Maren Schönfeld

 

 

Wenn du Schmerzen hast,

gehe langsam

 

 

 

Verlag Expeditionen

Table of Contents

Vorwort

20. März 2014

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Anhang Teil I

Teil II Hilfsmittel

Biografie

Impressum

 

 

 

Vorwort

 

Krankheit ist in unserer Kultur ein Störfaktor. Die Ausrichtung auf Leistung und Selbstoptimierung möchte suggerieren, dass wir unser Leben, unsere Gesundheit und unseren (beruflichen) Werdegang durch „gesunde“ Lebensweise mit entsprechender Ernährung und Bewegung voll und ganz selbst bestimmen können; Krankheit begreift sie nur als vorübergehende Störung, der man lieber nicht direkt ins Auge sieht.

In unserer hoch entwickelten medizinischen Versorgung wird es schon eine Pille dagegen geben. Und mit etwas gutem Willen wird man diese Störungsphase schnell überwinden und weitermachen können wie vorher.

Die Fernsehwerbung für Mittel gegen Erkältung suggeriert auf nahezu lächerliche Art, man sei als erkälteter Mensch nicht mehr man selbst; nach Einnahme des Medikaments aber sei die Erkältung wie weggezaubert und das „normale Leben“ könne weitergehen. So lustig das in einem TV-Spot wirkt, so traurig ist es in der Realität. Denn wir gestehen uns keine Schwächen mehr zu und sehen der Tatsache, dass es früher oder später jeden von uns treffen wird, nicht ins Auge: Alter, Krankheit, Tod. Damit spalten wir einen Teil unseres Daseins ab. Und wir lassen diejenigen allein, die in diesen Lebensphasen sind.

Wir reagieren auf Krankheit entweder unmutig und ungeduldig (da muss man doch was machen können!) oder wenden uns erschüttert und überfordert von den Betroffenen ab. Aber es bedeutet nicht das Ende der Lebensfreude, wenn man mit einer Krankheit lebt!

 

Mit diesem Buch möchte ich zur Verständigung zwischen Gesunden und Kranken beitragen. Es gibt Einblicke in meinen lebenswerten Alltag mit chronischen Schmerzen. Ich hoffe, dass es Fragen aufwirft, die aus dem Schweigen heraus zu einem Austausch zwischen Gesunden und Kranken führen mögen.

 

Außerdem möchte ich allen, die mit chronischen Schmerzen leben müssen, Mut machen und mit ihnen meine Strategien und Hilfsmittel teilen. Denn letztlich kann uns niemand die Schmerzen abnehmen, wir müssen allein damit fertigwerden. Kein Grund zu verzweifeln, sondern ein Anlass zu kämpfen und sich den Herausforderungen zu stellen.

 

Maren Schönfeld

 

 

Strategie des Schmerzes

 

Du hast mir den Rücken gebeugt

mir im Nacken gesessen

meine Träume aufgezehrt

mir die Zeit gestohlen

und jetzt, ausgerechnet

nimmst du dir meine Schritte

mit denen ich dich so oft

fliehen konnte, am Flusslauf

entlang, dir entkam für die Weile

des Weges nach Teufelsbrück

 

Jetzt grübele ich

über meinen nächsten Zug:

Werde ich dir

noch einmal voraus sein?

 

(2016)

20. März 2014

 

 

Liegen auf der Seite nur noch rechts

mit einem großen Kissen zwischen den Knien

und links der Brand aus den Wirbeln

aus der Hüfte der Brand bis ins Bein

 

Gegen die Kälte ein Warmie

und gut zureden dem Gelenk

gut zureden den Wirbeln

gut zureden den Muskeln, den Nerven

ein bisschen ausklopfen den Brand

behutsam bewegen

 

Die Dünnheit der Haut in Lavendel ölen

ihr eine Schicht Betäubung aufstreichen

der Schmerz vergisst sich nicht

und ich kann ihn nicht vergessen

das nennen die Ärzte Schmerzgedächtnis

 

