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2. Auflage 2018
© Uwe Post, Frederic Brake, Uwe Hermann
www.biomalpha.de
Korrektorat – Norbert Fiks
Covergestaltung – Frank Lauenroth
Umschlagbild – Susan Gerardi
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Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7460-4180-3
in memoriam
Christian Weis
Glossar
Biom Alpha und Biom Beta: Schwärme biologisch geprägter Raumschiffe, die mit unbekanntem Ziel unabhängig voneinander durch die Galaxis reisen. Jedes Biom wird von einer geheimnisvollen Gründerin gesteuert.
Biforcod: Biom-Landungsschiff.
Sammlerschiff: Vom Biom ausgesandte Landekapseln mit unzähligen Vierflüglern darin, die Proben von Fauna und Flora jedes besuchten Planeten sammeln.
Are: Schwarz glänzende, arachnoide Hybridwesen, von denen je eines den Projektionsantrieb eines Raumfahrzeugs bewacht und steuert, der für die überlichtschnelle Fortbewegung erforderlich ist.
Phneighe: Schlanke Humanoide mit kupferfarbigem, kurzhaarigen Fell; Forscher und Politiker der Biome.
Barr-Lo-i: Kleinwüchsige, kompakt gebaute Humanoide und Sicherheitskräfte der Biome.
Dramatis Personae - Hauptfiguren
Dr. April Reignar: US-Astronomin und Mitglied der offiziellen irdischen Delegation in Biom Alpha
Vito Capello: katholischer Geistlicher und Mitglied der offiziellen irdischen Delegation in Biom Alpha
Lo-Well: »Planer« und damit Anführer der auf Bkek bruchgelandeten Gärtner von Biom Beta
Mephliepus: ein Phneighe und »derzeit Qualifizierter«, also politischer Machthaber von Biom Alpha
Sandrinapa: eine Phneighe, Übersetzerin und Betreuerin der irdischen Delegation.
Was bisher geschah
Im März 2025 näherte sich ein Schwarm fremdartiger, biologisch geprägter Raumschiffe der Erde. Das Biom Alpha sammelte Proben von Flora und Fauna, lud eine Delegation der Menschen ein, es zu begleiten, und verursachte Verwerfungen in vielen Ländern.
Die Delegation wurde im Biom zunächst freundlich aufgenommen, dann aber zum Opfer einer Intrige einer Untergrundorganisation. Die Überlebenden – die US-Astronomin April Reignar und Monsignore Vito Capello, Gesandter des Papstes – flohen mit Unterstützung der Phneighe Sandrinapa auf das Axtrop-Raumschiff TMOORL, das den Schwarm begleitet, aber nicht unter dessen völliger Kontrolle steht.
Kurz bevor das Biom Alpha die Nähe der Erde verließ, landete in der Nähe einer geheimen Forschungsstation in Brasilien ein Biom-Raumschiff, dem ein Mensch entstieg. Irgendwann müssen also bereits einmal Menschen von der Erde ins Biom Alpha gelangt sein ...
Es existiert mindestens ein zweites Biom, das allerdings nach einer Infektion mit einem tödlichen Virus in der Nähe des Planeten Bkek havarierte. Eine Gruppe Biomgärtner unter Führung ihres Planers Lo-Well konnte sich trotz lebend aus dem Biom Beta absetzen und auf dem Planeten Bkek bruchlanden.
Schwarze Rauchwolken hingen über dem Tal: Ein Fanal der Verwüstung. Einmal mehr konnte Michel sich nicht vom Anblick seiner zerstörten Heimatstadt losreißen. Irgendwo dort unten marodierte das Heer aus Böhmen. Irgendwo flohen die Soldaten des Landsherrn, irgendwo qualmte die Schneiderei, in der Michel gearbeitet hatte.
Irgendwo in den rauchenden Trümmern lag der Leichnam seiner Frau.
Michel unterdrückte einen Fluch. Er schluckte Bitterkeit und Schmerz herunter. Seine giftige Nahrung für heute, morgen und all die Tage danach. Sollte er davon abkratzen, es wäre ihm einerlei.
Ohnehin war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Trupp aus Böhmermännern hier auftauchte.
Hier – das war der schäbige Hof von Cousine Gretlin, auf dem Michel und sein Sohn Jacob untergekommen waren. Wohin sonst hätten sie fliehen können? Zumal Gretlins Gemahl in den Krieg gezogen und nicht zurückgekehrt war. Gretlin redete sich ein, er würde sicher wieder auftauchen. Wenn sie dergleichen sagte, tat Michel immer so, als hätte er nichts gehört.
Schreie ertönten aus der fernen Stadt.
Michel wandte sich ab, lief quer über die Heuwiese und erreichte das Haupthaus des Hofs.
Totenstille umgab das Gebäude. Das letzte Schwein war geschlachtet, der alte Gaul schlief, auch Vögel ließen sich keine blicken. Das einzige, das es hier im Überfluss gab, war Schlamm.
Michel drückte die Tür auf und warf einen Blick in die Stube.
Cousine Gretlin stand neben der qualmenden Feuerstelle und hantierte mit Holzscheiten. Sie war ein paar Jahre älter als Michel. Wie alt genau, wusste er nicht, er hatte nie gefragt. Gretlin trug einen langen, grauen Faltenrock, eine weiße Bluse mit weiten Ärmeln und eine schmutzige Haube, die die Haare völlig verbarg. Ihre wässrigen Augen waren tiefe Brunnen im schmalen Gesicht; Abgründe, in denen nichts zu finden war als Trauer und Hass. Gretlin schien ihren Cousin überhaupt nicht wahrzunehmen.
