Ein Cornwall-Krimi
Midnight by Ullstein
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der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2018 (1)
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ISBN 978-3-95819-226-3
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Für Anna-Maria, meine fabelhafte Tochter!
Die Strahlen der Nachmittagssonne übergossen die abweisend wirkenden grauen Mauern von Waterford Manor mit freundlichem Glanz. Ganz so, als wollten sie damit beweisen, dass die Magie des Lichts selbst diesem eher trostlos wirkenden Gebäude so etwas wie ein Lächeln entlocken konnte. Die weite Rasenfläche, die sich vor dem Anwesen erstreckte, schimmerte in diesem unglaublichen Grün, das es nur auf den britischen Inseln gab.
Das schmiedeeiserne Tor, das einladend halb offenstand, warf filigrane Schatten auf die Zufahrt zum Haus. Ein Schild an der Mauer trug das Zeichen des National Trust, den Eichenzweig. Darunter waren die Öffnungszeiten angegeben.
Träge Stille ruhte über dem Anwesen. Nur wenige Besucher verirrten sich für gewöhnlich nach Waterford Manor. Das Haus selbst bot in seiner Schlichtheit keinen besonders bemerkenswerten Anblick. Es war ein dreigeschossiger Klotz mit zwei Giebeln an der vorderen Front und unzähligen schlanken Schornsteinen. In dieser Form existierte es seit den Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts. Wer sich dafür interessierte, konnte eine Sammlung von Wandteppichen besichtigen, und der Garten vermochte zu einem gemütlichen Spaziergang verleiten, auch wenn er mit keinen besonderen Höhepunkten aufzuwarten hatte.
Wer sich nicht gleich vom Anblick des Herrenhauses gefangen nehmen ließ, entdeckte vielleicht nach dem Durchschreiten des Tores rechter Hand das Witwenhaus. Der zweistöckige Bau war zum größten Teil von Efeu bewachsen, als wäre er am liebsten unsichtbar. Eine dicke Eisenkette grenzte die Rasenfläche davor von der Zufahrt ab. Ein Schild mit der Aufschrift Privatbesitz hing daran.
Das Haus machte einen derart abweisenden Eindruck, dass wohl niemand auf die Idee gekommen wäre, ihm einen Besuch abzustatten. Allerdings standen die bis zum Boden reichenden Glasfenster auf der Seite, die dem Herrenhaus zugewandt war, offen.
Die Stille wurde durch ein paar Klavierakkorde unterbrochen, und eine Frauenstimme – ein heller, etwas unsicherer Sopran – begann zu singen.
»Im tiefen Tal der Tränen wandle ich, seit du …« Amaryllis Chloe Waterford holte tief Luft, bevor sie den nächsten Ton ansetzte. »O Geliebter …«
Um Gottes willen, nicht schon wieder! Amaryllis brach ab, schockiert über den Laut, den sie gerade produziert hatte. Frustriert stieß sie den Atem aus. Dieser verdammte Sprung von g auf das hohe dis – sie würde ihn niemals schaffen! Gequetscht, viel zu zaghaft! Kein Wunder, mittlerweile hatte sie vor diesem Ton richtiggehend Angst. Nicht absetzen, im Schwung mitnehmen, ganz beiläufig, er hat nicht die Bedeutung, die du ihm geben möchtest!
Wut kochte in ihr hoch, so unerwartet heftig, dass sie noch einmal erschrak. Peter und seine verwünschte Komposition!
Sie schlug die Notenmappe zu, wandte sich ab und starrte aus dem Fenster. Ihr Zorn wich so schnell, wie er gekommen war, und hinterließ eine schale Mischung aus Resignation und Trauer. Ja, sie fühlte sich tatsächlich wie diese verlassene Geliebte, die sie in Peters Lied besang. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass nach der ersten, völlig verregneten Hälfte des Aprils heute endlich einmal die Sonne schien und die letzten Regentropfen auf dem sattgrünen Rasen zum Glitzern brachte. Tulpenbeete in Weiß und dunklem Violett rahmten ihn entlang der Zufahrt ein. Dahinter das schattige Eingangsportal von Waterford Manor, das wirkte wie ein dunkler Schlund, der allzu neugierige Besucher verschlingen würde. Heute war noch kein einziger da gewesen. Deshalb hatte sie es gewagt, die Fenster des Witwenhauses, das sie bewohnte, weit zu öffnen, um den Mief der Vergangenheit, der in diesem alten Gemäuer immer herrschte, zumindest ein wenig zu vertreiben.
Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich vom Garten ab und erneut den Noten zu. Heute Abend war Probe, und sie musste diese schwierige Stelle bewältigen. In erster Linie, um sich nicht zu blamieren und den Schein zu wahren nach dem, was vorgefallen war.
Sie stellte sich vor dem großen Barockspiegel aus venezianischem Glas in Positur. Er war eines der wenigen wertvollen Möbelstücke, das als persönlicher Besitz aus dem Erbe ihrer Familie geblieben war. Die leichte Patina schmeichelte ihren Gesichtszügen, wie sie wieder einmal befriedigt feststellte. Sie strich ihren Rock glatt. Gerader Rücken, ein Bein leicht nach vorne, Kopf heben, Schultern zurück.
Sie war eine Diva. Sie schaffte das.
Vor vielen Jahren hatte sie Gesangsunterricht genommen, aber ihre Ambitionen hatten nie für eine ernsthafte Betätigung gereicht. Was nicht nur für ihren Gesang galt. Eine Lady Waterford war nicht dazu geboren, zu arbeiten. Auch wenn Glanz und Gloria längst der Vergangenheit angehörten.
Sie schloss die Augen. Auf den Atem konzentrieren, ihn stützen. Eine Luftsäule schaffen. Beinahe konnte sie Peters Hände auf ihren Hüften spüren. Er hatte begonnen, ihr Unterricht zu erteilen, und sie mit seinem wohldosierten Charme dazu gebracht, ihr vernachlässigtes Talent wieder zu pflegen. Alles nur Berechnung. Amaryllis lachte bitter. Peter hatte Schuld daran, dass sie sich jetzt wie ein abgelegtes Kleidungsstück fühlte, wie ein gestrandeter Wal. Wobei der letzte Vergleich nicht sehr treffend war, denn sie hatte eine eher zierliche Figur. Nun gut, dann fühlte sie sich eben innerlich wie ein plumper Koloss, der nirgendwo hinpasste. Ein Relikt aus früheren Zeiten, das versäumt hatte, sich ein eigenes Leben zu gestalten. Vergessen in diesem alten Gemäuer, das ihr nicht einmal mehr gehörte.
Das verdankte sie ihrem Vater, dem letzten Earl of Waterford, und seiner Spielsucht. Als er beschloss, seinem Leben ein Ende zu setzen, war nicht viel mehr für seine Witwe und seine einzige Tochter geblieben als ein Almosen. Ihre Mutter war vor sieben Jahren gestorben und hatte sie allein zurückgelassen. Jetzt musste sie sich mit der Wohnung in diesem muffigen Haus begnügen, das vor etwa zweihundert Jahren für die Witwe von Graham James II, Earl of Waterford, errichtet worden war. Lady Amanda hatte ihren geplagten Ehegatten um achtundzwanzig Jahre überlebt und war – den Familienaufzeichnungen zufolge – eine schreckliche Person gewesen. Etwas von ihrem Missmut schienen die Mauern dieses Gebäudes noch immer auszustrahlen, wie Amaryllis an ihren weniger guten Tagen fand. Und heute war so einer.
Sie sehnte sich mit einem Mal zurück nach ihrer Kindheit. Damals war sie unbeschwert gewesen, hatte nichts von den Problemen mitbekommen, mit denen ihr Vater kämpfte. Ihr von Licht durchflutetes Kinderzimmer im ersten Stock des Herrenhauses bot eine unvergleichliche Aussicht auf den Garten. Jetzt durften neugierige Touristen darin ihre Blicke schweifen lassen. Natürlich musste sie dankbar sein, dass sich der National Trust um das Anwesen kümmerte, sie hätte niemals die Mittel dazu besessen. Aber manchmal kam sie sich selbst wie ein Ausstellungsstück vor. Fehlte nur noch, dass sie sich strickend hinter Absperrkordeln beim Kamin präsentierte, damit sensationslüsterne Gaffer an ihr vorbeidefilieren konnten!
Amaryllis blätterte unschlüssig in den Noten. Sollte sie das Engelsduett noch einmal durchgehen? Das war bei Weitem melodiöser. Ihr Sopran und Bee Merryweathers Mezzosopran harmonierten wunderbar, und es war viel einfacher zu singen als dieses grässliche Lied einer armen, verlorenen Seele im Fegefeuer. Aber das Engelsduett konnte sie so gut wie auswendig, sie musste es nicht mehr üben.