12775 Tage Schmerz, so ungefähr

1-2-7-7-5 wie eine Telefonnummer

die ich nicht wähle, doch von der angerufen

wird täglich

 

Nach 3650 Tagen kam Wut

am 4745. Tag kam Hass

dem ich nicht mehr weglaufen konnte

 

Am Tag 5110 gelang es mir nicht

mich mittels Tränen aus meiner Haut zu spülen

und es begann die Zeit der langen Spritzen

und der langen Wege

Nach 5480 Tagen sprach Gott zu mir

und verlieh dem Schmerz eine Stimme

dass ich die Welt neu erkannte

auf meinen langsamen langen Wegen

 

Der Schmerz gebar die Kunst

und zwang mich frei zu werden

zwang mich in die Intensität

nur deshalb habe ich ihm verziehen

und wir lebten ein paar Jahre zusammen

wie ein altes Ehepaar, das sich mal auf die Nerven geht, doch aneinander gewöhnt ist

 

Um den 7300. Tag plötzlich

versuchte der Schmerz mich zu töten

ganz aus heiterem Elbhimmel

durchschlug er mir den Leib

dass ich mich nicht mehr rühren konnte

und selbst beim Atmen ließ er mich spüren

dass er alles andere als fertig war mit mir

 

Doch statt zu sterben, was durchaus verlockend klang

ging ich in die bunte Welt

der Pharmazie und Betäubung bekam

eine neue Dimension, auch die Nadel

in meine Vene und dann die Welle

der langsamen Empfindungslöschung

vom Scheitel bis in die Zehen

die sich nur beim ersten Mal anfühlt

wie ein Windhauch aus dem Paradies

 

Nach 11680 Tagen war groß mein Terrain

an dessen Peripherie der Schmerz wartete

mich nicht aus den Augen ließ

bis ich mir einbildete ihn unter Kontrolle zu haben

das konnte er nicht auf sich sitzen lassen

 

Um den 12410. Tag herum

stürzte aus seinem Hinterhalt

der empörte Schmerz und verbiss sich

in meiner Seite wie ein Pitbull ohne Beißhemmung

und da hängt er nun und gräbt tiefer die Zähne

und führt mir vor, wie einfältig ich war

zu glauben, ihn kontrollieren zu können

mit Betäubung und lächerlichem Sport

 

Also kämpfen wir wieder und kämpfen

doch ich hasse nicht

hadere nicht

und weine nur noch aus Erschöpfung

 

Der Schmerz lehrte mich zu sehen

er zwang mich stark zu sein

er versöhnte mich mit dem Tod

der Schmerz trieb mir die Ängste aus

er lehrte mich, Leichtigkeit zu schätzen

indem er sie mir nahm

 

Immer wieder zwingt er mich hinunter

in mein kargstes Dasein, wo nur noch

Atmen zählt und Schlaf nur

Frieden bedeutet

Was alles könnte ich ohne den Schmerz

was alles könnte ich ohne ihn nicht

 

Wie ein inneres Organ ist der Schmerz

oder wie eine Infektion, die voranschreitet

die unverrückbar ist in mir

die mich fordert zum Kampf und

zum Kampf und noch einmal

zum Kampf und ich zähle es

nicht mehr, das Aufstehen

 

Kapitel 1

Meine gesundheitliche Geschichte

 

„Sie sind aber gelenkig!“ Wie oft habe ich das gehört, von Orthopäden, Physiotherapeuten, Allgemeinärzten und von meinem Schmerzmediziner. „Erstaunlich, dass Sie sich noch so gut bewegen können!“ Da klingt Bewunderung durch, ich fühle mich, als sei es mein Verdienst, als hätte ich den Beeinträchtigungen durch meine Hüften und meine Wirbelsäule ein Schnippchen geschlagen. „Ja, ich mache regelmäßig Yoga“, sage ich stolz und mein Gegenüber nickt. „Toll!“

