bell hooks

Die Bedeutung von Klasse

Warum die Verhältnisse nicht auf Rassismus
und Sexismus zu reduzieren sind

 

Aus dem amerikanischen Englisch
von Jessica Yawa Agoku

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

Gefördert mit freundlicher Unterstützung der

 

bell hooks: Die Bedeutung von Klasse

1. Auflage, Mai 2020

 

 

eBook UNRAST Verlag, Juni 2020

ISBN 978-3-95405-064-2

 

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de – kontakt@unrast-verlag.de

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

 

Titel der Originalausgabe

where we stand: class matters

Veröffentlicht von Routledge, 2000

Copyright © 2000 Gloria Watkins

Alle Rechte vorbehalten

 

Autorisierte Übersetzung der englischsprachigen Ausgabe,

herausgegeben von Routledge, einem Mitglied der

Taylor & Francis Group LLC

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlag: Unrast Verlag

Satz: Unrast Verlag

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Die Bedeutung von Klasse

1 Das Private ist politisch: Zur Bedeutung von Klasse innerhalb der Familie

2 Klassenbewusstsein entwickeln

3 Klasse und die Politik des einfachen Lebens

4 Geldgier

5 Die Politik der Gier

6 Reich sein

7 Die egoistische Klasse: jung und rücksichtslos

8 Klasse und Race: Die neue Schwarze Elite

9 Feminismus und Klassenmacht

10 Weiße Armut: Die Politik der Unsichtbarkeit

11 Solidarität mit den Armen

12 Klassenansprüche: Rassismus und Grundeigentum

13 Klassengrenzen überschreiten

14 Leben ohne Klassenhierarchien

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

bell hooks, am 25. September 1952 als Gloria Watkins in Hopkinsville, Kentucky geboren, ist eine afoamerikanische Literaturwissenschaftlerin. In ihren zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigt sie sich mit Feminismus und Gender-Fragen, Antirassismus, Klassismus und Kulturkritik. Auf Deutsch liegen bisher nur wenige ihrer Bücher vor; zuletzt erschien im Frühjahr 2019 die Neuauflage von Black Looks Black Looks. Popkultur – Medien – Rassismus im Orlanda Verlag.

Vorwort

Heutzutage ist es angesagt, über Themen wie race[1] oder Gender zu sprechen; das weniger coole Thema ist Klasse. Es ist das Thema, bei dem wir alle verkrampfen, nervös werden, nicht sicher sind, wo wir stehen. In weniger als zwanzig Jahren ist unsere Nation zu einem Ort geworden, der wahrhaft von den Reichen regiert wird. Früher bot Reichtum Prestige und Macht, jedoch wurden die Werte der Nation nicht allein von den Reichen bestimmt. Während die Gier zwar schon immer fester Bestandteil des amerikanischen Kapitalismus war, ist sie mittlerweile zum Maßstab dafür geworden, wie wir leben und im Alltag miteinander umgehen.

Viele Bürger*innen dieser Nation, mich selbst eingeschlossen, waren und sind zu ängstlich, um über die Bedeutung von Klasse nachzudenken. Wohlhabende Liberale, die sich um die Not von Armen und Besitzlosen kümmern, werden täglich verspottet und lächerlich gemacht. Alle Probleme des Sozialstaats werden ihnen zur Last gelegt. Fürsorglichkeit und die Bereitschaft zu teilen werden inzwischen als Eigenschaften von schwachen Idealist*innen angesehen. Unsere Nation entwickelt sich rasch zu einer nach Klassen gespaltenen Gesellschaft, in der die Not der Armen in Vergessenheit gerät, und die Gier der Reichen moralisch toleriert und geduldet wird.

Als Nation scheuen wir den Dialog über Klasse, obwohl die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich längst den Weg für einen fortwährenden und ausdauernden Klassenkampf geebnet hat. Als Bürgerin, die aus der Arbeiterklasse stammt und in die Welt des Wohlstands aufgestiegen ist, hatte ich lange mit der Bedeutung von Klasse in meinem Leben zu kämpfen, und damit, was es heißt, sehr viel zu haben, während so viele andere nur sehr wenig haben. In meinem Fall zählten zu denjenigen, die sehr wenig hatten, auch meine eigene Familie und meine Freunde. Wie die überwiegende Mehrheit der Frauen in dieser Nation, glaube ich an Fürsorglichkeit und die Notwendigkeit zu teilen. Ich will in einer Welt leben, in der für alle ausreichend von dem vorhanden ist, was grundlegend und notwendig ist. Diese Überzeugungen im Alltag umzusetzen, ist keine leichte oder einfache Angelegenheit.

Die nachfolgenden Essays über Klasse setzen sich sowohl mit der Verantwortung auf staatlich- institutioneller Ebene auseinander, als auch mit der individuellen Verantwortung jedes und jeder Einzelnen. Ich schreibe über jene Aspekte von Klasse, die mein Leben und das so vieler anderer Leute, die ebenfalls versuchen, Verantwortung zu übernehmen, die an Gerechtigkeit glauben und Stellung beziehen wollen, am stärksten geprägt haben. Ich schreibe auf sehr persönlicher Ebene über meinen Weg von der Welt der Arbeiterklasse, hin zu einem Klassenbewusstsein; darüber, wie Klassismus den Feminismus untergraben hat, über Solidarität mit den Armen und wie wir die Reichen sehen. Natürlich beschäftigen sich die Essays auch mit Konsumverhalten und der Art und Weise, wie die Lust auf Wohlstand eine Politik der Gier hervorbringt.

