Über dieses Buch

Ahmad von Denffer, in der muslimischen Szene Deutschlands wie auch international bekannt geworden als Autor und Übersetzer zahlreicher Schriften zum Thema Islam, lädt ein zu einem spannenden Gang durch die Kulturgeschichte der Deutschen. Zweck ist es, der Frage nachzugehen, „ob der Islam zu Deutschland gehört“. Um Antworten darauf zu finden, werden unterwegs Haltepunkte aufgesucht und von dort aus verschiedene Besonderheiten von Literatur, Musik und Kunst bis hin zur Zeitgeschichte betrachtet. Überraschungen sind dabei nicht ausgeschlossen. Wer mitgeht, wird mancherlei aus ungewohnten Perspektiven sehen können und darüber hinaus bislang Unbeachtetes und auch Unbekanntes kennenlernen.

Der Autor

war nach dem Studium von Islam- und Völkerkunde Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Islamic Foundation in Leicester und Herausgeber des Nachrichtendienstes „Focus on Christian-Muslim Relations“, später Deutschsprachiger Referent des Islamischen Zentrums München und Herausgeber der Zeitschrift „Al-Islam“, auch Projektleiter sowie langjähriger Vorsitzender von „Muslime helfen“.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Ahmad von Denffer

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783752634594

INHALT

Bismillah

KURZE VORSTELLUNG

Herzlich willkommen – ahlan wa sahlan!

Ich darf mich vorstellen – Denffer. Richtig, mit „D“, wie der Buchstabe am Auto, das Kennzeichen für Deutschland, und Deutschland spielt auch für mich eine ganz wichtige Rolle, wie man noch sehen wird.

Am 8. Mai 1945 war das „tausendjährige“ Deutsche Reich zu Ende, die Deutsche Wehrmacht hatte bedingungslos kapituliert, mehr als 60 Millionen Menschen waren im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen. Mein Vater befand sich an diesem Tag als Kriegsgefangener im berüchtigten Lager Andernach am Rhein, meine Mutter als Ärztin an einem Krankenhaus in Dresden an der Elbe, Überlebende der Luftangriffe vom Februar. Beide Eltern waren Deutsche.

Vier Jahre später, am 8. Mai 1949, beschloß der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz. Mit dessen Unterzeichnung am 23. Mai 1949 war dann die Bundesrepublik Deutschland begründet.

Im selben Monat und im selben Jahr habe ich das Licht der Welt erblickt. Den genauen Tag will ich hier nicht nennen, um zu vermeiden, daß mir zu viele Geburtstagsgrüße übersandt werden. Klar ist aber: Deutschland, die Bundesrepublik und das Grundgesetz haben von Anfang an mein Leben lang begleitet und mich damit auch deutlich geprägt. Viel mehr deutsch als ich geht demnach fast nicht…

Heute möchte ich Sie einladen zu einer spannenden Wanderung durch die Kulturgeschichte der Deutschen. Dabei soll ein besonderes Gelände erkundet werden – die über 1200-jährigen Beziehungen zum Islam. Zweck dieser Erkundung ist es, der Frage nachzugehen, „ob der Islam zu Deutschland gehört.“

Damit durchstreifen wir ein Gebiet, auf dem nicht jeder, der davon spricht, sich wirklich auskennt. In aller Bescheidenheit darf ich indes sagen, daß ich Experte bin, sowohl Deutscher als auch Muslim. Ich rede nicht bloß davon, sondern ich lebe danach, habe also jeden Tag direkt damit zu tun, und weiß deshalb auch aus praktischer Erfahrung, wovon ich rede. Mein Wissen und meine Erfahrung teile ich gern mit Ihnen und hoffe, daß sie Ihnen nützlich sein werden.

Die Wegstrecke, die ich Ihnen vorschlage, besteht aus kürzeren und längeren Abschnitten. Wir begeben uns zu wichtigen Haltepunkten und betrachten von dort aus verschiedene Besonderheiten aus Literatur, Musik und Kunst bis hin zur Zeitgeschichte.

Ich kann Ihnen versprechen, daß Sie unterwegs nicht nur das eine oder andere zu sehen bekommen, das man landläufig kennt, sondern daß es auch einige Überraschungen geben wird. Wer mitgeht, kann dabei mancherlei aus ungewohnten Perspektiven sehen und darüber hinaus bislang Unbeachtetes und auch Unbekanntes kennenlernen.

Manche Etappen sind kurz und leicht zu bewältigen, aber es gibt auch längere Abschnitte, die vielleicht anstrengen. Pausen machen Sie natürlich wo und wie lange Sie möchten, und Sie selbst bestimmen die Geschwindigkeit, mit der es vorangeht. Am Ende der Wanderung können wir uns dann, wenn gewünscht, noch etwas genauer darüber unterhalten, was es eigentlich mit der Kultur auf sich hat. Aber diesen Teil kann man auch auslassen, ohne damit viel von dem Erkundungsgang zu versäumen.

Und nun gehen wir los – jalla, namschi – wie man auf Arabisch sagt…

DER BLAUE SCHEIN

1

Immer wieder haben wir ihn in der Hand, den blauen Zwanzig-Euro-Schein, beim Bezahlen täglicher Einkäufe. Im Blick sind die Farbe und die Wertangabe, bei den geschulten Damen und Herren an den Kassen dazu noch die Sicherheitsmerkmale. Das Motiv bleibt unbeachtet. Jeder kann sich ja selbst einmal auf die Probe stellen mit der Frage: Was ist denn auf dem Zwanzig-Euro-Schein zu sehen? Vielleicht weiß man noch, daß auf den Euro-Scheinen Bauwerke abgebildet sind. Sie stammen aus verschiedenen Epochen und die Gesamtschau soll, so läßt sich schließen, die Entwicklung der europäischen Kulturgeschichte aufzeigen. Dabei kam übrigens heraus, daß der griechisch-römischen Antike der Geldschein mit dem geringsten Wert zugeordnet wurde. Doch das ist hier nebensächlich, uns interessiert der blaue Schein.

