Kinder zu haben, ist doch die schönste und größte Freude.
Martin Luther
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© 2010 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Ulrike Vetter, Leipzig
Satz: Ulrike Vetter, Leipzig
ISBN 9783374035328
www.eva-leipzig.de
Besucher der Lutherstadt reagieren oft erstaunt, wenn sie hören, der Reformator Martin Luther und seine Freunde haben nicht nur geheiratet, sondern auch Kinder großgezogen und ihnen den Weg ins Leben geebnet. Die Reformatoren sind als Universitätsprofessoren, Begründer der evangelischen Landeskirchen, Begründer des deutschen Universitäts- und Schulsystems, Bibelübersetzer, Verfasser von Kirchenordnungen, Kirchenlieddichter, Autoren von Lehr- und Schulbüchern usw. berühmt geworden. Über dieser enormen Leistung wurde meist völlig vergessen, dass sie es waren, die erstmals das Leben des Gelehrten mit dem des Familienvaters verbunden haben. Luther wird häufig als Begründer des evangelischen Pfarrhauses bezeichnet. Er wusste, die Eheschließung hat die Geburt und Erziehung von Kindern zur Folge, und wollte sich dieser anstrengenden Aufgabe gerne widmen. Dennoch hat die Vaterschaft selbst dem Leben des Reformators neben seinen vielfachen beruflichen und geistigen Aufgaben eine ganz neue Dimension gegeben.
Die Wittenberger Gelehrten haben mit ihren Ehefrauen die Freuden und Leiden des Familienlebens weidlich ausgekostet. Es ist ungeheuer berührend, ihre Briefe zu lesen, in denen sie Bezug auf ihre Kinder nehmen. Da ist die Rede von der paradiesischen Zeit der frühen Kindheit, von Frohsinn, vom Feste Feiern, Spielen, Singen und auch von Trauer, von guten und schlechten Schülern, Nachhilfeunterricht, kleinen und größeren Fehltritten. Ungehorsame Teenager, Partner, die den Eltern nicht gefielen, schwerer Familienzwist und Probleme der nachwachsenden Generation, den rechten Weg zu finden, gab es damals wie heute. Luthers Vorschläge zur Lösung von Erziehungs- und Bildungsfragen können noch immer eine Art Richtschnur sein. Die Einsicht, dass die Kinder die Zukunft unserer Gesellschaft sind, veranlasste ihn schon lange vor seiner Eheschließung, die Städte aufzufordern, Schulen einzurichten und zu halten. Er und seine Freunde legten zudem die Grundlagen des heutigen Universitätsbetriebes. In Luthers Haus wuchsen nicht nur die eigenen Kinder auf, sondern auch eine heute kaum mehr bestimmbare Anzahl fremder Kinder, die aus den unterschiedlichsten Gründen hier lebten. Soweit ihr Leben bekannt ist, wurde ihm nachgegangen. Auf diese Weise erschließt sich im Zusammenhang mit dem Wittenberger Lutherhaus ein buntes Bild des alltäglichen Lebens zur Zeit der Reformation.
Mag sein, die Kinder der Reformatoren reichten in ihrer Bedeutung nicht an ihre Väter heran. Doch hat jemals wieder eine Gruppe von Gelehrten eine solche Bedeutung wie die Wittenberger Reformatoren erlangt? Ihre Kinder haben einen eigenen Weg ins Leben gesucht und gefunden und haben die Erinnerung an ihre Eltern meist liebevoll gepflegt und weitergegeben.
Mein Dank für das Drängen zum Schreiben und den Austausch über Familienprobleme und Bildungsfragen gilt Prof. Wolf D.Hartmann, der auch Erstleser war. Mein besonderer Dank für zahllose fachliche Hinweise gilt Dr. Gerhard Seib, einem Spezialisten auf dem Gebiet der Sepulkralkultur und der Alltagsgegenstände, sowie Andreas Wurda, dem Leiter der Wittenberger Ratssammlungen und Spezialisten auf dem Gebiet der Wittenberger Stadtgeschichte. Ich danke Frau Protzmann von der Luther-Stiftung für die Bereitstellung von Bildern aus den Sammlungen der Stiftung und danke besonders der Evangelischen Verlagsanstalt für die außerordentlich freundliche und sachliche Zusammenarbeit.