Sollte sie Peter anrufen, um ihn zu bitten, die Stelle noch einmal mit ihr durchzugehen? Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb fünf. Nein, das hatte keinen Sinn. In zweieinhalb Stunden würden sie sich ohnehin zur Probe treffen, und vor sechs Uhr schloss er den Laden nicht. Außerdem hätte sie es nicht ertragen, ihm alleine zu begegnen.
Zum Teufel mit dir, Peter Mortimer Bartholomew! Sie schlug das Notenheft zu und begann ruhelos in dem kleinen Salon auf und ab zu tigern. Peters Ehrgeiz hatte Schuld an ihrem Dilemma. Er verfolgte das schier unmögliche Vorhaben, sein Werk mit dem Ensemble von South Pendrick einzustudieren und ihr den Sopransolopart zu übertragen.
Hätte er sie bloß in Ruhe gelassen! Wäre er bloß nie nach South Pendrick gekommen! Sollte er doch mitsamt seiner Komposition und seinem verheerenden Charme zur Hölle fahren! Dann bräuchte sie sich nicht mit Gedanken an ihn zu quälen und wie sie ihm bei der Probe gegenübertreten sollte.
Ihr wurde heiß, als sie an das letzte Zusammentreffen dachte. Wie unverschämt er gewesen war. Und wie anmaßend! Was dachte sich dieser Kerl eigentlich? So sprang man nicht mit Amaryllis Chloe Waterford um, so nicht!
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Contenance, Amaryllis! Er ist es nicht wert, dass du seinetwegen auch nur eine Gefühlsregung verschwendest!
Blicklos starrte sie auf den grünen Rasen. Auf die schwere Eisenkette, die ihren privaten Bereich von dem öffentlich zugänglichen abtrennte.
Auf dem Fußweg nahm sie einen grellpinken Fleck wahr, der sich bewegte. Das war Bee Merryweather auf ihrem Fahrrad. Die pensionierte Handarbeitslehrerin genoss als Bewohnerin von Tulip Cottage das Privileg, den privaten Pfad, der durch den Garten von Waterford Manor führte, als Abkürzung ins Dorf benützen zu dürfen.
Instinktiv trat Amaryllis einen Schritt hinter den dicken Samtvorhang zurück. Sie wollte nicht gestört werden, nicht jetzt. Im gleichen Moment entdeckte sie zwei Personen, die gerade ungeschickt über die Eisenkette kletterten, Tablets in ihren Händen. Sie sog scharf die Luft ein. Touristen!
Sie eilte zur Terrassentür und riss sie ganz auf.
»Verschwinden Sie, das ist Privatbereich!«
Die beiden – natürlich Asiaten – hielten inne und starrten sie an. Sie begannen zu gestikulieren, hoben ihre Tablets und lächelten. Wollten die etwa auch noch ein Foto von ihr machen?
»Ich sagte, Sie sollen verschwinden!« Amaryllis stürmte hinaus wie eine wütende Rachegöttin.
Die Asiaten lächelten noch immer. Der ältere der beiden Männer begann auf sie einzureden und wagte es sogar, ihren Arm zu berühren!
»Foto?«
»Kein Foto!« Sie schlug nach der Hand des Mannes, verfehlte sie knapp. »Weg hier! Sofort! Oder ich hole die Polizei.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften, machte einen Schritt auf die Eindringlinge zu, im Bewusstsein, einen viel zu wenig bedrohlichen Anblick zu bieten. Wer hatte schon vor einer zarten, eins achtundfünfzig kleinen Blondine in hellblauem Stricktwinset Angst? Auch wenn diese beiden Männer kaum größer als sie waren. Sie legte den ganzen Zorn, den sie verspürte, in einen drohenden Blick, der anscheinend doch überzeugte. Das Lächeln der Asiaten wurde endlich eine Spur unsicher. Die Männer wichen zurück und hoben entschuldigend die Hände.
»Privat, verstehen Sie? Privat! Keine Fotos!« Dabei wies sie auf das knallgelbe Schild, das an der Eisenkette hing. Sie merkte, wie schrill ihre Stimme klang und wünschte, diesen unerfreulichen Auftritt gäbe es nicht.