Auf der Zwanzig-Euro-Note sind zwei Fensterbögen zu sehen, die an Kirchenfenster erinnern und unschwer erkennbar dem gotischen Stil angehören. Dessen bekanntestes Merkmal ist der hier abgebildete Spitzbogen. Den Rundbogen der vorausgegangenen Epoche der Romanik findet man auf dem Zehn-Euro-Schein.

Wie man weiß löste die Gotik als Bau- und Kunststil die Romanik seit dem 12. Jahrhundert für die nächsten vier Jahrhunderte ab. In der darauffolgenden Epoche der Renaissance hatte man sich wieder dem antiken Geschmack zugewandt und blickte mit Mißbilligung und sogar Verachtung auf den gotischen Stil des Mittelalters herab.

Die Bezeichnung „Gotik“ hat tatsächlich, wie man vermuten kann, etwas mit dem Volk der Goten zu tun, doch sind diese nicht etwa die Erfinder des gotischen Stils gewesen. Vielmehr galten sie schon aus dem Blickwinkel der zu Ende gehenden Antike als Barbaren, und dieser Wertschätzung erinnerte man sich in der Renaissance, als man meinte, nun die vorausgegangenen dunklen Jahrhunderte überwunden zu haben. Ihre Architektur und Kunst empfand man, im Gegensatz zu den wiederentdeckten antiken Formen, als wertlos und barbarisch, „gotisch“ eben. In diesem Sinn geht der Begriff auf den italienischen Künstler und Kunsthistoriker Vasari aus dem 16. Jahrhundert zurück. Aber wie die Zeiten, so wandeln sich auch die Geschmäcker, und die Gotik wurde wieder hochgeschätzt, als man später, vor allem während der Epoche der Romantik, den Blickwinkel wechselte und sich mit Begeisterung dem Mittelalter zuwandte.

Schon kurz zuvor hatte sich unser deutscher Nationaldichter Goethe der Sache angenommen, und so verbreitete sich in Deutschland die bis heute anzutreffende Auffassung, daß die Gotik mit ihren meisterhaft gestalteten hochragenden Kathedralen in erster Linie eine deutsche Angelegenheit ist. Fast jeder, der den Kölner Dom sieht, stellt sich das so vor. Goethe war 1770 nach Straßburg gekommen, hatte dort das Münster im gotischen Stil gesehen und sagte 1773 in einer kleinen Schrift mit dem Titel „Von deutscher Baukunst“ zur Gotik: „das ist deutsche Baukunst, unsre Baukunst, da der Italiäner sich keiner eignen rühmen darf, vielweniger der Franzos…“ 1

2

Natürlich bestreiten ernst zu nehmende Kunsthistoriker keineswegs anderen europäischen Völkern ihre Gotik, und es ist Konsens, daß sie ihren Anfang in Frankreich nahm. Dessen ungeachtet konnten noch unsere Großeltern, sofern sie Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ lasen, den Wortschwall vernehmen:

„Die faustische Seele der Gotik, schon durch die arabische Herkunft des Christentums in der Richtung ihrer Ehrfurcht geleitet, griff nach dem reichen Schatz spätarabischer Kunst. Das Arabeskenwerk einer unleugbar südlichen, ich möchte sagen Arabergotik umspinnt die Fassaden der Kathedralen von Burgund und der Provence, beherrscht die äußere Sprache des Straßburger Münsters, mit einer Magie in Stein und führt überall, an Statuen und Portalen in Gewebemustern, Schnitzereien, Metallarbeiten, nicht zum wenigsten in den krausen Figuren des scholastischen Denkens und einem der höchsten abendländischen Symbole, der Sage vom heiligen Gral, * einen stillen Kampf mit dem nordischen Urgefühl einer Wikingergotik, wie sie im Innern des Magdeburger Domes, der Spitze des Freiburger Münsters und der Mystik Meister Eckarts herrscht. Der Spitzbogen droht mehr als einmal seine bindende Linie zu sprengen und in den Hufeisenbogen maurisch-normannischer Bauten überzugehen.“ 2

Zum „heiligen Gral“ hat Spengler noch angemerkt: „* Die Gralssage enthält neben altkeltischen starke arabische Züge; aber die Gestalt Parzivals dort, wo Wolfram von Eschenbach über sein Vorbild Chrestien von Troyes hinausgeht, ist rein faustisch.“

Auf die Sage vom Gral können wir noch andernorts kurz zu sprechen kommen, hier soll es nur um die Gotik gehen.

Auch wenn man sich vielleicht erst einmal orientieren muß, um zu verstehen, was Spengler hier und andernorts mit „faustisch“ meint – und man ihm dabei nicht unbedingt folgen möchte, es ist verkürzt gesagt der Primat des Willens zur Naturbeherrschung, nicht des Willens zu Erkenntnis – bleibt doch immerhin: Spengler, den noch heute mancher in den Blick nimmt, wenn er an das kurze Ende des tausendjährige Reiches denkt oder sich vor der „farbigen Weltrevolution“ fürchtet, Spengler wußte, daß die Gotik nicht ohne arabischen Einfluß war. Diesen Einfluß schätzte er als so bedeutend ein, daß er dafür das Wort „Arabergotik“ prägte. Besonders auffällig ist dabei zudem, daß Spengler diese „Arabergotik“ nicht nur mit den Kathedralen Frankreichs in Bezug setzt, sondern auch und gerade mit dem Straßburger Münster, in dem doch Goethe die „deutsche Baukunst“ erkannt zu haben meinte.

