Das Ruhrgebiet Ende der 1950er Jahre: Das drohende Zechensterben treibt die Bergleute auf die Barrikaden. Johannes, der sich nach seinem schweren Unfall als Gewerkschafter engagiert, kämpft für die Interessen der Belegschaften. In diesen Zeiten des Umbruchs suchen die junge Buchhändlerin Inge und ihre rebellische Schwester Bärbel ihren Platz im Leben, jede auf ihre Art. Doch immer mehr Konflikte belasten den Familienfrieden, als eine unmögliche Liebe entsteht …
Eva Völler hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem verdiente sie zunächst als Richterin und Rechtsanwältin ihre Brötchen, bevor sie die Juristerei endgültig an den Nagel hängte. »Vom Bücherschreiben kriegt man einfach bessere Laune als von Rechtsstreitigkeiten. Und man kann jedes Mal selbst bestimmen, wie es am Ende ausgeht.«
Die Autorin lebt mit ihren Kindern am Rande der Rhön in Hessen.
E V A V Ö L L E R
Ein
Gefühl von
Hoffnung
L Ü B B E
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anna Hahn, Trier
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
Unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Daboost |
Andrius_Saz | Vyntage Visuals | saiko3p
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-9437-5
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Karl
»Hoch soll er leben, hoch soll er leben, dreimal hoch!« Die Familie sang das Lied im Chor, während das Geburtstagskind auf einem Stuhl stand und die Ehrung verlegen über sich ergehen ließ. Dem siebenjährigen Jakob war es sichtlich unangenehm, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Nicht nur seine Wangen waren rot angelaufen, sondern auch die leicht abstehenden Ohren schimmerten rötlich, zusätzlich angestrahlt von den Kerzen des Weihnachtsbaums, der hinter ihm stand. Die Festtage waren zwar bereits vorbei, aber der Baum würde wie jedes Jahr bis zum Dreikönigstag stehen bleiben.
Auch auf der Geburtstagstorte des Jungen brannten Kerzen, und nachdem der letzte Ton des Lieds verklungen war, hob Johannes den Kleinen vom Stuhl, damit er sie auspusten konnte.
»Komm schon, alle auf einmal«, sagte er aufmunternd, und dabei spiegelte sich seine tiefe Zuneigung zu dem Kind in seinen Zügen wider.
Jakob holte tief Luft, und unter dem jubelnden Beifall der Familie blies er mit einem kräftigen Pusten alle Kerzen aus.
»Vergiss nicht, dir was zu wünschen!«, rief seine Schwester Bärbel, und Jakob kniff fest die Augen zu, sichtbares Zeichen für die Dringlichkeit seines Wunschs. Seine älteste Schwester Inge, die am Vortag ebenfalls ihren Geburtstag begangen hatte, kämpfte mit den Tränen. Sie wusste genau, was er sich erträumte – er wollte nicht länger zur Schule gehen. Das hatte er auch schon auf den Wunschzettel fürs Christkind geschrieben.
Im Leben eines jeden Menschen gibt es Wünsche, die so elementar sind, dass man alles nur Erdenkliche tun würde, um sie wahrzumachen. So wie sie selbst in jener Nacht vor sieben Jahren, als ihre Mutter bei Jakobs Geburt gestorben war. Inge hätte in ihrer Verzweiflung jeden Pakt mit dem Teufel geschlossen, wenn er es ungeschehen gemacht hätte.
Doch solche Wünsche erfüllten sich bekanntlich nie, und auch ihr kleiner Bruder würde lernen müssen, mit den Zwängen des Lebens klarzukommen. Der Schule entging man nicht. Jedenfalls nicht, wenn man sieben Jahre alt und in der ersten Klasse war.
»Willst du nicht deine Geschenke auspacken?« Johannes zeigte auf den Stapel bunt verpackter Gaben, die Inge liebevoll auf einem Beistelltischchen dekoriert hatte.
Das ließ sich Jakob nicht zweimal sagen. Unter den fröhlichen Kommentaren von allen Seiten zog er vorsichtig das Papier von den Päckchen und begutachtete seine Geschenke. Mehrere Spielzeugautos und ein Bastelset für ein Flaschenschiff von Johannes und Hanna, ein Säckchen Murmeln und eine Tafel Schokolade von Bärbel, ein Geldumschlag von Mine und Karl. Und ein selbst gestrickter Pulli und ein Buch von Inge. Gut erzogen wandte er sich an die Runde und bedankte sich höflich.
