KAPITEL 1
»Schlicht und einfach voraussagen.«
Charles Sub-Lunar.
Aus: Die Lichter am Himmel
sind kleine Scheinwerfer.
IM ZODIAKALLICHT WEHTE ein warmer Wind aus dem Osten, ließ trockenes Schilf erzittern.
Der Sumpfnebel zerfaserte in fransige Streifen, löste sich allmählich auf. Kleine, nachtaktive Geschöpfe krochen hastig in den Schlamm. In der Ferne, verborgen im verschnörkelt wirkenden Dunst, hallte der Schrei eines Vogels über die schwimmenden Riedfelder.
Auf einem der großen Seen in der Nähe des offenen Meeres hißten drei kleine weiße Windschalen ihre zarten Segel, nahmen Kurs auf die heranrollenden Brandungswellen.
Dom wartete dicht hinter den Brechern, zwei Meter unter der wogenden Oberfläche. Dünne Luftblasen lösten sich aus seinem Kiemenbündel. Er hörte die Schalen, bevor er sie sah: Das von ihnen verursachte Geräusch klang so, als kratzten Schlittschuhe über fernes Eis.
Er lächelte schief und wußte, daß er nur eine Chance hatte. Einige der dünnen Schweifranken konnten innerhalb weniger Sekunden töten, und wenn er nicht achtgab, gab es keine zweite Gelegenheit. Er spannte die Muskeln, stieß sich ab.
Und sauste nach oben.
Die Schale erbebte heftig, als Dom den stumpfen Bug packte, die Beine herumschwang, um den grünen, blattähnlichen Strukturen auszuweichen. Die Welt reduzierte sich plötzlich auf kalten, nach Salz schmeckenden Schaum, der ihn mit einer weißen Blase umhüllte. Winzige, silbrige Fische glitten pfeilschnell an Dom vorbei, und einen Atemzug später lag er quer auf der Hülle.
Die Windschale tobte, holte immer wieder mit dem knöchernen Mast aus und schlug zu. Dom beobachtete die zuckenden Bewegungen eine Zeitlang, schnappte nach Luft und schob sich langsam zu dem großen, kalkfarbenen Buckel am Mastfuß.
Ein Schatten raste über ihn hinweg, Dom rollte sich zur Seite und sah, wie der Mast eine Delle im Rumpf hinterließ. Als der Holm wieder zurückschwang, griff er danach, fand den Nervenknoten und richtete sich auf.
Seine Finger ertasteten die richtige Stelle, übten Druck aus.
Die Windschale beendete ihren wilden Tanz über den Wellenkronen, prallte mit solcher Wucht aufs Wasser, daß Doms Zähne klapperten. Das Segel vibrierte unsicher.
Dom strich zärtlich über das Nervenkonglomerat, um die Schale zu beruhigen. Nach einer Weile stand er auf.
Das gehörte zum Ritual: Man mußte sich erheben, um den Sieg zu demonstrieren. Die besten Dagon-Fischer steuerten Windschalen allein mit den Zehenspitzen. Dom beneidete sie, er erinnerte sich daran, daß er sie an Feiertagen von der Familienbarkasse aus beobachtet hatte: zwei- oder gar dreihundert Fischer, die Seite an Seite auf ihren halbzahmen Windschalen zurückkehrten, während die purpurne Sonne Achguckmal im Meer versank. Manche der jüngeren Männer tanzten auf den Rümpfen, sprangen und drehten sich um die eigene Achse, warfen Fackeln – und hielten ihre lebenden Gefährte die ganze Zeit über wie problemlos unter Kontrolle.
Dom kniete vor dem Nervenknoten, lenkte die große Semipflanze durch die schmalen und kurvenreichen Kanäle des Sumpfes, vorbei an Seerosenkolonien und dahintreibenden Schilfinseln. Auf einigen davon sah er blaue Flamingos, die bei seinem Anblick zischten und stolz davonstakten.
Ab und zu hob Dom den Kopf, blickte gen Norden und hielt nach verräterischen Punkten am Himmel Ausschau. Korodore würde ihn schließlich finden, aber Dom vertraute darauf, daß er ihn nicht gleich abholte. Vermutlich beschränkte er sich darauf, Dom einige Stunden lang zu beobachten – immerhin war auch Korodore einmal jung gewesen. Ja, selbst er. Im Gegensatz zu Doms Großmutter, die den Eindruck erweckte, als sei sie schon als Achtzigjährige zur Welt gekommen.
Außerdem dachte Korodore bestimmt daran, daß Dom am nächsten Tag die Ernennung zum Vorsitzenden erwartete, womit er in rechtlicher Hinsicht zu seinem Chef wurde. Was jedoch wahrscheinlich überhaupt nichts an seinem Verhalten änderte. Für den alten Korodore kam die Pflicht immer an erster Stelle; Schwierigkeiten und Probleme waren das Salz in der Suppe seines Lebens.
Dom lächelte zufrieden, während die Windschale mit anmutiger Eleganz durchs ruhige Wasser glitt. Wenigstens hatten die Fischer keinen Grund, ihn Schwanzhand zu schimpfen – obgleich ihm nach wie vor der Status als anerkannte Grünhand fehlte. Die letzte und entscheidende Prüfungszeremonie der Dagon-Fischer fand auf dem Meer statt, während einer vom Mondschein erhellten Nacht … wenn die Dagone mit weit aufgerissenen, rasiermesserscharfen Muschelmäulern aus der Tiefe emporstiegen.