Der Spitzbogen, der das Kennzeichen der gotischen Architektur wurde und diese überhaupt erst möglich machte, ist aus der muslimischen Welt nach Europa gekommen:

„Spitzbogen. Diese Architekturform kommt aus dem Orient und ist sehr alt. Sie fand im 11. Jahrhundert Eingang im Abendland, wenn man von den Bauwerken in Spanien und Sizilien absieht, die früheren Datums sind.“ 3

Wer über den Hof der Ibn Tulun-Moschee in Kairo geht und den Blick von dem ungewöhnlichen Minarett abwendet, das ein Reiter auf dem Pferd erklimmen konnte, und auf die Seitenhallen richtet, sieht in langen Reihen einen Spitzbogen nach dem anderen. Ungefragt hat schon der Touristenführer davon berichtet, wann dieses Bauwerk vollendet wurde – im Jahr 265 nach der Hidschra, also 879 abendländischer Zeitrechnung. Vielleicht erinnert man sich, anläßlich einer Frankreich-Reise gelesen zu haben, daß die Gotik dort ihren Ursprung hat und der Bau der großen gotischen Kathedralen um 1150 begonnen wurde. Zu dieser Zeit waren die Abendländer von den ersten Kreuzzügen aus dem Orient zurückgekommen und hatten zahlreiche Anregungen aus der muslimischen Kultur mit nach Hause gebracht. Auch in den Kreuzfahrerstaaten im Nahen Osten errichteten sie ihre Bauten der dortigen Architektur entsprechend. Ebenso war der Spitzbogen in Sizilien und Süditalien, wo im frühen Mittelalter Muslime lebten, gleichfalls zum besonderen Merkmal verschiedener Bauwerke geworden:

„Im architektonischen Stil hatten die sicilianischen Gebäude… durch den Gebrauch des, bald mehr bald weniger in eine Spitze auslaufenden Bogens, mit denen von Cairo Verwandtschaft, was sich aus dem politischen Zusammenhang der Insel mit Ägypten leicht erklärt“. 4

Selbst in Kirchenkreisen weiß man seit langem, „daß die ersten Anfänge des Gothischen Styls nicht in Deutschland, England, Frankreich oder einem anderen Lande der Christenheit zu suchen sind: sondern so gewiß der Spitzbogen das erste Element ist, aus welchem derselbe sich entwickelte, so gewiß ist es auch, daß in der Arabischen Architektur die ersten Anfänge desselben liegen. Die Geschichte bezeugt es also, daß er kein ursprünglich Christlicher sei, sondern gleich dem antiken und Byzantinischen, von einem fremden nicht-Christlichen Volk entlehnt.“ 5

Doch das bedeutet nicht, daß die Gotik und was sie für Europa wie für Deutschland bedeutet, insgesamt als arabisch zu sehen sei. Doch der anfängliche Beitrag aus der muslimischen Welt dazu war eine Voraussetzung dafür. Dieser Beitrag bleibt heutzutage meist unbeachtet. Das gilt ebenso für vieles andere, das aus der muslimischen Kultur in die abendländische und auch die deutsche Kultur überging. Der blaue Schein läßt davon noch mehr erkennen als nur den Spitzbogen. Die Ziffern auf dem Schein und auf jedem unserer Geldscheine, mit deren Hilfe der Wert gekennzeichnet ist, heißen bis heute „arabische“ Ziffern. Die Zwei, die wir verwenden, ist nichts anderes als die seitlich liegende arabische Zwei, die Null eine größer geschriebene Form der arabischen Null. Und sogar unser deutsches Wort „Ziffer“ kommt aus dem Arabischen: sifr bedeutet Null.

Die Araber selbst nannten ihre Ziffern „indische“, weil sie ursprünglich aus Indien stammten. Uns haben sie die Muslime übermittelt. Davor kannten wir nur die römischen Zahlenzeichen. Ziffern und Zahlenzeichen verschiedenster Art gibt es in allen Kulturen. Für uns in Europa sind die römisch-lateinischen historisch bedeutsam, die seit etwa dem 12. Jahrhundert langsam durch die bis heute gebräuchlichen arabischen Zahlen ersetzt wurden und samt den damit verbundenen Rechenmethoden auch bei uns in Deutschland seither nicht wegzudenken sind. Wir erlernten sie von muslimischen Mathematikern. Insbesondere die mittelalterliche lateinische Schrift „Algoritmi de numero indorum“ war das Werk, über das dieses Rechenwesen und Zahlenwesen in das mittelalterliche Europa gelangte.

Der Titel bedeutet übrigens nichts anderes als „Al-Chwarizmi’s (Schrift) von den indischen Zahlen“. Selbst der bis heute in der Mathematik und Informatik unverzichtbare Schlüsselbegriff „Algorithmus“ ist nur die Verballhornung des Namens dieses bedeutenden muslimischen Mathematikers aus dem 9. Jahrhundert.

Wir, die wir keine anderen Rechensysteme kennen, zeigen darum wenig Verständnis für die große Bedeutung der Einführung der arabisch-indischen Zahlen, doch wir könnten uns vielleicht einmal die Schwierigkeiten vor Augen führen, die entstünden, wenn wir uns den Kassenzettel unseres Einkaufs im Supermarkt mit römischen Zahlen versehen vorstellen und dann versuchen würden, nachzurechnen, ob alles seine Richtigkeit hat.

