Sebastian Thiel
Geheimprojekt
Flugscheibe
Kriminalroman
Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur Agentur Scriptzz
Beide Zitate von Anfang Kapitel 12: siehe Werner Jochmann (Hrsg.): Adolf Hitler – Monologe im Führerhauptquartier 1941–1944, München
Personen und Handlung sind frei erfunden,
soweit sie nicht historisch verbürgt sind.
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sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2015
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild
ISBN 978-3-8392-4858-4
»Wenn du einmal angefangen hast zu lügen, dann bleibe auch dabei.«
Joseph Goebbels
Propagandaminister Deutsches Reich, 1933
2. Februar 1945, Oranienburg, Deutsches Reich
Zum Teufel!
Erneut knurrte sein Magen. Diesmal war das Geräusch begleitet von einem stechenden Schmerz, der seinen Oberkörper durchzuckte. Er verzog das Gesicht und stützte sich an einem Pfahl ab.
»Vater? Geht es dir nicht gut?«
Heinrich Meißner rang sich ein Lächeln ab. »Doch, natürlich, Friedrich. Such du nur weiter.« Kurz streichelte er über das dichte braune Haar seines Sohnes, bevor dieser erneut über das Feld stapfte.
Meißner hielt sich den Magen. Bloß nicht schwach sein, zeig Stärke für den Kleinen!, sagte er sich. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das ganze gottlose Töten ein Ende haben würde. Im Osten stand der Iwan bereits vor den Toren des Reiches, Amerikaner und Tommys würden bestimmt nicht mehr ewig brauchen, um den Rhein zu überqueren. Sein Blick fiel auf seinen Sohn. Beflissen wühlte dieser sich durch den Schnee, grub das Feld mit bloßen Händen um, um vielleicht doch noch eine weitere liegen gelassene Steckrübe zu finden. Sein Atem bildete dabei kleine weiße Wölkchen, die sich im Morgengrauen schnell auflösten. Die Rationskarten reichten vorn und hinten nicht. Wenn sie zumindest noch ein paar Rüben finden würden, die seine Frau heute Morgen zubereiten könnte, bevor er zur Arbeit ging. Nur, damit dieser Schmerz endlich aufhörte.
Wer nicht bei seiner Arbeitsstelle erschien, stand im Verdacht, ein Verräter zu sein. Ganz davon abgesehen, dass er tatsächlich einer war. Aber durch Abwesenheit im Dienst würde er bestimmt nicht auffliegen! Nur noch wenige Monate musste er durchhalten, ohne entdeckt zu werden. Er durfte nicht aufgeben. Was sollten Friedrich und Ilse auch ohne ihn machen? Was würde passieren, wenn die deutschen Truppen in Panik verfielen und der Russe von Haus zu Haus zog? Wenn Hitlers Schergen jeden über die Schwelle zogen, der kämpfen konnte, und seinem Sohn und ihm ein Gewehr in die Hand drückten? Gestapo und SA besaßen Sonderrechte. Verdächtige wurden aufgeknüpft und Verräter mit einem Schild gekennzeichnet. Immer öfter waren die Leichen an den Bäumen nun zu sehen.
Meißner fuhr sich über die Schläfen. Schmerz bohrte sich in seinen Kopf, ein Schwindelgefühl überkam ihn, und er hatte das Gefühl, als könne er nicht mehr klar denken. Kaum gelang es ihm, ein Bein vor das andere zu setzen. In der Nacht war wieder Schnee gefallen. Jeder seiner mühevollen Schritte war von einem leisen Knirschen begleitet. Seine alte Beinverletzung schmerzte heftiger als sonst. Doch was grämte er sich, immerhin hatte dieses Schrapnell aus dem Großen Krieg dafür gesorgt, dass er als Beamter zu Hause seine Familie versorgen konnte. Bis jetzt.
»Schau, Vater! Hier ist noch eine!«
Meißner wischte über einen gefrorenen Klumpen Dreck. »Tut mir leid, das ist nur ein Stein.«
»Nein, schau doch, hier!«
Tatsächlich. Nur mit wachem Blick konnte man erkennen, dass es sich um eine Steckrübe handelte. Kaum größer als eine Zigarettenpackung, gerade genug für ein, vielleicht zwei Bissen. Guter Junge! Tief sah er seinem Sohn in die Augen. Er hatte nun das Alter erreicht, in dem sie ihn zu den Waffen rufen konnten. Verheizt, im Hochofen des Tausendjährigen Reiches. Um nichts in der Welt würde er das zulassen. Schnell packte er die Steckrübe in den Jutesack zu den anderen. Acht, nein, neun hatten sie bis jetzt gefunden. Wenn Ilse noch etwas Brot ergattern konnte, würde das eine sättigende Mahlzeit geben.
Schon flitzte der Junge wieder über den gefrorenen Acker. Fußspuren im Schnee zeugten davon, dass sie nicht die Einzigen waren, die nach Essbarem suchten. Natürlich nicht. Jeder, den er kannte, hungerte und verkaufte sein Hab und Gut, um die nächsten Tage zu überleben. Nur darum ging es noch … überleben.