Mit einem sanften Ruck stieß die Windschale an eine Schilfinsel. Dom sprang leichtfüßig an Land, ließ sein Gefährt in der Lagune treiben.
Der Joker-Turm, auffallendstes Merkmal des westlichen Horizonts, ragte direkt vor ihm in die Höhe. Dom lief darauf zu.
Achguckmal ging auf und tauchte die schlanke Pyramide in einen rosafarbenen Schein. Der Nebel verzog sich, gab die Basis des gewaltigen Bauwerks frei, doch die Spitze verlor sich in den ewigen Wolken, fast acht Kilometer über dem Meer. Dom bahnte sich einen Weg durch das trockene, spröde Riedgras, stoppte erst einen Meter vor der glatten, milchweißen Wand.
Vorsichtig streckte er die Hand aus.
Ein Erinnerungsbild formte sich in seinem Inneren: Hrsh-Hgn, der schließlich begriff, daß endlose Vorträge über Planetenökonomie bei dem Jungen irgendwann auf leicht nachvollziehbaren Unmut stießen. Daraufhin schaltete er die Fakstafel ab, holte eine Ausgabe der von Sub-Lunar verfaßten Galaktischen Chroniken hervor und erzählte Dom von den Jokern.
»Nenn mir die Völker, die nach dem Menschheitsgesetz alss menschlich gelten«, begann er.
»Phnoben, Menschen, Drosken und die Erste Sirianische Bank«, antwortete Dom sofort. »Darüber hinaus gibt der Unterabsatz Eins Robotern der Klasse Fünf das Recht, menschlichen Status zu beantragen.«
»In Ordnung. Und die anderen?«
Dom zählte sie an den Fingern ab. »Creapii sind supermenschlich, Roboter der Klasse Vier submenschlich. Für Sonnenhunde fehlt eine Klassifizierung.«
»Und weiter?«
»Bei den anderen Spezies bin ich mir nicht ganz sicher«, gestand Dom ein. »Ich meine die Jovianer und so. Über sie hast du mir nichts gesagt.«
»Spielt keine Rolle. Weißt du, ssie sind viel zu fremdartig. Es gibt einfach keine gemeinsame Basis. Wass der Mensch bei intelligenten Rassen als selbstverständlich erachtet – zum Beispiel das Gefühl der eigenen Identität –, ist das Ergebnis einer ruhigen und gemächlichen Zweibeiner-Evolution. Wie dem auch ssei: Wichtig ist, daß sich alle bisher bekannten zweiundfünfzig Völker während der letzten fünf Millionen Jahre entwickelten.«
»Davon hast du mir schon gestern berichtet«, warf Dom ein. »Du meinst Sub-Lunars Theorie der Galaktischen Weisheit.«
Der Phnobe nickte und sprach über die Joker. Die Creapii fanden den ersten Joker-Turm, und als sie ihn nicht öffnen konnten, warfen sie eine Annihilierungsmatrix darüber ab. Später fand sich nicht einmal ein einziger Kratzer an dem riesigen Bauwerk, doch einige benachbarte Sonnensysteme waren zerstört worden.
Die Phnoben brauchten erst gar nicht nach einem Joker-Turm zu suchen: Einer erhob sich auf ihrer Heimatwelt Phnobis, ragte aus dem Meer bis zu den Immerwährenden Wolken empor und bildete die Grundlage der planetenweiten Frss-Gnhs-Religion. Mit anderen Worten: Die Phnoben hielten den Turm für die Säule des Universums.
Von der Erde stammende Kolonisten entdeckten insgesamt sieben, einen im Asteroidengürtel des Systems Alt-Sol. Zu jener Zeit wurde das Joker-Institut gegründet.
Die jungen Völker der Menschen, Creapii, Phnoben und Drosken sahen sich staunend einer Galaxis gegenüber, in der es von den Mementos einer uralten, verschwundenen Spezies wimmelte. Aus ihrer Ehrfurcht erwuchs die Legende von der Heimatwelt der Joker. Sie kam einer lockenden Verheißung gleich, die über viele Lichtjahre hinweg nicht nur Abenteurer in Versuchung führte, sondern auch Narren und Glücksritter …
Doms Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, er berührte den Turm und verspürte ein sanftes Prickeln, dann einen kurzen stechenden Schmerz. Mit einem Satz sprang er zurück, rieb sich die tauben, fast gefrorenen Finger. Um die Mittagszeit sank die Temperatur des Bauwerks auf einen Tiefststand: Es nahm die Hitze in sich auf und verwandelte sie in Frost.
Dom setzte sich wieder in Bewegung, wanderte um den Turm herum, spürte die ihm entgegenwogende Kühle. Als er den Kopf in den Nacken legte und in die Höhe sah, beobachtete er fasziniert, wie sich das Licht dicht an den Flanken des riesigen Gebäudes trübte – als sei es ebenfalls ein Gas, verschlungen von der Säule. Dieser Vorstellung mangelte es natürlich an Logik, aber sie hatte einen gewissen künstlerischen Reiz.
Der junge Mann bemerkte ein kurzes Aufblitzen am Himmel: ein nach Süden fliegender Gleiter der Sicherheitsabteilung. Dom trat zur Seite, duckte sich in ein. Schilfgeflecht und fragte sich, was ihn überhaupt in den Sumpf führte. Die Hoffnung, Freiheit zu finden? Ja, vielleicht. Der letzte Tag, den er ohne die schwere Last der Verantwortung verbringen konnte. Die letzte Gelegenheit, sich auf seiner Heimatwelt Verkehrtherum zu bewegen, ohne von Leibwächtern und einer Vielzahl mehr oder weniger subtiler Schutzmechanismen umgeben zu sein. Er hatte diesen Ausflug sorgfältig geplant und vorbereitet, sogar Korodores allgegenwärtige Roboterinsekten zerquetscht, die ihm bis ins Schlafzimmer nachspionierten. Angeblich diente das alles den Erfordernissen der Sicherheit.