4

Und es geht noch weiter mit dem blauen Schein. Selbst wenn wir vom abgebildeten Spitzbogen und den aufgedruckten Ziffern ganz absehen, bleibt immer noch der Schein in unserer Hand, und der ist aus Papier. Beim Wort „Papier“ denkt man unwillkürlich an Papyrus, die Pflanze aus Ägypten, die dort von alters her zur Herstellung von Schreibmaterial diente. Auch weiß man vielleicht, daß die Herstellung von Papier aus der gewässerten Masse von gestampftem pflanzlichem Material zuerst in Ostasien, in China und Korea, erfolgte. Die Muslime übernahmen diese Technik und brachten sie zur weitverbreiteten Anwendung. Die Verwaltung des Abbasidenkalifats begann im achten Jahrhundert, ihre Dokumente auf Papier auszufertigen, der Gebrauch von Papier für Wissenschaft und Kunst folgte alsbald. Die weite Verbreitung von Wissen und Bildung, die zur kulturellen Blüte der muslimischen Welt jener Epoche führte, beruht nicht zuletzt auf der massenhaften Herstellung und Verwendung von Papier. Papier wurde zum Speichermedium des Mittelalters. In Europa begann die aus der muslimischen Welt, insbesondere aus Spanien und Sizilien übernommene und im weiteren Verlauf noch verbesserte Papierherstellung ab dem 12. Jahrhundert. Sie löste dort gleichfalls einen raschen kulturellen Wandel aus. Der nicht zu Unrecht als revolutionär verstandene Buchdruck Gutenbergs ist ohne den Gebrauch von Papier nicht vorstellbar. Doch die Erinnerung daran, daß Europa und damit auch Deutschland die Übermittlung der Herstellung und des Massengebrauchs von Papier den Muslimen verdankt, ist weitestgehend verblasst. Nur in der Fachsprache von Berufsangehörigen, die mit Papier zu tun haben, kennt man noch den Begriff „Ries“, mit dem ein Bündel von 500 Bogen Papier bezeichnet wird. Daß dieses Wort vom arabischen „rizma“ (Bündel, Ballen) kommt, weiß kaum noch jemand.

Allein schon bei etwas ganz Alltäglichem wie dem blauen Schein bezeugen Spitzbogen, Ziffern und Papier den Beitrag der Muslime zur deutschen Kultur. Doch wie kann man die Erinnerung daran und das Bewußtsein davon erwarten, wenn die meisten von uns nicht einmal wissen, was auf dem blauen Schein abgebildet ist, den wir ständig in die Hand nehmen, um unsere täglichen Einkäufe zu bezahlen?

HARUN AR-RASCHID UND
KARL DER GROSSE

1

Die Betrachtung des blauen Scheins hat uns zurückgeführt in die Zeit der frühen Begegnung von Abendländern und Muslimen. Aus jener Zeit sind zwei herausragende historische Gestalten in Erinnerung geblieben, Karl der Große und Harun ar-Raschid. Wer erinnert sich nicht an Karl den Großen, wenn er nach Aachen kommt? Der eine oder andere Besucher weiß vielleicht sogar von gewissen Beziehungen, die zwischen Karl dem Großen und dem berühmten Abbasidenkalifen Harun ar-Raschid bestanden haben sollen, und die so am Anfang der „offiziellen“ Kontakte zwischen christlichem Abendland und islamischem Morgenland gestanden haben müßten. Was hat es nun auf sich mit diesen Beziehungen? Welche Kontakte hat es gegeben? Welchen Zweck sollten sie erfüllen? Was ist an ihnen bedeutungsvoll?

Diese Fragen sind nur schwer zu beantworten. Alles, was wir über die Beziehungen dieser beiden Herrscher und damit über diese beiden Welten in jener Epoche sagen können, beruht nämlich nur auf einseitiger Betrachtung. Die muslimischen Quellen, d.h. die klassischen muslimischen Geschichtsschreiber, wissen hiervon nichts zu berichten. Weder Karl der Große noch sein im Westen gelegenes – doch immerhin sehr umfangreiches – Herrschaftsgebiet werden von ihnen erwähnt.

Für die Abbasiden war, so scheint es, im Westen allenfalls Andalusien von Wichtigkeit, denn hier hatten die Nachkommen der im Jahr 749/50 von den Abbasiden gestürzten Omajjaden ihre eigene Herrschaft eingerichtet. Mit den Muslimen in Spanien hatte Karl der Große andererseits einiges zu tun, und zwischen Muslimen im Westen und den Franken gab es mancherlei Berührungspunkte, was bei einer gemeinsamen Grenze ja auch nicht verwunderlich ist.

Über Beziehungen zwischen Harun ar-Raschid und Karl dem Großen wissen wir aber nur aus den abendländischen Quellen, vor allem aus den sogenannten „Reichsannalen“ und dem „Leben Karls des Großen“ von Einhard, seinem ersten und wichtigsten Biographen. Dieser Einhard, dem sehr daran gelegen ist, Karl als den größten Herrscher seiner Tage zu schildern, schreibt dazu:

„Er erhöhte den Ruhm seiner Herrschaft auch noch durch die freundschaftliche Verbindung mit mehreren Königen und Völkerschaften…

Mit dem König Aaron von Persien, der mit Ausnahme Indiens fast das ganze Morgenland beherrschte, stand er in so freundschaftlichem Einvernehmen, daß dieser seine Huld der Freundschaft aller Könige und Fürsten des ganzen Erdkreises vorzog und ihn allein hoch ehren und beschenken zu müssen glaubte; und als nun seine Gesandten, die er mit Gaben zu dem heiligen Grabe unsers Herrn und Heilandes und dem Orte seiner Auferstehung geschickt hatte, auch zu Aaron kamen und ihm den Wunsch ihres Herrn eröffneten, so bewilligte er ihnen nicht bloß was von ihm begehrt wurde, sondern auch, daß jene heilige und heilbringende Stätte unter seine Gewalt komme. Und wie die Gesandten heimkehrten, so gesellte er ihnen seine eigenen bei und überschickte dem König neben Kleidern und Wohlgerüchen und andern Kostbarkeiten des Morgenlands noch ungemein reiche Geschenke, nachdem er wenige Jahre vorher ihm auf seine Bitte den einzigen Elephanten, den er damals besaß, geschickt hatte…“ 6

Dieser kurze Abschnitt enthält einerseits einige interessante Nachrichten und weckt andererseits Zweifel daran, daß es sich hierbei um authentische Geschichtsschreibung handelt. Zunächst ist da ja der offensichtliche Widerspruch, daß nach Einhard der Kalif Harun ar-Raschid den Karl den Großen allen anderen Herrschern seiner Zeit vorzog, während die muslimischen Geschichtsschreiber wie gesagt nicht einmal Karls Namen nennen. Karl ist in den Chroniken und Urkunden der Epoche des Harun nicht genannt worden. Auch scheint es nicht recht vorstellbar, daß Harun nur einen einzigen Elefanten zur Verfügung gehabt haben soll und er diesen einzigen dann ausgerechnet zu jenem unbekannten Herrscher in jenem unbekannten Land schickte.