Plötzlich sah Meißner sich um. Hatte er sich gerade verhört? Spielte ihm sein geschwächter Verstand einen Streich? Mit aller Kraft konzentrierte er sich und suchte mit den Augen den Himmel ab. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als sich ein todbringender Punkt am Himmel zeigte.
»Friedrich … Friedrich!« Seine schmerzende Beinverletzung ignorierte er, ließ hastig alles fallen und spürte, wie der Hut von seinem Kopf geweht wurde. »Komm zu mir!«, befahl er dem Jungen. Die wenigen Meter, die sie trennten, legte er im Sprint zurück, packte seinen Sohn am Kragen und zog ihn zu einer kleinen Böschung. Zu oft hatte er das schon erlebt. Der Iwan kam näher, Berlin war nicht weit entfernt. Auch der Flughafen der Heinkel-Werke war ein beliebtes Ziel.
»Zu den Bäumen?«, wollte Friedrich wissen.
Meißner schüttelte den Kopf, den Punkt am Himmel nicht aus den Augen lassend. »Dort geben wir nur bessere Ziele ab. Die Böschung am Feld bietet mehr Schutz.«
Hastig drückte er seinen Sohn zu Boden, schaufelte Schnee auf seine Jacke und zog ihm die Mütze vom Kopf. Erst dann begann er, seinen eigenen Körper zu bedecken. Seine Finger rissen an den scharfen Kanten des gefrorenen Schnees auf und waren bereits nach wenigen Sekunden taub.
Mit etwas Glück würden die Flieger sie nicht sehen.
»Sind das unsere?«
»Still jetzt!«
Die Geräusche wurden lauter und kamen direkt auf sie zu. Etwas stimmte hier nicht. Meißner hatte unzählige Male den dröhnenden Lärm des zweimotorigen Bombers Heinkel He 111 gehört oder das hohe Summen der Focke-Wulf Fw 190, die alle nur »Würger« nannten. In diesem Augenblick klang es völlig anders. Es glich einem Pfeifen, als würde man aus einem Ballon die Luft langsam herauslassen.
Friedrich drückte sich an seinen Vater. »Was ist das?«
Erst als sich das Flugobjekt direkt über ihnen befand, erkannte Meißner es. »Eine Messerschmitt Me 262. Der neueste Jagdbomber, mit Strahltriebwerk.«
»Ich meine das Ding dahinter.«
Auf einmal wurde Meißner so unbeschreiblich heiß, dass er das Gefühl hatte, er würde verglühen. Hätte sein Sohn es nicht auch gesehen, wäre er sicher, dass ihm der Hunger den Verstand geraubt hatte. Er wusste nicht einmal, wie er es beschreiben sollte. Ein flaches »Ding« schoss an die Messerschmitt heran, überholte sie mühelos und flog eine scharfe Rechtskurve. Während die Me 262 versuchte zu folgen, stieg die Scheibe weiter auf und setzte sich anschließend im Tiefflug hinter die Messerschmitt. Das Ding spielte regelrecht mit einem der neuesten Flugzeuge der Wehrmacht! Was um alles in der Welt besaß so eine Kraft? Meißner erkannte Eiserne Kreuze auf den Tragflächen. Sollte Hitler es tatsächlich doch noch geschafft haben, Wunderwaffen zu entwickeln, wie er seit geraumer Zeit propagierte? Ihm stockte der Atem. Was zum Teufel war das?
Als die Himmelsmonster außer Sichtweite waren, stand er eilig auf, fasste seinen Sohn am Arm und half ihm auf die Füße. Eilig klopften sie den Schnee ab, und Meißner zog Friedrich mit sich.
»Du wirst mit niemandem darüber reden, hast du verstanden?«
»Ja, Vater.«
»Du hast nichts gesehen und auch nichts gehört?«
»Nein, Vater.«
Eine Pause folgte, in der Meißner so schnell humpelte, wie er konnte.
»Wirst du es deinen Freunden sagen?«, wollte der Junge wissen.
Meißner stoppte in der Bewegung. Friedrich war klug und er selbst ein Narr, wenn er dachte, dass der Junge die nächtlichen Besuche und die geheimen Botschaften nicht mitbekommen hatte. Selbstverständlich würde er die Information weiterleiten. Es fühlte sich an wie tausend Nadelstiche in seinem Bein, als er sich hinkniete und seine Hände auf die Schultern seines Sohnes legte. »Niemals darfst du über meine Freunde reden. Hörst du? Niemals!«
Eifrig nickte der Junge, lehnte sich anschließend nach vorn. »Nicht so laut, da kommen Leute.«
Meißner hatte gar nicht mitbekommen, wie sich der Feldweg mit einer Handvoll Menschen gefüllt hatte. Auch sie trieb der Hunger hinaus auf die Felder. Er hätte sich ohrfeigen können. Meißner sah in die Richtung der Leute, die beflissen den Boden absuchten.
»Für einen von ihnen wird es eine schöne Bescherung geben, wenn er den Jutesack findet.«
»Nicht ganz.« Mit strahlenden Augen hielt Friedrich den Beutel nach oben.
