Am Montag, dem 1. Februar 1943, machten Meichtry und Vonlanthen in der Kantine ihres Instituts gerade Pause. Vonlanthen war ungewohnt nervös. Es klopfte an der Tür, und eine ausnehmend hübsche junge Frau betrat den Raum. «Tut mir leid, aber ich platze jetzt hier herein, auch wenn ich dazu eigentlich kein Recht hätte.» Sie ging auf Vonlanthen zu und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Meichtry, rasch die unerwartete Verblüffung überwindend, sagte kleinlaut: «Hallo, ist das deine Freundin? Mein Kompliment.»
Noch bevor Vonlanthen Ja sagen konnte, kam bereits die Antwort von der Schönen. «Ein Kollege, der mich gestern ins Kino eingeladen hat.»
Vonlanthens Miene verzog sich zu einem säuerlichen Grinsen. Die Frau stellte sich Meichtry als Helene Jost, Studentin der Pharmazie, vor. Sie zeigte zum Fenster hinaus. «Unser Institut steht dort drüben», sagte sie in breitem ländlichen Berner Dialekt, der nicht so ganz zu ihrer zierlichen Figur und ihren zarten Gesichtszügen passen wollte. «Ich habe mich für die ETH entschieden. Wenn ich dereinst die Apotheke meines Vaters im emmentalischen Langnau weiter betreiben soll, kann es nicht schaden, ein wenig Grossstadtluft zu schnuppern. Und die ETH hat auch einen ausgezeichneten Ruf, da steht die Uni Bern ziemlich hintennach.»
Meichtry lächelte und konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. «Die Unschuld oder das elitäre Mädchen vom Lande?» Er warf ihr einen leicht provozierenden Blick zu. «Was meinst du, was von beidem trifft zu?»
Sie errötete leicht. «Verdammt, bist du ein frecher Knabe!»
Vonlanthen, der dem etwas begabteren Meichtry gerne demonstriert hätte, wenigstens in Sachen Frauen die Nase vorn zu haben, musste einsehen, dass er auch in dieser Beziehung seinem Kollegen nicht gewachsen war. Um von dieser Schmach abzulenken, schritt er zum Radio, stellte es mit dem Hinweis an, die Vier-Uhr-Nachrichten würden gerade verlesen:
Landessender Beromünster, die Nachrichten der Schweizerischen Depeschenagentur: Wie wir soeben erfahren, ist der Oberbefehlshaber der deutschen 6. Armee, General Friedrich Paulus, von Rotarmisten gefangen genommen worden. Nach einer Meldung der Agentur TASS haben sich hundertzehntausend deutsche Wehrmachtsangehörige den Sowjets ergeben. Sie befinden sich derzeit auf Fussmärschen in Kriegsgefangenenlager.
Laut unserem Korrespondenten in Moskau konnten von den zweihundertzwanzigtausend Mann zählenden deutschen Truppen höchstens vierzigtausend Soldaten aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen werden, die restlichen siebzigtausend kamen bei den Kämpfen um oder erfroren.
Meichtry klatschte in die Hände. «Endlich! Das ist der Anfang vom Ende von Nazideutschland.»
Vonlanthen zischte ihn wütend an: «Wie kannst du nur? Es gibt Hunderttausende von toten deutschen Soldaten, und du führst Freudentänze auf.»
«Das hat gerade noch gefehlt, Alfons. Warst es nicht du, der applaudierte, als Hitler Polen überfiel? Warst es nicht du, der vor Wonne feuchte Augen bekam, als die Nazis in Paris einmarschierten, belgische und holländische Städte in Grund und Boden bombardierten? Warst es nicht du, der an einem Umzug der faschistischen Studenten durch Zürich mitlief und mit einem deiner braunen Mitstreiter ein Transparent hochhielt, auf dem unsere Landesregierung aufgefordert wurde, mit dem Deutschen Reich einen Friedensvertrag abzuschliessen, die linken Parteien zu verbieten und ihre Funktionäre und Mandatare in Arbeitslager zu stecken? Und: Übrigens fielen während der Feldzüge gegen die Sowjetunion weit mehr russische als deutsche Soldaten, von den umgebrachten russischen, polnischen und ukrainischen Zivilisten ganz zu schweigen.»