Es soll bis zu meinem 44. Lebensjahr dauern, bis ich eine Begegnung ganz anderer Art erlebe. Wieder bei einem Arzt, wieder eine Untersuchung, wieder verbiege ich mich hin und her und denke stolz, dies ist das einzige, was echt gut ist bei mir. Doch statt der erwarteten anerkennenden Miene setzt der Arzt eine sorgenvolle auf. Ich soll die Arme und Beine durchstrecken. Dann höre ich den Satz, der alles verändern wird: „Ihr Problem sind nicht Ihre Hüften, Ihr Problem ist die Hypermobilität1.“ Dieser Satz setzt einen Prozess der Recherche in Gang, der mir mein eigenes Krankheitsbild, über das ich Bescheid zu wissen glaubte, in neuem Licht zeigt. Ich bekomme viele Antworten, aber es werden gleichzeitig noch mehr Fragen aufgeworfen. Nach der ersten Phase der Neuigkeiten, des Lernens und des Austauschs, in der ich von vielen kompetenten Menschen beraten werde, kommt die wichtigste Erkenntnis: Meine Strategien, mit den Schmerzen zu leben, sind richtig.

 

 

Geburt bis 7 Jahre, 1970-1977

Als ich nach einer schweren Geburt Ende 1970 zur Welt komme, sieht alles normal aus. Doch als ich ungefähr neun Monate alt bin, entdeckt meine Großmutter, dass meine Beine unterschiedlich lang sind. Es gibt noch keine Ultraschalluntersuchung. Beim Röntgen stellt sich heraus, dass meine Hüftpfannen fehlgebildet und zu steil sind. Außerdem ist das linke Bein nicht im Hüftgelenk verankert. Es ist eine beidseitige Hüftdysplasie und linksseitige Hüftluxation. Die Ärzte stoppen das Wachstum des „kürzeren“ Beines und befördern das „längere“ langsam ins Hüftgelenk. Das Ganze geschieht mittels Gips und Spreizhose in den folgenden anderthalb Jahren. Für diese Zeit bin ich von der Taille abwärts fixiert und damit bewegungsunfähig. Ich passe nicht in den Kinderwagen, sodass ich fortan im Bett liegen muss.

Da ich wegen des Gipses schwer bin, kann die Familie mich nicht lange umhertragen. Meine Familie legt mich ans Fenster, wo ich einen großen Baum sehen kann. Die Kante des Gipses drückt sich trotz bestmöglicher Abpolsterung auf Taillenhöhe in die Wirbelsäule und verbiegt sie nach innen, was ein extremes Hohlkreuz (Lordose) verursacht. Zwei Wirbel, auf die die Gipskante drückt, drehen sich zur Seite weg. Regelmäßig wird der zunächst angebrachte Gips aufgesägt.

Ich flippe aus und bin nicht zu beruhigen, wenn ich Menschen in weißen Kitteln sehe. Der Hausarzt kommt nur noch in Freizeitkleidung. Später, als meine Großmutter mit mir in die Schlachterei geht, um dort einzukaufen, schreie ich den ganzen Laden zusammen, weil die Verkäufer weiße Kittel tragen.

Doch was die Beine angeht, ist die Maßnahme erfolgreich: Zwar haben die zu steilen Hüften 170 statt 145 Grad Neigung und es fehlen an den Hüftpfannen jeweils zwei Zentimeter, was den Gelenken zu viel Spielraum gibt – aber ich stelle mich hin und lerne mit zweieinhalb Jahren langsam laufen. Zunächst bekomme ich eine dicke Schaumstoffmatte in mein Laufgitter, und die Familie wartet gespannt darauf, dass ich mich auf die Füße stelle. Sie dürfen mich nicht hinstellen, so die Weisung des Arztes. Eine Krabbelphase erlebe ich nicht, sitze nur in meinem Schaumstofflaufgitter. Aber eines Tages stehe ich da und halte mich am Gitter fest. Ich bewege mich im Schneidersitz vorwärts, bis ich richtig laufen kann.