Frauen jedweder Herkunft sowie Schwarze[2] Männer zählen zusehends zu den Ärmsten der Armen. Schweigen brechen – über Klasse sprechen und akzeptieren, wo wir stehen – ist ein notwendiger Schritt, wenn wir in einer Welt leben wollen, in der Wohlstand und Reichtum geteilt werden können, und in der Gerechtigkeit sowohl in unserem öffentlichen als auch privaten Leben verwirklicht werden kann. Die Zeit, um über Klasse zu sprechen, um herauszufinden, wo wir stehen, ist jetzt – bevor es zu spät ist, bevor wir alle an Ort und Stelle gefangen und unfähig sind, das Schicksal unserer Klasse oder unserer Nation zu verändern.

 

bell hooks

Einleitung
Die Bedeutung von Klasse

Überall, wo wir uns in unserem Alltag innerhalb dieser Nation hinwenden, werden wir mit der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich konfrontiert. Sei es der Obdachlose, an dem wir vorbeigehen, während wir in den Städten unseren täglichen Pflichten nachkommen, oder das klimpernde Geräusch einiger weniger Münzen in den Schalen von bettelnden Personen, oder der mittelständische Familienangehörige oder Freund, der aufgrund von Kürzungen und Einsparungen von Arbeitslosigkeit bedroht ist, oder von Werksschließungen oder angestiegenen Kosten für Lebensmittel und Wohnen; Wir alle nehmen die Bedeutung von Klasse wahr. Dennoch gibt es keine organisierten Klassenkämpfe, keine tägliche schonungslose Kritik an der kapitalistischen Gier, die zum Denken und Handeln anregt – zu Kritik, Reform und Revolution.

Wir haben uns zu einer passiven Nation entwickelt, die sich weigert, sich gegenüber den mehr als achtunddreißig Millionen Bürger*innen, die hier in Armut leben, und der Masse an Arbeiter*innen, die lange und schwer schuften und dennoch Schwierigkeiten haben, über die Runden zu kommen, verantwortlich zu zeigen. Die Reichen werden immer reicher. Und die Armen bleiben auf der Strecke. Bisweilen hat es den Anschein, dass es niemanden kümmert. Bürger*innen in der Mitte der Gesellschaft, die ein komfortables Leben führen, luxuriös im Vergleich zum Rest der Welt, haben oft die Befürchtung, dass allein das Infragestellen von Klassismus ihr Untergang sein wird, dass sie schlicht durch das zum Ausdruckbringen von Sorge gegenüber Armen selbst wie diese enden und es ihnen an den Grundbedürfnissen des Lebens mangeln wird. Defensiv wenden sie sich von den Armen ab und suchen bei den Reichen nach Antworten, überzeugt davon, dass ein gutes Leben nur möglich ist, wenn materieller Wohlstand vorhanden ist.

Unsere Nation wird mehr und mehr durch Klassenunterschiede gespalten. Die Armen leben zusammen und bleiben unter sich, – in beengten und geschlossenen Wohnkomplexen, ohne angemessenen Schutz, Essen oder medizinische Versorgung – als Opfer räuberischer Gier. Überall im Land sieht es in den armen Gemeinden zusehends wie in Kriegsgebieten aus, mit vernagelten und wie ausgebombten Gebäuden, entweder mit zahlreichen Einschusslöchern oder der leeren Stille unbefriedigten Hungers. In einigen Nachbarschaften müssen die Bewohner*innen Namensschilder tragen, um Zugang zu sozialen Wohnprojekten, d.h. zu geschlossenen Wohnanlagen, die Eigentum des Staates sind, zu erlangen. Dort schützt niemand die Interessen der Bürger*innen; schon bald werden sie die Opfer eines Klassengenozids sein. Dies ist die untätige Art und Weise, wie unser Land mit den Armen und Bedürftigen umgeht, sie einfach zurücklässt, um sie in Straßenkämpfen oder an Zucker, Alkohol und Drogensucht, AIDS oder Hunger sterben zu lassen.

Die Reichen, in Eintracht mit ihren Nachbar*innen aus der Oberschicht, leben ebenfalls in geschlossenen Gemeinschaften, wo sie eifrig damit beschäftigt sind, die Interessen ihrer Klasse – ihren Lebensstil – zu sichern, mittels Überwachung, Sicherheitskräften oder einer direkten Verbindung zur Polizei, sodass alle möglichen Gefahren unter Kontrolle gehalten werden können. Fremde, die sich in diese Nachbarschaften begeben und so aussehen, als gehörten sie dort nicht hin, was bedeutet, dass sie die falsche Hautfarbe haben bzw. ihr Erscheinungsbild auf eine niedrigere Klasse schließen lässt, werden angehalten und kontrolliert. In meiner wohlhabenden Nachbarschaft in Greenwich Village werde ich oft von Ladenbesitzer*innen aufgehalten und gefragt, wo ich arbeite, wessen Kinder ich beaufsichtige, was nichts anderes heißt als, du darfst hier nicht wohnendu siehst nicht so aus, als ob du hier hingehörst. Jung auszusehen und Schwarz zu sein, bedeutet, nicht dazuzugehören. Wohlstand, so glauben sie, sei immer weiß. Manchmal, wenn ich durch meine Nachbarschaft laufe und dunkelhäutige Kindermädchen anstarre, die Akzente höre, die sie noch immer als Migrantinnen ausweisen, erinnere ich mich daran, dass dies die Welt ist, die aus einer Plantagenwirtschaft entstanden ist – eine Welt, in der die einen gefesselt sind und die anderen frei, eine Welt der Extreme.