Dom wußte, was ihm nun bevorstand: Er mußte nach Hause zurückkehren, und dort erwartete ihn eine Begegnung mit Großmutter. Er kam sich ein wenig närrisch vor und überlegte, was er eigentlich vom Turm erwartete: einen Hauch von kosmischer Allmacht, vermutlich auch das Gefühl der Ewigkeit. Ganz sicher nicht das unbehagliche Empfinden, ständig beobachtet und überwacht zu werden. Es erinnerte ihn viel zu sehr an das Anwesen seiner Familie.
Dom drehte sich um.
Heiße Luft zischte auf, und irgend etwas zuckte an ihm vorbei, traf den Turm. Als der Strahl auf die kalte Wand prallte, erblühte die Hitze zu einer Blume aus Eiskristallen.
Der junge Mann warf sich reflexartig zu Boden, rollte mehrmals um seine Achse, sprang wieder auf die Beine und stürmte los. Ein zweiter Schuß verfehlte ihn, und weiter vorn platzte eine trockene Samenkapsel funkenstiebend auseinander.
Dom widerstand der Versuchung, einen Blick über die Schulter zu werfen, entsann sich des gnadenlosen Attentatstrainings Korodores. Das Wissen um die Identität des Mörders lohnte kaum den eigenen Tod. »Des Neugiers Preis ist ein letztes, im wahrsten Sinne des Wortes endgültiges Erlebnis«, lautete eine von Korodores Weisheiten.
Am Rande der Lagune holte Dom kurz Atem und stieß sich ab. Als er ins Wasser tauchte, sengte ihm der dritte Blitz über die Brust.
Irgendwo ertönte lautes Glockengeläut, weit draußen auf dem Meer – oder vielleicht nur in Doms Kopf. Kühles Grün umfing ihn, ein leises Blubbern …
Dom erwachte. Ein tiefer Instinkt veranlaßte ihn, die Augen geschlossen zu halten. Er versuchte mit den übrigen Sinnen, einen Eindruck der Umgebung zu gewinnen.
Er ruhte auf der Mischung aus Sand, Schlamm, trockenen Schilfhalmen und Schneckenhäusern, das in den meisten Regionen von Verkehrtherum als Boden galt. Er lag im Schatten, hörte ganz in der Nähe das Donnern der Brandung. Außerdem: Der Untergrund erzitterte im Rhythmus der Wellen. Die Luft roch und schmeckte nach Salz, Sumpf, Riedpollen – und auch noch etwas anderem. Dom nahm ein feuchtes, muffiges Aroma auf, das ihm irgendwie vertraut erschien.
Etwas hockte nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Dom hob das eine Lid wenige Millimeter und sah ein kleines Wesen, das ihn mit großem Interesse anstarrte. Rosafarbenes Haar wuchs aus der schuppigen Haut, bedeckte einen rundlichen, pummeligen Körper. Die Schnauze schien einen Kompromiß zwischen Schnabel und Rüssel darzustellen. Das Geschöpf besaß drei unterschiedlich beschaffene Beinpaare – und galt auf Verkehrtherum praktisch als Legende.
Hinter Dom zündete jemand ein Feuer an. Er versuchte, sich aufzusetzen, zuckte so heftig zusammen, als werde ihm eine mindestens fünfhundert Grad heiße Metallstange auf die Brust gepreßt.
»O juvindo may psutivi«, sagte eine freundlich klingende Stimme.
Ein alptraumhaftes Gesicht erschien über Dom. Graue Haut hing in langen Falten unter Augen, die auf das Vierfache ihrer normalen Größe angeschwollen zu sein schienen. Die kleinen Pupillen darin sahen aus wie Perlen in Milch. Lange, flache Ohren stülpten sich nach vorn, und ein fast unerträglich modriger Gestank schlug dem jungen Mann entgegen. Das Licht der Sonne spiegelte sich auf einer großen Brille wider.
Der Phnobe versuchte, sich auf Janglisch mit ihm zu verständigen. Dom kramte in den Archiven seines Gedächtnisses und antwortete auf Phnobisch.
»Oh, ein Gelehrter!« erwiderte die Gestalt trocken. »Ich heiße Fff-Shs. Und Sie sind der Vorsitzende Sabalos.«
»Noch nicht ganz – die Ernennung findet morgen statt.« Dom stöhnte, schnitt eine Grimasse, als ihn neuerlicher Schmerz durchzuckte.
»O ja! Vermeiden Ssie unter allen Umständen abrupte Bewegungen. Ich habe die Brandwunde behandelt. Sie isst nicht weiter schlimm.«
Der Phnobe stand auf, trat aus Doms Blickfeld. Das winzige Wesen beobachtete ihn noch immer.
Dom drehte langsam den Kopf. Er befand sich auf einer kleinen Lichtung in der Mitte einer jener Schilfinseln, die wie träge durch die breiten Sumpfgräben schwammen. Seltsamerweise trieb dieses besondere Exemplar gegen den Wind. Dom horchte, vernahm unter dem Riedgeflecht das leise Gebrumm eines alten Deuteriummotors.
