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Juli Zeh

Nullzeit

Roman


btb

Für Nelson

Nullzeit

1

Wir sprachen über Windrichtung und Wellengang und spekulierten, wie der November verlaufen würde. Auch auf der Insel gab es Jahreszeiten, man musste nur genauer hinschauen. Tagsüber sank die Temperatur selten unter zwanzig Grad. Danach kam die wirtschaftliche Situation an die Reihe. Bernie, der Schotte, plädierte für eine geregelte Insolvenz der Griechen. Laura kam aus der Schweiz und fand, dass man kleine Länder unterstützen sollte. Ich interessierte mich nicht für Politik. Um den ganzen Tag Nachrichten im Internet zu lesen, hätte ich nicht auswandern müssen. Laura und Bernie einigten sich darauf, dass Deutschland die neue Wirtschaftspolizei Europas sei – stark, aber unbeliebt. Erwartungsvoll blickten sie mich an. Im Ausland ist jeder Deutsche Angela Merkels Pressesprecher.

Ich sagte: »Für uns ist die Krise doch längst vorbei.«

Die Deutschen und Briten fuhren wieder in Urlaub. Es ging uns besser, manchen sogar gut.

Unsere Pappschilder trugen wir unter den Arm geklemmt. Auf dem Schild von Bernie stand EVANS FAMILY und NORRIS FAMILY. Bei Laura stand ANNETTE, FRANK, BASTI und SUSANNE. Ich hatte an diesem Tag nur zwei Namen dabei: THEODOR HAST und JOLANTHE AUGUSTA SOPHIE VON DER PAHLEN. Die vielen Namensbestandteile hatten kaum auf das Schild gepasst. Die Schilder mussten so klein sein, dass wir sie jederzeit unter den Jacken verschwinden lassen konnten. Ein Inselgesetz zum Schutz der Taxifahrer verbot uns die Abholung von Kunden am Flughafen. Erwischte man uns dabei, zahlten wir dreihundert Euro Strafe. Vor den Glastüren der Ankunftshalle standen die Taxifahrer und behielten uns im Auge. Ihretwegen pflegten wir unsere verdutzten Kunden wie alte Freunde in die Arme zu schließen. Die Anzeigetafel über unseren Köpfen sprang um. 20 minutes delayed. Bernie hob fragend die Augenbrauen. Wir nickten.

»With much milk«, sagte ich.

»Lots of«, sagte Laura.

Seit Jahren versuchte Laura, mir Englisch beizubringen, dabei hatte ich nicht einmal richtig Spanisch gelernt. Bernie war mein schlechtes Englisch egal, solange er mich verstand. Er schob die Hände in die Taschen seiner Shorts und schlenderte zum Kaffeestand. Mit Fünf-Tage-Bart und Wiegeschritt sah er immer aus, als befände er sich an Deck eines Schiffs.

Wir hatten den Kaffee ausgetrunken, als die ersten Passagiere durch die Absperrung kamen. Bernie wurde von einer Familie umringt. Fünf Personen. Das lohnte sich. Ich hielt Ausschau nach einer eleganten älteren Dame in Begleitung eines weißhaarigen Mannes, der einen Gepäckwagen mit einem Berg farblich aufeinander abgestimmter Koffer schieben würde. Anders konnte ich mir einen Theodor und eine Jolante nicht vorstellen. Wir hatten Exklusivbetreuung vereinbart und uns auf eine Summe geeinigt, die nur zahlen konnte, wer einen großen Teil des Lebens bereits hinter sich hatte.

Es war immer spannend, neue Kunden am Flughafen abzuholen. Man wusste nie, wer auf die Idee kam, das Tauchen auszuprobieren. Weil Antje die Büroarbeit erledigte, hatte ich mit den meisten im Vorfeld nicht einmal telefoniert. Wie würden sie aussehen, wie alt, welche Vorlieben, Berufe, Lebensgeschichten? Am Meer war es so ähnlich wie im Zug: Man lernte sich in kürzester Zeit verblüffend gut kennen. Weil ich mir angewöhnt hatte, keine Urteile zu fällen, kam ich mit allen gut zurecht.

Unter die Air-Berlin-Passagiere mischten sich Insassen einer Maschine aus Madrid. Sie waren kleiner, weniger warm angezogen und nicht so blass. Ich hatte Übung im Erraten von Staatsangehörigkeiten. Deutsche erkannte ich mit einer Trefferquote von fast hundert Prozent. Ein Paar kam auf mich zu. Vater und Tochter, dachte ich kurz und sah auf der Suche nach Theodor und Jolante durch sie hindurch, bis sie vor mir stehen blieben. Erst als die Frau auf das Schild in meiner Hand zeigte, begriff ich, dass meine neuen Kunden mich gefunden hatten.

»Jolante aber ohne H«, sagte die Frau.

»Sind Sie Herr Fiedler?«, fragte der Mann.

Ein Taxifahrer beobachtete uns von der Drehtür aus. Ich breitete die Arme aus und zog Theodor Hast an mich.

»Ich bin Sven«, sagte ich. »Willkommen auf der Insel.«

Theodor verkrampfte sich, während ich die Luft links und rechts von seinem Gesicht küsste. Ein leichter Geruch nach Lavendel und Rotwein. Dann drückte ich die Frau. Sie war schmiegsam wie ein Stofftier. Für einen Augenblick glaubte ich, sie würde zu Boden fallen, sobald ich sie losließe.