Meißner nickte seinem Jungen zu, stützte sich auf ihn ab und blickte noch ein letztes Mal hinauf in den Himmel. Angst überkam ihn. Was hatte er da gerade gesehen, verdammt?
Elf Tage später, Düsseldorf
Die Welt um ihn herum brach zusammen.
Ganze Städte waren eingehüllt in giftigen Nebel, umschlossen von einer unsichtbaren Hand, die Tod und Verderben brachte. Stahlkolosse warfen Bomben ab und sprengten mit infernalen Explosionen alles weg, was gut und richtig war. Jegliche Menschlichkeit wurde ausgemerzt, bis nichts mehr übrig blieb als Leid und Pein.
Klock! Klock! Klock!
Menschen beklagten den Verlust ihrer Liebsten, in den Händen die toten Körper von Angehörigen. Ein Tuch aus Dunkelheit senkte sich über die Welt. Und hier, inmitten von Hass und Schmerz, wurde er zärtlich liebkost. Claires Finger streichelten sanft sein Gesicht, während Elsa seinen Kopf stützte. Sie sagten etwas, das er nicht verstehen konnte.
Klock! Klock! Klock!
Er wollte zuhören, jedes ihrer Worte in sich aufsaugen, doch der Lärm um ihn herum ließ es nicht zu. Die Gesichter der beiden Frauen verschwanden. Ein Gefühl von Schwäche überkam ihn, er wollte aufgeben, wollte zulassen, dass die Finsternis siegte und ihn hinabzog. Seine Lider waren schwer, das Innerste voll von schmerzhaften Gedanken. Als hätte jemand seine Seele herausgerissen und den verbliebenen Hohlraum mit Dunkelheit gefüllt. Über allem thronte die Fratze von Luger, seines Feindes. Seine Stimme hörte er. Tief und durchdringend wie die eines Sängers.
»Dieses Spiel hat bereits lange genug gedauert. Wenn Sie mich fragen, Brandenburg, waren Sie als Kommissar die größte Fehlbesetzung, seit Kaiser Caligula sein Pferd zum Konsul ernannte. Ich werde diesen Fehler nun korrigieren.« Er kam näher, das Grinsen wurde breiter. In seinen Händen hielt er den Kopf von Marie, der Tochter seines Freundes Erik. Die blonden Haare des jungen Mädchens waren durchtränkt von Blut. Luger lächelte, sah es an. »Dieses unschuldige Gesicht, diese kleinen Finger. Die Kleine war völlig geschockt, als man ihr sagte, dass ihr Vater ein Verräter war. Jetzt ist sie in guten Händen.«
Klock! Klock! Klock!
Er wollte Marie ergreifen, sein Patenkind, er hatte es Erik doch geschworen. Sich um sie zu kümmern, sie zu beschützen. Nikolas musste sie aus Lugers Klauen befreien. Nein, das war nicht möglich. Marie war seit Jahren tot. Er hatte an ihrem Grab geweint, für sie gebetet und Blumen abgelegt.
Luger wiegte sie in seinen Armen, begann, leise zu summen. Ein Wiegenlied für eine Tote. Es musste eine von Lugers Finten sein, ein Maskenspiel, um ihn zu verwirren. Er schrie so laut er konnte, ergriff Maries dünnes Ärmchen. Luger war übermächtig, keinen Zoll bewegte sich die Kleine. Sie weinte und rief seinen Namen.
»… ihr Vater, ein Verräter.«
Klock! Klock! Klock!
Nikolas Brandenburg schreckte hoch. Noch immer hämmerte sein Vater mit dem Gehstock gegen das Bett. Kopfschüttelnd sah er ihn an. »Schon wieder ein Albtraum?«
Nikolas atmete aus und ließ sich in das Kissen zurückfallen. Sein Schlafkleid war durchnässt von Schweiß, obwohl es um ihn herum grausig kalt war. »Ja, Vater.«
Eduard hatte Mühe, sich niederzulassen. Er ächzte bei jeder Bewegung und rückte das zugenähte Hosenbein zurecht, das seinen Beinstumpf verbarg. »Hast du oft in letzter Zeit.« Er sah ihn an, wie früher die Verdächtigen, als er noch bei der Polizei war. »Du redest im Schlaf.«
Nikolas fuhr sich über die langen Haare, die mittlerweile über seine Ohren reichten. Bei Gott, er brauchte dringend einen Haarschnitt – und eine Rasur. Zu schade, dass er als gesuchter Verräter nicht einfach in die Innenstadt spazieren und sich das Haupthaar trimmen lassen konnte.
»Etwas Wichtiges?«, wollte Nikolas wissen.
Eduard atmete tief. Nachdenklich trommelte er mit dem Ende seiner Gehhilfe auf den Holzboden. »Sie ist tot, Nikolas. Die Kleine ist auf der Brücke ums Leben gekommen, weil ihr Vater dumm genug war, sich mit dem Regime anzulegen.«
Nikolas wusste, dass sein Vater versuchte, seine Stimme weich und mitfühlend klingend zu lassen. Es misslang ihm völlig.