Weiter oben spannte sich ein grob geflochtenes Netz, verbarg die Lichtung vor Beobachtern in Gleitern und Schwebern. Der junge Mann fragte sich, ob das etwas nützte: Das Triebwerk und die Zusatzmechanismen unter dem Schilf konnten auf Dauer nicht einmal der elektronischen Aufmerksamkeit einfacher Ortungsgeräte entgehen. Andererseits: In den Sümpfen gab es Hunderttausende von solchen Inseln – es war wie mit der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.
Dom begann damit, erste Schlüsse zu ziehen.
Der Phnobe ging an ihm vorbei, in der einen Hand ein doppelschneidiges Tshuri-Messer. Er spielte nachdenklich damit, warf es hoch in die Luft, fing es wieder auf, hielt den Blick dabei ständig auf Dom gerichtet. Der junge Mann sah kurz an sich herab, stellte fest, daß er völlig nackt war – abgesehen von dem trockenen Salz, das eine dünne Kruste auf seiner schwarzen Haut bildete.
Einige Sekunden später hörten sie das ferne Summen eines Gleiters. Der Phnobe hechtete zur Seite, schob einige Riedhalme fort und schaltete den Inselmotor aus. Einen Sekundenbruchteil später stürzte er auf Dom zu, bedrohte ihn mit dem Messer.
»Keinen Laut!« zischte er.
Sie lagen völlig still, bis das Brummen des Schwebers wieder verklang.
Der Phnobe war ein Pilak-Schmuggler. Die vom Verkehrtherum-Direktorium zugelassenen Dagon-Fischer fuhren zu Hunderten aufs Meer, wenn die großen, zweischaligen Muscheln aus der Tiefe emporkamen. Im Licht des Mondes trachteten sie danach, den Bewohnern der Tiefe die Perlen aus perlmuttartigem Pilak zu entreißen. Sie benutzten dabei Rettungsleinen, lederne Rüstungen und komplexe Schutzapparaturen – wie zum Beispiel das Fabrikfloß, zu dem auch ein Lazarett gehörte. Solche Maßnahmen führten dazu, daß abgetrennte Hände nur kleine Pannen darstellten und selbst der Tod seine Endgültigkeit verlor.
Aber es gab auch andere Fischer. Sie tauschten Sicherheit gegen eine seltsame Vorstellung von Aufregung, akzeptierten als Preis sowohl ein illegales Vermögen als auch den vollständigen Mangel jeder Gelegenheit, es zu verprassen. Den Umständen zufolge arbeiteten sie allein und zeichneten sich durch ein bemerkenswertes Geschick aus. Dann und wann leitete das Direktorium eine Kampagne gegen sie ein und unternahm halbherzige Versuche, den Pilakschmuggel nach Außenwelt zu verhindern. Heutzutage wurden entlarvte Schmuggler nicht mehr getötet – das hätte direkt gegen das Eine Gebot verstoßen –, aber die alternative Strafe war für sie viel schlimmer als der Tod, den sie jede Nacht herausforderten. Dom fürchtete, daß der Fischer die Konsequenzen zog und das Geschenk des Lebens zurückforderte.
Der Phnobe stand auf, hielt das Messer an der schweren, nach vorn zeigenden Klinge.
»Warum bin ich hier?« fragte Dom unsicher. »Meine letzten Erinnerungen …«
»Ssie schwammen ganz friedlich zwischen den Seerosen, mit einer Stripper-Verbrennung quer über der Brust. Die Leute von der Ssicherheitsabteilung sind seit dem Sonnenaufgang unterwegs. Ich hatte den Eindruck, daß sie jemanden suchen, vielleicht einen Verbrecher. Nun, ich gab meiner Neugier nach und zog Ssie an Bord.«
»Danke«, sagte Dom und setzte sich auf.
Der Schmuggler zuckte mit den Achseln. Angesichts seiner knochigen, breit- und hochschultrigen Statur wirkte diese Geste erstaunlich ausdrucksvoll.
»Wie weit sind wir vom Turm entfernt?«
»Ich fand Sie vierzig Kilometer jenseits der Himmelssäule. Und seitdem haben wir etwa zweitausend Meter zurückgelegt.«
»Vierzig! Aber am Turm hat jemand auf mich geschossen.«
»Tür einen Ertrunkenen schwimmen Ssie verblüffend gut.«
Dom stemmte sich langsam in die Höhe, den Blick nach wie vor auf das Messer gerichtet.
»Sammeln Sie viel Pilak?«
»Achtzehn Kilo während der letzten achtundzwanzig Jahre«, erwiderte der Phnobe und beobachtete geistesabwesend den Himmel. Dom stellte eine rasche Berechnung an.
»Offenbar sind Sie recht fähig.«
»Nun, manchmal sterbe ich. In anderen Zeitlinien. Vielleicht bietet mir dieses Universum die sprichwörtliche Große Chance. Vielleicht sind alle meine anderen Selbstentsprechungen tot. Was bedeutet es schon, fähig zu sein?«
Das Messer sauste noch immer zwischen den beiden Händen hin und her, und die Sonne starrte wie ein neugieriges Auge vom Firmament herab. Dom spürte eine gewisse Benommenheit, dumpfe Schmerzen, die an seinen Gedanken nagten. Dennoch gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben – er wartete auf eine passende Gelegenheit.
Der Phnobe zwinkerte.
»Ich suche ein Omen«, erklärte er.
»Wozu?«
»Um herauszufinden, ob ich Ssie töten soll.«
Oben glitt ein Schwarm blauer Flamingos dahin. Dom holte tief Luft und bereitete sich vor.