Reihum drückten und herzten alle Familienmitglieder den Kleinen, obwohl er schon im Laufe des Tages diverse Umarmungen, Küsse und Streicheleien erduldet hatte. Wieder ließ er die familiäre Zuwendung geduldig, aber mit sichtlichem Unbehagen über sich ergehen. Je länger es andauerte, desto gequälter wurde sein Lächeln, und schließlich bereitete Inge dem Ganzen ein Ende, indem sie Jakob an ihre Seite zog und erklärte, nun sei es Zeit für den Geburtstagskaffee. Sie wies Jakob an, alle Geschenke in sein Zimmer zu bringen, und Bärbel musste das Papier von den Verpackungen glatt streichen und zusammenlegen, damit es noch einmal verwendet werden konnte.
Inge hatte den Wohnzimmertisch ausgezogen und hochgekurbelt, sodass sie alle daran Platz fanden. Johannes und Hanna saßen nebeneinander, gegenüber von Mine und Karl. Am Kopfende saß Bärbel, und Inge hatte ihren Platz auf der anderen Seite des Tisches, neben Jakob. Es war eng, aber gemütlich, und zu Inges Erleichterung herrschte eine aufgeräumte, beinahe heitere Stimmung. Sie selbst bemühte sich, ebenfalls dazu beizutragen, indem sie kleine Scherze einstreute oder über die Bemerkungen der anderen lachte. Etwa, als Hanna in launiger Manier erzählte, wie großkotzig manche ihrer Kunden sich aufführten. Sie war Mitinhaberin einer Kunsthandlung in Düsseldorf und hatte mit allen möglichen Leuten aus der Hautevolee zu tun. Von denen gab es offenbar in den letzten Jahren immer mehr. Manche schwammen geradezu in Geld und scheuten sich nicht, mehrere tausend Mark für ein Gemälde hinzublättern, und das oft ohne besonderes Kunstverständnis.
»Letzte Woche kam doch tatsächlich einer und wollte das Blaue Pferd von Franz Marc. Ich verzog keine Miene und versicherte, ich würde es sofort für ihn reservieren, falls ich es hereinbekäme. Da meinte seine Frau, sie hätte es aber lieber in Rot, das würde besser zu ihren Vorhängen passen.«
Inge lachte pflichtschuldigst, und auch Johannes lächelte, obwohl er diese Anekdote wahrscheinlich nicht zum ersten Mal hörte. Bärbel hingegen fragte Hanna, wieso sie solche dämlichen Banausen überhaupt bediente. »Die hätte ich achtkantig rausgeworfen!«
»Wer zahlt, schafft an, und ich habe denen an diesem Tag für viel Geld was anderes verkauft«, erklärte Hanna lächelnd. Sie steckte eine Zigarette auf ihre silberne Spitze und zündete sie an. Inge verspürte einen Hauch von Ärger, aber dann machte sie sich klar, dass es ihre eigene Schuld war. Sie hätte ja keinen Aschenbecher auf den Tisch stellen müssen.
Inges Großmutter Mine nahm jedoch kein Blatt vor den Mund. »Dat Wohnzimmer hier is auch Inges Schlafzimmer«, sagte sie zu Hanna. »Dat stinkt tagelang nach Qualm, wenn hier gepafft wird.«
Hanna hob überrascht die dunkel nachgezogenen Brauen. Die Situation schien ihr peinlich zu sein. Sie warf Johannes einen Hilfe suchenden Blick zu. Der wiederum wirkte ebenfalls unangenehm berührt. Fragend sah er Inge an.
»Ach was, Hanna, rauch ruhig«, sagte Inge hastig. »Ich kann ja nachher gut durchlüften!«
Doch Hanna hatte ihre Zigarette schon im Aschenbecher ausgedrückt, und Inge ärgerte sich erneut über sich selbst, diesmal, weil sie mit ihrer Äußerung Oma Mine in die Parade gefahren war, aber es störte sie auch, dass sich Hanna überhaupt eine Zigarette angesteckt hatte. Normalerweise ging sie zum Rauchen vor die Tür.
Inges Vater meldete sich zu Wort. »Wer ist Franz Marc?«, fragte Karl in die Runde.