Vonlanthen verlor beinahe die Fassung. Er erhob die Fäuste gegen Meichtry. «Freu dich nicht zu früh, eine Schlacht ist verloren, aber noch nicht der Krieg. Vielleicht kommt es ganz anders, als du dir erhoffst.»
Helenes Gesicht erstarrte. «Du enttäuschst mich, Alfons. Wie kannst du so was sagen. Du redest ja noch bescheuerter als mein alter Herr. Nach 1933 war er auch ein Bewunderer Hitlers und Mussolinis, dann aber, noch vor Ausbruch des Krieges, ist er zur Besinnung gekommen. Vielleicht auch wegen der Umsatzeinbusse der Apotheke, denn die grosse Mehrheit der Bevölkerung von Langnau hasst die Nazis.»
Plötzlich tauchte Professor Mettler mit einer Flasche Champagner auf. «Haben Sie vom deutschen Debakel in Stalingrad gehört. Ich bin zwar kein Freund der Sowjets, aber dass die Rote Armee der Nazibrut eine derartige Niederlage zugefügt hat, ist mir eine grosse Freude. Das müssen wir feiern.» Er entkorkte die Flasche. Der Stopfen schoss nach einem Knall an die Decke und pfefferte zurück, genau auf Vonlanthens Nase. Alle lachten, nur er nicht.
Erst dann bemerkte Mettler Helene Jost. «Wer ist denn das Fräulein da? Wessen Freundin ist sie? Ihre, Meichtry, oder Ihre, Vonlanthen?»
Keiner der beiden sagte etwas. Da sprang Helene in die Bresche. «Es sind Kollegen von mir. Ich studiere Pharmazie an der ETH.»
Mettler lachte. «Wunderbar! Trotzdem schade, dass Sie sich nicht für das Fach Physik entschieden haben. Es gibt derzeit nämlich keine einzige Frau, die das tut.»
Dann aber schleuderte Mettler Vonlanthen einen scharfen Blick zu. «Junger Mann, ich weiss um Ihre Sympathien gegenüber den braunen Brüdern hinter der Grenze im Norden. Lassen Sie um Himmels willen die Finger davon, sonst sehe ich schwarz für Ihre spätere Karriere.»
Ein schadenfreudiges Schmunzeln huschte über Meichtrys Gesicht. Vonlanthen erblasste. Hatte Mettler etwa hinter der angelehnten Eingangstür des Aufenthaltsraums das Gespräch zwischen ihm, Meichtry und Helene Jost mitbekommen?
Der Professor war heute besonders aufgeräumt, ihm war gar nicht danach, jemanden zu demütigen. Die Zurechtweisung wusste Vonlanthen sehr wohl einzuschätzen. Wenn Mettler einer Person, wie eben, seine Meinung kundtat, wurde das akzeptiert. Er handhabte das sehr zurückhaltend, vor allem, wenn es um politische Ansichten ging. Sogar gegenüber Nazis, die er aus tiefstem Herzen hasste, liess er vordergründig Toleranz walten.