Das Messer zuckte fort, flog so schnell, daß es der junge Mann aus den Augen verlor, schien die Schwerkraft zu verspotten. Dom beobachtete, wie sich der Sonnenschein ganz kurz auf den Klippen widerspiegelte. Einer der Flamingos löste sich aus der fliegenden Gruppe, schien zur Landung anzusetzen – und fiel ins Schilf.
Dom empfand die Anspannung wie das Vibrieren eines dünnen, straff gespannten Drahts.
Der Schmuggler ignorierte seinen Begleiter, trat an die erlegte Beute heran, zog das Messer aus der Brust und begann damit, den Vogel zu rupfen. Nach einer Weile hielt er inne, sah abrupt auf und hob die Klinge.
»Ein guter Rat. Spielen Sie nie wieder mit dem Gedanken, jemanden anzugreifen, der mit einem Tshuri-Messer ausgerüstet ist. Ssie sehen ganz wie jemand aus, der zu viele Leben zu vergeuden hat. Vielleicht neigen Ssie deshalb dazu, unnötige Risiken einzugehen. Wer beschließt, ein Narr zu sein und solche Waffen nicht zu respektieren, macht bittere Erfahrungen.«
Dom ließ den angehaltenen Atem entweichen und stellte sich das Beil eines Scharfrichters vor, das gerade seinen Hals verfehlt hatte.
»Außerdem …« fuhr der Phnobe fort. »Wo bleibt die Dankbarkeit? Nun, wir essen gleich. Und anschließend können wir uns unterhalten.«
»Ich habe viele Fragen«, entfuhr es Dom. »Wer hat auf mich geschossen? Wie …«
»Tss, tss! Warum Fragen stellen, die nicht beantwortet werden können. Wie dem auch sei: Ssie sollten an Bater denken.«
»Bater?«
Dom spürte den durchdringenden Blick des Schmugglers auf sich ruhen. »Haben sie noch nie etwas von der Wahrscheinlichkeits-Mathematik gehört? Obgleich man Sie morgen zum Vorsitzenden des Verkehrtherum-Direktoriums ernennt – wodurch Sie zum Erben ungeheurer Reichtümer werden? Vielleicht ist es besser, wir reden erst und essen nachher.«
Achguckmal hing in den Dunstschwaden, die aus dem Sumpf krochen. Die Insel schwamm tropfnaß durch die klammen Schleier, hinterließ eine faserige Nebelspur, die sich mit gespenstischem Eigenleben durchs stumme Ried wand.
Fff-Shs trat aus der Basthütte am Inselrand und deutete ins gestaltlose Grau.
»Nach dem Radar isst Ihr Gleiter kaum mehr als hundert Meter entfernt.« Der Phnobe streckte die Hand aus, deutete in eine bestimmte Richtung. »Ich ssetze Ssie hier ab.«
Ernst schüttelten sie sich die Hände. Dom drehte sich um, blieb an der Wassergrenze noch einmal stehen. Der Schmuggler folgte ihm mit dem kleinen rattenartigen Wesen, das fast die ganze Zeit über auf seiner Schulter geschlafen hatte.
»Morgen findet eine große Feier statt, nicht wahr?«
Dom seufzte. »Ja, ich fürchte schon.«
»Und bekommen Ssie Geschenke? Gehört dass dazu?«
»In der Tat. Aber meine Großmutter meinte, die meisten kämen von denen, die anschließend irgendwelche Gefälligkeiten erwarten. Deshalb darf ich sie nicht annehmen.«
»Nun, mir geht es nicht darum, Gunst zu erlangen – mein Geschenk werden Sie nicht zurückweisen.« Der Phnobe griff nach dem leise quiekenden Geschöpf. »Hier. Sie wissen sicher, was das ist, oder?«
»Ein Sumpf-Ig.« Dom nickte. »Unser Planetenwappen zeigt ihn zusammen mit einem blauen Flamingo. Doch die Ambientenexperten behaupten, es gebe nur noch etwa dreihundert von ihnen auf ganz Verkehrtherum. Ich kann ihn nicht …«
»Dieser Wicht läuft mir schon seit vier Monaten nach. Er wird Sie begleiten. Ich habe ohnehin das Gefühl, daß er meine Gesellschaft satt hat,«
Der Ig sprang vom Arm des Schmugglers, machte es sich an Doms Hals bequem, schob den Schwanz in den Mund und begann sofort zu schnarchen. Der junge Mann lächelte, und der Phnobe schnitt eine kurze Grimasse.
»Ich hielt ihn für eine Art Talisman«, sagte er. »Vielleicht nur Wunschdenken, weiter nichts.« Er beobachtete den aufgeblähten Mond Verkehrtherums, der im Süden aufging.
»Eine gute Nacht für die Jagd«, sagte der Dagon-Fischer, und mit zwei langen Schritten verschwand er im sich verdichtenden Nebel.
Dom setzte zu einer Erwiderung an, überlegte es sich dann aber anders und schwieg. Eine ganze Zeitlang blieb er ruhig stehen.
Schließlich wandte er sich um und sprang ins warme abendliche Meer.
Neben Doms Gleiter dümpelte der massige Rumpf eines Sicherheitsfliegers auf den Wellen. Als der junge Mann an Bord kletterte, trat eine Gestalt aufs flache Deck.
Dom starrte ins Fadenkreuz eines Molekülstrippers, sah darüber die verlegene Miene eines jungen Sicherheitsbeamten.