»Und ihren Namen im Schlaf zu rufen, bringt sie nicht wieder zurück«, fuhr er fort. »Egal, was Luger dir im Todesrausch versucht hat weiszumachen, es war eine Lüge, und das weißt du. Vergangenes ist vergangen.«
Doch wieso um alles in der Welt blieb da dieser Zweifel? Mehr eine Ahnung als ein richtiger Gedanke.
Eduard deutete mit einem Nicken in Richtung seines fehlenden Beins, dann stützte er sich auf der Krücke ab. Sein Blick ging ins Leere. Nikolas wusste sofort, dass er nicht sein fehlendes Bein meinte, sondern den Verlust von etwas anderem. Einer Person, die ihm immer Halt gegeben hatte. Wäre Mutter noch am Leben, wäre vieles anders gelaufen, versuchte er, sich einzureden. Doch sie war tot, lange Zeit schon. Ihr Tod hatte aus seinem Vater einen verbitterten Mann gemacht, der nur noch darauf aus gewesen war, Verbrecher zu jagen. Was wäre, wenn der Pelzhändler nicht die Kontrolle über seinen Wagen verloren hätte und sie noch am Leben wäre? Hätte sein Vater sich dann nicht in die Arbeit gestürzt und versucht, die Kriminalität im Alleingang zu zerstören? Es war die einzige Sache gewesen, die ihm noch etwas bedeutet hatte. Doch seit er sein Bein verloren hatte und somit seine Anstellung, hatte er nicht einmal mehr das.
Nikolas konnte seinen Vater mittlerweile besser verstehen. Schon immer war Eduard streng gewesen und hatte keine Schwäche zugelassen. Jetzt, da Nikolas selbst zwei Finger verloren hatte, bekam das Wort »Verlust« für ihn eine neue Bedeutung. Sein Beruf, seine Geliebte, die fehlenden Körperteile. Etwas, was vorher da gewesen war, würde nie wiederkommen. Der Krieg näherte sich seinem grausigen Ende, und es zeigte sich das ganze Ausmaß, was passierte, wenn man einem Mann alles nahm, das er liebte. Eduard Brandenburg war nicht mehr der allmächtige Kriminalrat, der Sturmbannführer und beste Kriminalist, den Düsseldorf je gesehen hatte, sondern nur ein alter Mann, dessen Überzeugungen nach und nach starben. Verstärkt durch den Tag einige Wochen zuvor, als er Nikolas das Leben gerettet hatte, vor einem Felsbunker in Haigerloch. Nun waren sie beide Verräter.
»Was der Herr nimmt, gibt er nie wieder zurück. Das solltest du am besten wissen«, murmelte sein alter Herr, fing sich wieder und fuhr mit dem Finger über Nikolas’ Verband. »Wie fühlst du dich?«
Nikolas drehte die linke Hand vor seinen Augen hin und her. Ein seltsamer Anblick war das. Ein Scharfschütze hatte ihm den kleinen Finger und den Ringfinger abgeschossen. Dort wo sie eigentlich sein sollten, presste sich rötlich gefärbter Stoff um die Stumpfe. »Um ganz ehrlich zu sein, schmerzt es.«
»Nun ja, es ist noch nicht lange her, seitdem …«
»Nein, du verstehst nicht, Vater. Die Kuppen der beiden Finger tun mir weh.«
Eduard schwieg einen Augenblick. »Das geht vorbei«, flüsterte er schließlich. »Und deine Bauchwunde?«
Nikolas tastete die Stelle ab. Elsa hatte gute Arbeit geleistet. Wie lange war das nun her? Tage? Wochen? Wo zum Teufel steckte sie nur?
Die Medizinstudentin hatte ihm Trost gespendet in den vergangen, dunklen Monaten. Doch auch sie war verschwunden, genau wie das kalte Gefühl in seinem Körper, als eine Kugel ihn am Bauch traf. Er blickte an sich herab. Lediglich eine rötlich schimmernde Verkrustung war noch zu sehen. Ein Streifschuss als Andenken an Sturmbannführer Luger. Nur wenige Zentimeter weiter in die Mitte seines Torsos und es wäre um ihn geschehen gewesen. Im Krieg lief vieles sehr schnell, etliches aber auch zu langsam ab. Die unendlich dauernden Schlachten waren nur ein trauriges Beispiel.