Die meisten Leute in meiner vorwiegend weißen Nachbarschaft betrachten sich selbst als aufgeschlossen; sie glauben an Gerechtigkeit und daran, die richtigen Anliegen zu unterstützen. Meistens sind sie in sozialen Fragen liberal eingestellt und in finanziellen Fragen konservativ. Sie glauben an Multikulturalismus und erkennen ihn an und feiern Diversität (in unserer Nachbarschaft gibt es unzählige schwule weiße Männer und weiße heterosexuelle Menschen, die mindestens eine*n Schwarze*n, asiatische*n oder hispanische*n Freund*in haben), doch wenn es um Geld und Klasse geht, wollen sie beschützen, was sie haben, um es zu erhalten und zu vervielfältigen – sie wollen mehr. Der Umstand, dass sie so viel haben, während andere nur wenig besitzen, bereitet ihnen keine moralischen Qualen, weil sie ihr Glück als Zeichen dafür sehen, auserwählt zu sein, etwas Besonderes zu sein, es verdient zu haben. Zu wissen, dass nicht jede*r so leben kann wie sie selbst, bestärkt sie in ihrem Gefühl von Wohlstand und Wohlbefinden. Sie verspotten übereifrige Liberale, die dazu neigen, sich schuldig zu fühlen. Sozialer Abstieg gehört der Vergangenheit an, in der heutigen Welt des Überflusses lautet die Message: Zeig, was du hast!

Wenn alteingesessene kleine Familienunternehmen schließen müssen, weil die Mieten zu hoch sind und ein weiterer hochpreisiger Geschenkeladen oder Friseursalon eröffnet, mögen sie das bedauern, verstehen die stetig steigenden Immobilienpreise jedoch als Preis, den es für wirtschaftlichen Fortschritt eben zu zahlen gilt. Sie haben keine Erinnerung an die Zeit, als das West Village noch das Zuhause von mittellosen Künstler*innen, Musiker*innen und Poet*innen und ein Zufluchtsort für die sexuell freien und grenzüberschreitenden war. Ein Ort der Rebellion. Sie haben keine Erinnerung an die Tage, in denen Schwarze Frauen hier weder ein Zimmer noch ein Apartment mieten konnten, weil die weißen Leute uns alle, ungeachtet unserer Klasse, als Prostituierte ansahen – als schlechtes Vorzeichen. Heutzutage bekommen wir die Schlüssel zu den großen Häusern, solange wir zum Putzen kommen, und um die Kinder zu betreuen. Nachbar*innen erzählen mir, dass der Mangel an Diversität nichts mit Rassismus zu tun habe, sondern nur eine Frage der Klasse sei.

Sie glauben tatsächlich, dass alle Schwarzen Menschen arm sind, egal wie oft sie über Bill Cosby gelacht, Colin Powell salutiert, Will Smith nachgeahmt, zu Brandy und Whitney Houston getanzt oder Michael Jordan angefeuert haben. Und doch ist es so: Wenn reiche Schwarze Menschen dort hinziehen, wo sie leben, sorgen sie sich, dass Klasse allein nicht genug zählt, weil es schließlich sein könnte, dass die Schwarzen Leute möglicherweise ein paar arme Verwandte haben – und schon geht sie dahin, die schöne Nachbarschaft. Ähnlich wie mit den Taxifahrer*innen, die nicht anhalten, weil Schwarzsein bedeutet, dass du auf dem Weg raus aus der Stadt nach Brooklyn bist – zu Orten, die nicht sicher sind. Sie kehren alle Schwarzen über einen Kamm. Wo reiche Schwarze in die Nachbarschaft ziehen, sind arme Schwarze nicht weit entfernt.

Schwarze Menschen mit Geld machen sich über Klasse mehr Gedanken als die meisten anderen Menschen in dieser Gesellschaft. Sie wissen, dass die meisten weißen Leute um sie herum der Auffassung sind, dass alle Schwarzen Menschen arm seien, sogar jene, die in schicken Anzügen und maßgeschneiderten Hemden stecken, eine Rolex tragen und Aktentaschen aus Leder mit sich führen. In der weißen Vorstellung ist Armut in erster Linie immer Schwarz. Obwohl es auch viele weiße arme Menschen gibt, bleiben sie in den Vororten und ländlichen Gebieten, in denen sie leben, unsichtbar. Schwarze Arme sind dagegen überall, zumindest sind viele weiße Menschen dieser Auffassung.

Wenn ich bei Barney’s, einem Luxus-Kaufhaus in meiner Nachbarschaft, shoppen gehe, und sich mir eine gut gekleidete weiße Frau auf der Suche nach der erstbesten Verkäuferin zuwendet und meine Hilfe verlangt – obwohl ich einen Mantel trage, meine Handtasche dabeihabe und mich mit meiner ähnlich angezogenen Freundin unterhalte – frage ich mich, wen und was sie sieht, wenn sie mich anschaut. Aus ihrer Perspektive glaubt sie zu wissen, wer die Macht der Klasse, das Recht hat, hier zu shoppen; das Aussehen der armen und arbeitenden Klasse unterscheidet sich immer von der ihren. Selbst wenn wir beide gleich gekleidet wären, würde sie über die Kleidung hinwegsehen, um das Gesicht der Benachteiligten zu sehen, so wie es ihr eben beigebracht wurde.