Die beiden Männer zogen sich mit einer leichten Verbeugung und verwirrtem Gesichtsausdruck zurück. Sie sah ihnen nach, wie sie kopfschüttelnd auf das Tor zugingen und das Anwesen verließen.
Amaryllis seufzte tief. Heute war einfach nicht ihr Tag. Normalerweise nahm sie solche Vorfälle gelassener hin. Obwohl manche Touristen wirklich unverschämt waren und selbst eindeutige Verbote einfach ignorierten. Nur um ein paar Fotos zu schießen, die ohnehin keiner mehr ansehen würde. Besonders die Asiaten waren geradezu darauf erpicht, ein paar »Langnasen« auf ihren Bildern zu verewigen. Sie schüttelte sich bei dem Gedanken daran, wie über ihr Aussehen gestaunt werden würde. Seht nur – eine echte englische Adelige!
Bevor sie in den Salon zurückging, vergewisserte sie sich noch, dass wirklich niemand mehr auf ihrem privaten Rasenstück herumstrolchte. Dabei fiel ihr Blick erneut auf den pinkfarbenen Fleck am Ende des Fußweges, kurz vor der Biegung. Bee Merryweather winkte ihr lächelnd zu.
Kein Sonnenstrahl drang in die düstere Stube des Farmhauses, das zwei Meilen entfernt von South Pendrick auf einem Hügel stand. Gillian Foster betrachtete abwesend ihre um die Teetasse geklammerten Hände. Die normalerweise tröstliche Wärme des Getränks nahm sie nicht wahr. In ihr herrschte eine taube Leere und eine allumfassende Erschöpfung.
Den Vormittag hatte sie in Bath verbracht, um den Nachlass ihrer Schwester zu sortieren – eine undankbare und traurige Aufgabe, aber nicht nur das. Wider Willen schweifte ihr Blick zu der Kiste, die sie auf einem der Stühle abgestellt hatte. Da drinnen befand sich also alles, was von Ann und ihrer Familie geblieben war und ihr selbst wert erschien, aufbewahrt zu werden. Diese kleine Kiste kam ihr mit einem Mal wie ein Symbol für die Entfremdung zwischen ihnen vor. Sie enthielt nichts weiter als einen Stapel Fotos, Urkunden, ein paar Schmuckstücke und das Tagebuch, das vor ihr auf dem Tisch lag. Sie betrachtete die Seiten in der kindlich wirkenden runden Schrift und ihr Blick verschwamm, als sich ein dumpfer Schmerz in ihr ausbreitete. Zu spät, es war viel zu spät!
Mit einer heftigen Bewegung schlug sie das Buch zu und legte es zurück in die Kiste.
Sie stand schwerfällig auf. Arbeit war das beste Mittel, um sich von den düsteren Gedanken abzulenken. Seit zwei Wochen war das Bed and Breakfast, das Gillian mit drei Zimmern zusätzlich zu ihrer Farm führte, wieder geöffnet. Das schlechte Wetter war bis jetzt dem Geschäft abträglich gewesen, doch sie machte sich deswegen keine Sorgen. Die Saison hatte gerade erst begonnen. Zwar hatte ihre Putzfrau Betty schon sauber gemacht, aber die Hühner und die Kuh mussten noch gefüttert werden, und der Garten befand sich in einem katastrophalen Zustand. Der reichliche Regen hatte das Unkraut nur so wuchern lassen.
Das melodische Läuten der Türglocke ließ sie innehalten. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb fünf. Das konnte nur Arthur sein, der frische Eier holte wie jeden Dienstag.
Sie atmete tief durch und straffte ihren Rücken. Den Schein wahren. Das war wichtig, sonst nichts.
Sie zwang sich zu einem Lächeln und öffnete die Tür.
»Hallo, Arthur!«
»Hi, Gillian!« Der schmächtige Mann erwiderte ihr Lächeln. »Wie geht’s dir?«
»Gut. Und dir?«
»Alles in Ordnung.«
Small Talk. Beruhigend normal. Die Welt drehte sich weiter, auch wenn die ihre gerade auf den Kopf gestellt worden war.
»Die übliche Menge?«
Arthur schüttelte den Kopf. »Gib mir diesmal dreißig Stück. Helen möchte ein neues Rezept ausprobieren, und am Wochenende kommt ihre Schwester mit der Familie.« Er seufzte theatralisch. Gillian wusste, dass Arthur am liebsten seine Ruhe hatte, obwohl sein Alltag als Lehrer der Schule von South Pendrick nicht so anstrengend sein konnte. Er hatte zusammen mit seiner Frau nur zwei Klassen mit insgesamt fünfzehn Schülern zu unterrichten. Derzeit wurde darüber diskutiert, ob es sich bei so wenigen Schülern überhaupt lohnte, die Schule weiterzuführen.