»Es geht schon, ich komme wieder auf die Beine.«
Eduard erhob sich schnaufend. »Damit solltest du dich beeilen, wir haben nämlich Besuch.« Abschätzend musterte er seinen Sohn. »Vorher solltest du dich aber ein wenig frisch machen. Es gehört sich nicht, seine Gäste im Nachthemd zu empfangen.«
Sofort schlug Nikolas’ Herz schneller. Nach den Ereignissen in der Versuchsanlage in Haigerloch hatten sie ihn und seinen Vater im Versteck der Résistance, der französischen Widerstandsbewegung, untergebracht. Ein altes, heruntergekommenes Landhaus am See, irgendwo zwischen Ratingen und Düsseldorf. Bald schon würde die Frontlinie hier verlaufen. Niemand konnte mehr übersehen, wie schnell sich die Tommys und Amis von Westen, der Russe von Osten her näherten. Die ursprüngliche Reichsgrenze war gefallen und die Schlacht um Aachen im Hürtgenwald dauerte nun bereits mehrere Monate. Laut den Reden des Propagandaministers und den Berichten der Wochenschau kämpfte die Wehrmacht einen verzweifelten, aber ruhmreichen Krieg im verschneiten Dickicht gegen die Zerstörung der deutschen Rasse. Nikolas wusste es besser. Ab und zu kam jemand vom Widerstand vorbei, brachte Essen, redete ein paar Takte über den Kriegsverlauf und sah nach seinen Verletzungen. Das kleine Radio mit Empfang der British Broadcasting Corporation tat ein Übriges. Aber um diese Zeit hatte ihnen noch niemand einen Besuch abgestattet. Wenn sich jemand hierher verirrte, konnte das nur eins bedeuten – Claire oder Elsa wollte ihn endlich sehen.
Allein dieser Gedanke ließ die Lebenskraft zurück in seine Glieder fließen. Hastig riss er die Decke zur Seite und erhob sich. »Ich warte unten«, sagte Eduard amüsiert und nahm schwerfällig die Treppe.
Die beiden Frauen hatten ihm gehörig den Kopf verdreht. Jede auf ihre Weise. Mit Claire, dem Todesengel mit den Eisaugen, hatte er die Zeit in Paris durchgestanden. Seite an Seite hatten sie gemeinsam mit der Résistance gekämpft, um deutsches Giftgas zu vernichten. Noch immer spürte er, wie ihre brünetten Haare seine Brust kitzelten, während sie ihn zärtlich küsste, und wie ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken lief, wenn ihre stets kalten Finger seinen Nacken streichelten. Doch dann hatte sie sich anders entschieden. Für den Krieg und gegen ihn. In diesen dunklen Stunden hatte er sich zu Elsa hingezogen gefühlt. Anfangs war es nur die körperliche Nähe gewesen, die er bei ihr gesucht hatte. Doch bald schon hatte er der hypnotischen Wirkung ihrer blauen Augen nicht mehr widerstehen können. Dabei fragte er sich immer noch, warum er so viel Glück hatte, dass zwei atemberaubend schöne Frauen sich mit ihm abgaben. Zumindest Elsa hätte ein so viel einfacheres Leben haben können.
Den Gedanken wischte er beiseite und schaute aus dem Fenster. Draußen im Schnee erkannte er Reifenspuren von zwei Autos. Es war spät am Abend. Niemand würde um diese Uhrzeit Essen bringen, die Sache musste also wichtig sein. Inständig hoffte er, dass er in wenigen Minuten die warmen Lippen einer Frau spüren würde. Es war einfach viel zu lange her …
Im Fenster spiegelte sich sein Antlitz. Sein dunkler Stoppelbart vermochte keine Härte in die feinen Gesichtszüge zu legen. Die milden, verstehenden Augen seiner Mutter taten ihr Übriges, dass sein Gesicht weich wirkte. In manchen Momenten wünschte er sich das dunkle Braun von Vaters Augen, welches einem direkt in die Seele blicken konnte. Nikolas wusch sich notdürftig, wobei sich der Verlust seiner Finger beim Rasieren am deutlichsten bemerkbar machte. Die Knochen waren noch steif, er hatte viel zu lang gelegen. Es schien, als knackte sein ganzer Körper. Mit Haarwasser versuchte er die wilden Strähnen in den Griff zu bekommen und zwängte sich anschließend in einen viel zu kleinen Anzug. Er wollte zumindest so aussehen, als ob er sich etwas Würde bewahrt hätte und nicht wie ein Köter hauste, der von der Hand in den Mund lebte.
Nikolas gönnte sich einen Moment der Ruhe und setzte sein freundliches Lächeln auf, bevor er die Treppe hinabstieg. Noch bevor er unten angekommen war, blieb ihm das Grinsen im Halse stecken.
»Bricks!«
»Dr. Allan Bricks, wenn ich bitten darf.«
Das durfte – konnte nicht sein! Er war die letzte Person auf diesem Planeten, die Nikolas hier erwartet hätte und sehen wollte. Nun ja, nach einem gewissen Sturmbannführer Luger, der für den Verlust seiner Finger verantwortlich war.
Nikolas schoss auf den Mann zu. Seine Hände formten Fäuste, wobei sich seine linke merkwürdig stark anfühlte. Zu gerne hätte Nikolas Bricks’ hübsches Gesicht zertrümmert. Dieses markante Kinn, die hellblauen Augen, der akkurate Scheitel, formvollendete Umgangsformen. Er konnte nur zu gut verstehen, dass Claire mit ihm geschlafen hatte. Wegen seiner bornierten Art hatte Nikolas anfangs geglaubt, der Doktor sei vom Double Cross oder SOE, der Special Operations Executive, einer britischen nachrichtendienstlichen Spezialeinheit. Kaum zu glauben, dass dieser Kerl in Wahrheit Amerikaner war. Eine deutsche Mutter, ein englischer Vater, geboren in den Vereinigten Staaten, dazu ein schicker Doktortitel und Einfluss auf die Regierung – fertig war der Mann von Welt, dem alle Frauen zu Füßen lagen. Seine eigene ehemalige Geliebte inklusive. Ein weiterer Grund, ihn auf die Bretter zu schicken. Wäre da nicht ihr Zusammentreffen vor wenigen Wochen gewesen, als er die eisernen Schwinger von Bricks zu spüren bekommen hatte. Claire in den Armen des Amerikaners zu sehen war einfach zu viel gewesen. Leider hatte dieser Doktor der Physik einen härteren Schlag als Schmeling. Verdammt, wieso musste dieses Aas in Harvard auch Mitglied der Boxmannschaft gewesen sein?