In meiner Nachbarschaft glauben alle, dass das Gesicht der Armut Schwarz ist. Die weißen Armen gehen in der Menge unter, die Schwarzen stechen heraus. Männliche Schwarze Obdachlose entertainen, singen Songs, erzählen Witze oder erregen durch freundliche Sprüche Aufmerksamkeit, in der Hoffnung auf ein paar Münzen in ihren Bechern. Für gewöhnlich murmeln weiße Obdachlose vor sich hin oder sitzen still hinter einem Pappschild, das ihren wirtschaftlichen Schmerz beschreibt. Sie sind voneinander getrennt, wenn sie Hilfe in der Mainstream-Welt suchen. Am Ende des Tages legen Schwarze und weiße Bedürftige ihre Einnahmen zusammen, sitzen Seite an Seite, teilen die gleiche Flasche und brechen das gleiche Brot. Am Ende des Tages leben sie in einer Welt, in der Herkunft und Klasse nicht mehr von großer Bedeutung sind.

Mein anderes Zuhause liegt in einer kleinen Stadt im Mittleren Westen, ein liberaler Ort im konservativen Bundesstaat Ohio, ein Staat, in der die American Nazi Party erstarkt und Flaggen in den Fenstern der patriotischen Armen und Reichen hängen. Es ist eine Stadt, in der Menschen verschiedenster Herkunft zusammenleben, eine Stadt mit progressiver Geschichte, und es gibt hier noch immer eine nachbarschaftliche Kultur des Kümmerns und Teilens. Klassenunterschiede wurden von außerhalb hierher importiert, von einer aus Fach- und Führungskräften bestehenden Klasse von Akademiker*innen, die aus nördlichen Städten und Staaten der Westküste hierhergekommen sind, wodurch die Immobilien- und Grundstückswerte gestiegen sind. Noch gibt es in den Nachbarschaften unserer kleinen Stadt eine höhere Vielfalt von verschiedenen Klassen und Ethnien[3] als in den meisten anderen Orten der Vereinigten Staaten. Wie überall gibt es auch hier Rassismus und Sexismus. Eine sich verändernde Klassenrealität, die die Leben Einzelner destabilisiert und in manchen Fällen unwiderruflich verändern wird, ist der politische Wandel der droht. Wie überall im Mittleren Westen werden Fabriken und Anlagen geschlossen; kleine Universitäten und Berufsschulen sind von Kürzungen betroffen; Angestellte in Vollzeit werden entlassen und der Einsatz von Teilzeit-Aushilfen wird schnell zum nationalen Standard. Klasse ist das dringlichste Thema, aber es wird nicht darüber gesprochen.

Am nächsten kommen die meisten Leute in dieser Nation einer Debatte über Klasse, wenn über Geld gesprochen wird. Lange Zeit wollten alle an dem Glauben festhalten, dass es sich bei den Vereinigten Staaten um eine klassenlose Gesellschaft handelt – dass alle, die nur hart genug arbeiten, es nach ganz oben schaffen könnten. Nur den wenigsten Leuten ist klar, dass es in einer wirklich klassenlosen Gesellschaft gar kein oben geben würde. Während es immer offensichtlich war, dass einige Leute mehr Geld haben als andere, werden Klassenunterschiede und Klassismus nur selten offenkundig eingestanden, wenn sie vorliegen. Die Übel des Rassismus und viel später auch des Sexismus, waren einfacher zu erkennen und zu hinterfragen als das Übel des Klassismus. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Armen keine öffentliche Stimme haben. Es ist kein Wunder, dass viele Bürger*innen lange dafür gebraucht haben, sich über Klassen bewusst zu werden – und ein Klassenbewusstsein zu entwickeln.

Solidarität innerhalb ethnisch homogener Gruppen, insbesondere die Solidarität unter weißen, wurde historisch betrachtet immer dazu benutzt, um die Bedeutung von Klasse zu vernebeln, um weiße Arme dazu zu bringen, ihre Interessen im Einklang mit der Welt weißer Privilegien zu sehen. Ebenso wie man Schwarzen Armen immer erzählt hat, dass Klasse niemals von so hoher Bedeutung sein kann wie race. Heute wissen es sowohl Schwarze als auch weiße Arme besser. Sie lassen sich nicht mehr so leicht von dem Appell an unhinterfragte ethnische Identifikation und Solidarität täuschen, aber sie sind noch unsicher, was all diese Veränderungen bedeuten: Sie wissen nicht, wo sie stehen.

 

Diese Unsicherheit wird von jenen geteilt, die nicht arm sind, aber schon morgen arm sein könnten, wenn sie ihre Jobs verlieren sollten. Auch sie haben Angst davor, zuzugeben, wie groß die Bedeutung von Klasse ist. Während man den Armen Sucht als Ausweg anbietet, um nicht zu viel nachdenken zu müssen, werden die arbeitenden Menschen zum Shoppen animiert. Die Konsumkultur bringt die arbeitenden Leute und die Mittelschicht zum Schweigen. Sie sind damit beschäftigt zu kaufen, oder zu planen, etwas zu kaufen. Trotz ihrer fragilen, am seidenen Faden hängenden wirtschaftlichen Situation, halten sie noch immer am Traum einer klassenlosen Gesellschaft fest, in der es jede*r an die Spitze schaffen kann. Sie haben Angst, sich der Bedeutung von schwindenden Ressourcen, den hohen Kosten für Bildung, Wohnen und dem Gesundheitswesen zu stellen. Sie haben Angst davor, zu tiefgründig über die Bedeutung von Klasse nachzudenken.