Wortlos griff Michel nach dem Schüreisen und riss die Glut auf. Seine Augen brannten vom Qualm, er schmeckte Asche, und Asche legte sich gerade jetzt wohl auch über die Leiche seiner Frau.
Das Geräusch schneller Schritte vertrieb seine Gedanken. Michels Sohn stürzte in die Stube. Auf dem Rücken trug er einen großen Vogel, und das Jagdglück stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Papa!«, rief der Junge. »Abendessen!«
Michel rang sich ein stolzes Vaterlächeln ab. »Gott sei’s gedankt!«, rief er aus. »Was hast du gefangen? Ist es ein … nein, es sind zwei ...« Michel verstummte. Er sah vier Flügel, aber …
»Was ist das für ein Tier?«, entfuhr es ihm.
»Keine Ahnung«, sagte Jacob und ließ den Kadaver zu Boden gleiten.
Der Vogel war größer als ein Falke, aber seine Federn waren weiß und blau, der Schnabel gebogen und spitz. Das hintere Flügelpaar war kleiner als das vordere.
Michel kniete sich neben das Wesen und berührte es mit dem Schürhaken. Er stieß kräftiger zu, aber das Tier bewegte sich nicht. Was auch immer es war, es war tot.
»Ein sehr seltener Vogel. Dann schmeckt er besonders gut«, plapperte der Junge. »Vielleicht ist er den Männern aus Böhmen hierher gefolgt.«
Michel kannte Böhmen nur dem Namen nach. Möglich, dass es dort blauweiße Greifvögel gab. »Aber mit vier Flügeln?«
Mit einem Mal zischte Gretlin laut von hinten, dass Michel vor Schreck fast auf den Vogel gestürzt wäre. »Ausgeburt der Hölle«, krächzte sie, »Dämonen!«
Michel sprang einen Schritt zurück. Sein Sohn sah Gretlin nur verständnislos an. »Es ist Fleisch, man kann es essen, wir haben Hunger, ihr auch, ich auch!«, sagte er schnell. »Viel Fleisch! Gutes Fleisch!«
»Giftiges Fleisch, Versuchung der Schlange!«, schrie Gretlin. Dann wurde ihre Stimme sanft, schmeichelte: »Oh, kleiner Jacob, bist so groß geworden, hab’ dich als Baby gewiegt, und nun schleppst du den Dämonen hinaus aus dem frommen Haus, verbrennst ihn zu Asche, und bei Gott, niemandem wird etwas geschehen.«
Jacob schluckte und sah Hilfe suchend zu seinem Vater. Der wusste, dass der Mut des Heranwachsenden leicht mit Übermut zu verwechseln war, und dass Vorsicht nicht der beste Freund des vierzehn Sommer zählenden Buben war. Ach was, ein Bub war er ja längst nicht mehr.
Michel streckte die Hand aus und hielt Jacob an der Schulter. »Gretchen spricht die Wahrheit, weiß Gott. Wir dürfen verbotene Früchte nicht essen, der Herr schickt uns wirklich eine Prüfung nach der anderen, und wir werden sie alle bestehen.«
In den dunklen Augen des Jungen blitzte es, ein Anflug von Trotz, von Aufbegehren. Michel wusste, was das bedeutete. Wenn er Jacob allein fort schickte, um den Kadaver zu verbrennen, würde ihn wieder der schlimme Lehrer Übermut antreiben, unwidersprochen, gefährlich – womöglich würde Jacob den Vogel einfach rupfen, braten, verspeisen.
Das musste Michel verhindern, zumal der Abend näher rückte und ein Feuer an ungünstiger Stelle leicht die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich ziehen konnte.
»Komm«, sagte Michel. »Wir machen das zusammen. Gretchen wird ein anderes Abendessen zubereiten.«
»Das uns alle sicher viel satter machen wird«, versetzte Jacob bitter.
Michel verpasste seinem Sohn eine Ohrfeige. »Sei nicht vorlaut«, sagte er. »Gretlin schenkt uns Herberge in der Not. Raus jetzt!« Als Jacob mit rotem Kopf nach dem Kadaver greifen wollte, hielt Michel ihn zurück. »Ich mache das«, bestimmte er.
Er griff nach den starren Beinen des Vogels und hob ihn hoch. Wie bei jedem Vogel überraschte ihn im ersten Moment das geringe Gewicht. Im wahrsten Sinne des Wortes federleicht war der Dämon, und er fühlte sich keineswegs wie ein Dämon aus der Hölle an.
Andererseits hatte Michel keine Ahnung, wie sich ein solcher Dämon anfühlen mochte. Er nickte Gretlin zu, deren Blick starr aufs Feuer gerichtet war, als könne sie in den Funken lesen, welche Versuchung der Herrgott als nächste plante.
Draußen existierte einzig die Farbe Grau, und ein feuchter Wind trieb neue Wolken übers Land. Die Feuer von Gera waren wie hinter einem Schleier kaum noch zu erkennen. Mit dem Kadaver in der Hand stapfte Michel quer über den Hof, sein Sohn hielt Schritt.
»Es ist zu nass für ein Feuer«, sagte Jacob. »Werfen wir ihn einfach am Waldrand hin, andere Tiere werden nichts von ihm übrig lassen, und da sie nicht gottesfürchtig sind, sind sie nicht verdammt.«
»Du redest Unsinn«, versetzte Michel. »Manchmal musst du den Alten vertrauen. Denk an meine Worte, wenn du selbst einmal alt bist.«
»Ich will nicht alt werden«, sagte Jacob.