Martin Luther hat Georg Spalatin am 3. November 1522 geschrieben, man werde die Teile der Bibel nach und nach herausgeben, denn dazu nötigt uns die Rücksicht auf die Größe und den Preis der Bücher. Genau dieses ist heute der Grund, warum unser Buch ohne einen umfangreichen Quellenapparat erscheint. So wie damals die Bibel, so soll heute das Buch über Luthers Kinder für jeden erschwinglich sein. Doch ich stehe gerne für Auskünfte zur Verfügung und hoffe auf viele Hinweise, um bisherige Wissenslücken schließen zu können.
Dieses Buch möchte ich meinem Sohn widmen, der mir Zeit seines Lebens die schönste und größte Freude ist. Es ist wunderbar, dass auch er dieses Gefühl bald kennenlernen wird. Unsere Kinder machen uns zu Gliedern einer langen Kette, die von unseren Vorfahren bis zu unseren Nachkommen reicht und uns die Gewissheit von Zukunft und Weiterleben gibt, die weit über unser eigenes Leben hinausgeht.
Lutherstadt Wittenberg, im Mai 2010
Elke Strauchenbruch
Cover
Titel
Zitat
Impressum
KAPITEL 1
DIE KINDER DES EHEPAARES KATHARINA UND MARTIN LUTHER
Johannes (Hans) Luther
Elisabeth Luther
Magdalena (Lenchen) Luther
Martin Luther
Paulus Luther
Margarete Luther
Die Fehlgeburt
KAPITEL 2
VOM EHEPAAR LUTHER INS LUTHERHAUS AUFGENOMMENE KINDER
Kinder väterlicherseits
Cyriakus Kaufmann
Fabian Kaufmann
Andreas Kaufmann
Georg Kaufmann
Magdalena Kaufmann
Else Kaufmann
Johannes (Hans) Polner
Magdalena Polner
Martin Luther (Sohn Jakob Luthers, Neffe des Reformators)
Anna Strauß
Kinder mütterlicherseits
Florian von Bora
Hanna von der Saale
Kinder von Freunden
Weitere im Lutherhaus geborene Kinder
Weitere im Lutherhaus gestorbene Kinder
KAPITEL 3
STIPENDIATEN
Heinrich Schneidewein
Johannes Schneidewin
Johann Wilhelm Reifenstein
Hieronymus Weller und seine Geschwister
KAPITEL 4
PATENKINDER
Anna Cranach
Anna Melanchthon
Cordatus
Hans Löser
Andreas Bodenstein
Chronik
Personenregister
Martin Luthers erstes Kind Johannes kam am 7. Juni 1526 zur Welt. Die Eltern empfanden die Geburt als ein wunderbares Geschenk zu ihrem bevorstehenden einjährigen Hochzeitstag.
Dabei stand die Schwangerschaft von Luthers Ehefrau Katharina unter ganz besonderen Erwartungen durch Freund und Feind. Schon der Eheschließung des Reformators mit der entlaufenen Nonne standen viele sehr skeptisch gegenüber. Die schnelle Schwangerschaft der Katharina so kurz nach der Eheschließung gab zu vielem Geraune Anlass und hätte im Falle einer Fehlgeburt oder der Geburt eines behinderten Kindes zu einem großen Eklat führen können. Überall gegenwärtiger Aberglaube und Mystifizierung des Reformators verstärkten die Gefahr. Selbst Erasmus von Rotterdam beteiligte sich an der Diskussion und schrieb am 13. März 1526 an Franz Sylvius, dass Luther sich verheiratet hat, ist wahr; was man aber von der frühzeitigen Niederkunft der jungen Frau erzählt hat, war ein leeres Gerücht. Jetzt jedoch soll sie schwanger sein. Doch ließen sich die werdenden Eltern in ihrem Glauben und Hoffen auf ein gesundes Kind nicht beirren.