Am Ende des Tages scheint es ihnen schlicht zu gefährlich, sich der vom Klassenkampf ausgehenden Bedrohung zu stellen. Die ordentlichen binären Kategorien von weiß und Schwarz oder männlich und weiblich sind nicht vorhanden, wenn es um die Bedeutung von Klasse geht. Wie werden sie da den Feind ausmachen können? Wie sollen sie wissen, vor wem sie sich in Acht nehmen oder wen sie herausfordern müssen. Sie können den Wandel globaler Arbeit nicht sehen – die Gesichter der Frauen und Kinder, die grenzüberschreitend vom kapitalistischen Patriarchat weißer Vorherrschaft ausgebeutet werden, und sowohl zu Hause als auch im Ausland für wenig Geld die Drecksarbeit machen. Sie sprechen nicht die Sprache der Migrant*innen, der Männer und Frauen, die hier in der Fleischindustrie, der Bekleidungs- und Textilbranche, als Landarbeiter*innen, Köch*innen, Hilfskellner*innen, Kindermädchen und Haushaltshilfen arbeiten. Obwohl konservative Reiche täglich die Massenmedien instrumentalisieren, um ihnen beizubringen, dass die Migrant*innen die wahre Bedrohung darstellen, dass Sozialhilfe eine Bedrohung ist, beginnen sie sich zu fragen, wer wirklich von der Armut profitiert und wohin das Geld eigentlich geht. Und ob es ihnen gefällt oder nicht, eines Tages werden sie sich der Realität stellen müssen: Es ist keine klassenlose Gesellschaft.

Oftmals habe auch ich Angst davor, über die Bedeutung von Klasse nachzudenken oder zu schreiben. Meine Reise zu einem Klassenbewusstsein begann für mich als Studentin am College, als ich die Politik der amerikanischen Linken kennenlernte, Marx, Fanon, Gramsci, Memmi, das Kleine Rote Buch und vieles mehr las. Doch als mein Studium endete, empfand ich meine Sprache noch immer als unzulänglich. Ich fand es noch immer schwierig, die Bedeutung von Klasse in Bezug auf race und Gender zu verstehen. Selbst jetzt schauen die intellektuellen Linken dieser Nation auf all jene herab, die den auserkorenen Jargon nicht beherrschen. Das akademische Feld und der intellektuelle Diskurs über Klasse sind noch immer zumeist weiß und männlich. Zwar gibt es einige wenige Frauen, die zu Wort kommen dürfen, doch hören die Männer meistens nicht wirklich zu. Die meisten linksgerichteten Männer erkennen die linke revolutionäre Politik des Feminismus nicht komplett an: Für sie bleibt Klasse das einzige Thema. Innerhalb eines revolutionären Feminismus ist eine Analyse von Klasse wichtig, aber eben auch von ebenso großer Bedeutung wie eine Analyse von race und Gender.

Klasse ist von Bedeutung. Race und Gender können als Projektionsflächen dienen, um von der harten Realität abzulenken, die Klassenpolitik offenbart. Es ist offensichtlich: Wann immer wir dem Thema Klasse mehr Aufmerksam widmen, und dabei race und Gender verwenden, um die neuen Dimensionen zu verstehen und zu erklären, ist es die Gesellschaft, ja sogar unsere Regierung, die vorschlägt, dass wir über race und Rassismus reden sollten. Es ist unmöglich, ernsthaft darüber zu sprechen, Rassismus ausmerzen zu wollen, ohne dabei über die Bedeutung von Klasse zu sprechen. Lassen wir uns nicht täuschen. Lassen wir uns nicht von Spektakeln wie dem O. J.-Simpson-Fall dazu verleiten, den Massenmedien zu glauben, die den Kampf um Gerechtigkeit schon immer verraten haben, indem sie uns glauben machen wollten, es ginge allein um race, oder ausschließlich um Geschlechterrollen. Lasst uns anerkennen, dass es in erster Linie um Klasse ging und das Zusammenspiel von race, Geschlecht und Klasse. Seien wir ehrlich, wäre O.J. Simpson arm oder aus der unteren Mittelschicht gewesen, hätte es keine mediale Aufmerksamkeit gegeben. Gerechtigkeit war hier nie das zentrale Thema. Die Leidenschaft unserer Nation dafür, mehr über das Leben der Reichen zu erfahren, machte Klasse zum Ausgangspunkt. Es begann mit Geld und wurde zu einem Medien-Spektakel, das noch mehr Geld generierte – ein weiterer Fall von Reichen, die immer reicher werden. Dem Simpson-Prozess wird eine Erhöhung des Bruttosozialprodukts um zweihundert Millionen Dollar zugeschrieben. Rassismus und Sexismus können im Interesse von Klassenmacht instrumentalisiert werden. Trotzdem will niemand über die Bedeutung von Klasse sprechen. Es ist weder sexy noch niedlich. Besser so tun, als ob auch Gerechtigkeit frei von sozialen Schichten sei – als ob das, was O. J. passiert ist, auch jedem anderen arbeitenden Mann hätte passieren können.

Für Schwarze Menschen ist es schwierig, über die Bedeutung von Klasse zu sprechen. Klassenunterschiede anzuerkennen bringt die Vorstellung ins Wanken, dass sich Rassismus auf uns alle gleich auswirke. Es stört die Illusion einer Solidarität unter Schwarzen, die gerne von jenen mit mehr Klassenmacht verwendet wird, um sicher zu gehen, dass ihre Interessen selbst dann geschützt sind, wenn sie hinter den Kulissen ethnische Grenzen überschreiten. Als William Julius Wilson 1980 erstmals The Declining Significance of Race veröffentlichte, verärgerte der Titel viele Leser*innen, insbesondere die Schwarzen. Ohne das Buch gelesen zu haben, nahmen sie an, dass er darüber schrieb, dass race keine Rolle spiele – dabei argumentierte er fast schon prophetisch, wenn auch von einem konservativen und manchmal liberalen Standpunkt aus, dass unsere Nation sehr schnell zu einem Ort werde, in dem Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gesellschaftsschicht eine ebenso große Rolle spielt, wie race, und oftmals sogar eine größere.