1909 hatte sich Mettler an der ETH eingeschrieben. 1912 wechselte er nach Königsberg, dann ging er nach Göttingen. Er arbeitete dort mit Wissenschaftern zusammen, die sich auf seinem Fachgebiet – der Atomphysik, die an Schweizer Hochschulen erst stiefmütterlich behandelt wurde – einen internationalen Namen erworben hatten oder noch erwerben sollten. Die späteren Nobelpreisträger Peter Debye und Werner Heisenberg etwa. 1920 wurde Mettler Professor an der ETH und baute dort die Atomphysik auf. Seine Beziehungen zu deutschen Atom- und Kernwissenschaftern pflegte er nicht nur weiter, sondern baute sie noch aus. Als 1933 Hitler an die Macht kam, setzten sich viele Professoren, mit denen Mettler zusammengearbeitet hatte, in die USA ab. Nicht alle schafften das. Einige verschwanden in einem Konzentrationslager und wurden umgebracht. Einige wenige blieben, forschten und lehrten unter den Nazis weiter. Von denen, die ausharrten, war es nur eine Handvoll, die sich nicht mit den neuen Machthabern identifizierte. Mit diesen Fachkollegen hielt Mettler den Kontakt aufrecht, obwohl er ihnen nicht ganz traute.
«Ich werde morgen nach Berlin abreisen und Werner Heisenberg treffen», sagte Mettler.
Das verblüffte alle drei. Helene Jost hatte die Verwegenheit, Mettler zu fragen, warum er sich zu einer solchen Reise entschliesse. «Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Sie haben sich gerade über die deutsche Niederlage in Stalingrad gefreut.»
Entsetzt sah Vonlanthen Helene an. Meichtry lachte aus vollem Halse. Auch Mettler lachte. «Sie sind ein vorwitziges Mädchen.» Das war seine einzige Antwort auf Helene Josts Frage. Er zeigte mit dem Finger auf Vonlanthen, dann auf Meichtry. «Sie beide begleiten mich. Vor einer Stunde hat mir ein Eilbote die für den Grenzübertritt notwendigen Papiere direkt aus Bern gebracht – für alle drei. Auch Ihre Fahrkarten sind dabei. Geht jetzt nach Hause und packt eure Koffer. Wir treffen uns morgen früh im Hauptbahnhof um fünf Uhr fünfundvierzig auf dem Gleis 3.»
Vonlanthen und Meichtry starrten einander mit offenem Mund an. Aber keinem von beiden wäre es eingefallen, sich Mettlers Anweisungen zu widersetzen.
Am Badischen Bahnhof in Basel verlief die Zollkontrolle problemlos. Ein SS-Offizier in Stiefeln und einem schwarzen Ledermantel nahm die Dreiergruppe aus Zürich zackig, aber freundlich in Empfang. Meichtry blickte auf seine Mütze mit dem Totenkopfsymbol. Er schauderte.
Der SS-Mann führte die Schweizer in einen vornehmen Salonwagen. Dieser Zug war ein Traum. Die Wände mit auf Hochglanz poliertem Mahagoniholz getäfelt. Gepolsterte Bänke mit Armstützen boten einen Sitzkomfort, von dem man in der Schweiz nur hätte träumen können. Es gab Kleiderhaken, Tischchen vor den Fenstern und Gepäckablagen mit kunstvoll geknüpften Netzen. Schade nur, sagte Meichtry im Flüsterton, dass darin Männer in schwarzen Uniformen sassen – an deren rechten Oberarmen dicke rote Streifen mit einem grossen weissen Kreis, darin das schwarze Hakenkreuz, prangten. Schliesslich das Perverseste: der grässliche Totenkopf an all ihren Hüten.
Mettler klopfte Meichtry diskret auf den Rücken und flüsterte ihm ins Ohr: «Pssst.»
Während Vonlanthens Augen glänzten, war die angeekelte Miene Meichtrys nicht zu übersehen. Er hatte schon geglaubt, er müsse nun seine ganze Fahrt in Gegenwart dieser Scheusale verbringen. Doch der SS-Offizier führte sie in ein separates Abteil, wo sie ungestört die Reise geniessen konnten. Die Fahrt durch das schneebedeckte Rheintal war für Meichtry und Vonlanthen interessant. Dass an den Perrons unverhältnismässig viele Gestalten in Uniformen standen, überraschte sie nicht. In der Schweiz war es nicht anders.