»Ein berühmter Maler, Papa«, sagte Inge.
Karl nickte, als hätte er es geahnt. »Das habe ich bestimmt auch mal gewusst.«
»Natürlich hast du das gewusst, Papa.«
Karl wandte sich an Hanna. »Ich wusste früher viel mehr als heute. Leider habe ich seit dem Krieg ein schlechtes Gedächtnis.«
»Ich weiß, Herr Wagner«, erwiderte Hanna mit sanfter Stimme. Mitleid stand in ihren Augen, die sie wie immer ausdrucksstark geschminkt hatte, was ihre Schönheit noch unterstrich.
Karl schien das Bedürfnis zu verspüren, seine Beeinträchtigung näher zu veranschaulichen. Er drehte den Kopf, um Hanna die Narbe von seiner schweren Kriegsverletzung zu zeigen.
»Das musst du nicht machen, Papa«, sagte Bärbel. Sie klang wütend. »Hanna weiß, wie es um dich steht. Und du brauchst dich wirklich nicht dafür zu schämen, dass du Sachen vergessen hast.«
»Dat meiste is sowieso unwichtig«, pflichtete Oma Mine ihr bei. »Ich kenn den Maler auch nich. Keine Ahnung, wer dat war. Ehrlich, Jung, dat muss man nich wissen.«
Jetzt wirkte Karl erst recht unglücklich. Es schien ihm peinlich zu sein, dass er überhaupt davon angefangen hatte.
Inge griff nach seiner Hand und drückte sie fest. Dann stand sie auf, um in der angrenzenden kleinen Küche frischen Kaffee aufzubrühen. Nebenan im Wohnzimmer dümpelte die Unterhaltung unterdessen weiter vor sich hin. Alle bemühten sich jetzt, Karl mit einzubeziehen und ihm das Gefühl zu geben, in jeder nur erdenklichen Weise dazuzugehören – wobei das ohnehin keiner je infrage gestellt hätte. Doch es gab immer wieder Gelegenheiten, bei denen er selbst seine geistige Einschränkung als belastend empfand, und in diesen Momenten zerriss es Inge das Herz.
Hanna schien Mine den Tadel wegen des Rauchens nicht übel zu nehmen, sie erzählte von einer anderen Begebenheit aus ihrem Geschäft, und anschließend wollte sie von Bärbel wissen, wie es in der Schule lief.
»Großartig«, behauptete Bärbel, und Inge unterdrückte bei diesen Worten ihrer jüngeren Schwester ein frustriertes Seufzen, denn sie wusste es besser. In der letzten Zeit schien Bärbel alles, was mit der Schule zusammenhing, völlig gleichgültig zu sein. Inge hatte sie bereits zweimal beim Schwänzen erwischt und auf ihre besorgte Ermahnung hin nur die patzige Aufforderung geerntet, sich um ihren eigenen Mist zu kümmern. Schon allein deswegen hatte sie keine Lust, genauer darüber nachzudenken. Sie hasste es geradezu, sich damit auseinandersetzen zu müssen. Es war schlimm genug, dass Jakob diese Schwierigkeiten in der Schule hatte. Wobei er ja noch klein war und jedes Verständnis brauchen konnte, während Bärbel allmählich von selbst begreifen müsste, dass einem nichts im Leben geschenkt wurde.
Hanna kam zu Inge in die Küche. »Brauchst du Hilfe?«
»Nein danke, ich komm schon klar.« Inge goss heißes Wasser aus dem Kessel in den Filter, und der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee verbreitete sich in der winzigen Küche. In den letzten Tagen hatte es fast mehr Bohnenkaffee gegeben als sonst das ganze Jahr über. Zuerst an Heiligabend und den beiden Weihnachtsfeiertagen, danach zu Inges Geburtstag, und heute zur Feier von Jakobs Siebtem. Normalerweise tranken sie immer nur Malzkaffee. Mittlerweile mussten sie zwar nicht mehr jeden Pfennig dreimal umdrehen, aber für sinnlosen Luxus war das Geld immer noch zu schade. Das war auch ein Grund, warum keiner in der Familie rauchte. Allein dadurch ließ sich eine Menge sparen.