Sie nahm ihm die drei Eierkartons ab und bat ihn mit einer Handbewegung in die kleine Stube des Cottage.
»Willst du Tee?« Sie fragte nur der Form halber, denn normalerweise hielt er sich nicht länger als nötig auf, aber zu ihrer Überraschung nickte er und setzte sich.
Also nahm sie eine Tasse aus dem Schränkchen über der Spüle und schenkte ihm aus der Kanne Earl Grey ein, die sie gerade zuvor aufgegossen hatte.
»Ich hole nur schnell die Eier.«
Sie verließ die Stube, ohne seine Antwort abzuwarten. Feuchtwarme, schwere Luft schlug ihr entgegen und nahm ihr für einen Moment den Atem. Es roch intensiv nach Erde und Gras. Kurz hielt sie ihr Gesicht in die Sonne, bevor sie den Hof überquerte und den Hühnerstall betrat. Sofort erscholl vielstimmiges Gackern, die Tiere flatterten und rannten auf sie zu. Sie nahm ein paar Handvoll Maiskörner aus dem Sack und streute sie auf den Boden. Während die Vögel mit Fressen beschäftigt waren, holte sie die Eier aus den Nestern. Helen wollte nur die wirklich frischen, und den Gefallen konnte sie ihr gerne tun. Die zwanzig Hühner legten fleißig.
Als sie die Schachteln befüllt hatte, verließ sie den Stall und schloss das Türchen des Geheges. Erst jetzt dachte sie wieder an Arthur. Was wollte er mit ihr besprechen? Eigentlich hatte sie keine Lust darauf, sich auch noch mit seinen Sorgen zu befassen, aber sie konnte sich ihm wohl schlecht entziehen.
Er schrak auf, als sie die Stube betrat. Sie setzte sich und sah ihn an. Arthur Potts war kein Mann, nach dem sich eine Frau auf der Straße umdrehte. Sein schütteres blondes Haar klebte am Kopf. Natürlich war er mit dem Rad gekommen, und er trug immer einen Helm. Er war klein, schlank und hatte die zierlichen Hände einer Frau. In seinen blauen Augen lag meist ein etwas hilfloser Ausdruck. Kein Wunder, dass er sich auch den Schülern gegenüber nicht den nötigen Respekt verschaffen konnte. Da war seine Frau schon aus einem anderen Holz geschnitzt. Helen Potts war die zweite Lehrkraft in South Pendrick, und ohne sie hätte er wahrscheinlich schon längst das Handtuch geworfen.
»Es geht um heute Abend«, sagte Arthur.
Gillian sah ihn verwundert an. »Du meinst die Chorprobe?«
Er nickte. »Ich kann das nicht. Er erwartet zu viel von mir. Ich halte das nicht aus. Zu Anfang dachte ich ja …« Er schluckte und atmete dann tief durch. »Also, ich glaubte immer, ich hätte eine ganz passable Stimme, und ich singe auch gerne im Ensemble. Aber diese Solopartie …«
»Du solltest das Ganze nicht zu ernst nehmen. Es ist nur eine ziemlich schräge Komposition. Es geht um nichts. Es wird zu keiner Aufführung kommen, nur eine Aufnahme für YouTube.«
Arthur seufzte. »Ich weiß. Aber Peter hat mich bei der letzten Soloprobe derart fertiggemacht – ich konnte ihm einfach nichts rechtmachen!«
Peter. Für einen Moment wallte Bitterkeit in ihr auf. »Du solltest dir das nicht von ihm gefallen lassen.«
Arthur sah sie erschrocken an.
Gillian lächelte gezwungen. »Tut mir leid. Mir ist das alles nicht so wichtig, obwohl ich gerne singe.«
»Ja, du hast es auch leichter. Die Altstimme ist nicht so schwierig, und du singst keinen Solopart.«
»Tja, wie die meisten Komponisten sieht auch Peter die Altstimme in einer sehr untergeordneten Position, doch ich bin nicht böse darüber.«
»Aber ich bin wirklich überfordert. Ich bin nun einmal kein Heldentenor.«
Nein, das konnte man wirklich nicht behaupten. Er saß da wie ein Häufchen Elend.