Am Spätnachmittag wurde die Ankunft im Hauptbahnhof Frankfurt am Main angesagt. Kurz danach klopfte es an der Tür. Ein SS-Mann öffnete sachte das Abteil und sagte: «Meine Herren, die Abenddämmerung setzt ein, ich lasse die Gardinen herunter. Das ist notwendig wegen der Verdunkelungsvorschriften. Es ist zwar selten, aber mitunter kann es vorkommen, dass ein alliierter Flieger, ein britischer, kanadischer oder US-amerikanischer, unter unserem Luftschirm durchschlüpft und dann einen fahrenden Zug attackiert. Wir wollen ja nicht riskieren, dass Gäste von uns in Gefahr geraten.»
«Wie nett von Ihnen», sagte Mettler mit einem leicht ironischen Unterton.
Der SS-Mann schob die Gardinen nicht nur herunter, sondern drehte auch einen kleinen Schlüssel, was verhindern sollte, sie wieder hochzuschieben. Den Schlüssel zog er ab und schob ihn in seine Westentasche. Dann verliess er das Abteil raschen Schrittes.
«Warum das schon um halb vier nachmittags?», erkundigte sich Meichtry.
«Es geht da gar nicht um die Verdunkelung. Hier wird es erst gegen halb sechs allmählich finster. Der Grund ist ein anderer. Ganze Häuserzeilen am Bahndamm vor Frankfurt wurden durch alliierte Kampfbomber in Schutt und Asche gelegt. Das sollen die Reisenden nicht sehen. Wenn immer möglich, werden die Folgen dieser Luftangriffe verheimlicht. Es darf doch nicht sein, dass feindliche Kampfbomber derartige Zerstörungen im Herzen des Dritten Reichs anrichten.»
Der Zug wartete in Frankfurt mehr als zwei Stunden. Kurz bevor er sich wieder in Bewegung setzte, wurde das Abteil erneut geöffnet. Davor standen drei Frauen mit je einem grossen Tableau, beladen mit dampfenden Speisen. «Wir bringen Ihnen das Abendbrot», sagte die matronenhafteste von ihnen in schneidigem Norddeutsch.
In Windeseile deckten sie den runden Tisch im Zugabteil. «Guten Appetit. Heil Hitler.» Und weg waren sie.
Der Zug fuhr die ganze Nacht durch. Zwischendurch machte er einen längeren Halt. Man hörte Stimmen im Befehlston. Ab und zu Schüsse und fernes Donnergrollen, wohl von explodierenden Bomben, abgeworfen von Flugzeugen, deren Motorengeräusch aus grosser Höhe deutlich vernehmbar nach unten drang.
Im Morgengrauen wurde die Ankunft in Berlin angekündigt. Endstation der langen Fahrt war der Anhalter Bahnhof. Dort nahm ein hoher SS-Offizier die Schweizer in Empfang. Als sie durch die riesige Bahnhofshalle schritten, blieb Meichtry plötzlich stehen und sah sich beeindruckt um. Das schien dem SS-Mann zu gefallen. Er klopfte Meichtry freundschaftlich auf die Schultern. «Gigantisch! Dabei ist es nicht einmal unser grösster Bahnhof. Eigentlich ist er nur für Lokalzüge vorgesehen. Aber wenn wichtige Leute in unsere Hauptstadt reisen, leiten wir auch Fernzüge hier hinein. Aus Sicherheitsgründen. Wir haben eben Krieg, der hoffentlich bald ein glückliches Ende nehmen wird. Wie denken Sie darüber, junger Mann?»
Mettler warf Meichtry einen besorgten Blick zu. Meichtry wusste ihn einzuordnen. Ohne die geringste Spur von Sarkasmus gab er beinahe fröhlich zum Besten: «Das sehe ich genauso wie Sie, der Krieg wird trotz aller Widrigkeiten der gerechten Sache zum Durchbruch verhelfen.»
«Ja, diese Widrigkeiten. Sie spielen wohl auf Stalingrad an. Wir müssen ihnen offen ins Auge sehen. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber wir werden uns das, was wir diesen Winter verloren haben, wieder zurückholen. Mit unserer Wunderwaffe, an der Heisenberg verbissen arbeitet. Wir sind Ihnen und Ihren Kollegen unendlich dankbar, dass Sie ihm in dieser Sache beistehen.»