»Chef! Es tut mir leid, Sir. Ich … ich wußte nicht …«
»Sie haben mich gefunden«, erwiderte Dom kühl. »Herzlichen Glückwunsch. Ich kehre jetzt heim.«
»Äh, ich bin angewiesen worden, Sie zurückzubringen«, sagte der Wächter unsicher. Dom schenkte ihm keine Beachtung und ging an Bord seines Schwebers. Der Sicherheitsbeamte schluckte, sah auf den Stripper herab, musterte dann den zukünftigen Vorsitzenden des Direktoriums – und hastete in die Kontrollblase. Als er das Funkgerät erreichte, war Doms Gleiter bereits einige hundert Meter entfernt, tanzte über die Wellenkämme und stieg auf.
Auszug aus 2001 und so weiter: Eine anekdotische Geschichte des raumfahrenden Menschen – von Charles Sub-Lunar (Fghs-Hrs & Calligna, Terra Novae).
»Es sollten hier Verkehrtherum und die Familie Sabalos erwähnt werden – zwei Begriffe, die als synonym gelten können. Verkehrtherum ist einer der beiden Planeten des Systems CY Aquirii, eine Welt, die hauptsächlich aus Wasser besteht. Dort herrscht ein angenehmes, wenn auch recht feuchtes Klima, und das Ernährungsspektrum eignet sich besonders für Leute, die eine Fischdiät vorziehen. Die Bewohner sind intelligent und abgehärtet, haben aufgrund der starken Ultraviolettstrahlung schwarze Haut und keine Körperbehaarung.
Besiedelt wurde der Planet im Jahre des Suchenden Affen (Anno salutis 675), und die ersten Kolonisten waren Menschen von der Erde und Phnoben. Das mag der Grund sein, warum die pan-humanen Beziehungen auf dieser Welt besser sind als auf allen anderen.
John Sabalos – der Dynastie-Gründer – baute sich ein Haus am Schlangenfluß, mit Blick übers Meer und den Großen Knarrenden Sumpf. Seine einzige und herausragende Fähigkeit bestand darin, Glück zu haben. In den schwimmenden zweischaligen Muscheln, die ab und zu aus der Tiefe des Ozeans emporstiegen, entdeckte er hundert Zentimeter durchmessende Perlen, die aus rohem Pilak bestanden. Wie sich später herausstellte, ließ sich aus dieser Substanz eine weitere Todesimmunitätsdroge herstellen. Hinzu kam: Pilak mangelte es an den teilweise recht fatalen Nebenwirkungen der anderen sechsundzwanzig antigeriatrischen Medikamenten. Der neue Stoff wurde zur Grundlage des Familienvermögens. John I. erweiterte sein Haus, legte einen Obstgarten aus Kirschbäumen an und regierte als erster Vorsitzender, nachdem auf Verkehrtherum eine Direktoriums-Verwaltung entstand. Er starb im Alter von 301 Jahren.
Sein Sohn John gilt als Prasser. Hier soll nur ein Beispiel seiner pathologischen Verschwendungssucht genannt werden: Er kaufte eine Schiffsladung exotischer Früchte von Drittes Auge – und der überwiegende Teil davon traf verfault ein. In der stinkenden Masse hatte sich auch ein seltsamer grüner Schleim gebildet, und wie ein Zufall wollte, besaß er regenerative Eigenschaften. Damals geriet die Dagon-Fischerei aufgrund einer astronomisch hohen Verletzungsrate in eine ernste Krise, und die Entdeckung des Heilschleims löste das Problem: Innerhalb eines Jahres galt es als ein Zeichen von Männlichkeit, mindestens ein Körperglied in der besonderen grünen Tönung der zellduplizierenden Substanz vorweisen zu können.
John II. kaufte dem Tsio-Subdirektorium der Erde die Cheopspyramide ab, ließ sie in einem Stück nach Verkehrtherum transportieren und sie in einer öden Region nördlich seiner Wohnkuppeln aufstellen. Als er Interesse für Luna zu zeigen begann und sich mit der Absicht trug, den kleineren, aber immer noch brauchbaren Mond Verkehrtherums zu ersetzen, verfrachtete ihn seine Tochter Joan I. auf die andere Seite des Planeten. Sie brachte ihn dort in einer Villa unter, nahm den Platz ihres Vaters ein und agierte als Leitende Direktorin. Joan war wie neuer Treibstoff für den Motor des Sabalos-Vermögens, das bisher auf dem eher brüchigen Fundament reinen Glücks ruhte: Innerhalb von nur zwölf Monaten verdoppelte es sich. Als strenge Sadhimistin führte Joan I. viele Reformen durch, setzte sich auch für die Verabschiedung des Menschheitsgesetzes ein.
Ihr Sohn John III. – sie fand Zeit für einen kurzen Ehekontrakt mit einem Vetter – betätigte sich in einer damals noch völlig neuen Wissenschaftssparte: Er wurde zu einem herausragenden Wahrscheinlichkeits-Mathematiker. Es geht das Gerücht, John III. habe auf diese Weise sowohl der Mutter als auch seiner Frau Vian entkommen wollen, einer aus dem System Alt-Sol stammenden Adligen mit ausgesprochen guten Beziehungen. Angeblich diente die Heirat nur dazu, bessere Verbindungen zur Erde zu schaffen. Wie dem auch sei: Vians Kontraktpartner verschwand unter seltsamen Umständen, kurz vor der Geburt seines zweiten Sprößlings, der den Namen Dom erhielt. Es heißt, John III. fiel einem Unfall in den weltumspannenden Sümpfen zum Opfer.