Als hätte Hanna Einblick in ihre Gedanken, meinte sie leise und nur für Inge hörbar: »Tut mir leid, dass ich mir vorhin einfach eine angesteckt habe. Da stand der Aschenbecher, und deshalb … Ehrlich, ich hab mir gar nichts dabei gedacht.«
»Das weiß ich doch.«
»Hast du sonst nicht immer zusammen mit Bärbel oben in dem vorderen Dachzimmer geschlafen?«
»Wir haben neulich die Schlafräume anders aufgeteilt. Oben haben jetzt Johannes und Jakob ihre Zimmer. Bärbel hat Mamas früheres Schlafzimmer bekommen, und ich schlafe wieder auf dem Klappsofa hier im Wohnzimmer, so wie früher. So hat jeder von uns einen eigenen Raum zum Übernachten.« Inge goss erneut etwas heißes Wasser nach. »Hat Johannes dir nichts davon erzählt?«
Hanna schüttelte den Kopf, und Inge fragte sich wieder einmal, wie es um die Beziehung der beiden stand. Hanna Morgenstern und Johannes Schlüter waren seit fast drei Jahren verlobt, aber im vergangenen Sommer hatte es zwischen den beiden gekriselt, und Hanna war daraufhin vorübergehend nach Düsseldorf gezogen. Mit der offiziellen Begründung, es von dort aus nicht so weit zur Arbeit zu haben. Kurz vor Weihnachten war sie allerdings zurückgekommen und wohnte jetzt wieder in der Nachbarschaft, bei ihrem Bruder Stan Kowalski – ein mehr oder weniger provisorisches Arrangement für alle Beteiligten. Denn Stan hatte mittlerweile eine eigene Familie; er hatte im vorigen Jahr geheiratet, und schon kurz darauf hatte seine Frau Zwillinge bekommen. In wenigen Monaten erwarteten Stan und Renate bereits weiteren Nachwuchs.
Nach außen hin machten Hanna und Johannes den Eindruck, als wäre wieder alles zwischen ihnen in Ordnung. Doch die Wohnung in Düsseldorf hatte sie trotzdem behalten. Sie hatte bei ihrer Rückkehr nach Essen-Fischlaken bloß ein paar Koffer mitgebracht, und aus denen lebte sie jetzt. Die Woche über blieb sie jedoch meist in Düsseldorf, auch wegen ihrer Arbeit in der Kunsthandlung.
»Scheint so, als müssten Johannes und ich uns erst gegenseitig auf den neuesten Stand bringen«, meinte Hanna leichthin. »Höchste Zeit, dass wir uns wieder richtig zusammenraufen.«
Sie schien das Ganze mit Humor zu nehmen, und Inge war froh darüber. Das war genau das, was Hanna so liebenswert machte – ihr optimistischer Frohsinn, ihr natürliches Improvisationstalent und die fürsorgliche Hartnäckigkeit, mit der sie immer wieder danach strebte, das Leben in die richtige Spur zu bringen. Vor allem nach Katharinas Tod hatte sie nichts unversucht gelassen, Inge und Bärbel aus dem schwarzen Loch zu holen, in dem die beiden Schwestern so lange gesteckt hatten. Tag und Nacht hatte Hanna ihnen beigestanden. In den ersten Wochen hatte sie zudem häufig das schreiende, von Dreimonatskoliken geplagte Baby umhergetragen, weil Johannes damals nach dem Grubenunglück noch im Krankenhaus lag und Inge wegen einer Grippe außer Gefecht gesetzt war. Mine, die zu jener Zeit mit Wäsche, Haushalt und Kochen bis zur Erschöpfung ausgelastet gewesen war, hatte die unverrückbare Meinung vertreten, dass Schreien bei Babys die Lungen kräftigte, aber Hanna war zum Glück anderer Ansicht gewesen. Sie hatte Jakob in ihren Armen gewiegt und ihm polnische Kinderliedchen vorgesummt, bis er wieder eingeschlafen war, und danach hatte sie stundenlang bei Inge und Bärbel im Zimmer gesessen. Sie war einfach nur da gewesen und hatte ihnen das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein.
Inge schüttete einen letzten Wasserschwall in den Kaffeefilter. Die Kanne war fast voll.
»Das wird alles wieder«, sagte sie zu Hanna. »Das Leben geht weiter. Ihr beide braucht einfach nur ein bisschen Zeit.« Erst danach erkannte sie, dass es exakt dieselben Worte waren, die Hanna damals zu ihr gesagt hatte.