In Meichtry kochte es, aber er liess sich nichts anmerken und hoffte nur, dass Vonlanthen sich nicht mit dem SS-Mann in ein Gespräch verstrickte. Was würde wohl passieren, wenn er dem Nazischergen seinen wirklichen politischen Standort preisgeben würde? Er müsste wohl um die Rückkehr nach Zürich bangen. Nach einem Fussmarsch von wenigen Minuten erreichten die Schweizer mit ihrem Begleiter eine sechsplätzige schwarze Limousine.
Mettler gelang es, Vonlanthen vom SS-Mann fernzuhalten, indem er den Deutschen mit Meichtry zusammen auf die hinterste Sitzreihe einwies, er setzte sich mit Vonlanthen auf die mittlere. Obwohl der Fahrer des Wagens durchaus nicht den kürzesten Weg zum Ziel wählte, vermochte er den bombenversehrten Strassenzügen nicht gänzlich auszuweichen. «Wir fahren jetzt durch das Universitätsviertel», sagte der SS-Offizier zu Meichtry. «Dort wurde vor noch nicht langer Zeit das Pharmazeutische Institut von mehreren Fliegerbomben getroffen und dem Erdboden gleichgemacht. Wie Sie feststellen können, ist der Aufbau des neuen Gebäudes bereits weit fortgeschritten. Die Schutthalden mit den Trümmerhaufen haben wir noch nicht weggeschafft. Das soll Beobachter in Spionageflugzeugen, die unsere Stadt regelmässig in grosser Höhe überfliegen, täuschen. Sie sollen den Eindruck bekommen, dass wir gar noch nicht mit der Instandstellung begonnen haben.»
Um keinen Verdacht zu erregen, nickte Meichtry immer wieder.
Sie erreichten ihr Hotel. Der SS-Offizier verabschiedete sich von den drei Schweizern, indem er jedem herzhaft die Hand drückte und jeden mit «Heil Hitler» entliess.
Vor dem Eingangsportal wartete der nächste Naziaufpasser, der sie in ihre aus drei Räumen bestehende Suite führte. Noch als sie durch den Korridor zu ihrer neuen Behausung schritten, erinnerte Mettler beide in seinem Ostschweizer Dialekt daran, dass ihre Zimmer verwanzt seien.
Wie sie sich in Berlin verhalten mussten, hatte ihnen Mettler am Vortag auf der Fahrt von Zürich nach Basel eingeschärft. Im deutschen Zug nach Berlin waren mit Sicherheit Minispione installiert, davon ging jedenfalls Mettler aus. Er hatte seinen beiden Assistenten strikt untersagt, darin auch nur ein Wort über ihre Arbeit in Zürich zu verlieren, und hatte sie angewiesen, lediglich über Belanglosigkeiten zu sprechen.
Zwischen Zürich und Basel erfuhren Meichtry und Vonlanthen auch den Grund des Besuchs bei Heisenberg. Mettler wollte wissen, ob Heisenberg und sein Team wirklich an der Atombombe arbeiteten und wenn ja, wie weit sie damit waren. Die Aufgabe von Meichtry und Vonlanthen sollte darin bestehen, die Gespräche mit Heisenberg zu protokollieren und sich in den Labors, die sie in Begleitung von Heisenberg besuchen würden, genau umzusehen und diskret mit einer Minikamera Aufnahmen zu machen. Mettler händigte beiden in der Hotelsuite eine solche aus – mit einer beigelegten Bedienungsanleitung.