Luther widmete sich nach der Niederschlagung des Bauernkrieges dem Aufbau evangelischer Landeskirchen und der Lehre an der Wittenberger Universität. Seine Eheschließung brachte ihm neues Glück, neue Erkenntnisse und Aufgaben. Schon vor der Geburt des Kindes waren die Jungvermählten voll freudiger Erwartung. So scherzte der um seine hochschwangere Ehefrau liebevoll besorgte Gatte am 11. Mai 1526 in einem Brief an seinen Freund Johannes Agricola in Eisleben, er habe ihm ein schönes Glas schicken wollen. Doch als er es dem Boten geben wollte, war es verschwunden. Seiner Käthe habe das Glas auch gut gefallen und sie habe es vor ihm versteckt, bevor er es verschenken konnte. Er wollte es ihr wieder abnehmen, doch hätten ihn die Freunde Jonas und Rörer, die sich offenbar mit Käthe verbündet haben, daran gehindert. Agricola solle nur warten, bis die Entbindung vorüber sei. Dann werde er das Glas seiner Frau schon wieder abnehmen.
Als die Geburt näher rückte, ging Luther auf die Suche nach Paten. Durchaus im Bewusstsein des allgemeinen Geredes und dennoch gut gelaunt, schrieb er darum am 26. Mai dem befreundeten Kanzler der mansfeldischen Grafen, Kaspar Müller. Er würde ihn gerne zu Gevattern bitten, scheue aber das zusätzliche Gerede, dass es geben könnte, weil es sich um das Kind eines Mönches und einer Nonne handele. So bat er den Kanzler, von sich aus die Patenschaft zu übernehmen und geistlicher Vater zu sein, dass das Kind zum Christentum möchte geboren werden. Er wisse aber den Geburtszeitpunkt nicht. Darum werde es nicht möglich sein, den Kanzler durch einen Boten rechtzeitig zu benachrichtigen. Deshalb solle Kanzler Müller einen Vertreter benennen, der in seinem Namen bei der Taufe Gevatter stehen würde. Dann meinte er noch, die Wehmutter rechnet mit um St. Johannes Tag …
Doch das Warten fand bald ein Ende. Die Wehmutter oder Hebamme, wie wir heute sagen, überreichte den glücklichen und stolzen Eltern einen kerngesunden Knaben, der dem Reformator umso willkommener war, als er mit dem kleinen Stammhalter auch seinem Vater Hans Luther einen Herzenswunsch erfüllen konnte. So nimmt es nicht Wunder, dass ein Name für das Baby schnell gefunden war – Johannes, nach dem verehrten Vater des Reformators. Von seinen Vaterfreuden berichtete Luther am folgenden Tage seinem Schwager, dem gräflich mansfeldischen Rat Dr. Johann Rühel, nach Eisleben.
Wollet auch von meinetwegen Agricola sagen, das meine Käthe von großer Gotts Gnaden einen Hansen Luther geboren hat gestern um zwei. Martin Luther. Briefe. Eine Auswahl, hrsg. v. G. Wartenberg, Leipzig, Insel-Verlag 1983, S.126
Das Baby wurde, gemäß der Sitte, noch am Tage seiner Geburt gegen 16 Uhr in der Wittenberger Stadtkirche von Diakon Georg Rörer getauft. Die von dem berühmten Bronzegießer Peter Vischer aus Nürnberg geschaffene wunderbare Taufe wird hier noch heute benutzt. Paten des kleinen Johannes Luther waren Johann Pfister, Johannes Bugenhagen, der ihn aus der Taufe hob, Justus Jonas, der Hofmaler Lukas Cranach, die Bürgermeistersgattin Benedikta Hohndorf und der Jurist und spätere kursächsische Vizekanzler Christian Beyer. Der aus Nürnberg gekommene ehemalige Augustinermönch Johann Pfister studierte in Wittenberg Theologie und hatte dem Ehepaar Luther bei seiner Hochzeitstafel als Mundschenk gedient. Später erhielt er ein Pfarramt in Fürth. Die Paten Kaspar Müller und der in Straßburg lebende Nikolaus Gerbel waren bei der Taufe ebenso wenig zugegen wie die Wöchnerin. Die langen Wege waren im Angesicht der üblichen raschen Taufe eines Neugeborenen und dessen ungewissen Geburtszeitpunktes in so kurzer Zeit nicht zu bewältigen. Alle Paten und selbst der Geistliche stammten aus dem engsten Kreis um den Vater gewordenen Reformator, der just im Geburtsjahre seines Ältesten, 1526, in seinem bei Nickel Schirlentz in Wittenberg gedruckten »Taufbüchlein« über die Rolle der Paten für den Täufling geschrieben hat.