Immerhin sind aber die Hinweise auf überbrachte Geschenke, darunter eben auch der „einzige“ Elefant, so deutlich, daß man am Empfang derselben am Kaiserhof von Karl nicht zu zweifeln braucht. Einhard erwähnt übrigens bei seiner Aufzählung die Kleider fast nur beiläufig und schreibt stattdessen dem Elefanten große Bedeutung zu, während es vielleicht gerade die Kleider sind, die noch am ehesten über die Beziehungen zwischen Harun und Karl Aufschluß geben können. Davon soll noch einmal die Rede sein. Der Elefant war aber zweifellos das ungewöhnlichste Geschenk im Abendland jener Tage.

Zunächst ist aber noch festzuhalten, daß es offensichtlich mehrere Kontakte zwischen den beiden Herrschern gegeben hat.

Der erste muß eine Gesandtschaft Karls an Harun gewesen sein, in deren Folge dann der Elefant übersandt wurde. Der zweite war eine Gesandtschaft Karls nach Jerusalem, die auch zu Harun kam und dort einen nicht näher geäußerten Wunsch von Karl übermittelte. Die Folge davon soll gewesen sein, daß Harun die Heiligen Stätten der Christenheit in Jerusalem Karl unterstellte. Aber auch hieran darf man zweifeln. Die Nachrichten hierüber sind zu gering und zu unklar, als daß man aus ihnen gesicherte Erkenntnisse gewinnen könnte. Auch wissen die muslimischen Quellen nichts davon zu berichten, daß hier einem nichtmuslimischen Herrscher ein Stück des „daru-l-islam“, des „Haus des Islam“, übergeben wurde.

Am Rande sei noch bemerkt, daß sogar schon vor Karl dem Großen der fränkische Herrscher Pippin im Jahr 756 eine Gesandtschaft zum Hofe des Kalifen al-Mansur in Bagdad geschickt hatte, die drei Jahre später reich beschenkt zurückkehrte. Auch nach Karl dem Großen gab es weitere Gesandtschaften zum Kalifenhof.

2

Was also hat es auf sich mit diesen Gesandtschaften, mit den Geschenken, dem Elefanten und der Oberhoheit über Jerusalem?

Die sogenannten „Reichsannalen“ 7 verschaffen hierüber etwas mehr Klarheit, wenn auch nicht alle Fragen beantwortet werden. Es heißt dort, daß sich Karl im Frühjahr 801 in Italien aufgehalten hat, unter anderem in Pavia:

„Hier erhielt er Nachricht, daß Gesandte des Perserkönigs Aaron (im lateinischen Originaltext steht tatsächlich „des Beherrschers der Gläubigen“ – „Aaron Amir al Mumminin regis Persarum“) 8 im Hafen von Pisa angekommen seien; er schickte ihnen entgegen und ließ sie sich zwischen Vercelli und Epoderia (Ivrea) vorstellen. Einer von ihnen war ein Perser aus dem Morgenland und der Gesandte des genannten Königs, der andere, zwei nemlich waren es, war ein Sarazene aus Afrika und der Gesandte des Amiratus Abraham, welcher auf der Grenze Afrikas in Fossatum (Fez) herrschte. Sie berichteten, daß der Jude Isaak, den der Kaiser vor vier Jahren mit seinen Gesandten Lantfrid und Sigimund an den König der Perser abgeschickt hatte, mit großen Geschenken auf der Rückreise begriffen sei. Lantfrid und Sigimund waren beide unterwegs gestorben. Hierauf schickte er den Notar Erkanbald nach Ligurien, um eine Flotte zu rüsten, auf welche der Elephant und was noch außerdem erwartet wurde befördert werden könnte...

Im Oktober dieses Jahres kam der Jude Isaak mit dem Elephanten aus Afrika zurück und lief im Hafen der Venus (Porto Venere) ein; weil er jedoch des Schnees wegen nicht mehr über die Alpen reisen konnte, blieb er den Winter über zu Vercelli...“ 9

Karl der Große hatte demnach etwa im Jahre 797 eine dreiköpfige Gesandtschaft an Harun geschickt. Sie ist allerdings in den „Reichsannalen“ unter diesem Jahr nicht verzeichnet. Diese Gesandtschaft kehrte reich beschenkt zurück, unter anderem mit einem Elefanten. Davon, daß es der „einzige“ Elefant des Harun war, ist hier nicht die Rede. In der Chronik des folgenden Jahres, 802, heißt es dann:

„Am 20. Juli dieses Jahres kam Isaak mit dem Elephanten und den übrigen Geschenken des Königs der Perser an und übergab sie dem Kaiser. Der Elephant führte den Namen Abulabaz.“ 10

Dieser Elefant war offensichtlich, wie schon gesagt, das ungewöhnlichste Geschenk, das Karl jemals erhalten hat. Man kann sich gut vorstellen, daß Abulabaz für die Abendländer jener Zeit ein Unikum gewesen ist, wie er überall von den Leuten bestaunt wurde, die ja noch nie im Leben einen Elefanten gesehen hatten, und daß es auch zu Karls Ansehen beigetragen haben muß, als einziger ein solches Tier zu besitzen. Der Elefant war immerhin doch so bedeutend, daß die „Reichsannalen“ sogar seinen Tod verzeichnen. Dies war im Sommer 810, als Karl sich zu einem Feldzug gegen die im Norden eingefallenen Dänen rüstete und in Lippeham auf Truppen wartete:

„Während er hier etliche Tage verweilte, starb plötzlich jener Elephant, den ihm der Sarazenenkönig Aaron geschickt hatte.“ 11

(Ein anderer Elefant, der auch manchmal mit Harun und Karl in Verbindung gebracht wird, ist eine Elefantenfigur aus Elfenbein, die zu einem Schachspiel gehört, das Harun dem Karl geschickt haben soll. Allerdings sind die Kunstexperten der Meinung, daß diese Figur aus einer späteren Zeit stammt).