Erst am nächsten Tag wurden die Schweizer von drei SS-Leuten an den Arbeitsplatz von Heisenberg geführt. Bevor sie in sein Büro gelassen wurden, mussten sie sich einer Leibesvisitation unterziehen. Die Kameras von Meichtry und Vonlanthen blieben dabei unentdeckt. Damit rechnete Mettler eigentlich gar nicht. Die Nazis hätten den beiden die Kameras ohne weitere Folgen abgenommen, denn dass die Schweizer mit ihrem Besuch auch Eigeninteressen verfolgten, war den Deutschen klar. Aber sie wiegten sich in der Hoffnung, Mettler habe gewisse Sympathien zu Hitler, ohne ihn dabei offen zu loben. Im schlechtesten Fall würde er sich neutral verhalten. Denn von den Amerikanern hatten die Schweizer ganz sicher keine Hilfe zu erwarten, nahm man in Berlin jedenfalls an. Die Alliierten beobachteten jeden Schritt der Regierung in Bern mit Argusaugen. Dass die Deutschen unbehelligt Waffen, Lebensmittel und andere Waren durch die Alpen von Nord nach Süd und umgekehrt verschieben konnten, erregte in Washington und London Unmut. Die Schweiz wurde seit Kriegsbeginn von den Alliierten nicht unbedingt als vertrauenswürdig eingestuft.
Mit den Deutschen war ausgehandelt worden, dass sich Heisenberg mit Mettler unter vier Augen unterhalten würde. Als aber Mettler ins Büro von Heisenberg geleitet wurde, traf er dort zwei Zivilisten an, die sich als Angehörige der Gestapo auswiesen.
Das sei so nicht abgemacht, beschwerte sich Mettler.
Sie würden nur Befehle befolgen. Sie hätten direkt von Heinrich Himmler die Weisung, die Gespräche zwischen ihm und Heisenberg zu protokollieren, beteuerten die Gestapoleute.
Mettler überlegte einige Momente. «Also gut, aber dann halten wir Gegenrecht. Ich habe zwei junge Wissenschafter mit nach Berlin genommen. Ich werde einem Gespräch mit Heisenberg nur zustimmen, wenn es auch unsererseits durch zwei Leute festgehalten werden darf.»
Einer der deutschen Geheimpolizisten bat nun Heisenberg, seinen Telefonapparat benutzen zu dürfen, um mit Himmler Rücksprache zu nehmen. Der Gestapomann wählte die direkte Nummer Himmlers. Um das Gespräch für alle Anwesenden hörbar zu machen, drückte er auf einen Knopf. Er erklärte militärisch knapp Himmler die Sachlage.
Dieser reagierte zunächst ungehalten. «Diese bescheuerten Kuhschweizer, was bilden die sich ein? Wollen die etwa auch eine Bombe bauen? Das werden sie mit Bestimmtheit nicht schaffen. … Wenn ich mir das so überlege, gehen wir dabei kein grosses Risiko ein. Heisenberg wird sich wohl im eigenen Interesse mit der Herausgabe von Geheimnissen zurückhalten. Er soll Mettler möglichst viele Informationen abluchsen und möglichst wenige weitergeben.»
Mettler fand die Antwort Himmlers sonderbar, was er den beiden Gestapomännern offen kundtat. «Das sind doch Banalitäten. Dass sowohl Heisenberg wie ich einander ein bisschen über den Tisch ziehen wollen, ist doch selbstverständlich. Am Schluss werden wir beide davon profitieren. Das werden Sie nach dem Gespräch durch Experten nachprüfen können. Hand aufs Herz, ihr neunmalklugen Geheimdienstleute, das haben Sie doch alles schon mit Ihrem Boss abgesprochen?»
Alle in Heisenbergs Büro Anwesenden brachen in schallendes Gelächter aus.
Es kam nicht nur zu einem Gespräch zwischen Heisenberg und Mettler, sondern zu mehreren. Heisenberg zeigte Mettler und seinen Assistenten nicht ohne Stolz die Versuchsanlagen und führte sie durch viele Labors. Er musste sehr zufrieden mit dem sein, was ihm Mettler preisgegeben hatte.