Auch sollen alle Paten und die umher stehen mit dem Priester die Worte seines Gebetes zu Gott im Herzen sprechen … Deshalb ist es auch wohl billig und recht, dass man nicht trunkene und rohe Pfaffen taufen lasse, auch nicht lose Leute zu Gevattern nehme, sondern feine, sittige, ernste, fromme Priester und Gevattern, von denen man erwarten kann, dass sie die Sache mit Ernst und rechtem Glauben behandeln. Luther, Taufbüchlein, Wittenberg 1526
Interessant ist, dass Luther bei der Wahl der Paten für seine Kinder keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen machte. Beide Geschlechter seien für die Erziehung der Kinder zum rechten Glauben berufen, und so finden sich auch in den Tauflisten seiner nachgeborenen Kinder immer Männer und Frauen. Eine weitere Aufgabe von Paten ist die Sorge um verwaiste Patenkinder. Da Luther stets in Erwartung seines baldigen Todes lebte, war die Wahl der Paten durch ihn immer mit deren möglichen und in seinen Augen sehr wahrscheinlichen Aufgaben bei der Sorge um seine verwaisten Kinder verbunden, zumal nach damaligem Recht die Mutter und Witwe ohne Vormund nicht rechtsfähig wäre. Die hohe Geburtenzahl in Wittenberg bedingte auch zahlreiche Patenschaften. Am 20. Januar 1539 werden neun Kinder auf einmal getauft. Luther, Melanchthon, Bugenhagen und viele andere ehrsame Leute wurden häufig Gevattern, Luther zahllose Male. Einmal hatte er vergessen, wem alles er dafür eine Zusage gegeben hatte, und musste seinen Famulus losschicken, es auszukundschaften.
Doch die Ankunft seines Kindes bringt ihm noch ganz andere Nöte. Zehn Tage nach der Geburt des Söhnleins bedankte sich der glückliche Vater bei seinem Freunde Georg Spalatin für dessen Glückwünsche. Er sei ein glücklicher Ehemann und habe von der besten Gattin und liebsten Frau unter Gottes Segen ein Söhnlein Johannes Lutherlein empfangen, sei durch Gottes wunderbare Gnade Vater geworden. Doch sei er auch in großer Sorge um sein Kind und bat den Freund: bete aber, dass Christus mir meinen Sprössling gegen den Teufel behüte, der, wie du weißt, nichts unterlassen wird, mir in dem Sohne ein Leid anzutun, wenn Gott zugibt. Denn schon jetzt quält sich das Kind etwas, wer weiß mit welchen kleinen Krankheiten oder mehr mit der rohen ungewohnten Milch, damit die Kindbetterinnen zuerst ernähren müssen. … Die Sorge nahm zu, zumal die Großmutter nicht, wie geplant, herbeieilen konnte. Luther schrieb am 27. Juni 1526 an: Johann Agricola, dem Lehrer und Erzieher der Jugend und der Kinder zu Eisleben, seinem Bruder in dem Herrn. Gnade und Frieden! … Was Du kürzlich geschrieben hast, dass meine Mutter am Kommen zum festgelegten Tag gehindert ist, habe ich erhalten. … Johannes Lutherlein geht es gut, wie es einem Kindlein möglich ist. Die Mutter leidet bisher an Milchmangel und benetzt mit wenigen Tropfen seinen Gaumen. … Grüße besonders Deine Elsa von uns. Wir wünschen ihr eine glückliche Geburt …
Ähnlich heutigen Fotoserien stolzer Eltern und Großeltern von ihren Nachkömmlingen wurde der erstgeborene Sohn in den Briefen des Vaters immer wieder erwähnt. Auch zu Luthers Zeiten tauschte man sich über seine Sprösslinge aus, wünschte sich gegenseitig Wohlergehen und teilte die Sorgen der Freunde um Familienangehörige. Die Flut der Bilder in den heutigen Familienalben lässt im Laufe der Jahre etwas nach, so auch die Bemerkungen über das Aufwachsen der Kinder. Doch über die frühe Kindheit des ersten Lutherleins, wie der Vater sein Söhnchen zärtlich nannte, erfahren wir viele Einzelheiten.