»Zeit …«, wiederholte Hanna leise. »Wenn man davon nur immer so viel hätte, wie man bräuchte.« Es klang ein wenig trostlos. Ihre seegrünen Augen wirkten verhangen, und zum ersten Mal bemerkte Inge die feinen Fältchen im Gesicht der mütterlichen Freundin. Nie zuvor war ihr aufgefallen, dass sich bei Hanna erste Spuren des Alters zeigten. Sie hatte im Sommer ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert, doch man sah ihr die Jahre nicht an. Ihr kupferrotes Haar wies keine einzige graue Strähne auf, sie wirkte anziehend und jugendlich wie eh und je. Und niemand, schon gar nicht sie selbst, störte sich daran, dass sie sieben Jahre älter war als Johannes.
Katharina war ebenfalls fast sieben Jahre älter gewesen als er. Sie und Johannes hätten ein schönes Paar abgegeben. Wenn sie nicht gestorben wäre …
Inge schluckte, und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, dieses Jahr nicht zu weinen, schossen ihr vor Kummer die Tränen in die Augen. Es kam ihr immer noch so vor, als sei es erst gestern geschehen. Der fahle, graue Morgen, an dem Hanna gemeinsam mit Stan zu ihnen ins Haus gekommen war und ihnen die schreckliche Nachricht vom Tod der Mutter überbracht hatte. Der Schock, das Nicht-Wahrhaben-Wollen, gefolgt vom lähmenden Entsetzen des Begreifens. Und danach die furchtbare dunkle Zeit der Trauer.
Jakobs Geburtstag und Katharinas Todestag würden auf immer untrennbar verbunden bleiben. Da, wo eigentlich Freude und Feierstimmung vorherrschen sollten, war die Last des erlittenen Verlusts nur einen Gedankensprung weit entfernt.
Inge spürte, wie sich ihre Kehle verengte. Der Tränenausbruch war nicht mehr aufzuhalten.
»Kannst du bitte den anderen Kaffee nachschenken?«, brachte sie gerade noch mühsam hervor. »Ich muss mal für einen Moment an die frische Luft.«
Hanna legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Soll ich mitkommen?«
Inge unterbrach sie mit einem hastigen Kopfschütteln, dann lief sie die Treppe hinunter und durch die Haustür ins Freie. Erst, als sie in der beißenden Dezemberkälte draußen auf dem Kiesweg stand, bemerkte sie, dass sie ohne Stiefel und Winterjacke hinausgerannt war. Doch in diesem Augenblick war ihr das völlig egal. Das Schluchzen brach aus ihr heraus, und sie schaffte es gerade noch, sich die Hände vors Gesicht zu drücken, damit nicht gleich die ganze Nachbarschaft sie weinen hörte. Kurz erwog sie, in den Garten zu laufen, entschied dann jedoch, sich stattdessen in den Keller zu flüchten. In dem Matsch hinterm Haus hätte sie sich sonst nur die guten neuen Hausschuhe versaut, die sie erst gestern von Hanna und Johannes zum Geburtstag bekommen hatte – schmale Samtpantoffeln mit himmelblauen Bommeln aus Plüsch. Inge wusste, dass Hanna sie ausgesucht hatte, eine modische Extravaganz, die sicher ganz schön was gekostet hatte. Hanna besaß ein ähnliches Paar, und sie kaufte stets nur teure Markenqualität.
Immer noch schluchzend ging Inge zurück ins Haus. Durch den dunklen Hausflur eilte sie zur Kellertür. Sie brauchte kein Licht, weder auf der Treppe noch in den Kellerräumen, denn sie kannte dort unten jeden Winkel und hätte sich auch mit verbundenen Augen zurechtgefunden. Im Keller war es fast genauso kalt wie draußen, und Inge schlang fröstelnd die Arme um sich, während sie in der Mitte der Waschküche stehen blieb und leise vor sich hin weinte. Doch trotz ihres Elends wusste sie, dass sie in ein paar Minuten wieder oben bei den anderen sitzen und sich nichts anmerken lassen würde. Diese Gefühle überkamen sie nicht zum ersten Mal, und so schlimm es auch war – es wurde von Jahr zu Jahr etwas besser. Im Laufe der Zeit war der Schmerz über den frühen Verlust ihrer Mutter zu einem vertrauten Begleiter geworden, es gab nur noch wenige Tage, an denen er so unerträglich war, dass sie es kaum aushielt. Etwa am Geburtstag ihres kleinen Bruders.