Feministische Denkerinnen erkannten die überwältigende Bedeutung der ineinandergreifenden Systeme von race, Gender und Klasse, lange bevor sich Männer dazu entschieden, diese Themen gemeinsam zu denken. Dennoch war der Mainstream, insbesondere die Massenmedien, nicht dazu bereit, sich auf einen radikalen politischen Diskurs einzulassen, bei dem keines der Probleme bevorzugt behandelt wurde. Die Bedeutung von Klasse wird oft getrennt von ethnischer Herkunft betrachtet. Und während ethnische Herkunft oft mit Gender in Verbindung gebracht wird, mangelt es nach wie vor an einem kollektiven öffentlichen Diskurs, der alle drei Themen auf eine Weise beleuchtet, sodass jede*r sehen kann, wie unsere Nation tatsächlich aufgestellt ist und wie unsere Klassenpolitik in Wirklichkeit aussieht. Frauen jeder race sowie Schwarze Männer füllen immer schneller die Reihen der Armen und Entrechteten. Es ist in unserem eigenen Interesse, uns dem Problem von Klasse zu stellen, uns dessen bewusster zu werden, denn wenn wir es besser verstehen, wissen wir, wie wir am besten für ökonomische Gerechtigkeit kämpfen können.

Als ich begann, über Klasse zu schreiben, bemühte ich mich, mir meine eigene persönliche Reise – von der Arbeiterklasse hin zur Welt des Wohlstands – zu vergegenwärtigen, auch in dem Bestreben, ein größeres Bewusstsein für die Bedeutung von Klasse zu entwickeln.

Es war sinnvoll, mit der Bedeutung von Klasse als Ausgangspunkt zu beginnen. In vielen meiner anderen Arbeiten habe ich Gender oder race als Startpunkt gewählt. Ich habe mich hier für die Bedeutung von Klasse entschieden, weil ich der festen Überzeugung bin, dass Klassenkämpfe das Schicksal unserer Nation besiegeln werden, wenn wir Klassismus nicht kollektiv herausfordern, wenn wir der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich – zwischen jenen, die alles bzw. nichts haben – keine Beachtung schenken. Dieser Klassenkonflikt ist bereits ethnisiert und geschlechtsspezifisch geprägt. Er führt schon jetzt zu Trennung und Abgrenzung. Wenn die Bürger*innen dieser Nation in einer Gesellschaft frei von Klasse leben wollen, müssen wir zunächst an einem Wirtschaftssystem arbeiten, das gerecht ist. Um einen Wandel herbeizuführen, müssen wir wissen, wo wir stehen.

Das Private ist politisch:
Zur Bedeutung von Klasse
innerhalb der Familie

Wenn man gemeinsam mit vielen Menschen auf engem Raum lebt, wächst man mit einer ziemlich anderen Vorstellung von Eigentum und Privatsphäre auf, als Leute, die schon immer viel Platz hatten. In unserem Haus wurden die Zimmer geteilt. Unser erstes Haus, es war gemietet, hatte drei Schlafzimmer. Es war im Grunde ein Betonblock, der einst als Behausung für Arbeiter*innen gebaut worden war, die nur für kurze Zeit an diesen abgelegenen Ort kamen, um im Boden nach Öl zu suchen. Es gab nur wenige Fenster. Düster und kühl wie eine Höhle, war es ein Haus ohne Erinnerungen oder Geschichte. Auch wir hinterließen keine persönliche Note. Der Beton war zu massiv, als dass die Mittel eines Paares mit drei kleinen Kindern – und noch weiteren unterwegs – ausgereicht hätten, um ihr erstes Heim neu zu gestalten. Auf der Spitze eines kleinen Hügels gelegen, war das Haus von grünem Dickicht, wildem Geißblatt und überall wachsenden Brombeersträuchern umgeben. Wie eine große Decke breiteten sich hinter dem Dickicht Pflanzen Reihe um Reihe aus. Ihre Reglosigkeit und Schönheit standen im Kontrast zu der eingeebneten Natur, die das Betonhaus umgab – niedergemähtes Gras, zwischendrin immer wieder Zementblöcke.

Einsamkeit und Angst umgaben das Haus. Mehr Festung als Zufluchtsort, war es für einen frisch verheirateten Ehemann und jungen Vater der perfekte Ort, um im Haus sein eigenes patriarchales Reich aufzubauen – hart, umfassend, kalt. Architektonisch ist mir das Haus insbesondere wegen der kalten Fußböden in Erinnerung geblieben. Sie waren so kalt, dass man die nackten Füße schnell wieder unter die Decke zog, so wie man auch zurückschreckt, wenn die Haut mit etwas Heißem in Berührung kommt. In einem angrenzenden Raum zwischen Wohnzimmer und Küche, wo eigentlich das Esszimmer hätte sein können, standen die Etagenbetten der Kinder. Und die Kinder mussten lernen, vorsichtig zu sein. Bei einem Sturz aus dem Bett hätte man sich ein Loch im Kopf holen oder bewusstlos auf dem Betonboden liegen bleiben und unterkühlen können. Ich bin einmal gefallen. Und das hat mich geprägt: Die eine Erinnerung, die mich dieses Haus nicht vergessen lässt, obwohl wir dort nicht lange wohnten.