Der Kleine erhielt kurz vor seinem ersten Geburtstag von der nach dem Tode ihres Gatten zum Protestantismus übergetretenen Frau Dorothea Jörger von Tolleth in Oberösterreich ein kostbares Gewand. Dankbar schrieb Luther am 4. Mai 1527 an ihren Geistlichen Michael Stiefel, der seit Langem ein enger Freund des Ehepaares Luther war und seit 1523 immer wieder für längere Zeit Aufnahme in seinem gastlichen Hause fand: Deiner Herrin richte meinen, meines Hänschens und meiner Käthe Dank aus! Hänschen gebärdet sich in dem kostbaren Kleid, das du ihm geschickt hast, ganz stolz. Könnte ich ihr irgendwie dienen, würde ich mich gewiss freuen. Denn ich merke, dass Gott mit ihr ist. So verlief das erste Lebensjahr Hans Luthers in friedlicher und glücklicher Atmosphäre im Lutherhaus. Die Eltern richteten ihren stets wachsenden Hausstand weiter ein und wachten über das Gedeihen ihres Kindes, das sich zu ihrer Freude zu einem fröhlichen und starken Esser entwickelte und auf den Knien zu rutschen begann. Das Ehepaar legte hinter dem Hause einen Garten an und verlebte glückliche Wochen und Monate, die von einer weiteren Schwangerschaft der Mutter gekrönt wurden.
Doch plötzlich wendete sich das Blatt. In der Nacht vom 6. zum 7. Juli 1527 herrschte im Lutherhaus große Aufregung. Der Hausherr wurde an diesem Samstagmorgen von so großer Seelenangst befallen, dass sein Freund und Beichtvater Johannes Bugenhagen ihm schon um 8.oo Uhr morgens das Abendmahl reichen musste. Dann erholte sich der Kranke und folgte um 10.oo Uhr einer Einladung adliger Herren in das Wirtshaus von Paul Schultze. Von dort aus ging er mit Jonas in dessen Garten und blieb bis 14.oo Uhr. Da es ihm wieder gut ging, lud er den Freund und dessen Frau zum Abendessen ein. Kaum zu Hause angelangt erkrankte Luther um 18.oo Uhr schwer. Am nächsten Morgen besuchte Jonas den im Bett liegenden Freund, der erst am Abend aufstand, um mit den Freunden zu speisen. Aufs Äußerste um die Seinen besorgt, fand der erstmals schwer leidende Familienvater in diesen Tagen nur einen Trost: Mein lieber Sohn und liebe Käthe, ich lasse euch nichts, aber einen reichen Gott habe ich, der ein Vater der Waisen und ein Richter der Witwen ist (Ps 68,6); den lasse ich euch. Er wird euch wohl ernähren.
Er war noch immer krank, als die Pest in die Stadt einzog. Die Universität wurde nun eilends nach Jena verlegt. Am 10. August traf ein Schreiben im Lutherhause ein, in dem der sich noch in Torgau aufhaltende Kurfürst Johann der Beständige den Professor besorgt aufforderte, sich mit der Familie ebenfalls nach Jena zu begeben und so sein Leben vor der Seuche zu schützen. Doch Luther und Bugenhagen harrten bei den Wittenbergern und den wenigen nicht aus der Stadt geflohenen Studenten aus. In der trügerischen Hoffnung, so der Krankheit weniger ausgesetzt zu sein, zog Stadtpfarrer Bugenhagen mit seiner Familie Mitte August in das Haus des noch immer leidenden Freundes ein. In diesen Tagen und Wochen der Sorge füllte sich das Lutherhaus immer weiter mit Freunden und Gästen, Gesunden und Kranken. Geboren werden und sterben, alles das fand hier plötzlich statt; alles das mit einem schwer erkrankten Hausherrn und einer hochschwangeren Hausfrau, die beide wohl sehr viel weniger Zeit