Spontan streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine. »Ich weiß, Peter führt sich manchmal auf wie ein Tyrann. Dabei muss er doch froh sein, dass überhaupt jemand sein unsägliches Werk singt. Aber wenn er heute wieder so unerträglich ist, sage ich ihm die Meinung. Dann soll er mich doch aus dem Ensemble schmeißen. Ich habe nicht wirklich etwas zu verlieren, und Trudy könnte auch alleine Alt singen.«
Arthur sah sie hoffnungsvoll an. »Würdest du das tun? Aber …«
Gillian nickte grimmig. »Ja, das würde ich. Obwohl es wahrscheinlich nicht viel nützen wird. Einen Mann wie Peter Bartholomew kann man nicht ändern. Aber es könnte mal die Fronten klären.«
Gillian war erleichtert, als Arthur kurz darauf seine Teetasse mit einem großen Schluck leerte und sich zum Gehen anschickte. Sie begleitete ihn auf den Hof und öffnete das Gatter für ihn.
Er schwang sich auf sein Fahrrad.
»Komm gut nach Hause«, meinte sie noch.
Er hatte den Helm schon aufgesetzt und klopfte mit einem schwachen Grinsen dagegen. »Keine Angst, ich trage den hier.«
Sie sah ihm zu, wie er auf die Straße fuhr und den geschotterten Feldweg einschlug, der ihn hinunter in das Dorf bringen würde. Die Bremsen des Rades quietschten, als er vorsichtig die erste Kurve nahm und dann aus ihrem Blickfeld verschwand.
Gillian kehrte in die Stube zurück. Stille umfing sie aufs Neue und legte sich wie ein erstickendes Tuch über sie. Nachdem sie die Teetassen in die Spüle gestellt hatte, setzte sie sich wieder an den Tisch, und die düsteren Gedanken fielen über sie her wie hungrige Raubtiere. Vielleicht sollte sie doch mit jemandem sprechen?
Die Schläge der Kirchturmuhr ließen Trudy innehalten. Sie richtete sich mit einem Ächzen auf und wischte die erdigen Hände an ihrer Hose ab. Halb fünf. Es war Zeit, den Tee vorzubereiten. Um halb sechs musste sie die Frauenrunde bewirten, die sich wöchentlich zur Bibelrunde im Pfarrhaus traf. Um sieben Uhr war dann die Chorprobe angesetzt, wie jeden Dienstag.
Eigentlich hätte sie lieber noch weiter im Garten gearbeitet. Es gab so viel zu tun. Den halben Nachmittag hatte sie damit verbracht, die Zwiebeln der Gladiolen zu setzen. Sie hatte die sorgsam nach Farben sortierten Knollen nach einem bestimmten Schema vergraben. Die violetten Riesen an den Zaun, davor die Zwerggladiolen, abwechselnd lachsfarbene, violette und weiße. Sie freute sich schon jetzt auf den wunderschönen Anblick, den sie im Sommer bieten würden. Dann hatte sie begonnen, das Unkraut zu jäten. Ein schier unmögliches Unterfangen bei der Größe ihres Gartens.
Sie streckte den schmerzenden Rücken durch, sah sich um und entdeckte Ians strohhutbedeckten Kopf hinter der Eibenhecke, die Trudys Blumenbeete und den Nutzgarten von seinem eigenen, speziellen Bereich abgrenzte. Natürlich war er wieder mit seinen Lieblingen beschäftigt.
Er schien ihren Blick zu spüren, denn er drehte sich um und nickte ihr mit einem Lächeln zu. Für einen Moment wallte ein zärtliches Gefühl in ihr auf. Es war dieses Lächeln, das sie so sehr an ihrem Mann liebte. Dafür hatte sie in Kauf genommen, in dieses verlassene Nest mitten in Cornwall zu ziehen, mit ihm die zum Aussterben verurteilte Pfarrgemeinde zu übernehmen und wohl ihren Lebensabend hier zu beschließen. Ian war nicht mehr der Jüngste, in drei Monaten wurde er siebzig, und nach ihm würde es wohl keinen Pfarrer mehr in South Pendrick geben.