Viele Geheimnisse umgeben den jungen Dom. Die Urheber einiger Geschichten, die man sich über ihn erzählt, legen aus verständlichen Gründen Wert darauf, anonym zu bleiben. Zum Beispiel behauptet man, am Tage seiner Ernennung zum Vorsitzenden des Direktoriums erwarte ihn der …«
Sterne funkelten am Himmel, als Dom die Mole erreichte. Sie erstreckte sich von den Wohnkuppeln aus weit ins künstlich angelegte Hafenbecken, das den noch nicht domestizierten Windschalen als Heimstatt diente.
Lampen leuchteten. Einige Fischer, die es besonders eilig hatten, bereiteten ihre lebenden Gefährte für den nächtlichen Fang vor. Eine alte Frau fritierte Königsmuscheln auf einem Holzkohleofen, und aus dem Lautsprecher eines kleinen Radios ertönte, von kaum jemandem beachtet, die Melodie eines alten Lieds von der Erde. Der Refrain lautete: »Deine Füße sind zu groß.«
Dom steuerte auf die Mole zu, legte neben dem stummen Rumpf eines großen Lazarettfloßes an und stieg die Leiter hoch.
Als er auf die Kuppeln zuhielt, wurde er sich der absoluten Stille bewußt. Sie breitete sich wie eine Kielwelle vor ihm aus, erfaßte alle Anwesenden. Der matte Lampenschein spiegelte sich in neugierigen Augen wider. Die alte Frau hob ebenfalls den Kopf und musterte den jungen Mann – ihre Pupillen schienen sich dabei in zwei Sondierungsinstrumente zu verwandeln.
Als Dom die Treppe hochging, die zum Hauptsegment des Sabalos-Anwesens führte, hörte er eine leise Stimme. »Ganz gleich, was die anderen Leute sagen: Er ist nicht wie sein Va…« Ein dumpfes Ächzen folgte, und Dom sah einen Ellenbogen, der sich in eine weiche Magengrube bohrte.
Ein Roboter der Klasse Drei stand vor der Tür, bewaffnet mit einem altmodischen Schaller. Servomotoren summten, als sich der junge Mann näherte, und die Maschine nahm eine drohende Haltung an.
»Halt – wer da?« rasselte ein korrodierter Sprachprozessor und fügte die traditionelle sadhimistische Frage hinzu: »Gegner oder Freund Aller Erden?«
»FALLE, versteht sich«, erwiderte Dom und widerstand der Versuchung, die falsche Antwort zu geben. Einmal hatte er sich dazu hinreißen lassen, nur um festzustellen, wie der antiquierte Apparat auf so etwas reagierte. Durch die Schauer-Entladung wären ihm fast die Trommelfelle geplatzt, und von einem nahen Lagerhaus blieben nur Trümmer übrig. Großmutter zeichnete sich durch einen individuellen Sinn für Humor aus: Sie lächelte nur selten, aber bei jener Gelegenheit lachte sie schallend – und verabreichte dem Jungen dann eine Tracht Prügel, um ihm eine zusätzliche Lektion zu erteilen.
»Sie können passieren, FALLE«, schnarrte der Wächter. Als sich Dom an ihm vorbeischob, leuchtete der Brustkommunikator des Roboters auf.
»Na schön«, erklang die Stimme Korodores. »Dom, eines Tages werden Sie mir erklären müssen, wie Sie verschwinden konnten, ohne den Alarm auszulösen.«
»Es hat mich nicht unerhebliche Mühe gekostet.«
»Treten Sie näher an den Scanner heran. Gut so. Die Narbe ist neu.«
»Jemand hat draußen im Sumpf auf mich geschossen, aber ich bin soweit in Ordnung.«
Korodore zischte leise, versuchte mit eiserner Disziplin, sich zu beherrschen.
»Wer?«
»Chel – woher soll ich das wissen? Außerdem: Es geschah vor einigen Stunden. Ich … äh …«
»Kommen Sie jetzt herein. In zehn Minuten erwarte ich Sie in meinem Büro, und dann werden Sie mir den Vorfall in allen Einzelheiten schildern – so detailliert, daß Sie selbst überrascht sein dürften. Ist das klar?«
Dom sah trotzig auf, biß sich dann auf die Lippe.
»Ja, Sir«, antwortete er kleinlaut.
»In Ordnung. Vielleicht können wir es uns ersparen, daß ich dazu verdonnert werde, mit den Zähnen Entenmuscheln von einem Floß zu kratzen. Vielleicht können wir sogar verhindern, daß Sie für einen Monat Hausarrest bekommen.« Korodores Stimme wurde etwas sanfter, als er hinzufügte: »Was hat es mit dem Ding an Ihrem Hals auf sich? Kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Es ist ein Sumpf-Ig.«
»Ziemlich selten, nicht wahr?«
Dom hob den Kopf, betrachtete das Planetenwappen über der Tür: Ein blauer Flamingo und die phantasielose Darstellung eines Sumpf-Igs säumten ein sadhimistisches Symbol auf azurblauem Grund. Darunter bildeten viel tiefer als nötig in den Stein gemeißelte Zeichen das Eine Gebot.
»Ich kannte einmal einen Schmuggler, der ein solches Tier hatte«, fuhr Korodore fort. »Man erzählt sich einige seltsame Geschichten über jene Geschöpfe. Sie kennen die Legenden vermutlich. Nun, ich schätze, es droht keine Gefahr. Bringen Sie den Ig ruhig mit rein.«
Der kleine Bildschirm des Kommunikators wurde wieder dunkel, und der Roboter wich zur Seite.