»Es freut mich, Sie wiederzusehen, Mister Brandenburg.«
Wie Nikolas diese aufgesetzte Art hasste. Sein Mund formte einen dünnen Strich. »Ja, wie auch immer. Was tun Sie hier, Bricks? Wollen Sie dabei zusehen, wie ich meine Wunden lecke?«
Bricks strich sich über das glatt rasierte Kinn, schüttelte schließlich den Kopf. »Sorry, aber deswegen bin ich nicht hier.« Sein englischer Akzent war kaum mehr hörbar, die Zeit im Reich schien Früchte zu tragen. »Außerdem ergötze ich mich nicht am Leid der anderen«. Bricks sah Nikolas scharf an. »Sie sollten das am besten wissen.«
Das musste man ihm lassen, er hatte mehr für Deutschland getan als mancher Widerstandskämpfer. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass Berlin nicht als Versuchsplattform für Trinity hatte dienen müssen. Trinity – Dreifaltigkeit. Was für ein blasphemischer Name für die Kernwaffenbombe der Amerikaner. Wenn sie es nicht lebend aus Haigerloch herausgeschafft hätten, wäre die Hauptstadt nur noch Schutt, Asche und ein einziges flammendes Inferno.
Nikolas setzte sich zu seinem Vater und Bricks an den Tisch. »Schön. Was beschert uns dann das Vergnügen Ihrer Anwesenheit?«
»Wie immer«, Bricks lächelte breit, »der Dienst an Stars and Stripes und Union Jack.«
Aus dem Augenwinkel sah Nikolas, wie sein Vater den Kopf schüttelte. »Ich hole uns etwas zu trinken.« Er stand auf und ging in den Raum, in dem die Vorräte aufbewahrt wurden, das Bein hinter sich herziehend. Nikolas schaute ihm nachdenklich hinterher. Der vormals glühende Nationalsozialist hätte sich sicher nicht träumen lassen, dass er mit einem amerikanischen Geheimdienstler am Tisch sitzen würde, in einem Versteck der Résistance, Pläne gegen sein eigenes Land schmiedend. Immerhin hatte er den Reichskanzler mehrmals gewählt, ja sogar Wahlkampf für die Partei gemacht. Soweit Nikolas wusste, waren Eduard und er sogar immer noch Parteimitglieder.
Bald kam sein Vater zurück, stellte unbeholfen drei Gläser auf den Tisch und füllte sie mit billigem Fusel. Ohne abzuwarten, trank Nikolas sein Glas leer und füllte sich nach. »Also, Dr. Bricks. Was genau können wir für Sie tun?«
Bricks hielt inne, nippte am Glas und verzog das Gesicht, als hätte er im Leben noch nie etwas Widerlicheres getrunken. Er schob es weit von sich. »Gentlemen, es geht um nichts Geringeres als um die Zukunft Ihrer Heimatstadt. Das Schicksal von Stalingrad muss ich Ihnen nicht erläutern?«
Fast gleichzeitig seufzten Eduard und Nikolas abfällig auf. Natürlich nicht. Der Schlund der Hölle hatte sich unter der Stadt geöffnet. Nikolas war nur allzu bekannt, was mit Regionen passierte, die belagert wurden. Der Kessel von Stalingrad war ein trauriges Beispiel. Plünderungen, dauerhaftes Artilleriefeuer, Nahrungsknappheit, ein ganzes Fass voller Todsünden.
»Vor wenigen Stunden haben sich die Ereignisse überschlagen«, setzte Bricks erneut an und vollführte übertriebene und unpassend theatralische Bewegungen mit den Armen. »Generalfeldmarschall Walter Model hat der aufgeriebenen 116. Panzerdivision ›Windhund‹ und den verbliebenen Infanteriedivisionen den Befehl zum kompletten Rückzug erteilt. Natürlich nicht, ohne vorher die Talsperren in Schwammenauel zu sprengen.« Bricks schüttelte beinahe amüsiert den Kopf. »Die Dämme sind also gesprengt, das Rurtal ist überflutet, was die ganze Sache ein wenig aufhalten wird. Nichtsdestotrotz konnte General Hodges mit seiner 82. ›All Americans‹, der 4th Infantry Division ›Ivy‹ und der glorreichen 1st ›Big Red One‹ den Hürtgenwald nach monatelanger Schlacht erobern.« Er lehnte sich nach vorn. »Mit anderen Worten: Aachen ist in amerikanischer Hand und Sie dürfen raten, was als Nächstes auf Hodges’ To-do-Liste steht?«
Nikolas wartete ab. Niemand musste aussprechen, was sowieso offensichtlich war. Wie lange war es her, seit er auf der Rheinkirmes gewesen war? Würde er die Düssel, dieses kleine Flüsschen, das als Namensgeber der Stadt fungierte, jemals wiedersehen?