»Kämpfe nicht dagegen an, denn es ist vergebens. Kämpfe gegen Feinde, die du besiegen kannst.«
»Die Soldaten, die Mama getötet haben?«
Michel hätte seinen Sohn erneut schlagen können, aber er wusste, dass das nichts nützte. Noch so eine Weisheit eines Alten. Gelernt durch Erfahrung.
Er war selbst einmal Sohn gewesen.
»Es war den ganzen Tag trocken«, sagte Michel. »Im Wald werden wir eine Stelle finden, wo wir Feuer machen können. Dort kann es auch niemand sehen. Wir werden diesen Dämonen verbrennen, bis nur noch Asche übrig ist.«
»Warum kann man Dämonen eigentlich verbrennen? Wenn sie aus der Hölle kommen, sind sie die Hitze doch gewohnt!«
Michel beschleunigte seine Schritte. Er musste diese Sache erledigen, bevor sein Sohn ihm mit seiner Schlauheit den letzten Nerv raubte. Nun, besser ihm als Gretlin. Sie würde sie zwar nicht aus dem Haus werfen, aber noch mehr schlechte Stimmung unter dem Dach konnte wirklich niemand gebrauchen.
Jacob ließ nicht locker. »Und wenn er wirklich nicht brennt? Was machen wir dann?«
»Dann essen wir ihn trotzdem nicht«, sagte Michel.
»Ha, ha«, machte Jacob. »Und wenn er brennt, auch nicht. Mein Magen knurrt. Essen wir später Suppe mit Wasser und sonst nichts?«
»Herrgott, du redest in einem fort. Es ist fast wie eine Krankheit.«
»Wir können froh sein, dass wir keine richtige Krankheit haben«, sagte Jacob. »Allerdings würde der Schwarze Tod auch die Böhmer treffen. Ist nicht die Pest gerechter als Gott? Sie trifft jeden, Mann, Frau, Kind, Böhmer, Sachsen, sie ist keine Versuchung, sondern leicht zu verstehen, sie spielt nicht mit den Menschen, sie tötet sie einfach nur.«
Michel blieb stehen. »Still!«, zischte er. »Ich glaube, ich habe etwas gehört!«
Tatsächlich schwieg Jacob endlich, allerdings sicher nicht lange. Ungefähr, bis ihm aufging, dass sein Vater ihn nur zum Schweigen bringen wollte.
»Da ist sicher irgendwo ein Tier«, sagte Jacob schließlich in normaler Lautstärke. »Keine neue Versuchung.«
Michel stöhnte auf. »Da vorn ist eine kleine Lichtung. An ihrem Rand werden wir das Feuer entfachen.« Er ging vor und ließ den Kadaver ins trockene Laub fallen. Während er dünne Äste sammelte, setzte sich Jacob neben dem Vogel auf einen frisch umgestürzten Baum. »Hast du diesen Beutel unter dem Schnabel gesehen?«, fragte er. »Wozu er den wohl braucht?«
»Falls du nach deinem Tod in der Hölle landest – Gott sei uns gnädig –, kannst du einen suchen und ihn fragen.«
»Papa!« Jacob lachte. »Du glaubst nicht, was du sagst.«
»Sicher tue ich das.«
»Kein Wort davon!«
Michel kniete nieder, schichtete die gesammelten Äste auf und fügte Laub hinzu. »Du hast ihn zu Tode geredet, oder?«
»Er hat einen Spatz gefressen«, sagte Jacob hinter ihm. »Und eine Maus.«
»Was zum …?« Michel fuhr herum. Jacob hatte dem Vierflügler mit einem dünnen Zweig den Schnabel geöffnet und den Inhalt aus dem Sack gepresst.
»Warum frisst er Tiere, schluckt sie nicht runter, und lässt sich dann von mir töten? Warum schickt Gott uns nicht eine einfachere Versuchung? Eine, die wir begreifen?«
Michel antwortete nicht. Wortlos starrte er die Kadaver eines Spatzen und einer Maus an, die neben dem Vierflügler im Laub lagen. Zweifellos war der Vierflügler ein Raubvogel, das sah man schon an seinem Schnabel. Aber warum hatte er seine Beute nicht verschlungen?
»Vielleicht Futter für die Küken«, beantwortete Jacob die unausgesprochene Frage.
»Vermutlich«, sagte Michel ohne Überzeugung.
»Küken dieser Dämonenvögel haben sicher auch vier Flügel«, meinte Jacob. »Ob das Nest hier irgendwo ist? Wir sollten es finden und zerstören, damit nicht noch mehr brave Menschen ...«
»Halt den Rand«, zischte Michel. »Ein Wort noch, und du schläfst im Schweinestall.«
Er entzündete das Feuer und fachte es an, bis eine Flamme in die Höhe schlug. Dann schob er das hintere Ende des Kadavers in die Glut.
»Er brennt«, stellte Jacob fest.
»Gut«, meinte Michel und beobachtete zufrieden, wie sich die Flammen in das Federkleid des Vierflüglers fraßen.
»Er brennt sogar verdammt gut«, sagte Jacob und wich zurück.
Michel tat es ihm gleich.
Eine Stichflamme schoss in die Höhe, zischte und spuckte Funken.
»So brennt also ein Dämon«, sagte Jacob, und es klang jetzt fast andächtig.