Ich kann mich beim Hinfallen nicht abstützen, diese Reflexe habe ich nicht entwickelt. Mühsam lerne ich, so zu fallen, dass ich mir nicht das ganze Gesicht aufschlage. Überhaupt falle ich ständig hin, denn mein Gleichgewichtssinn ist schlecht und wird sich erst im Erwachsenenalter bessern. Es ist schwer für mich, Fahrradfahren zu lernen. Am Rollschuhlaufen verzweifele ich und gebe es auf, Schlittschuhlaufen erspare ich mir gleich. Ich kugele mir oft ein Bein aus. Wenn ich eine Treppe hinaufgehe, ist plötzlich das Bein nicht mehr an seinem Platz. Mit einer Drehbewegung nach außen befördere ich es an die richtige Stelle zurück.

Ich bin sehr empfindlich. Was andere als Kitzeln oder Knuffen empfinden, tut mir weh. Ständig habe ich blaue Flecken. Meine Haut fühlt sich samtig und weich an, sieht aber seltsam aus: Sie ist an Armen und Beinen übersät mit kleinen roten Punkten, die sich teilweise erhaben anfühlen. Ich mag mich nicht mit anderen Kindern balgen, auch weil ich ein leichtes Ziel für Übergriffe bin. „Was hast du da für Pickel?“, fragen mich andere Kinder oder hänseln mich wegen meines eierigen Gangs und meiner X-Beine. Ich habe ständig Angst, dass ich hinfalle oder geschubst werde.

Im Sandkasten zieht mir ein Junge mit solcher Wucht eine Metallschaufel über den Kopf, dass eine Osteopathin 30 Jahre später die Stauchung in der Halswirbelsäule aufspürt. „Kriegen“ und die meisten derartigen Kinderspiele versuche ich zu vermeiden. Die anderen Kinder empfinde ich nicht als Kameraden, sondern eher als Bedrohung – mit wenigen Ausnahmen. Ich ziehe mich zurück und entdecke das Lesen. Ich liebe es, wenn meine Eltern mir vorlesen (z. B. Wilhelm Busch) und werde so zur Leserratte, kaum dass ich lesen kann. Eins meiner ersten Bücher ist „Lüttjemann und Püttjerinchen“ von Hermann Löns, es ist in Schreibschrift gedruckt und ich lese es, bis ich es nahezu auswendig kenne.

 

Im Schwimmkurs ertrinke ich fast, als ich am Ende der Stunde eine kleine Strecke im Schwimmerbecken zurücklegen soll. Meine Beine sind taub, weil ich mich überanstrengt habe. Wie ein Stein sinke ich zu Boden. Der Schwimmlehrer fischt mich mit einer Stange aus dem Becken. Ohnehin ängstlich, habe ich jetzt nahezu Panik vor tiefem Wasser. Zur Kräftigung der Muskulatur soll ich zum Ballettunterricht gehen, so die Empfehlung meines Orthopäden. Der Ballettlehrer ist streng, und ich als ungeschicktes, langsames und leicht pummeliges Kind, das sich einfachste Schrittfolgen nicht merken kann, passe nicht in sein Schönheitsideal der Primaballerina. Da fühle ich mich wie ein Elefant im Porzellanladen. Die alte Mutter des Lehrers sitzt mit strengem Haarknoten am Klavier, seine Befehle tönen durch den Raum. Meine erstaunliche Gelenkigkeit versöhnt ihn ein bisschen mit meinen Defiziten. Der „Frosch“, bei dem man auf dem Bauch oder Rücken mit gespreizten Beinen liegt, die Fußsohlen aneinandergelegt und Knie sowie Unterleib beziehungsweise Gesäß auf den Boden drückt, bereitet mir ebenso wenig Mühe wie der gespreizte Spagat. Drehen und wenden kann ich mich hervorragend. Nur an Muskelkraft mangelt es, und ich knicke ständig um. Der Orthopäde attestiert „weiche Gelenke“ und „Bindegewebsschwäche“, empfiehlt aber die Fortsetzung des Ballettunterrichts. Ich gehe zutiefst ungern hin und habe Angst vor dem Ballettlehrer, der Kinder schon mal in den Spagat bis auf den Boden drückt und, wenn ihm dessen Haltung missfällt, den einzigen Jungen der Gruppe mit einem Besenstiel im Rücken die Übungen absolvieren lässt. Die Stunde dauert endlos, und ich bin jedes Mal wie befreit, wenn ich mich umziehen und das Ballettstudio verlassen darf. Meine Bücher erwarten mich zu Hause und sind meine größte Freude.