und Kraft für ihr nun gut eineinhalbjähriges Söhnlein Johannes hatten. Zu ihrem Entsetzen erkrankte Hänschen Ende Oktober an schwerem Fieber. Luther berichtete am 4. November 1527: Ich weiß eigentlich nicht, was ich schreiben soll, mein lieber Jonas, ich, der ich vor Unruhe und Kleinmut kaum Atem holen kann. … Da nun alle vor Furcht zittern, habe ich den Pfarrer (Bugenhagen) mit seiner Familie in meinem Haus aufgenommen. Meine Käthe ist bis jetzt stark im Glauben und gesund. Mein Hänschen liegt schon acht Tage an einer noch ungeklärten Krankheit darnieder (wie ich beinahe vermute, an der Krankheit dieser Zeit), es sollen die Zähne sein, und so glaubt man es. Nach der Frau des Kaplans gab es gestern und heute keinen Sterbefall. Christus möge bewirken, dass diese Pest aufhört. In der Fischervorstadt ist sie zwar schon abgeklungen, und sie beginnen dort wieder mit Hochzeiten und nehmen ihre Vergnügungen wieder auf. Etwas Gewisses kann man jedoch nicht sagen. Denn vor acht Tagen hatte die Pest in der Stadt beinahe aufgehört, so dass noch nicht einmal an jedem Tag ein Todesfall war, aber plötzlich änderte sich die Luft. Innerhalb von zwei Tagen gab es an einem Tag gleich 12 Tote, wenn freilich auch zum größten Teil Kinder. Die Frau Augustins lag acht Tage und länger krank an einem inneren Geschwür. Man vermutete natürlich nichts anderes als die Pest, aber sie erholte sich wieder. Margarethe von Mochau liegt ebenso bei mir darnieder, man spricht von einer Menstruationskrankheit, befürchtet jedoch die Pest. Siehst Du nur die Vermutung, lebe ich in meinem Hause inmitten der Pest; wenn Du die Sache in Wahrheit betrachtest, sind es Leben und Heil, allerdings unter Versuchungen. … Meine Frau Käthe grüßt Dich und beklagt sich, dass Du uns nicht besuchst, da doch in unseren Grenzen Frieden herrscht. Dich grüßt Pomeranus (Bugenhagen), der heute zur Reinigung seines Leibes ein Abführmittel genommen hat …
Die vielen Schwerkranken im Hause zwangen das Ehepaar dazu, sich auf eine Stube zu beschränken. Der besorgte Vater räumte sogar seine Kammer (seine Studierstube?), um seinem kranken Kinde Ruhe zur Genesung zu verschaffen.
Dreimal habe ich im Hause die Pest gehabt; über acht Tage war mein Söhnchen krank, aß nichts und lebte nur vom Trinken, dass ich verzweifelte; jetzt fängt es an, ihm wieder besser zu gehen. D.Martin Luthers Briefe, ausgewählt von Georg Buchwald, Leipzig und Berlin, B.G.Teubner Verlag 1925, S.161, Nr. 222
Hoffnung wuchs in dem Vater erst am 11. November, und er teilte Jonas mit: Mein Hänschen kann dich wegen seiner Krankheit noch nicht grüßen, aber er bittet dich, für ihn zu beten. Heute sind’s zwölf Tage, dass er nichts gegessen hat und nur durch Trinken einigermaßen ernährt worden ist. Jetzt fängt er wieder an ein wenig zu essen. Wunderbar, wie gern das Kind nach seiner Weise fröhlich und stark sein möchte, aber er ist noch zu schwach dazu. Hänschen erholte sich und konnte zum Jahreswechsel nicht nur stehen, sondern auch die ersten Schritte machen, konnte nicht nur lallen, sondern erste Worte sprechen. Überdies wurde ihm am 10. Dezember ein Schwesterchen geschenkt, Elisabeth. Jahre später wird Hans darüber nachgedacht haben, wie die Eltern das wohl alles durchgestanden haben.