Die hellen Flammen schleuderten Licht und Schatten in den Wald, irgendwo kreischte ein Vogel, und als Michel sich automatisch umdrehte, um nach ihm Ausschau zu halten, erstarrte er.
Das Feuer beleuchtete ein zuvor verborgenes Gebilde zwischen den Bäumen, nicht weit entfernt. Es schien vom Himmel gefallen zu sein, denn es war von umgeknickten oder schräg stehenden Stämmen umgeben.
Michel fuhr zusammen. Aber Jacob hatte nur seine Hand auf seinen Arm gelegt. Der Junge hatte das Gebilde ebenfalls gesehen, und war aufgesprungen. Aufgesprungen von dem umgestürzten Baumstamm. Umgestürzt – oder umge worfen.
»Es ist ein Wagen ohne Räder«, sagte Jacob. »Sicher gehört er den Dämonen.«
»Hör auf zu ...«
Aber Jacob plapperte einfach weiter: »Aber dieser Wagen kam nicht aus der Hölle, also von unten, er kam von oben, und er hat die Bäume umgeworfen, und uns den Vierflügler geschickt, den wir hier gerade ver...«
Michel griff nach dem Arm seines Sohns. »… hör auf zu reden … und renn!«
Die grelle Sonne tauchte auf den Bildschirmen der großen Haupthalle der TMOORL auf. Capello und April standen in der Menge der Passanten und beobachteten das Schauspiel. Der Lichtschein blendete ein wenig. Die Filter der Außenkameras waren überlastet. Langsam schob sich ein Planet zwischen die Sonne und das Raumschiff. Die TMOORL war sehr nah am Planeten, er verdeckte einen Großteil des Sterns.
»Überwältigend«, flüsterte Capello. April nickte stumm. Sandrinapa sah sich gelangweilt in der Menge der Schaulustigen um. April räusperte sich.
»Ich hätte mir nie träumen lassen«, sagte sie, »dass ich diesen Stern jemals aus der Nähe sehen würde. Oder seine Planeten.«
Sie ergriff den Arm von Capello und drückte ihn. »Capello, ich glaube es einfach nicht. Das ist der Traum eines jeden Astronomen. Seit mehr als zehn Jahren wissen wir, dass Alpha Centauri Planeten hat. Aber niemand hat geglaubt, dass es in seiner Lebenszeit möglich ist, diese Planeten zu besuchen.«
Capello nickte nur. April ließ ihn los … Gedankenverloren rieb er sich den Arm, den April gequetscht hatte. April wandte sich an Sandrinapa.
»Das muss doch auch für dich immer wieder ein unglaubliches Erlebnis sein.«
Die Phneighe legte den Kopf schief. »Meinst du das ernst?«, fragte sie.
April hob die Hände. »Natürlich meine ich das ernst!«
»Aha«, erwiderte Sandrinapa.
April schüttelte den Kopf. »Wie viele Planeten muss man schon gesehen haben und wie viele Sterne besucht haben, um nicht davon begeistert zu sein?«, fragte April.
»Sicher mehr als du in deinem Leben jemals sehen wirst«, erwiderte Sandrinapa.
»Aber …«
»Ihr Menschen lebt nicht lange genug, um die Wunder des Universums tatsächlich kennenzulernen. Ihr seid zu schwächlich, um damit fertig zu werden.«
April sog entrüstet die Luft durch die Zähne.
»Ich fasse das einfach nicht. Nach all dem, was wir bisher überlebt haben, Capello und ich, sagst du tatsächlich, wir Menschen wären zu schwächlich, um mit dem Universum fertig zu werden?«
Capello drehte sich zu den beiden um. »Psst«, machte der Geistliche. »Warum stört ihr diesen Moment, an dem wir erkennen können, wie großartig Gottes Werk ist?«
»Dein Gott, Priester«, sagte Sandrinapa, »ist ein willkürliches Konstrukt der Menschen, die sich die Natur nicht anders zu erklären wussten. Wie kannst du behaupten, die Wunder des Universums wären durch eine Entität geschaffen worden, deren Existenz niemals jemand beweisen konnte?«
Capello deutete auf Alpha Centauri und den Planeten, der sich davor abzeichnete.
»Und wem, deiner Meinung nach«, erregte sich Capello, »haben wir das alles dort draußen zu verdanken?«
Sandrinapa verzog die Lippen zu einem Lächeln. Ein Ausdruck, den sie ihren menschlichen Schützlingen abgeschaut hatte. April war sich sicher, Spott in diesem Lächeln zu sehen.
»Die Natur. Nicht das Hirngespinst, das du Gott nennst.«
Ein Raunen ging durch die Menge in der großen Halle. Rechts oberhalb der Scheibe des Planeten zeigte sich ein weiterer, kleinerer Körper, der von einer hellen Korona umgeben war.
»Was ist das?«, fragte April.
»Das ist der Mond des Planeten«, sagte Sandrinapa belustigt.
»Hätte ich auch selbst drauf kommen können«, brummte April.
»Es gibt sogar zwei«, sagte Sandrinapa. »Eure Teleskope waren bisher nur zu schwach, um sie zu sehen. Mich wundert, dass ihr überhaupt festgestellt habt, dass Alpha Centauri, wie ihr diesen Stern nennt, einen Planeten besitzt.«
April schnaubte. »Jetzt tu nicht so, als wärt ihr im Biom die größten Wissenschaftler überhaupt.«
Sandrinapa hob die Hände. Noch eine Geste, die sie von ihren Schützlingen übernommen hatte.