Es war Eduard, der die Stille brach. »Was ist geplant?«
»Die übliche Vorgehensweise, nehme ich an.« Bricks zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Ständige Bombenangriffe, Ausschalten der Luftverteidigung, Dezimierung der Bodentruppen, zeitgleich Artilleriefeuer und, wenn nur noch Volkssturm und Hitlerjugend übrig sind, Einmarsch mit allen verfügbaren Kräften.« Er lehnte sich zurück und tippte sich nachdenklich mit zwei Fingern an seine Schläfen. »Wenn ich mich recht erinnere, hat Gauleiter Friedrich Karl Florian den Grundbefehl ›Verbrannte Erde‹ bereits ausgegeben. Alles wird zerstört, was dem Feind auch nur im Ansatz helfen könnte. Bahnhöfe, Vorräte, Straßen und Gebäude, ja, sogar die Saat in den Lagern soll unbrauchbar gemacht werden, ohne Rücksicht auf Verluste in der Zivilbevölkerung. Sie können sich sicher vorstellen, dass es dadurch für uns umso schwieriger geworden ist, die strategisch wichtige Stadt einzunehmen. Felder werden verbrannt, die komplette Zivilbevölkerung in die Pflicht genommen. Jeder, der eine Waffe halten kann, wird an die Front oder die Flak geschickt. Ganz gleich, ob jung oder alt.« Der Doktor griff in sein Jackett, ein Flachmann kam zum Vorschein. Nach einem Schluck ließ er mit einem leisen Stöhnen wissen, dass diese Flüssigkeit eher etwas für seinen Gaumen war. »Der Rhein ist eine der letzten natürlichen Barrieren. Es wird ein Gemetzel, diesen gottverdammten Fluss zu überqueren. Und Ihre Stadt, Düsseldorf, wird dem Erdboden gleichgemacht werden. Das ist der Plan.«
Nikolas schloss die Augen. Selbstverständlich hatte er damit gerechnet. Ihm klangen Goebbels Worte vom Februar 1943 noch im Ohr. Er hatte im Berliner Sportpalast eine Frage gestellt und das Volk hatte geantwortet. So wollte es zumindest die nationalsozialistische Führung verstanden wissen: Es war eine Entscheidung der Bevölkerung. Dass dieser Sand in die Augen gestreut, sie durch Zeitungen in verführerischer Sicherheit gewogen worden war, hatte der Propagandaminister in seiner Rede ausgelassen. Die Wahrheit war viel schrecklicher, als dass man sie auf Papier hätte drucken können. Wenn Düsseldorf alles Pech der Welt versammelte, würde es am Ende niemanden mehr geben, der den Namen ohne Trauer aussprechen könnte.
Der Krieg war verloren. Das war die schreckliche Wahrheit. Nikolas nahm einen großen Schluck. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet: Was zum Teufel können wir für Sie tun?«
Bricks fixierte Nikolas. »Den Helden spielen.« Er lachte auf. »Um ganz ehrlich zu sein, sind Sie für den Geheimdienst – wie sagt man? – eine entbehrliche Person. Es gibt Stimmen in der Führung, die solch einer langen und entbehrungsreichen Schlacht lieber aus dem Weg gehen würden. Ressourcen sparen, Sie wissen schon.«
»Für Berlin«, warf Eduard ein.
Bricks wischte diesen Gedanken mit einer Hand beiseite. »Wie auch immer. Es gibt eine Möglichkeit, dass Düsseldorf weitestgehend unbeschadet bleibt. Dies hängt von ein paar wenigen, mutigen Männern ab.«
»Otto Goetsch und die Aktion Rheinland«, flüsterte Nikolas gedankenverloren.