Sie seufzte. Noch war ihrer beider Zukunft ungewiss. Manchmal spielte sie mit dem Gedanken, zurück nach London zu gehen. Ihr Vater war Pastor in Smithfield gewesen und sie war zwischen den düsteren Mauern von St. Bartholomews aufgewachsen. Damals war sie froh darüber gewesen, in das überschaubare South Pendrick zu kommen. Hier lief alles ruhig und geordnet ab.
Der schmucklose graue Kirchenbau aus dem 19. Jahrhundert mit dem beinahe zu wuchtigen Turm, der das Dorf überragte, daneben das kleine Pfarrhaus mit dem riesigen Garten, in den sie jede freie Minute investierte. Sie liebte es, die Erde mit bloßen Händen zu bearbeiten, das Gefühl der Feuchtigkeit, den Geruch ihrer Blumen … Es hatte etwas Archaisches, Schönes und Nützliches, zu pflanzen und danach dem Wachstum zuzusehen. Vor allem mochte sie auch das befriedigende Gefühl, den Lohn nach all der Mühsal ernten zu können.
Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen …
Trudy warf noch einmal einen Blick auf die Kirchturmuhr. Fünf Minuten würde sie sich noch gönnen. Sie brauchte eine kleine Verschnaufpause.
Eine leichte Brise fächelte über ihre erhitzte Stirn. Sie nahm den Strohhut ab, ein Pendant zu dem ihres Mannes, und strich ihr graues Haar zurück. Es war eine gute Entscheidung gewesen, es abschneiden zu lassen und endlich auf das lästige Färben zu verzichten. Obwohl sie jetzt natürlich älter wirkte. Aber mit fünfundsechzig hatte man das Recht, alt auszusehen und eitel war sie ohnehin nie gewesen.
Kurz schloss sie die Augen, genoss den Duft des Grases und der Erde. Alles schien derzeit zu explodieren und strotzte vor Lebenskraft. Ein wenig davon spürte auch Trudy in sich. Bestimmt würde alles gut werden! Gott belohnte die Tüchtigen. Ian und sie würden noch lange leben und endlich die Rente genießen. Vielleicht hier in South Pendrick. Sie könnten weiter im Pfarrhaus wohnen bleiben, denn für einen Nachfolger wurde es ja nicht benötigt, und Ian konnte seine geliebten Pflanzen pflegen.
Ein Röcheln und Japsen holte sie aus ihren Gedanken. Mit einem resignierten Seufzer öffnete sie die Augen. »Was hast du jetzt wieder ausgegraben, du dumme Töle?«
Der Mops zu ihren Füßen hechelte begeistert. Sein Maul und die Pfoten waren voll lehmiger Erde. Er schüttelte seinen Kopf, versprühte Dreck und Speichel und legte sich dann zufrieden auf Trudys Füße.
»Pfui, Hercules!«
Sie schüttelte ihn ab und starrte auf sein Fundstück, eine kurze, knollenähnliche Wurzel von gelblicher Farbe. Das konnte nur aus Ians Garten kommen und war bestimmt giftig, wie alles, was dort wuchs. Für einen Moment gab sie sich der Vorstellung eines toten Hercules hin. Sein Körper steif, die Glotzaugen für immer erstarrt, die Zunge bläulich verfärbt. Sie schüttelte das Bild bedauernd ab. Ihr Mann würde untröstlich sein, wenn seinem Hund etwas Schlimmes widerfuhr.
Sie stieß den Mops mit dem Fuß zur Seite, als er nach der Wurzel schnappte. Aus einem unerklärlichen Grund brachte er seine Funde immer nur ihr. »Lass das, du Biest! – Ian? Sieh dir das mal an!« Sie hoffte, ihre Stimme klang dringlich genug, um ihren Mann aus seiner Ecke zu locken. Prompt tauchte der Strohhut wieder hinter der Eibenhecke auf.
»Ja, Liebes? Ist irgendetwas passiert?« Ians gedrungene Gestalt kam auf sie zu, und für einen Augenblick erschien er ihr wie das etwas groß geratene Abbild seines Hundes. Es musste an der Theorie etwas Wahres sein, dass Hunde und ihre Herrchen sich oft ähnlich sahen. Zu Ian passte eindeutig dieser Mops.
»Schau, was Hercules wieder ausgegraben hat. Ich glaube, das gehört in deinen Garten.« Sie wies mit dem Finger auf die Wurzel.
Ian folgte ihrem Blick. »Oje! Was hast du Frauchen da gebracht? Das ist die Oenanthe crocata.« Er beugte sich zu Hercules hinunter, der begeistert über die Aufmerksamkeit seines Herrchens aufsprang und ihm die Hand leckte.