»Beruhige dich, April. Du kannst nicht leugnen, dass die Menschen nicht gerade die fortschrittlichste Zivilisationen sind, die der Schwarm bisher getroffen hat. Schau dich einmal um, wie weit entwickelt viele der mitreisenden Völker sind.«
Capello legte April seine Hände auf die Schultern und drehte sie sanft wieder zu dem Bildschirm hin. »Schaut nur«, sagte er.
April sah, wie der Mond sich langsam vor die Planetenscheibe schob. Immer noch hatte er eine hell leuchtende Korona. Der Schein erhellte die Planetenoberfläche ein wenig. Stumm, mit leicht geöffnetem Mund, sah April dem Schauspiel zu. Die Menge der anderen Zuschauer zerstreute sich langsam. Bald waren nur noch Capello, sie, Sandrinapa und ein paar andere, ihr unbekannte Wesen in der großen Halle. Der Mond hatte sich mittlerweile ganz von der Planetenscheibe gelöst. Die Korona strahlte immer noch, jetzt aber sah sie schwächer aus als vor dem Durchgang.
»Weißt du, Sandrinapa, warum die Korona des Mondes so stark leuchtet?«, fragte April.
Sandrinapa schüttelte den Kopf.
»Nein, das weiß ich auch nicht. War noch nie in diesem System.«
»Woher wusstest du dann, dass der Planet zwei Monde hat?«
»Unsere Fernerkundungssatelliten haben uns das gemeldet.«
»Fernerkundungssatelliten, natürlich«, brummte April.
»Ja«, sagte ihr Gegenüber und lachte.
»Wir möchten schließlich keine böse Überraschung erleben, wenn wir ein neues Sternensystem besuchen. Ihr Menschen macht doch das Gleiche, wenn ihr in unbekannte Regionen vordringt. Wenn ich eure Fernsehsendungen richtig verstanden habe, dann war es bei eurem Militär so üblich, Leute vorzuschicken, die die Umgebung und den Feind ausgekundschaftet haben.«
»Aber wie kommuniziert ihr mit euren Satelliten? Beherrscht ihr die überlichtschnelle Kommunikation?«, hakte April nach.
»Nein, so etwas wie überlichtschnelle Kommunikation gibt es nicht. Die Satelliten werden von uns in einem Erkundungsschiff vorausgeschickt. Bei unserem nächsten Ziel angekommen, werden die Satelliten ausgesetzt. Sie bereisen das Sternensystem, führen Erkundungen durch und kehren zum Schiff zurück. Das Scoutschiff selber begibt sich dann seinerseits wieder zum Schwarm.«
April nickte langsam. Sie begriff, dass der Schwarm noch viele Wunder für sie bereithielt. Und sie begriff, dass der Mensch erst an der Oberfläche des Universums gekratzt hatte. Sie als Astronomin hatte sich immer eingebildet, viel weiter in das Universum hineingeblickt zu haben als der normale Mensch. Sie hatte die Hybris zu glauben, dass sie den Geheimnissen des Weltalls auf der Spur war.
»Ich weiß, dass ich nichts weiß«, flüsterte sie.
»Was meinst du, April?«, fragte Capello.
»Mir geht es wie Sokrates«, sagte April und lächelte ein schiefes Lächeln.
Capello nickte. »Ich weiß, was du meinst. Und ich bin schließlich jemand, der daran gewöhnt war, an Dinge zu glauben, die man nicht beweisen kann. Das Nichtwissen ist viel, viel größer, als das Wissen des Menschen jemals sein kann. Schau dich einmal um. Vor wenigen Monaten dachten wir noch, wir wären alleine im Weltraum. Jetzt stellen wir fest, dass wir nur eine Rasse von vielen sind. Hättest du dir jemals träumen lassen, dass du irgendwann einem Alien gegenüberstehst? Einem freundlichen, bepelzten Alien, dass uns die Welt erklärt, so wie man es Kindern erklären muss. Ja, du hast recht. Wir wissen tatsächlich nichts.«
Sandrinapa legte April und Capello je eine Hand auf die Schulter. Gemeinsam schauten sie noch einen Moment auf den Planeten. Sandrinapa drückte sanft die Schultern der beiden.
»Kommt, wir gehen zu unseren Quartieren. Ich denke, ihr müsst erst einmal eine Menge verarbeiten. Besonders du, April. Schließlich geschieht es nicht alle Tage, dass eine Astronomin bis auf wenige Kilometer an einen Planeten herankommt, den sie bisher nur aus Bahnberechnungen und sehr verschwommenen Radiofotografien kannte.«
»Der Nachfolger des Kepler-Teleskops hätte uns den Planeten und seine Monde deutlich gezeigt, wenn unsere fromme Regierung die Gelder nicht gestrichen hätte«, versetzte April.
Mit Sandrinapa in der Mitte gingen April und Capello zum hinteren Ende der großen Halle und traten in den Korridor, der zu den Wohnquartieren führte. Alle waren in Schweigen vertieft. Capello bewegte stumm die Lippen, und April war sich sicher, dass er betete.
Ein Tiger kann seine Streifen nicht verleugnen , dachte April.
»Warst du schon auf vielen Planeten?«, wandte sich April an Sandrinapa.