Drei Jahre zuvor war aber bei Karl noch eine weitere Geschenksendung vom Kalifenhof eingetroffen, deren bedeutendstes Stück eine kunstvolle Wasseruhr gewesen ist, die in den „Reichsannalen“ ausführlich beschrieben wird:

„Des Kaisers Gesandter Radbert starb auf der Rückreise aus dem Morgenlande; und der Gesandte des Perserkönigs mit Namen Abdella erschien mit den Mönchen aus Jerusalem, die im Auftrag des Patriarchen kamen… vor dem Kaiser und überbrachte die Geschenke, die der obengenannte König dem Kaiser geschickt hatte, nemlich ein Lustzelt und Vorhänge für den Vorhof von ungemeiner Größe und Schönheit; es waren nemlich alle von Byssus (Muschelseide) und die Vorhänge sowohl als die Schnüre dazu bunt gefärbt. Außerdem bestanden die Geschenke des Königs in vielen und kostbaren seidenen Gewändern, in Wohlgerüchen, Salben und Balsam. Auch ein höchst kunstvoll aus Messing gearbeitetes Uhrwerk war dabei, in dem der Lauf der zwölf Stunden nach einer Wasseruhr sich bewegte mit ebensoviel ehernen Kügelchen, die nach Ablauf der Stunden herunterfielen und dadurch ein darunter liegendes Becken erklingen machten; ferner waren darin zwölf Reiter, die am Ende der Stunden aus zwölf Fenstern herauskamen und durch ihre Bewegung ebensoviele zuvor geöffnete Fenster schlossen; noch vieles andere befand sich in dieser Uhr, was jetzt aufzuzählen zu weitläufig wäre. Außerdem befanden sich unter den Geschenken zwei messingene Leuchter von ausgezeichneter Größe und Form. Das alles wurde in den Palast zu Aachen vor den Kaiser gebracht. Der Kaiser hielt den Gesandten und die Mönche eine Zeit lang bei sich und ließ sie dann nach Italien abreisen, wo sie die Zeit zur Ueberfahrt abwarten sollten.“ 12

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Bemerkenswert ist hier zunächst, daß wiederum Karl seinen Gesandten Radbert an Harun geschickt hatte, vermutlich in Erwiderung der 801/802 empfangenen Gesandtschaft. Auch diesmal dauerte die Hin- und Rückreise wieder 4 Jahre. Die erwähnten Mönche sind Gesandte des Patriarchen von Jerusalem. Es besteht also offensichtlich ein Zusammenhang mit dem Bericht von Einhard. Außerdem ist auch hier wieder die Rede von kostbaren Gewändern, die Karl von Harun erhalten hat.

Vielleicht sind es gerade diese Gewänder, die den Schlüssel zum Verständnis der Beziehungen zwischen Karl dem Großen und Harun ar-Raschid darstellen. Gewänder wurden nämlich von Herrschern aus dem Morgenland als Ehrengewänder all denen zum Geschenk gemacht, die sich der Gunst des Herrschers erfreuen durften und als seine treuen Gefolgsleute galten. Ob Harun ar-Raschid in Karl dem Großen seinen „Statthalter“ in den Provinzen westlich des Westens gesehen hat? Man kann das nur vermuten, denn die muslimischen Geschichtsquellen berichten wie gesagt hierüber nichts. Aber es würde erklären, wieso Karl dem Großen die Oberhoheit über die Heiligen Stätten der Christenheit in Jerusalem übertragen wurde. Einem ebenbürtigen nichtmuslimischen Herrscher hätte der Kalif ein Stück des „daru-l-islam“ nicht übertragen, eher schon seinem „Statthalter“ aus dem fernsten Westen.

Man könnte sich weiter vorstellen, daß Karl – wie auch seine Chronisten, die ja immer nur beiläufig von den Gewändern berichteten – vielleicht gar nicht gewußt hat, daß die Ehrengewänder Haruns nicht einfach bloße Geschenke waren, sondern daß deren Annahme zugleich Ausdruck der Anerkennung der Oberhoheit des Kalifen darstellt. Die Kenntnisse über die Gepflogenheiten und Etikette an den Höfen in Abendland und Morgenland sind zu einer Zeit, als Gesandtschaften vier Jahre unterwegs waren, sicher nicht sehr weitreichend gewesen. Und am Ende wäre dann das Reich Karls des Großen, aus dem das spätere Deutsche Reich hervorging, wenn man es genau nimmt, völkerrechtlich ein Teil des islamischen Kalifats gewesen, und die Muslime damit nicht Fremde oder Ausländer, sondern die ersten und eigentlichen Bürger... ein Gedanke, der vielleicht den einen oder anderen Zeitgenossen die Geschichte der deutschmuslimischen Beziehungen und vor allem die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Deutschen und Muslimen einmal aus einer anderen Perspektive betrachten läßt. 13

Und wenn man der Quelle glaubt, ist in der Übertragung der Herrschaft über Jerusalem ein wesentlicher muslimischer Beitrag zur Festigung der abendländischen Kultur zu sehen. Denn diese Oberhoheit bedeutete einen erheblichen Zuwachs an Prestige und Anerkennung für Karl den Großen und damit eine Stärkung des karolingischen Reiches, das die Grundlage für die Ausformung und Verbreitung der abendländischen Kultur bildet.

OHNE ES ZU BEMERKEN

1

Manchmal tragen wir ihn mit uns herum, ohne es zu bemerken. Und ebenso unbemerkt werden wir ihn wieder los, verschwindet er einfach. Obwohl gewichtig, ist er nicht schwer. Obwohl groß, ist er klein, so klein, daß man ihn kaum sieht. Doch wenn man genau hinschaut, ist er deutlich zu erkennen – der Roland mit Schild und Schwert. Auf der Zwei-Euro-Münze von 2010 steht er vor dem Bremer Rathaus, wie im richtigen Leben. Nur da ist er nicht zu übersehen, zehn Meter hoch ist die steinerne Figur, errichtet 1404. Wen stellt sie dar?