 

 

8 bis 14 Jahre, 1978-1984

Sport wird nicht mein Lieblingsfach. Ich bin langsam und werde stets als allerletzte in eine Mannschaft gewählt. Im Stehen oder Gehen fühle ich mich wackelig und unsicher. Wenn ich meine Beine überanstrenge, werden sie taub, und ich falle um.

Das nutzen andere Kinder aus und schießen mich mit Hand- und Medizinbällen ab, wenn ich im Tor stehen muss, weil ich nicht schnell genug laufen kann.

Dann beginnt im Ballettunterricht der Spitzentanz mit den klassischen Spitzenschuhen, in deren vorderer Hälfte eine Metallkappe eingearbeitet ist. Wegen der Metallkappe ist der Fuß starr eingebettet. Nun knicke ich über die ganze Fußlänge um und falle in jeder Ballettstunde mehrmals hin. Bald beginnt eine Stelle an der linken Fußsohle, direkt vor der Ferse, anzuschwellen und zu schmerzen, und zwar bei jedem Schritt. Bis zu diesem Tag fühlte ich mich zwar schwach, hatte das Problem mit den blauen Flecken, aber keine dauerhaften Schmerzen. Die werden mir von jetzt an erhalten bleiben.

Mit dem Ballettunterricht ist es vorbei. Die ganze Schinderei der vergangenen vier Jahre, alles hatte ich gegeben, um eine elegante und leichtfüßige Tänzerin zu werden – daran ist nicht mehr zu denken. Stattdessen beginnt die Arzt-Odyssee.

Der zunächst aufgesuchte Orthopäde, der mich seit der frühesten Kindheit begleitet und den Ballettunterricht empfohlen hat, weiß keinen anderen Rat, als eine große Spritze in die schmerzende Stelle zu geben.

Ich würde ihn am liebsten ermorden für die Schmerzen, die das auslöst, ohne dass eine Besserung eintreten wird. Die Einlagen, die ich trage, seit ich laufen kann, helfen auch nicht – im Gegenteil, die Wölbung zur Stützung des Mittelfußes schmerzt jetzt an der besagten Stelle vor der Ferse.

In den nächsten Jahren folgen Behandlungen bei weiteren Orthopäden mit Gehgips, Liegegips, Fangopackungen, Wärme, Kälte.

Als während des Tragens einer Gipsschiene auch der rechte Fuß zu schmerzen beginnt, schneide ich die Schiene ab und gebe es auf, weiter mit orthopädischen Maßnahmen herumzuprobieren. Meine Familie begleitet mich zu einem orthopädischen Schuhmacher, der mir Kräutertinkturen empfiehlt und mich sogar zum „Besprechen“ zu einer lieben alten Dame schickt, die ihre Hand auf meinen Fuß legt, zu schwitzen beginnt und mir traurig mitteilt, sie könne diesen großen Schmerz nicht aus mir herausholen. Trotzdem ist es nach dem Besprechen für einige Tage etwas besser.