»Die – was?«
Trudy wollte es eigentlich gar nicht wissen. Die lateinischen Namen all dieser sonderbaren, mehr oder weniger gefährlichen Gewächse brachte sie ohnehin immer durcheinander. Aber vielleicht bestand ja doch die Möglichkeit, dass Hercules der Kontakt mit diesem Ding schadete und sie dann Gegenmaßnahmen ergreifen musste.
»Die Wurzel ist hochgiftig, auch wenn sie angenehm schmeckt. Verursacht das sogenannte ›sardonische Grinsen‹.« Ian musterte Hercules besorgt. »Du Dummerchen. Du sollst doch nicht immer alles ausgraben.«
Er tätschelte den Kopf des Hundes. Der ließ sich schnaufend zu Boden fallen, schloss mit einem Grunzen die Augen und drehte sich dann auf den Rücken, in Erwartung einer ausgiebigen Krauleinheit. Nein, es sah nicht so aus, als ob er gleich den Vergiftungstod sterben würde.
Ian streichelte den Bauch des Tieres. »Jaja, du kleiner Racker. Hat dein Herrchen wieder mal vergessen, das Tor zu schließen. So was Dummes! Und dann ausgerechnet die Oenanthe. Dabei bin ich so stolz auf sie. Eine zarte, beinahe unscheinbare Schönheit mit großer Wirkung!« Er nahm die Wurzel auf und betrachtete sie eingehend. »Nein, Gott sei Dank ist sie unbeschädigt.«
Trudy wandte sich ab. Ians Vorliebe für Giftpflanzen würde ihnen noch einmal Unglück bringen, so viel war gewiss!
Die Kirchturmuhr schlug fünf. Oh nein! Jetzt hatte sie wegen dieses Köters vergessen, den Tee vorzubereiten! Hastig sammelte sie die Gartengeräte ein, verstaute sie im Schuppen und legte Schürze und Strohhut auf den kleinen Tisch darin. Als sie die Hütte verließ, warf sie einen Blick auf die Straße und entdeckte Bee Merryweather, die gerade in den Vicars’ Close einbog, die Sackgasse, die am Pfarrhaus und dem angrenzenden Garten vorbeiführte. Trudy verzog das Gesicht. Dieses pinkfarbene Kleid war einfach nur himmelschreiend! Rasch duckte sie sich hinter die Rosensträucher. Bee war die letzte Person, der sie zur Teezeit begegnen wollte.
Als die kleine, mollige Frau vorbeiradelte, erspähte Trudy einen abgedeckten Behälter in ihrem Fahrradkorb. Ihre Befürchtungen waren also begründet. Bee war wieder einmal dabei, die fragwürdigen Erzeugnisse ihrer ebenso fragwürdigen Backkunst unter das Volk zu bringen. Zum Glück kam sie nicht zur Bibelrunde. Eher suchte sie wohl wieder David Sprouts auf. Der junge Polizist war ein dankbarer Abnehmer für alles Essbare, ob missraten oder nicht.
Trudy wartete noch einen Moment, bis sie sicher sein konnte, dass Bee verschwunden war. Dann erhob sie sich und atmete tief durch. Noch einmal davongekommen. Nein, heute hatte sie nicht die geringste Lust auf steinhartes Gebäck mit Glasur in irgendeiner unmöglichen Farbe!
»Gott verzeihe mir meine Unduldsamkeit«, murmelte sie.
Ian hätte sie für ihr Verhalten bestimmt getadelt, aber zum Glück war er schon ins Haus gegangen. Bevor sie ihm folgte, machte sie noch ihren üblichen abschließenden Rundgang im Garten, um ihr Tagewerk zu begutachten.
Plötzlich stockte ihr Fuß. Das – das war doch nicht möglich! Nein – wie – wie konnte das nur sein? Sie starrte auf das Gladiolenbeet, auf den unglaublichen Anblick, den es bot. Die Arbeit eines Nachmittags. Zunichtegemacht. Zerstört. Die liebevoll gesetzten Zwiebeln aus der Erde gerissen, durcheinandergeworfen! Ihre wunderschönen Blumen!
Tränen traten in ihre Augen, und ein unbändiger Zorn wallte in ihr auf. »Hercules! Du Mistvieh! Bei Gott, das wirst du büßen!«