Vom tapferen Roland muß ich schon als Kind gehört haben. Viel ist in der Erinnerung nicht haften geblieben. Das seltsame Wort „Olifant“, der Name des Horns, mit dem Roland im Kampf ein Signal gab, um Hilfe herbeizurufen. Die Verzweiflung war so groß, daß ihm beim Stoß ins Horn die Adern platzten. Daran starb er. Daß es mit Elefant zu tun hat und damit ein Stoßzahn dieses Tiers gemeint war, spielte keine Rolle. Ebenso wenig, wer Rolands Gegner waren, mit denen er kämpfte. Sarazenen? Das Wort war bedeutungslos. So hießen eben die Feinde, mit denen Roland sich im Krieg befand. Bedeutsam war indes die Stimmung, die der Name Roland mit sich brachte. Ein bedrückendes Gefühl, mit Traurigkeit vermischt, nichts Freudiges, nichts Hochgestimmtes, kein „hoher muot“, wie er in der mittelalterlichen Welt dem wackeren Ritter doch ansteht.

Zu Bremen gab es allerdings noch eine andere Geschichte, das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten. Da taten sich vier arme, ausgenutzte Tiere zusammen, Esel, Hund, Katze und Hahn. Um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wollten sie nach Bremen ziehen und dort Stadtmusikanten werden. Unterwegs mußten sie im dunklen Wald übernachten, wo sie ein Räuberhaus fanden, die Räuber daraus vertrieben und es sich dort gut gehen ließen. Die Schwachen, weil sie sich zusammentaten, haben gesiegt. Diese Geschichte war lustiger als die vom Roland.

2

Das eigentliche „Rolandslied“ lernte ich dann im Gymnasium kennen, als die mittelhochdeutsche Literatur auf dem Lehrplan stand. Auch daran erinnere ich mich nicht mehr im Einzelnen. Doch so viel wußte ich seither: Roland hatte in den Pyrenäen den Rückzug zu sichern, wurde dort aus dem Hinterhalt von den Sarazenen überfallen, stieß verzweifelt in sein Horn, um Hilfe herbeizuholen, und kam schließlich zu Tode. Auch der Ortsname Roncevall blieb irgendwie haften, richtig geschrieben wird er „Roncesvalles“. Erst später lernte ich dann – außerhalb der Schule, durch eigene Lektüre – daß es überhaupt nicht Sarazenen waren, die den Überfall auf die Nachhut Karls des Großen verübt hatten. Roland und seine Heldenschar wurden getötet, doch „nicht von Muhamedanern, sondern von christlichen Basken, Unterthanen des Königs von Asturien.“ 14

Ob man das heutzutage klarstellt, wenn in der Schule das Rolandslied vorkommt, weiß ich nicht, weiß nicht einmal, ob es überhaupt noch vorkommt. Sicher ist aber, daß die Vorstellung vom schrecklichen Hingemetzeltwerden des Roland und seiner Getreuen durch die Sarazenen über bald ein Jahrtausend hinweg das kollektive Bewußtsein der Abendländer und speziell der Deutschen mitgeprägt hat. Bis heute steht der Roland in Stein auf mehr als einem Marktplatz.

Das Rolandslied, ursprünglich aus Frankreich, kurz zusammengefaßt, berichtet vom Feldzug Karls des Großen nach Spanien:

Guenelun, im Deutschen Ganelon, führt in Karls Auftrag Verhandlungen mit dem Sarazenenkönig Marsilie von Saragossa. Ganelon möchte seinen Stiefsohn Roland loswerden und rät dem Sarazenenherrscher zur Kriegslist. Wenn er anbietet, sich zu unterwerfen und Christ zu werden, würde Karl den Rückzug antreten. Dann könnten die Sarazenen Roland, den Anführer der Nachhut, mit seiner Schar vernichten. Karl zieht ab, und die Sarazenen greifen die Nachhut an. Roland kann den Kaiser noch mit dem Signal aus seinem Horn „Olifant“ aufmerksam machen, doch die Hilfe kommt zu spät. Als der Kaiser mit dem Heer eintrifft, sind die Helden einschließlich Roland tot. Karl besiegt die Sarazenen, ihr König Marsilie, verwundet, stirbt, der Verräter Ganelon wird hingerichtet, von vier Pferden zerrissen. Namen und noch mehr Verlauf in der Dichtung sind meistenteils fiktiv, lassen aber doch Bezüge zu geschichtlichen Ereignissen erkennen. Für die ursprüngliche Zuhörerschaft dürfte die Frage nach dem Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit nicht bedeutsam gewesen sein. Man hielt für wahr, was man hörte.

Die mittelhochdeutsche Version des Rolandliedes entstand um 1170. Es ist dieser Text, der mir als Schüler bekannt wurde. Bezeichnenderweise trägt er den Titel „Das Rolandslied des Pfaffen Konrad.“ Schon das läßt erkennen, worin der wesentliche Unterschied zum altfranzösischen „Chanson de Roland“ besteht: In der deutschen Fassung des Rolandliedes ist der kirchliche Einfluß unübersehbar. Der Verfasser erwähnt sich selbst als „Pfaffe Konrad“ – „ich haize der phaffe Chunrat.“ 15 Das muß nicht unbedingt bedeuten, daß er ein Kirchenmann war, legt es aber nahe. Zahlreiche Hinweise auf die Bibel, vor allem auf Stellen aus dem Neuen Testament, schmücken die Geschichte aus. Bezüge zwischen Hauptfiguren und biblischen Gestalten werden dargelegt, beispielsweise zwischen Karl dem Großen und David oder dem Verräter Genelun und Judas. Der Kampf als Gegenstand des Rolandsliedes des Pfaffen Konrad ist unverkennbar ein Kampf zwischen Christen und Heiden, nicht bloß zwischen Rittern zweier verfeindeter Parteien. So gesehen ist das Rolandslied des Pfaffen Konrad eine Dichtung, die ganz eindeutig religiöse Feindschaft thematisiert und das Kriegführen christlich, besser gesagt kirchlich, begründet und rechtfertigt. Das passt bestens zur Kreuzzugszeit und der Stimmung jener Epoche.