Dom machte einen weiten Bogen um das Wohnquartier. In der Küche wurden die Vorbereitungen für das Bankett am nächsten Tag getroffen, und dementsprechend laut ging es dort zu. Der junge Mann schlich auf leisen Sohlen hinein, stahl einen Teller mit Seetang-Speisen und huschte wieder in den Flur. Ein phnobischer Fluch folgte ihm, doch damit hatte es sich auch schon. Dom grinste, wanderte durch den Gang, der schließlich in einem wahren Labyrinth aus Vorratsräumen und Speisekammern endete.
Daran schloß sich ein kleiner Hof an, über dem sich ein Dach aus getöntem Kunststoff spannte. Es filterte das Strahlen der Sonne, so daß selbst während eines Achguckmal-Mittags düsteres Zwielicht herrschte. Aus einigen im Plastik eingelassenen Düsen strömte grauer Dunst.
In der Mitte des freien Platzes erhob sich ein aus Ried errichtetes Miniaturschloß, und auf den daran angrenzenden Bereichen wuchsen mit sichtlichem Widerwillen einige Pilzkolonien. Dom strich den nassen Vorhang beiseite und trat ein.
Hrsh-Hgn saß in einer kleinen, mit lauwarmem Wasser gefüllten Bademulde und las einen Datenwürfel. Neben ihm brannte Fischöl in einer Lampe. Er hob seine zweigelenkige Hand und winkte, drehte Dom ein Auge zu.
»Freut mich, daß du hier bisst. Hör dir dass an: ›Ein Felsvorsprung zwanzig Kilometer südlich von Rampa auf Drittes Auge zeigt Fossilienschichten, die nicht aus ferner Vergangenheit stammen, sondern sich auf die Zukunft beziehen …‹«
Der Phnobe unterbrach sich und stellte den Würfel vorsichtig auf den Boden. Er musterte zuerst Doms Gesichtsausdruck, betrachtete dann die Narbe, richtete seine Aufmerksamkeit schließlich auf den Ig, der sich um den Hals des jungen Mannes geschlungen hatte.
»Du versuchst, mir etwas vorzumachen«, sagte Dom. »Es gelingt dir sogar recht gut, besser als Korodore und den Leuten an der Mole, aber ich durchschaue dich trotzdem.«
»Wir sind alle ssehr froh, daß du gesund und munter zurück bisst.«
»Meine Güte, ihr seid so verblüfft und verwirrt, als sei ich gerade von den Toten auferstanden.«
Der Phnobe zwinkerte.
»Hrsh, morgen bin ich Vorsitzender des Direktoriums. Nun, das bedeutet nicht viel, aber …«
»Es ist eine ssehr ehrenvolle Stellung.«
»Es bedeutet nicht viel, weil die wahre Macht nach wie vor von meiner Großmutter ausgeübt wird. Ich glaube jedoch, der Vorsitzende sollte über die eine oder andere Sache Bescheid wissen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Warum hast du mir nie etwas von der Wahrscheinlichkeits-Mathematik erzählt? Und was ist mit meinem Vater passiert? Auf welche Weise kam er ums Leben? Wie ich von einigen Fischern hörte, soll es ihn irgendwo im Großen Knarrenden Sumpf erwischt haben.«
Eindrucksvolle Stille schloß sich an, so daß der Ig erwachte. Er kratzte sich hingebungsvoll.
»Komm schon«, drängte Dom. »Du bist immerhin mein Lehrer.«
»Es isst schon ziemlich spät geworden. Ich beantworte deine Fragen morgen, nach der Zeremonie.«
Dom stand auf. »Kann ich dir jemals wieder trauen? Chel: Es ist wichtig, Hrsh. Und du weichst mir aus.«
»Ach, tatssächlich? Da du offenbar gerade den Psychologen spielst: Was versuche ich vor dir zu verbergen?«
Dom beobachtete den Phnoben. »Angst und Furcht, glaube ich. Auch so etwas wie Mitleid. Und sogar … Entsetzen.«
Er verließ wütend das Gebäude, und hinter ihm erzitterte der Vorhang. Hrsh-Hgn wartete, bis die Schritte des jungen Mannes verklangen, griff dann nach dem Kommunikator. Korodore meldete sich sofort.
»Ja?«
»Er hat mich gerade bessucht. Und ich hätte ess ihm fast gesagt! Er ist mißtrauisch geworden, ahnt etwas! Wir dürfen nicht zulassen, daß die Ereignisse den vorausgesagten Lauf nehmen.«
»Wir legen keineswegs die Hände in den Schoß. Ganz im Gegenteil: Wir werden uns die größte Mühe geben, mehr als nur maßgeblichen Einfluß auf den Kausalstrom zu nehmen, dem angeblichen Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Ich bin fest entschlossen, vom gesamten Sicherheitspotential Gebrauch zu machen. Aber das ändert nichts an der Ereignisevolution, die morgen ihren Höhepunkt erreicht. Die Zukunft läßt sich nicht ändern, mein lieber Hrsh-Hgn. Andernfalls wären siebzig Jahre der Wahrscheinlichkeits-Mathematik umsonst.«
»Genau darüber hat jemand mit ihm gesprochen – über die W-Analyse«, entgegnete Hrsh-Hgn. »Er erkundigte sich nach seinem Vater. Und wenn er sich erneut mit Fragen an mich wendet … Ich schwöre, daß ich ihm dann alles sage.«