Im Vorraum ging das Licht an, und als Inge sich zögernd umwandte, sah sie Johannes im Durchgang stehen. Seine große, breitschultrige Gestalt zeichnete sich wie ein Schattenriss vor dem schwach erleuchteten Hintergrund des Kellergangs ab. Sein Gesicht lag im Dunkeln.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. Es klang besorgt.
Inge wischte sich mit dem Handrücken die nassen Wangen ab und nickte stumm.
*
In Wahrheit war gar nichts in Ordnung, und Johannes wusste es genau. Es schnitt ihm ins Herz, Inge weinen zu sehen, und er hätte sonst was drum gegeben, ihren Kummer lindern zu können. Hanna hatte ihm geraten, sie in Ruhe zu lassen, aber das brachte er nicht über sich.
»Wenn ich irgendwas tun kann …«, sagte er leise. Es klang genauso, wie er sich fühlte – hilflos und niedergeschlagen. Jakobs Geburtstag war auch für ihn immer einer der schlimmsten Tage im Jahr. Sosehr er es sich auch stets wieder vornahm – er schaffte es kaum, sich mit seinem kleinen Sohn über den Beginn des neuen Lebensjahres zu freuen, ohne sich an die furchtbare Nacht seiner Geburt zu erinnern.
Inge wischte sich über die Augen. »Es geht schon wieder.«
»Lass dir Zeit.«
»Ich wasch mir nur rasch das Gesicht, dann setze ich mich wieder zu euch.«
»Das musst du nicht. Geh einfach rauf in Jakobs Zimmer, wenn du noch eine Weile allein sein willst. Ich sag den anderen, dass du Kopfschmerzen hast.«
»Das ist nicht nötig. Es würde nur die Stimmung verderben. Jakob soll einen schönen Geburtstag haben.«
»Den hat er doch. Er hat sich sehr über die Geschenke gefreut. Ich glaube nicht, dass ihm irgendwas fehlt.«
»Das weiß man bei ihm nie so genau.« Inge beugte sich über das schäbige kleine Emailbecken neben der Waschmaschine und spritzte sich Wasser ins Gesicht.
»Was meinst du damit?«, fragte Johannes, während sie sich mit einem frischen Handtuch abtrocknete. Er schaltete das Licht an, um sie besser sehen zu können.
»Jakob hat Schwierigkeiten in der Schule«, sagte Inge.
Johannes nahm ihre Antwort perplex zur Kenntnis. »Wirklich? Wie ist das möglich? Jakob ist ein unglaublich kluger Junge und viel weiter als die meisten Kinder in seinem Alter! Er kann fließend lesen, und seine Fähigkeiten im Rechnen gehen über den Stoff der Volksschule deutlich hinaus!«
»Vielleicht ist das der Grund, warum er die Schule nicht mag. Möglicherweise langweilt er sich dort einfach.«
»Woher weißt du das? Mir hat er nichts davon erzählt!«
»Mir auch nicht. Es stand auf seinem Wunschzettel fürs Christkind, dass er nicht mehr hingehen will.«
»Das hättest du mir erzählen müssen!«
»Ich erzähl’s dir ja jetzt. Nach den Weihnachtsferien werde ich mal mit der Klassenlehrerin sprechen.«
»Soll ich mitgehen?«
Inge schüttelte den Kopf. »Das kann ich allein klären. Die kennen mich bereits vom ersten Elternabend.«
»Aber ich bin sein Vater!«
»Ja, das bist du, niemand kann es übersehen, denn er ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Genau aus diesem Grund solltest du dich besser da raushalten.«
Johannes setzte zu einem Widerspruch an, verstummte aber sofort wieder, denn es war nicht zu leugnen, dass sie recht hatte. Offiziell war Karl der Vater des Jungen, so stand es in Jakobs Geburtsurkunde. Damals war Katharina rechtsgültig mit Karl verheiratet gewesen. Seine langjährige Verschollenheit hatte daran nichts geändert. Bei Kindern, die während einer Ehe geboren wurden, galt der Ehemann automatisch als Vater, auch wenn er es biologisch gesehen gar nicht sein konnte. Niemand, der mit den näheren Umständen vertraut war, glaubte ernsthaft, dass Karl wirklich der Erzeuger des Jungen war, aber das spielte vor dem Gesetz keine Rolle.