»Schon viele Male.«
»Wie ist das?«
»Irgendwann wird es langweilig. Kennst du einen Wüstenplaneten, kennst du alle Wüstenplaneten. Warst du einmal auf einem Wasserplaneten, kennst du alle Wasserplaneten.«
»Aber es muss doch sehr aufregend sein, eine neue Welt zu betreten, auf der noch nie ein anderes Wesen war.«
»Das ist eine andere Frage. Manchmal trifft man auf der Welt Ureinwohner. Sie können intelligent sein oder auch nicht. Die Begegnungen sind nicht immer harmonisch.«
»Hattest du schon einmal eine gefährliche Begegnung mit einem Fremdwesen?«, fragte Capello.
Sandrinapa schüttelte den Kopf. »Nein, bisher nicht. Alle meine Planetenmissionen waren langweilig. Ich habe nie ein fremdes Lebewesen getroffen. Manchmal habe ich sehr exotische, schöne, bunte Pflanzen gesehen. Einmal begegnete ich einem Baum, dessen Blätter mir zuwinkten. Er hatte dunkle, violett-grün gesprenkelte Blätter. Lang und dünn und biegsam. Erst dachte ich, der Wind würde sie bewegen. Aber da war kein Wind. Ich habe mich nicht genähert, es hätte ja auch ein Trick der Pflanze sein können. Ihr wäret überrascht, auf wie vielen Planeten es fleischfressende Flora gibt.«
April schluckte. »Trotzdem, was würde ich darum geben, einmal auf einem fremden Planeten zu landen. Stell dir vor, wie das für einen Astronomen ist. Stell dir vor, du setzt dein Fuß auf etwas, was bisher nur eine Menge an Daten oder eine schwach leuchtende Abbildung auf einem Computerbildschirm war.«
Aprils Wangen hatten sich gerötet, ihr Atem ging schneller. Capello sah sie von der Seite her an. Er hatte ein mildes Lächeln aufgesetzt und den Kopf etwas schief gelegt.
»Du überschätzt den Reiz des Neuen«, sagte Sandrinapa.
April schüttelte den Kopf. »Du verstehst mich nicht.«
Sandrinapa blieb stehen, drehte sich zu April um, und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie sah der Menschenfrau lange in die Augen.
»Also gut. Ich werde sehen, ob ihr mit auf den Planeten dürft, wenn die Erkundungssonden zurück sind.«
»Wirklich?« April konnte es kaum glauben.
»Ich kann euch nichts versprechen«, sagte Sandrinapa und wedelte mit den Händen. Die drei gingen langsam weiter den Korridor hinunter in Richtung der Wohnquartiere. Der Korridor hatte eine leichte Krümmung. Man konnte nur wenige Meter weit sehen, deshalb stockten sie überrascht, als sich ihnen plötzlich ein unbekanntes Wesen in den Weg stellte.
»Oha«, entfuhr es April. Capello bekreuzigte sich. Sandrinapa stellte sich vor die beiden. Das Wesen war etwa so groß wie Sandrinapa und ähnelte einer Seegurke. Stacheln standen in alle Richtungen ab. Die Augenstiele wedelten hin und her, und auf der Brust, unterhalb eines halbmondförmigen Schlitzes, leuchtete eine Platte aus bunten Schuppen. Lichtmuster liefen darüber. Die Bewegungen der Augenstiele wurden kurz schneller, dann stoppten sie. Die Lichtmuster auf der Brustplatte flackerten noch etwas nach.
Sandrinapa hob die Arme über den Kopf und ruderte ebenfalls damit herum.
»Was macht sie da?«, flüsterte April Capello zu. Der sah sie an und zuckte die Schultern. Sandrinapa wedelte immer heftiger mit den Armen, um sie dann plötzlich herunterzureißen. Das Alien ließ eine Reihe greller Lichtmuster über die Brustplatte zucken, wedelte kurz mit den Augenstielen und stand still. Anschließend richtete es die Augenstiele starr nach vorne. Sandrinapa nickte. Sie wandte sich an die beiden Menschen.
»Das ist Slassrar. Er ist ein Axtrop. Er gehört keiner originären Schwarmrasse an. Deshalb ist er auch nicht vollständig in die Kommunikation des Schwarmes eingebunden. Er hat von Gerüchten gehört, dass es neue Wesen im Schwarm gibt. Er fragt jetzt, ob ihr diese Wesen seid und ob ihr euch Menschen nennt.«
»Du verstehst ihn?«, fragte April.
»Das hoffe ich jedenfalls«, sagte Sandrinapa.
»Er möchte wissen, ob wir Menschen sind? Warum?«, fragte Capello. »Wenn er nicht zu den üblichen Schwarmrassen gehört, sollen wir es ihm dann wirklich sagen?«
Sandrinapa zögerte einen Moment, bevor sie nickte.
»Wir sind Menschen«, sagte April in Richtung von Slassrar und rang sich ein Lächeln ab.
»Er versteht euch nicht, er hat keine Ohren«, sagte Sandrinapa. Sie hob wieder die Arme über den Kopf, wedelte und riss die Arme wieder nach unten. Die Leuchtplatte des Aliens strahlte in einem tiefen Blau, das verblasste. Seine Augenstiele bewegten sich langsam von rechts nach links, und richteten sich wieder starr auf Sandrinapa.
»Er dankt euch für die Auskunft«, übersetzte sie den beiden Menschen.
»Eine sportliche Art zu reden.« April grinste.
»Du solltest nicht so lächeln, April. Diese Wesen haben keine Zähne und könnten es als Bedrohung auffassen.«
»Oh. Wie wedelt man denn ein gerne geschehen?«, fragte April.