»Ganz genau. Wir wissen, dass Sie beide Kontakt mit Goetsch hatten. Er wird Ihnen vertrauen.« Bricks beugte sich vor und stützte seine Ellenbogen auf den Knien ab. »Ziel ist es, die Stadt kampflos zu übergeben. Keine Bombenteppiche, kein Häuserkampf, keine Toten.«
»Sie meinen – keine weiteren?« Nikolas seufzte auf. »Wie weit sind die Planungen fortgeschritten?«
»Sehr weit. Sie müssen nur noch in die richtigen Bahnen gelenkt werden.« Bricks griff in die Innentasche seines Jacketts und holte einen Brief hervor. Kein Absender, kein Adressat. »Geben Sie ihm dieses Schriftstück. Alle wichtigen Informationen sind enthalten. Wenn Sie es dann noch schaffen, ihn zu überzeugen, dass er uns vertraut, sehe ich eine Chance, die Stadt zu retten.« Er schob den Brief langsam über den Tisch. »Wie Sie wissen, ist Goetsch stellvertretender Polizeipräsident, somit ein hoher Beamter und Mitglied der Partei. Wenn Sie ihn überzeugt haben, muss er sich mit dem Widerstand in Verbindung setzen. Und Brandenburg … Ich muss Ihnen nicht sagen, was passiert, wenn Sie mit dem Brief erwischt werden.«
Natürlich musste er das nicht. Für ihn würde es wahrscheinlich noch nicht einmal eine schnelle Exekution geben. Eine Reise nach Berlin samt Schauprozess wäre ihm sicher. In der Hauptstadt des Reichs angekommen, würden sie Gift und Galle spucken, und nachdem sich die Zeitungen und Richter des Volksgerichtshofs ausgelebt hätten, würde das Urteil »Tod durch den Galgen« lauten. Der Henker würde die Handfesseln festzurren und die Schlinge um seinen Hals legen. Sein Leben und die Zeit im Widerstand hätten ihren dramatischen Höhepunkt erreicht. Dabei würde das Regime jede Geste, sein Flehen und alle Tränen auf Zelluloid bannen. Die Kamera würde gewissenhaft einfangen, wie sein Körper hinabglitt, wie das Entsetzen im Todeskampf in seine Augen trat. Speichel und Blut würden aus dem Mund treten, braune Striemen wären bereits nach wenigen Augenblicken am Hals zu sehen. Irgendwann würden seine Beine aufhören zu zittern und sein Henker zum letzten Akt schreiten, den er selbst längst nicht mehr mitbekäme, aber für die Nachwelt aufgezeichnet werden sollte. Mit einem Ruck würde seine Hose herabgezogen werden, damit jeder erkennen könnte, dass sich sein Schließmuskel gelockert hatte. Er kannte die Vorgehensweise. Oft genug war sie in Paris ausgeübt worden. Keine schöne Vorstellung. Seine Kehle wurde staubtrocken bei dem Gedanken.
»Wie komme ich in die Innenstadt?«, wollte Nikolas schließlich wissen. »Im Kofferraum eines Autos? Im Stillen über gesicherte Wege des Widerstands?«
Diese Überlegungen zauberten ein Lächeln auf Bricks’ Gesicht. »Nicht wirklich«, antwortete er amüsiert. »Ganz offiziell, im Fond eines Wagens.«
Das konnte nicht sein. Hatte Bricks den Verstand verloren? »Wie bitte?«
»Draußen wartet bereits Ihr Fahrer. Er besitzt Uniformen der Schutzstaffel, gefälschte Ausweise, Passierscheine – alles, was Sie brauchen, um direkt zum Kavallerieplatz zu kommen. Ein easy job also.«
»Natürlich«, flüsterte Nikolas kaum hörbar.
Eduard hatte sein Glas schweigend bis zum Rand gefüllt und lehnte sich nun zu seinem Sohn. »Das beste Versteck vor dem Teufel befindet sich unter seinem Thron.« Er schluckte den Fusel mit einem Mal herunter. »Es hat schon einmal funktioniert. Bei der Truppe herrscht Chaos. Offiziere fahren ständig durch das Land, um hektisch Befehle zu geben oder zu flüchten.«
Dass dieser Weg der beste war, bezweifelte Nikolas noch nicht einmal. Eduard legte die Hand auf den Arm seines Sohnes. »Nikolas, es ist auch deine Heimatstadt. Ob du das Risiko tragen willst, liegt allein bei dir.«
Er schaute seinem Vater in die Augen, steckte den Umschlag ein und wandte sich dann Bricks zu. »Wann geht es los?«
Bricks begutachtete seine Fingernägel. »Heute in drei Monaten nachmittags! … Natürlich sofort, was denken Sie denn?«
Um alles in der Welt wollte Nikolas verhindern, diesem amerikanischen Streber Grund zur Genugtuung zu geben. Augenblicklich leerte er sein Glas, erhob sich und zog Mantel und Hut über. Als Letztes überprüfte er seine Walther PPK und ließ sie im Schulterholster verschwinden. »Mein Fahrer hat alle weiteren Informationen?«
»Selbstverständlich«, bestätigte Bricks. »Sehen Sie es einmal anders: Wenn alles glattläuft, sind Sie in zwei Stunden wieder hier und können sich mit Tee aufwärmen.«
Eine schöne Vorstellung. Irgendetwas sagte Nikolas, dass es nicht so einfach werden würde.
»Der Tee ist aus«, warf Eduard ein.
»Dann eben Scotch, ich bringe Ihnen beizeiten eine Flasche vorbei.«
Als Nikolas die Tür bereits geöffnet hatte, stellte sich sein Vater neben ihn und reichte ihm die Hand. »Viel Glück, mein Sohn.«
Wie schon als Kind hatte Nikolas das Gefühl, seine Finger würden von Schraubstöcken malträtiert, als sein Vater zudrückte. Es machte ihm nichts aus. Es war die ehrlichste und liebevollste Geste, zu der Eduard Brandenburg imstande war. Mit einem letzten Blick in den Raum schloss Nikolas die Tür hinter sich.