Johannes hatte nach außen hin keine Befugnisse, und wenn er versuchte, sich welche herauszunehmen, konnte er Jakob damit womöglich wirklich mehr schaden als nutzen.
Bitterkeit überkam ihn, denn das hier war eine der Situationen, vor denen Katharina ihn schon vor Jakobs Geburt gewarnt hatte. Er hatte ihr damals beteuert, dass es ihm nichts ausmachte – für ihn war es nur wichtig gewesen, mit ihr und dem Kind, das sie erwartete, zusammen sein zu können. Jakob war sein Sohn, Johannes liebte ihn über alles und würde sein Leben für ihn geben. Aber Johannes’ Onkel Karl war derjenige, den Jakob Papa nannte, genauso wie auch Inge und Bärbel es taten, und so würde es für den Rest seines Lebens bleiben.
Inge schien zu merken, wie ihm zumute war.
»Was immer da in der Schule auch los ist – ich regle das schon«, erklärte sie.
»Sicher«, antwortete er. »Aber darum geht es mir nicht.«
»Ich weiß, worum es dir geht, Johannes. Aber wir müssen an Jakob denken. Wenn irgendwelches Gerede über seine Abstammung aufkommt, wäre er der Leidtragende.« Inge atmete durch. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche. Auf der Volksschule und sogar später noch auf dem Lyzeum war ich jahrelang ein Opfer von Klatsch und gehässigen Bemerkungen.«
Johannes war überrascht. »Du meinst, weil du unehelich auf die Welt gekommen bist?«
Sie nickte. »Irgendwer hatte herausgefunden, dass Papa nicht mein richtiger Vater ist. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir deswegen alles anhören musste!«
Betroffen blickte Johannes sie an. »Das wusste ich gar nicht! Du hast nie etwas davon erzählt.«
»Ich häng’s ja auch nicht an die große Glocke. Schon früher habe ich es lieber für mich behalten, weil Mama es auch ohne meine Probleme schwer genug hatte. Über sie haben sich die Leute ja noch viel schlimmer die Mäuler zerrissen.« Entschlossen hob sie das Kinn. »Ich weiß, dass immer noch über uns hergezogen wird. Unsere Familie bietet dafür offenbar eine breite Angriffsfläche. Aber was Jakob betrifft, werde ich alles nur Erdenkliche tun, um ihn davor zu beschützen.« Sie hielt inne und blickte Johannes fragend an. »Wieso lächelst du?«
Er hob die Schultern. »Ich habe gerade mal wieder deine geschliffene Ausdrucksweise bewundert. Du könntest in die Politik gehen.«
Inge verzog leicht belustigt das Gesicht. »Das überlasse ich wohl besser dir.«
»Nein danke«, gab er trocken zurück. »Ich bleibe lieber Gewerkschafter.«
»Und ich Buchhändlerin.«
Sie sagte es im Brustton der Überzeugung, aber eine winzige Nuance in ihrer Stimme ließ Johannes aufhorchen.
»Bedauerst du es manchmal, dass du kein Abitur machen und studieren konntest?«, wollte er wissen.
Seine spontane Frage schien sie nicht zu berühren. »Mir gefällt mein Beruf. Außerdem konntest du ja auch nicht studieren.«
»Das kann man nicht vergleichen.«
»Wieso nicht? Bei mir lag’s an Mamas Tod und dass auf einmal ein Baby im Haus war, um das ich mich kümmern musste. Bei dir an der langen Kriegsgefangenschaft. Wir konnten es uns beide nicht aussuchen.« Unvermittelt sah sie auf ihre Armbanduhr. »Lieber Himmel, jetzt haben wir uns aber verquatscht! Die fragen sich oben sicher schon, wo wir abgeblieben sind!« Fragend deutete sie auf ihr Gesicht. »Sehe ich noch verheult aus?«
Er musterte sie. »Nein, nur bildhübsch wie immer.«
Das war kein hohles Kompliment, sie war wirklich eine Schönheit. Viele Leute sagten, sie sähe aus wie ihre Mutter, aber Johannes fand, dass zwischen den beiden höchstens eine oberflächliche Ähnlichkeit bestand, die sich bei genauerem Hinsehen sogar fast vollständig zu verflüchtigen schien.