Luthers Freunde waren über die Genesung des Kindes beinahe genauso erleichtert wie die Eltern selbst. Zum Neuen Jahr 1528 und aus Freude über seine Genesung erhielt Hänschen von seinem Paten Justus Jonas »einen silbernen Hans«, eine Münze mit dem Bild des Kurfürsten Johann des Beständigen. Im Sommer schenkte Nikolaus Hausmann dem Zweijährigen eine Kinderklapper, ein hochwillkommenes und damals allgemein beliebtes Kinderspielzeug, das auch Lärm machen kann. Es war die Zeit, in der die Eltern das Schwesterchen Elisabeth zu Grabe tragen mussten und gewiss dankbar für den fröhlichen Lärm des Kleinen waren. Mit welchem Jubel mögen sie dann die Geburt der kleinen Magdalena gefeiert haben! Der Sohn ging inzwischen völlig arglos auf kleine Abenteuer aus und wurde dabei vergnügt vom Vater beobachtet, der Jonas am 19. Oktober 1529 mitteilte: Mein Hänschen hat heute gelernt, mit gebückten Knien allein in jeden Winkel zu machen, ja, tatsächlich in jeden Winkel hat er gemacht mit wunderbarer Geschäftigkeit. Sonst hätte er mehr an dich aufgetragen, wenn er Zeit gehabt hätte. Denn bald danach ist er gebadet worden und hat sich zur Ruhe begeben.
Kinderklapper aus dem Besitz der Familie Luther, 15.–16. Jahrhundert
Man soll die Kinder Lesen und anderes Wissen lehren, solange sie jung sind und Zeit haben, geeignet und begierig dazu sind. Luther, An die Ratsherren, 1524
Doch die unbeschwerte Zeit der Kindheit des kleinen Hans neigte sich schon um seinen vierten Geburtstag herum ihrem Ende zu. Der auf Zuverdienst angewiesene Theologiestudent Hieronymus Weller zog ins Lutherhaus und wurde Hänschens erster Lehrer. Damit war das Kind natürlich privilegiert, denn Gleichaltrige hatten oftmals schon zum Leben der Familie beizutragen. Sie mussten kleinere Geschwister beaufsichtigen, beim Spinnen helfen, sich als Gänsehüter verdingen oder im Haushalt, im Handwerk des Vaters, im Garten, im Weinberg und auf dem Acker helfen. In Mühlhausen in Thüringen wurde sogar einmal eine Mutter vom Stadtgericht zur Rechenschaft gezogen weil ihr Sohn als Hütejunge versagt hatte. Kinder unter fünf bis höchstens sieben Jahren hatten bei der Getreideernte den ersten Halm zu schneiden oder das erste Strohseil zu winden, und selbst das erste Obst, das ein junger Baum trägt, ließ man möglichst von einem kleinen Jungen pflücken, denn das verspricht im Volksglauben für die Zukunft höhere Erträge und Glück. Die Zünfte nahmen Lehrlinge im Alter zwischen 12 und 14 Jahren auf. Die Lehrzeit dauerte, je nach Handwerk, durchschnittlich drei Jahre. Das bedeutet, manche Gesellen waren erst 15 Jahre alt. Lehrlinge arbeiteten im Durchschnitt 15 Stunden und das in den protestantischen Ländern sechs Tage die Woche. In katholischen Ländern hatten alle Arbeiter durch zahlreiche arbeitsfreie Festtage der Heiligen auch mehr Freizeit. Die wurde durch Gottesdienste, Prozessionen und ähnliche kirchliche Veranstaltungen zur seelischen Erbauung genutzt. 1524, also noch bevor Luther die Mönchskutte ausgezogen und sogar geheiratet hatte, erschien sein Sendbrief »An die Ratsherren aller Städte Deutschlands, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen«. Diese Schrift des Reformators ist angesichts der heutigen Bildungsmisere an Aktualität kaum zu überbieten. Sie bietet erstaunliche Einsichten in Pädagogik und den Sinn und die Finanzierung eines Schulwesens. Luther betonte das Recht der Kinder auf Ausbildung, erkannte ihr Streben nach Lernen. Er wusste sogar, dass es »spielerisch« am besten geht.
Ratsherrenschrift
Wenn ich Kinder hätte und es vermöchte, müssten sie nicht nur Sprachen und Geschichte lernen, sondern auch Singen und die Musik mit der ganzen Mathematik. Luther, An die Ratsherren, 1524
Luther wusste schon lange vor der Geburt seines ersten Kindes: Will man die Welt, die sie regierenden Behörden und Gewerbe erhalten, will man Frauen haben, die Haus, Kinder und Gesinde sorgfältig erziehen und halten, muss man Knaben und Mädchen gut unterrichten und erziehen.