Als Mettler mit Meichtry und Vonlanthen in Berlin den Zug nach Basel bestieg, war er bester Dinge. Die Schweizer Delegation wurde vom selben SS-Offizier, der sie am 3. Februar dort abgeholt hatte, in den Salonwagen geleitet und mit den besten Wünschen verabschiedet. In der Nacht vom 6. auf den 7. Februar kam der Zug flott voran. Die vielen Halte, die sie auf der Hinfahrt erdulden mussten, blieben aus. Es war schon zwei Uhr in der Früh, als Freiburg im Breisgau angekündigt wurde. Würde es so zügig weitergehen, käme man noch vor vier Uhr in Basel an, was zur Folge hätte, dass sie im kalten Badischen Bahnhof mehrere Stunden auf den Anschlusszug nach Zürich warten müssten.
Kurz vor Freiburg schien der Lokomotivführer eine Vollbremsung einzuleiten. Offenbar begann er zu spät damit. Es schepperte, der Wagen schien aus den Schienen zu springen und neigte sich bedrohlich zur Seite. Durch diesen Zwischenfall barst das Fenster im Abteil, die heruntergezogenen Gardinen sprangen aus der Halterung und schossen nach oben.
Mettler befahl: «Halten Sie sich am Gepäckträger fest! Ich vermute, unser Wagon kippt demnächst und schlittert den Bahndamm hinunter.» Dann erst fiel ihm auf, dass Vonlanthen fehlte. «Verdammt, wo ist der Kerl?»
«Seine Blase entlasten», vermutete Meichtry.
«Wenigstens haben wir nun freie Sicht auf die Landschaft», witzelte Mettler. Kaum hatte er das gesagt, wurde es draussen schlagartig hell. Leuchtkugeln machten die Nacht über der Wiese, die sich ostwärts erstreckte, zum Tag. Frauen, Kinder, Männer eilten zum nahen Wald. Dann fielen Schüsse. Flüchtende stürzten und blieben liegen.
«Diese Verbrecher. Das trifft einen ins Mark. Offenbar ist vor uns ein aus der Gegenrichtung fahrender Gefangenentransport entgleist. Wagen sind umgestürzt und dadurch geöffnet worden. Die Eingesperrten versuchen sich nun vor ihren Häschern in Sicherheit zu bringen», flüsterte Mettler empört.
Minuten später wurde die Tür von einem SS-Mann geöffnet. «Ich bringe Ihnen den verlorenen Sohn zurück.» Es war der käsebleiche Vonlanthen. Er sei auf dem Klo gewesen. Eine Viertelstunde später wurden die Schweizer aus der misslichen Lage befreit. Nach einem Fussmarsch von einigen hundert Metern – sie kamen dabei auch am entgleisten Gegenzug vorbei, der viele Güterwagen gezogen haben musste und dessen Lokomotive wohl von einer Fliegerbombe getroffen worden war – erreichten sie den Ersatzzug nach Basel.
Im Morgengrauen des 7. Februars kamen sie rechtzeitig im Badischen Bahnhof Basels an.
Einen Moment lang bekam Mettler Herzklopfen, dann nämlich, als er nach der Zollkontrolle von zwei deutschen Grenzpolizisten in das Untergeschoss abgeführt wurde. Meichtry und Vonlanthen mussten im Zollbüro auf ihn warten, bis er zurückkam. Hatten die Nazis Verdacht geschöpft und herausgefunden, dass ihm Heisenberg doch weit mehr verraten hatte, als sie zunächst glaubten?
Doch Mettlers Befürchtungen waren unbegründet. Er kehrte mit einem grossformatigen Brief zurück. Das sei ein Geschenk des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, für die gute Zusammenarbeit mit deutschen Kernphysikern.
Eine Stunde später sassen alle drei im Zug nach Zürich. Mettler öffnete den Brief und begann sich die Augen zu reiben. Er las vor:
Sehr geehrter Herr Professor Mettler,
meine Spezialisten in Sachen «Wunderwaffe» haben sich sehr zufrieden von Ihrem Besuch bei Professor Heisenberg gezeigt. Ich bin überzeugt, dass auch Sie enorm von diesem Treffen profitiert haben.