Inge war größer als Katharina und ein wenig schmaler gebaut. Ihr Haar war einen Ton heller und glatt statt lockig, und das Blau ihrer Augen wirkte bei einer bestimmten Beleuchtung fast silbrig, während es bei Katharina eher veilchenfarbig gewesen war. Nur in einem Punkt kam Inge ganz nach ihr – sie besaß einen makellosen Teint und perfekte Zähne.
»Ach, noch was«, sagte Inge, während sie gemeinsam die Treppe hinaufgingen. »Über Silvester bin ich nicht da. Die Buchhandlung hat für ein paar Tage zu, und ich fahre mit Freunden zum Feiern ins Sauerland.«
»Weißt du schon, für wie lange?«
»Voraussichtlich bis zum dritten Januar.«
»Kein Problem, fahr nur. Da ist ja Wochenende, und Hanna und ich hatten ohnehin nichts Besonderes vor. Wahrscheinlich feiern wir mit Stan und Renate ins neue Jahr, ich wäre also höchstens ein paar Schritte weit weg. Und Mine und Karl sind sowieso zu Hause. Jakob wäre also zu keiner Zeit allein.«
»Es geht mir eher um Bärbel«, erklärte Inge. »Ich habe sie gefragt, was sie an Silvester vorhat, und da meinte sie, es ginge mich nichts an.«
»Sie ist ziemlich bockig in letzter Zeit, oder?«, erkundigte sich Johannes leicht besorgt. »Siebzehn ist wohl ein schwieriges Alter.«
»Für manche auf jeden Fall«, erwiderte Inge nur knapp.
Er wusste, worauf sie anspielte. Sie war gerade erst sechzehn gewesen, als sie von der Schule abgegangen war, um sich um ihren kleinen Bruder zu kümmern. Und Katharina hatte mit siebzehn Jahren schon Inge auf die Welt gebracht. Bärbel hingegen hatte kaum Verpflichtungen, außer sich auf die Schule zu konzentrieren. Allerdings schien es derzeit zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zu gehören, sich gegen alle möglichen Regeln aufzulehnen.
»Ich kümmere mich darum, dass sie keinen Blödsinn anstellt«, versprach Johannes. Er hatte die Stimme gesenkt, denn inzwischen waren sie oben im ersten Stock angekommen, wo die anderen sie hören konnten. »Und es ist wirklich gut, dass du zum Jahreswechsel mal rauskommst! Hoffentlich in netter Gesellschaft! Ist Peter auch mit von der Partie?«
Damit meinte er Klaus-Peter, ihren Verlobten. Im Laufe der Jahre hatten sich alle in der Familie angewöhnt, den Vornamen abzukürzen und ihn – ebenso wie Inge und seine Freunde es taten – nur noch Peter zu nennen. Inge nickte stumm, und für einen Moment sah sie verlegen aus. Die Frage, wer denn sonst noch alles mitkäme, lag Johannes schon auf der Zunge, doch gerade noch rechtzeitig begriff er, dass die beiden vermutlich allein wegfahren wollten, also verkniff er sich weitere Bemerkungen. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren war Inge längst erwachsen und außerdem schon seit Ewigkeiten mit ihrem Jugendfreund verlobt. Peter war fast mit dem Studium fertig; spätestens nach seinem Examen würden bei den beiden die Hochzeitsglocken läuten.
Davon abgesehen war es wirklich höchste Zeit, dass Inge einmal ein paar schöne Tage nur für sich hatte, ohne Arbeit, ohne häusliche Pflichten.
Johannes folgte ihr ins Wohnzimmer und setzte sich wieder zu den anderen an den Tisch. Inge pustete die Kerzen am Weihnachtsbaum aus. Sie waren fast heruntergebrannt. Bärbel und Hanna unterhielten sich angeregt über einen Kinofilm mit John Wayne, und Mine servierte Karl noch ein Stück von dem Apfelkuchen, den sie für die Feier gebacken hatte. Jakob hockte in der Ecke auf dem Boden und spielte versunken mit seinen neuen Matchboxautos. Der Kleine sah glücklich aus, und das war für Johannes in diesem Moment die Hauptsache.