Weil aber das junge Volk hüpfen und springen und immer etwas zu tun haben muss, wozu es Lust hat und was ihm nicht verwehrt werden kann, was ihm auch tunlichst nicht verboten werden sollte, … die Kinder mit Lust und spielend lernen können … Luther, An die Ratsherren, 1524
Weller berichtete im Juni 1530 dem Vater, der sich wegen des Reichstages zu Augsburg monatelang auf der Coburg aufhalten musste, Hänschen sei ihm ein fleißiger und aufmerksamer Schüler. Martinus, der sich nach Frau und beiden Kindern sehnte, erwies sich erneut als ein sehr einfühlsamer Vater und schrieb dem Vierjährigen am 19. Juni 1530 einen der schönsten und berühmtesten Briefe an einen kleinen Schulanfänger.
Meinem herzlieben Sohn Hänschen Luther in Wittenberg. Gnade und Friede in Christus! Mein herzlieber Sohn, ich höre sehr gerne, dass du eifrig lernst und fleißig betest. Tu das, mein Sohn, und fahre darin fort. Wenn ich heimkomme, will ich Dir ein schönes Marktgeschenk mitbringen.
Ich weiß einen hübschen, schönen Lustgarten. Da gehen viele Kinder drin, haben goldene Röcklein an und lesen schöne Äpfel unter den Bäumen auf und Birnen, Kirschen, Mirabellen und Pflaumen, singen, springen und sind fröhlich. Sie haben auch schöne kleine Pferdlein mit goldenen Zäumen und silbernen Sätteln. Da fragt ich den Mann, des der Garten ist, wem die Kinder gehören. Da sprach er: Es sind die Kinder, die gern beten, lernen und fromm sind. Da sprach ich: Lieber Mann, ich habe auch einen Sohn, der heißt Hänschen Luther; könnte er nicht auch in den Garten kommen, dass er auch so schöne Äpfel und Birnen essen und so feine Pferdlein reiten und mit diesen Kindlein spielen dürfte? Da sprach der Mann: Wenn er gerne betet, lernt und fromm ist, so soll er auch in den Garten kommen, Lippus und Jost auch. Und wenn sie alle zusammen kommen, so werden sie auch Pfeifen, Pauken, Lauten und allerhand anderes Saitenspiel bekommen, dürfen auch tanzen und mit kleinen Armbrüsten schießen. Und er zeigt mir dort eine feine Wiese im Garten, zum Tanzen zugerichtet; da hingen lauter goldene Pfeifen und Pauken und feine silberne Armbrüste. Aber es war noch früh und die Kinder hatten noch nicht gegessen. Darum konnte ich nicht auf den Tanz warten und sprach zu dem Mann: Ach, lieber Herr, ich will schnell hingehen und das alles meinem lieben Sohn Hänschen schreiben, dass er gewiss fleißig lernt, eifrig betet und fromm ist, damit er auch in diesen Garten kommt. Aber er hat eine Muhme Lene, die muss er mitbringen. Da sprach der Mann: So soll es sein; geh hin und schreib’s ihm also.
Darum, lieber Sohn Hänschen, lerne und bete ja getrost und sage es Lippus und Jost auch, dass sie auch lernen und beten, so werdet ihr miteinander in den Garten kommen.
Sei hiermit dem lieben Gott befohlen und grüße Muhme Lene und gib ihr einen Kuss von meinetwegen. Dein lieber Vater Martin Luther. Luther, Werke, Weimarer Ausgabe, Briefe Band 5, S.377 f., Nr. 1595 (Paradiesgartenbrief)
Lippus und Jost, bzw. Philipp und Justus, waren Söhne von Melanchthon und Jonas und etwa gleichaltrige Spielgefährten Hänschens. Mit diesem Brief zeigte Luther nicht nur großes Verständnis und liebevolle väterliche Zuwendung für seinen Sohn. Er entwickelte aus der Flut von Paradiesvorstellungen, die nicht nur durch die Bibel, sondern in allen Religionen und in der Mystik des Volkes tradiert und mit dem Reich der Toten verbunden waren, eine ganz neue Vorstellung –