»Ich zeige es dir«, sagte Sandrinapa. Sie hob die Arme und führte eine komplizierte Wedelgeste aus. April lachte auf. »Okay, ist nicht ganz so einfach. Dann übersetze es ihm bitte. Du sagtest, es ist ein er?«, sagte sie.
»Axtrops haben kein Geschlecht«, erwiderte Sandrinapa und führte die Geste noch einmal aus, diesmal in Richtung des Aliens. Der ließ ein hellblaues Lichtmuster über seine Brustplatte laufen. Dann drehte er sich um und kroch den Korridor entlang aus ihrer Sichtweite. April war völlig fasziniert. Das Wellenmuster des Fußes des Axtrop hatte etwas Hypnotisches.
Sandrinapa sah dem Alien hinterher. »Für mich war es ein bisschen merkwürdig, dass er so explizit danach gefragt hat, ob ihr Menschen seid. Eigentlich seid ihr keine Sensation im Schwarm mehr«, sagte sie.
»Du hast gesagt, dass er nicht zu den originären Schwarmrassen gehört, da kann es doch durchaus sein, was wir für ihn trotzdem eine Überraschung hier an Bord sind, trotz der vielen Rassen. Schließlich ist die TMOORL ein Expeditonsschiff«, sagte Capello.
»Oder das«, sagte Sandrinapa. April konnte ihren Gesichtsausdruck dabei nicht deuten.
Michel rannte. Stolperte. Schrie nach Jacob, den er aus den Augen verloren hatte. Stürzte kopflos durchs Dickicht. Egal wohin. Nur weg von dem Ding.
Jacob schrie zurück. Es kam von schräg links vorne. Michel lief weiter. Sprang über einen Baumstamm, verfing sich mit dem Fuß in einer Ranke, strauchelte, fuchtelte mit den Armen. Er stürzte mehr, als dass er rannte. Einen Hang hinunter; Äste schlugen ihm ins Gesicht, er verlor fast einen Stiefel. Außer Atem blieb er stehen, orientierte sich neu.
»Jacob! Hierher!«
Der Junge antwortete, aber Michel verstand ihn nicht. Er hatte sich ihm nicht genähert. Die Entfernung hatte zugenommen.
»Gott!«, stieß Michel hervor, dann rannte er wieder los.
Inzwischen hatte der nahende Abend das Tageslicht fast völlig vertrieben. Der Wald war dicht genug, um sich in der Dunkelheit zu verirren. Und jenen Wesen in die Arme zu laufen, die in ihrem Himmelswagen die dämonischen Vierflügler gebracht hatten. Waren es gar verkleidete Engel? Und Jacob hatte einen getötet?
Michel konnte nicht mehr denken. Klar war nur eins: Sein Sohn war in Gefahr. Dieser eine Gedanke bestimmte alles. Mehr war ihm nicht geblieben.
Ein leiser Pfiff ließ Michel innehalten. Er versuchte, zwischen den Schatten der Bäume etwas zu erkennen. War da jemand?
»Jacob?«, flüsterte Michel. »Hörst du mich? Antworte, verdammt!«
Nichts zu hören.
Michel drehte sich um, lief weiter in die Richtung, in der er Jacob vermutete. Rief erneut, stolperte, kletterte über einen verrotteten Baumstamm, der voller Pilze war.
Und lief geradewegs einer Schar Füchse auf Beinen in die Arme.
Sie standen einfach da, mitten im Wald, starrten ihn aus großen, schwarzen Augen an, und sahen ungerührt dabei zu, wie er sich in die Hose pisste.
Es waren vier; viel zu groß für Füchse, aber ein rotes Fell, große Augen, ein Schwanz … hatten Füchse wirklich so große Augen?
Einer rief etwas und hob eine Pfote, die wie eine schlanke Hand aussah. Daraufhin trat ein Mensch hinter einem Baum hervor.
Ein Pfaffe! Tonsur, Mantel, Kruzifix. Die Füchse erteilten einem Mann Gottes Befehle! Jetzt ergab alles einen Sinn. Ein Wagen, der vom Himmel gekommen war, Vierflügler, Füchse auf zwei Beinen.
»Fürchte dich nicht«, sagte der Pfaffe. »Ich bin Bruder Laurentz. Dir wird nichts geschehen.«
Michel brachte nur ein Krächzen hervor. Der Pfaffe wartete geduldig, bis er sich geräuspert hatte. »We… welche Prüfung will der Herr mir heute auferlegen?«
»Die wichtigste Prüfung deines Lebens«, sagte Bruder Laurentz ohne zu zögern.
Michel ächzte. »So verliere ich auch noch meinen Sohn?«
»Deinen Sohn?« Der Pfaffe legte den Kopf schief.
»Hast du ihn gesehen? Er lief fort, als …« Michel verstummte abrupt, als sich einer der Füchse ihm näherte.
Bruder Laurentz sah sich um. Jetzt, da er sich bewegte, zeigte sich, wie mager er unter seinem Mantel war.
»Ich habe mich auch zuerst gefürchtet«, bekannte er dann. »Aber die Phneighe wollen uns nichts tun. Im Gegenteil.«
Michel wich zurück, als das Wesen immer näher kam. »Was will der Fuchs?«
Jetzt lachte der Pfaffe. »Seltsam, für Füchse habe ich sie nie gehalten. Ich will dir später verraten, was geschah, als sie mich zu sich holten, um mich zu lehren.«
»Was …?« Der Phneighe blieb stehen. Michel vermochte seinen Gesichtsausdruck nicht zu lesen; die Augen waren nur schwarz, der Mund schmal und starr. An Brust und Beinen trug das Wesen Ledertaschen und bunte Bänder an beiden Handgelenken. Ohne Zweifel handelte es sich nicht um ein Tier, sondern um einen Engel mit Fell oder einen Dämonen ohne Schwefelgestank.