Wie Sie wohl wissen, bin ich aus Bayern, das sehr viele Gemeinsamkeiten mit Ihrer Schweiz aufweist. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen Bayern näherzubringen. Es gibt in der Stadt Berchtesgaden ein wunderbares Hotel, das Ihresgleichen angemessen ist.
Um meiner Wertschätzung Nachdruck zu verleihen, liegt diesem Schreiben ein kleines Präsent bei. Zwei Karten für einen dreiwöchigen Urlaub in diesem Haus. Ihre verehrte Gattin wird sich freuen.
Teilen Sie mir bitte mit, wann Sie sich für den Aufenthalt in Berchtesgaden freimachen können. Es muss nicht schon morgen sein. Auch der Herbst 1944 oder das Frühjahr 1945 wären eine gute Zeit für einige Wochen Entspannung in dieser wunderbaren Bergwelt. Und wer weiss, vielleicht lässt sich dann auch ein kurzes Treffen mit unserem geliebten Führer, Adolf Hitler, arrangieren.
Ihr ergebenster
Heinrich Himmler, Reichsführer SS
sig. Himmler
Heil Hitler
Mettlers Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Er wurde richtig böse. «Wenn eine Kopie dieses Briefes nach Kriegsende in die Hände der Alliierten gelangt, werde ich echt Probleme bekommen.»
«Werden Sie der Einladung Folge leisten?», erkundigte sich Meichtry.
«Nicht darauf reagieren oder Himmler einfach absagen? Das kann ich mir derzeit nicht leisten. Ich möchte noch weitere Treffen mit Heisenberg vereinbaren. Das geht ohne die Gestapo, die Himmler fest im Griff hat, schlichtweg nicht. Ich werde mich bei Himmler bedanken und in Aussicht stellen, seiner Einladung nach Berchtesgaden im Frühjahr 1945 Folge zu leisten.»
Nun meldete sich Vonlanthen, der bis anhin beharrlich geschwiegen hatte, zu Wort. «Dass es den NSDAP-Staat im Frühjahr 1945 nicht mehr gibt, glaube ich nicht. Wir müssen uns darauf einstellen, mit Deutschland eine fruchtbare Zusammenarbeit zu finden. Berlin wird künftig die Hauptstadt Europas sein, damit sollten wir uns endlich abfinden.»
Mettler winkte dezidiert ab. «Albernes Wunschdenken. Das Dritte Reich wird den Krieg verlieren. Spätestens in der ersten Hälfte 1945 wird dieser Spuk zu Ende sein.» Dann musterte er Vonlanthen. «Junger Mann, seien Sie bitte vorsichtig. Ihre Sympathien für die Verbrecherbande, die derzeit in Berlin herrscht, sollten Sie schleunigst ablegen.»
Vonlanthen erwiderte nichts darauf.
Meichtry wollte von Mettler wissen, welche Bilanz er vom Aufenthalt in Berlin ziehe.
«Eine ausgezeichnete. Ich habe sehr viel erfahren und gesehen, dass Heisenberg gehörig in der Zwickmühle steckt. Er ist mit Bestimmtheit kein Nazi. Aber er fürchtet sich auch vor einer Niederlage Deutschlands. Tritt diese ein, was sich jetzt schon abzeichnet, wird er sich einiges einfallen lassen müssen. Denn er hat von Hitler persönlich den Auftrag bekommen, eine Atombombe zu bauen. Eher früher als später wird der Zeitpunkt kommen, wo er sich der Realität stellen muss. Deutschland hat auf absehbare Zeit nicht die Möglichkeit, die Bombe zu bauen, auch wenn Heisenberg das wollte. Das ist die wesentlichste Erkenntnis meiner Gespräche mit ihm.»
«Was, denken Sie, wird Heisenberg jetzt tun?»