Es fehlte an so vielem: Es gab keine Badewanne. Wasser musste heiß gemacht, getragen und in riesige Zinnwannen geschüttet werden. Gebadet wurde in der Küche, um beim Ritual von Wasser erhitzen, schütten und waschen Zeit zu sparen. So etwas wie Privatsphäre gab es nicht. Wasser war knapp, wertvoll, wurde sparsam benutzt und niemals verschwendet. Zumindest sagten uns das die Erwachsenen. Es war eine bessere Geschichte als die versteckte Tatsache, dass Wasser Geld kostete; dass zu viele Kinder, die das Wasser einfach laufen ließen, höhere Kosten bedeuteten. Als kleine Kinder dachten wir weder an Kosten noch an Wasser als Ressource. Dieser einfache ökologische Aspekt ließ es uns immer als magisch erscheinen. Es war immer wertvoll – es wurde wertgeschätzt und umsichtig behandelt. Im Sommer sehnten wir uns danach, nackt zu sein, in Planschbecken rumzuspritzen oder mit Schläuchen zu spielen, doch wir wussten es besser. Wir wussten, dass es Verschwendung war, den Wasserhahn einfach laufen zu lassen. Und Wasser wurde nicht verschwendet.

Es war ein Haus aus Betonblöcken, die aus Kies und Zement bestanden. Ein kühles Haus im Sommer, ein kaltes Haus im Winter – schon das eine harsche Umgebung. Wir versuchten, dem Haus Erinnerungen einzuflößen, doch es weigerte sich, sie aufzunehmen. Undurchdringlich, perlten unsere Geschichten einfach vom Beton ab. Schließlich ließen wir das Haus hinter uns, noch trostloser und verlassener als zu den Zeiten, bevor wir dort gelebt haben – ein Haus, das schon bald abgerissen werden würde, um neuen Wohnprojekten Platz zu machen.

In unserem Haushalt fehlte es immer an Geld. Als wir noch kleine Kinder waren, wussten wir das nicht. Mama war eine junge Mutter der 1950er-Jahre, deren Vorstellung vom Muttersein von Zeitschriften und Werbespots im TV geformt wurde. Kinder, so hatte sie gelernt, sollten nicht in die Belange von Erwachsenen eingeweiht werden, erst recht nicht in die Sorgen. Und Eheleute diskutierten oder stritten sich auch nicht im Beisein der Kinder. Sie warteten, bis die Kinder eingeschlafen waren und unterhielten sich dann im Ehebett, die Stimmen gedämpft, beschwichtigend und voll von versteckten Geheimnissen.

Ich weiß nicht, ob sich unsere Mutter je selbst als arm betrachtet oder der Arbeiterklasse zugehörig gefühlt hat. Sie war eine geschiedene Teenagerin mit zwei Töchtern als sie unseren Vater heiratete. In jenen Jahren lebten die Kinder aus der ersten Ehe bei ihrem biologischen Vater. An den Wochenenden kamen sie zu Besuch zu uns. Vermutlich hatte mein Vater meine Mutter geheiratet, weil sie schwanger war. Er war ein ewiger Junggeselle, ein Einzelkind und Muttersöhnchen, der bis in alle Ewigkeit zu Hause wohnen und dies als Ausgangspunkt hätte nutzen können, um aus einem geschützten Ort heraus umherzustreifen, zu spielen und ein ewiges Kind zu bleiben. Stattdessen war er gefangen von den Verlockungen und Sehnsüchten einer schönen eifrigen jungen Frau, die zehn Jahre jünger war als er. Er wollte sie haben, auch wenn er sich nicht wirklich sicher war, ob er tatsächlich eine feste Bindung eingehen wollte – ohne die Möglichkeit, fortan weiterhin um die Häuser ziehen zu können.

Mama, wie auch ihre wunderbaren Schwestern und der gutaussehende Mann, den sie geheiratet hatte, liebte Spaß und Freiheit. Sie zog gern um die Häuser. Aber sie spielte auch gerne Vater-Mutter-Kind. Und der Betonklotz bedeutete für sie die Erfüllung tiefsitzender Sehnsüchte. Endlich hatte sie endgültig aus dem Haus ihrer Mutter ausziehen können. Es gab kein Zurück – keine Wiederkehr, keine Tränen, kein Bedauern. Ihre zweite Ehe war sie eingegangen, um zu bleiben. Es war ihre Form der Erlösung – eine zweite Chance auf eine Liebe, die ihre Träume wiederbeleben würde. Nur Mutter liebte das neue Leben im Betonklotz, fernab der Blicke einer fragenden Welt. Auch wenn die Abgeschiedenheit der verwilderten Umgebung bedrohlich wirkte, war sie zutiefst überzeugt, dass sie ihr Heim – ihre Welt – unter allen Umständen beschützen würde. Sie war oben auf dem Hügel gestrandet, daheim mit ihren Kindern. Unser Vater, ein Arbeiter, verließ in der Früh das Haus und kehrte erst spätabends nach Hause zurück. Er hatte nicht aufgehört, sich herumzutreiben. Seine Streifzüge hatten sich lediglich an den Umstand von Frau und Kindern angepasst. Mutter, die hingegen kein Auto fuhr, keine Nachbarn*innen zum Reden und kein Geld zum Ausgeben hatte, war diejenige, die nicht mehr frei umherziehen konnte, sondern schon bald häuslich geworden war – ihr Geist gezähmt und gebrochen.

Arm zu sein und zur Arbeiterklasse zu zählen, war im Betonklotz nie ein Thema. Wir waren zu jung, um die Bedeutung von Klasse zu verstehen, und um die Träume unserer Mutter, sich auf und davon zu machen und ihr Elternhaus hinter sich lassen, teilen zu können. Ein Mädchen ohne ordentliche Ausbildung, ohne den richtigen Hintergrund, konnte ihren Status nur durch eine Ehe verändern. Als Ehefrau gebührte ihr Respekt. All ihre Träume drehten sich um materiellen Status, und darum, eine Welt zu betreten, in der sie all das hätte, was zu einem Leben gehörte, in dem man es zu etwas gebracht hatte – in der sie durch ihr ›eigenes Haus‹ der Tyrannei des Hauses ihrer Mutter und ihren Regeln entkommen war. In den Augen der Welt galten die Leute in diesem Haus, ihrem Elternhaus, die ohne Sozialversicherung lebten, eine altmodische Art hatten und das Radio dem Fernseher vorzogen, als arm.