»Sie bringen uns an einen fernen Ort«, sagte der Pfaffe. »Sie sagen, dass es dort keinen Krieg gibt, keinen Hunger und keine Krankheiten.«
»Also in den Himmel?« Michel konnte den Blick nicht von dem Fuchs lösen, der ihn still erwiderte.
Bruder Laurentz schnaubte. »Ich bin kein sehr weiser Diener des Herrn«, sagte er, »und hatte keine Gelegenheit, Weisung oder Rat einzuholen. Mein Gefühl sagt mir, dass die Phneighe tatsächlich von Gott gesandt wurden, um uns vor dem Untergang zu retten. Ihre Geschichte erinnert mich an das, was die Bibel über Noah erzählt.«
»Diese ...« Wie nannte der Pfaffe die Füchse? Phneighe? »Diese Fremden wollen uns helfen?«
Der Pfaffe hob hilflos die Schultern. »Dafür beten wir doch seit Jahr und Tag, oder? Warum sollten wir nun zweifeln?«
Wut stieg in Michel hoch. Er schnauzte den Phneighe vor ihm an. »Ihr kommt zu spät! Meine Frau ist tot. Viele Menschen sind tot.« Er zeigte in die Richtung, in der er die Reste der Stadt Gera vermutete. »Viel zu viele, in diesem Krieg, in anderen Kriegen, der Schwarze Tod, der viele Länder entvölkert …« Michel verstummte abrupt, als der Phneighe ihm die Hand auf den ausgestreckten Arm legte. Eine Hand mit zwei Fingern und einem Daumen, außen von kurzem Fell bedeckt.
»Gottes Wege sind für uns Menschen nicht verständlich«, erklärte Bruder Laurentz. »Demütig nehmen wir sein Geschenk an. Der Phneighe, der vor dir steht, heißt übrigens Jlimanus.«
»Jli… Jlimanus?« Als Michel den Namen aussprach, verknotete er sich fast die Zunge.
Der Phneighe öffnete den Mund und wiederholte seinen Namen, dann zeigte er auf Michels Nase.
»Ich … ich heiße Michel.« Er schämte sich für seinen Wutanfall. Gerade wollte er sich entschuldigen, da fiel ihm etwas ein. »Ich dachte, nur Tote kommen in den Himmel. Werdet ihr uns also umbringen? Und werde ich meine Frau dort wiedersehen?«
Bruder Laurentz zögerte. »Sie bringen uns noch nicht in den Himmel, sondern in eine Arche.«
»Aber ...« Michel fror plötzlich. Es war nicht die Kälte der Nacht, nicht die Nässe seiner Hose. Es war jenes Eis, das die Seele berührt und alle Glieder einfriert. »Aber wird also wieder eine Sintflut kommen und alles vernichten?«
»Vielleicht«, sagte der Pfaffe.
»Jacob!«, rief Michel. »Ich muss meinen Sohn finden! Er muss mit mir kommen. Und meine Cousine.« Alles in Michel verlangte jetzt nach Rettung. Er würde diese Welt nicht vermissen – aber einige der Menschen darin. Sie mussten mit!
»Ich … warte …« Bruder Laurentz wandte sich an den Fuchs, der ihm am nächsten stand. »Retten … ah … nisi … nisi … filium.« Er zeigte auf Michel. »Et … et filius velit acci … äh … accipere.«
Michel spürte seinen Herzschlag. Der Pfaffe sprach Latein mit den Gesandten Gottes. Natürlich! Auch die Bibel war lateinisch. Michel verstand davon kein Wort, es war die Geheimsprache der Pfaffen und gleichzeitig die Sprache der sagenumwobenen Helden längst vergangener Zeiten, über die Michel nur wusste, dass sie völlig anders gewesen waren, allem voran: heidnisch.
Die Phneighe begannen zu diskutieren. Sie sprachen eine völlig fremde Sprache. Das war kein Latein. Das musste die Zunge des Himmels sein. Die verstand selbst der Pfaffe nicht. Oder?
»Was reden sie?«, fragte er.
Bruder Laurentz zuckte nur mit den Schultern. Während Michel beobachtete, wie der Phneighe mit dem schwierigen Namen zu seinen Kameraden trat, befiel ihn ein ungutes Gefühl. Anscheinend war keiner der Vier ein Anführer. Auf Michels Wunsch hätte ein einfaches Ja oder Nein genügt. Himmlische Gesandte, die diskutierten wie Bauern übers Wetter?
So wie der Angriff der Böhmer über Gera gekommen war, so überfiel die Erkenntnis Michels Gemüt: Hier stimmte etwas nicht. Der Pfaffe hatte sich vielleicht bezahlen lassen oder er war gutgläubig oder die Fremden waren Dämonen, die ihm den freien Willen genommen hatten. Oder alles war eine Maskerade von verrückten Räubern, die sich einen Spaß machten, bevor sie Michel und seine ganze übrig gebliebene Familie massakrierten. Und gerade war er noch drauf und dran gewesen, sie zu ihnen zu führen. Michel schalt sich einen Narren.
Und rannte los.