Zwar wird auch hier den heidnischen Gegnern, d.h. den Muslimen, gelegentlich ein positives Attribut zugestanden, doch die Heiden, die im Kampf ihr Leben lassen, fahren zur Hölle, während die Christen direkt ins Paradies kommen:

„Die Masse der Heiden beförderten sie zur Hölle. Von den Christen aber fanden ganze hundertacht Männer den Tod, die direkt ins Paradies eingingen.“ 16

Besonders klar kommt die Rolle der Kirche in der Ansprache zum Ausdruck, die der mitkämpfende Bischof Turpin den christlichen Kriegern hält. Sie schließt mit den Worten:

„Damit geben wir euch den Ablaß und versichern euch: Vor Gott seid ihr frei von allen weltlichen Sünden wie ein neugeborener Täufling. Soviel Heiden wie möglich zu töten soll eure Buße sein.“ 17

Die kirchliche Verheißung ist also: Heiden töten ist Buße und befreit von Sünde!

Interessanterweise war der Bischof Turpin „zwar ein Zeitgenosse Rolands, aber, soviel wir wissen, an dem spanischen Feldzuge nicht beteiligt.“ 18

3

Wofür steht das Rolandslied? Es ist wie Falschgeld, das unentdeckt zirkuliert. Man nimmt es für bare Münze. Und in der Tat, es hat genau diesen Zweck erfüllt. Es hat gleich doppelt gefälscht, den Verlauf der Geschichte und das Bild vom Islam. Die Fälschung der Geschichte besteht in der Darstellung, es seien die Sarazenen gewesen, die den wackeren Helden und seine Schar heimtückisch umgebracht haben. In Wirklichkeit waren es nicht die Muslime, sondern wie schon gesagt die Basken.

Das hatte bereits Einhard, der Biograph und Zeitgenosse Karls des Großen, zweifelsfrei von dessen Spanienkrieg im Jahre 778 berichtet:

„ ...er überquerte die Pyrenäen und eroberte alle Städte und Burgen, die er belagerte. Dann kehrte er ohne Verluste um. Auf dem Rückmarsch über die Pyrenäen musste er allerdings doch noch die Treulosigkeit der Basken erleben. Diese Gegend ist wegen ihrer dichten Wälder für Überfälle aus dem Hinterhalt sehr geeignet. Als die Armee – die engen Bergpfade liessen es nicht anders zu – in einer lang ausgestreckten Reihe daherzog, griffen die Basken, die sich auf einer sehr hohen Bergspitze versteckt hatten, hinten die Gepäckkolonne und die sie schützende Nachhut an und drängten sie, von oben herabstürzend, ins Tal hinunter. In dem darauffolgenden Gemetzel wurden die Franken bis auf den letzten Mann niedergemacht. Die Basken plünderten das Gepäck und zerstreuten sich dann unter dem Schutz der hereinbrechenden Nacht schnell in alle Richtungen. Durch ihre leichte Bewaffnung und wegen der günstigen Beschaffenheit des Kampfplatzes waren sie in diesem Gefecht sehr im Vorteil; die Franken dagegen waren wegen ihrer schweren Bewaffnung und des für sie ungünstigen Terrains in jeder Hinsicht benachteiligt. Bei dem Überfall fielen der königliche Truchseß Ekkehard, Pfalzgraf Anselm, Markgraf Roland von Bretagne und noch viele andere. Bis heute konnte das unselige Geschehen nicht gerächt werden, da sich der Feind nach vollbrachter Tat so weit verstreute, daß man keine Ahnung hatte, wo er zu suchen sei.“ 19

Aus Sicht der Sarazenen wurde dazu folgendes berichtet:

„Seitdem die Christen im Lande Afranc die Stadt Narbona wieder erobert hatten, hatten sie auch in jenen Gegenden, wie leicht zu erachten, wieder die Oberherrschaft; und bei den unaufhörlichen Kriegen, die der König Abderrahman mit den Aufrührern führen mußte, war man auf jene nicht aufmerksam genug. So kam es, daß sie mit zahlreicher Macht auf verschiedenen Punkten in Spanien einfielen, Raub, Mord und Verheerung vor sich her verbreiteten, und mit Feuer und Schwert die blühendsten Gegenden zerstörten, auch aller Orten Gefangene mit sich nahmen. Ihre leichte Reiterei wagte sich bis Zaragoza; allein die Walis von Wesca, Lerida und die andern von der Grenze zogen gegen diese zahlreichen Heere zu Feld, besiegten und nöthigten sie, in die Berge zu flüchten. Den Geschlagenen blieb nichts übrig, als ihre Beute durch Umkehren zu verlassen. An diesem Einfalle der Christen von Afranc, der im Jahre 162 d. H. (778) Statt fand, war die Unachtsamkeit der Walis an den Grenzen schuld.“ 20 Der Übersetzer merkt hierzu noch an: „Die Schlacht, von der hier die Rede ist, war die berühmte von Roncesvalles oder Roncevaux.“ 21

Roland, der Held des Rolandliedes, kommt hier nicht vor, nicht einmal der Name Karls des Großen wird genannt.

„Die Walis von Wesca und Zaragoza gaben dem Könige Abderrahman Nachricht von diesen Ereignissen, worauf er verordnete, daß sie die Christen in den dortigen Gebirgen durch unausgesetzte Streifzüge in den Thälern wieder zum Gehorsame bringen sollten. 22