Sogar als Kinder war uns schon klar, dass unser Vater mit seiner Schwiegermutter alles andere als zufrieden war. Er war der Ansicht, dass sie ihren Ehemann dominierte und auch ihren Töchtern beigebracht hatte, dass es in Ordnung sei, die Männer in ihren Leben ebenso zu behandeln. Noch vor der Hochzeit ließ er Mutter wissen, wer in dieser Ehe die Hosen anhaben würde. Es würde immer sein Haus sein.

Das Haus, aus dem meine Mutter stammte, war ein weitläufiger zweistöckiger, mit Brettern umrahmter Holzverschlag, der je nach Laune von Baba, der Mutter meiner Mutter, um weitere Räume erweitert wurde. Als wir geboren wurden, war sie schon alt und lebte gemeinsam mit ihrem Ehemann, unserem geliebten Großvater Daddy Gus, in dem Haus. Er war alles, was sie nicht war. Ein gottesfürchtiger ruhiger Mann, der die Regeln befolgte und nie seine Stimme oder Hand erhob. Er war der Heilige unserer Familie. Baba war die geliebte Teufelin, ein gefallener Engel. Was sie sagte, war Gesetz – sie gebrauchte ihre scharfe Zunge, ihren Jähzorn sowie ihren schonungslosen Witz und Willen, damit alles nach ihren Vorstellungen lief.

Anders als der Betonklotz, war das Haus in dem Mutter in der 1200 Broad Street aufgewachsen war, die Verkörperung einer verzauberten Erinnerung. Veränderungen wurden weder benötigt noch waren sie gewollt. Die altbewährten Lebens- und Verhaltensweisen, waren die einzigen, an denen festgehalten wurde, die einzigen, für die es sich lohnte, Opfer zu bringen. In Babas Haus war alles, was selbstgemacht werden konnte und nicht im Laden gekauft worden war, von höherem Wert. Es war ein Haus, in dem Selbstversorgung an der Tagesordnung war. Der Garten war da, um Gemüse und Blumen anzupflanzen und um Würmer zum Angeln zu züchten. Kleine illegale Verschläge auf der Rückseite des Hauses dienten als Behausung für die Hühner, die frische Eier legten. Selbstgezüchtete Trauben wuchsen, um später Wein daraus zu machen; aus angebautem Obst wurde Marmelade gekocht. In diesem Haus wurde auch noch gebuttert. Seife wurde selbst hergestellt, seltsame Brocken aus Lauge. Und Zigaretten wurden aus Tabak gerollt, der zuvor selbst angebaut, gepflückt, getrocknet und schließlich zum Rauchen aufbereitet wurde, bzw. von der Familie zu kleinen Kränzen gedreht und geflochten wurde, um sich vor Motten zu schützen.

Dies war ein Haus, in dem niemals irgendetwas weggeworfen wurde und alles eine Verwendung hatte. Vollgestopft mit Objekten und Erinnerungen, war es für ein Kind unmöglich, zu erkennen, dass dies ein Haus von Erwachsenen ohne Sozialversicherungsnummer und ohne regelmäßige Arbeit war. Alle im Haus waren ständig beschäftigt. Müßiggang und Selbstversorgung passten einfach nicht zusammen. Alle Zimmer im Haus waren angefüllt mit Erinnerungen; jedes Teil hatte eine Geschichte, die von Mündern erzählt wurden, die schon lange Zeit in dieser Welt gelebt hatten, Münder, die sich erinnerten.

Schon die kleinsten Anlässe konnten Babas Zorn nach sich ziehen, etwa ein Kind, das ohne Erlaubnis etwas anfasste oder etwas wollte, bevor es von einem Erwachsenen angeboten worden war. In diesem Haus lief alles ritualisiert ab, sogar die Art, wie man sich begrüßte. Da gab es keine moderne Lässigkeit. Alle Rituale, deren Regeln sich aus der Erinnerung der Bewohner*innen ergaben, wurden mit vollstem Bewusstsein und Respekt betrieben. Die Ältesten sprachen zuerst. Ein Kind hörte zu, aber sprach nicht. Ein Kind wartete, bis es aufgefordert wurde zu sprechen. Und wann immer ein Kind sich danebenbenahm, wurden Strafen angewandt, um eine Lektion zu erteilen.

In diesem Haus zu Besuch zu sein oder auch länger zu bleiben, war immer ein Abenteuer. Es gab viel zu sehen und zu machen, aber es gab auch viel, was schiefgehen konnte. Dies war ein Haus, in dem jeder gegen den Strom schwamm. Sie stellten ihre eigenen Regeln auf, ihre eigenen Formen von Gerechtigkeit. Es war ein unkonventionelles Haus. Dies galt sowohl für den Bauplan als auch für die täglichen Gewohnheiten der Bewohner*innen. Als ich noch ein kleines Mädchen war, lebten vier Leute in dem Haus mit seinen vielen Zimmern – Baba, Daddy Gus, Tante Margaret (Mamas unverheiratete und kinderlose Schwester) und Bo (der Sohn einer Tochter, die bereits verstorben war). Alle hatten ihr eigenes Zimmer – Räume, die ihre unverwechselbaren Charaktere und Wesen widerspiegelten.