Nach Jahren des Herumprobierens werfe ich als Teenager die Einlagen in die Ecke und trage alles, was cool ist. Die Schmerzen bleiben unverändert und lassen sich manchmal durch die Kräutertinkturen, ähnlich wie Franzbranntwein, lindern. In dieser Zeit komme ich zum ersten Mal zu einer Art Grundhaltung, die mich mein Leben lang nicht mehr verlassen soll: Wenn mir keiner helfen kann, helfe ich mir eben selbst. Zuerst besteht die Hilfe nur aus der mentalen Stärkung, endlich – zum ersten Mal! – modische Schuhe zu tragen statt der hässlichen Halbschuhe zum Schnüren. Die Schmerzen sind ja ohnehin da. Später werde ich diese Haltung ausbauen und mir damit selbst mehr helfen als die meisten Arztbesuche zusammengenommen. Immerhin stellt der Orthopäde mir Atteste zur Befreiung vom Sportunterricht aus.

 

Als ich ungefähr 12 Jahre alt bin, erlebe ich zum ersten Mal einen Gottesdienst. Ich habe zwar eine Kinderbibel, bete hin und wieder – besonders, wenn ich in Bedrängnis bin –, aber an einem Gottesdienst habe ich noch nicht teilgenommen. Jetzt kommt es dazu, weil ich zu einer Konfirmation eingeladen bin. Die schöne St. Cosmae et Damiani-Kirche in der Stader Altstadt beeindruckt mich, und ich bin sehr ergriffen von dem, was ich dort erlebe. Die Konfirmandinnen halten Maiglöckchensträuße in den Händen. Ich sitze neben meinem Vater und kann die Tränen kaum zurückhalten. Es fühlt sich alles richtig an, ich bin hier richtig.

Eine tiefe Gewissheit macht sich in mir breit, dass ich hier hingehöre, dass ich angekommen bin. Und angenommen. Ich spüre einen so umfassenden Frieden in mir, wie ich es zuvor nicht erlebte. Plötzlich weiß ich, dass ich konfirmiert werden möchte, es ist ein dringender, ein großer Wunsch. Diese Kraft, die ich plötzlich in mir fühle, muss ich nicht benennen oder definieren. Sie wird mich tragen, ich brauche sie, ich brauche Gott.

Verwundert nimmt meine Mutter meinen Wunsch auf. Wir sind gut situiert, und es bedürfte keiner Konfirmation, um mir eine Stereoanlage (weshalb viele konfirmiert werden wollten) zu kaufen. Aber die Stereoanlage interessiert mich nicht im Geringsten.

Als meine Mutter das versteht, meldet sie mich zum Konfirmandenunterricht an, ich werde getauft und konfirmiert. Mein Vater schenkt mir ein kleines Kreuz aus funkelnden Zirkonia-Steinen, das ich bis heute trage. Wie sehr ich –bei allem Hadern mit Gott, bei allen Zweifeln über die Kirche und mehreren negativen Erlebnisse in Gemeinden – Unterstützung, Trost und Zuversicht im Glauben finden soll, ahne ich noch nicht.

Mein Leserepertoire hat sich erweitert. Ich verschlinge Romane von Erich Kästner, Berte Bratt, Susanne Kilian, Christine Nöstlinger, Astrid Lindgren und Otfried Preußler. Das immerwährende Kalenderbuch „Seht, wie die Zeit vergeht“ mit Beiträgen von Alfons Schweiggert und vielen anderen lese ich bis heute gern, es hat mich in der Kindheit treu begleitet. Mein Großvater und ich reimen auf Spaziergängen. Es ist wie ein Leben in zwei Welten: die reale, in der mein recht unzulänglicher Körper mich ständig begrenzt, und die geistige, in der ich alle Grenzen und Schranken überschreite und wie Astrid Lindgrens Karlsson vom Dach einfach davonfliege. Habe ich Schule und Hausaufgaben erledigt, kuschele ich mich in meinen Sitzsack und lese – stundenlang.

In dieser Phase beginne ich Tagebuch zu führen und verfasse mein erstes Gedicht. Die positiven Auswirkungen des Schreibens sind mir noch nicht bewusst, aber ich merke, wie gut es mir tut.

 

 

15 bis 21 Jahre, 1985-1991