»Hoppla«, sagte Theodor. »Was für eine Begrüßung.«

Das Willkommenstheater würde ich ihnen im Auto erklären.

»Mein Wagen steht draußen«, sagte ich.

Bernie hatte seine zweite Familie um sich versammelt, Laura stand inmitten einer Gruppe junger Deutscher. Alle schwiegen und blickten zu uns herüber. Ich schaute zurück und hob fragend die Achseln. Antje hätte mich ausgelacht und wieder einmal behauptet, ich sei »schwer von Kapee«. Theodor und Jolante hatten ihre Rollkoffer gegriffen und schlenderten Richtung Ausgang. Er im Maßanzug ohne Hemd und Krawatte, das Sakko offen über einem hellen T-Shirt. Sie in Militärstiefeln zu einem grauen Leinenkleid, ärmellos, der Rock bis zum Knie. Das schwarze Haar auf ihrem Rücken glänzte wie Krähengefieder. Sie stießen einander mit der Schulter an, lachten über etwas. Blieben stehen und drehten sich nach mir um. Jetzt sah ich es auch: Sie wirkten nicht wie Urlauber. Eher wie Models für eine Ferienreklame. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Die halbe Ankunftshalle starrte sie an. Das Wort »Prachtexemplare« kam mir in den Sinn.

»Dann mal viel Spaß«, sagte Laura mit Blick auf die Beine der Frau von der Pahlen.

»Canalla«, sagte Bernie grinsend und schlug mir auf die Schulter, als ich an ihm vorüberging: Du Mistkerl. Seine Familien waren rothaarig. Das bedeutete Sonnenbrand und nervöse Kinder.

Draußen auf dem Parkplatz öffnete ich meinen Kunden die Seitentür des VW-Busses, aber sie fanden es lustiger, mit mir vorne zu sitzen. Der Bus verfügte über eine Fahrerbank mit drei Plätzen; Theodor quetschte sich in die Mitte. Mein nacktes Bein in Shorts schien unpassend neben seiner Anzughose. Als ich den Gang einlegte, streifte meine Hand seinen linken Oberschenkel. Für den Rest der Fahrt presste er die Knie zusammen.

»Wir duzen uns hier. Wenn’s euch recht ist.«

»Theo.«

»Jola.«

Wir reichten uns die Hände. Theos Finger lagen warm, aber schlaff in den meinen. Jola hatte den festen Händedruck eines Mannes, fühlte sich aber erstaunlich kalt an. Sie kurbelte das Fenster ein Stück herunter und hielt die Nase in den Wind. Ihre Sonnenbrille gab ihr das Aussehen eines Insekts. Eines niedlichen Insekts, das musste ich zugeben.

Arrecife war eine Konzentration von Unannehmlichkeiten. Behörden, Gerichte, Polizei, Hotelanlagen, Krankenhäuser. Man fährt nur hin, wenn es ein Problem gibt, pflegte Antje zu sagen. An diesem Tag wusste ich noch nicht, dass ich eins hatte. Ich genoss es, die Stadt zu verlassen, drückte aufs Gas, erreichte die Ausfallstraße und Fluchtgeschwindigkeit. Die Landschaft öffnete sich. Ein paar bärtige Palmen am Straßenrand, dahinter alles schwarz bis zum Horizont. Eine Schönheit im klassischen Sinn war die Insel nicht. Vom Flugzeug aus betrachtet, glich sie einem riesigen Kieswerk. Braungraue Hügel, in deren Senken Schneereste zu liegen schienen. Im Landeanflug erkannte man, dass es sich bei den hellen Flecken um Ortschaften handelte, aus weißen Häusern zusammengesetzt. Eine Landschaft ohne nennenswerte Vegetation hatte es ebenso schwer wie eine Frau, die nichts Passendes zum Anziehen besitzt. Gerade für ihre fehlende Eitelkeit hatte ich die Insel von Anfang an geliebt.

Wie war euer Flug, wie ist das Wetter in Deutschland?

Wie groß ist die Insel, wie viele Menschen leben hier?

Ich wählte die Route durchs Weingebiet. Unzählige trichterförmige Mulden, an deren Grund jeweils eine Rebe Schutz und fruchtbaren Boden fand. Dass es Menschen gab, die für jede einzelne Pflanze ein metergroßes Loch in die Lapillischicht gruben, den Rand mit einer kleinen Steinmauer befestigten und auf diese Weise fünftausend Hektar wie einen Schweizer Käse durchlöcherten, faszinierte mich immer wieder aufs Neue. In der Ferne leuchteten die Krater des Timanfaya rötlich, gelb, violett und grünlich von den Flechten, die das Vulkangestein überzogen. Die einzige Pflanze, die in dieser Umgebung wuchs, war ein Pilz. Ich wartete, wer als Erstes »wie auf dem Mond« sagen würde.

»Wie auf dem Mond«, sagte Jola.

»Erhaben«, sagte Theo.

Als Antje und ich vor vierzehn Jahren angekommen waren, ausgestattet mit zwei Rucksäcken und dem Plan, einen möglichst großen Teil unserer Zukunft auf der Insel zu verbringen, wenn auch nicht unbedingt gemeinsam, da war sie es, die beim Anblick des Timanfaya »wie auf dem Mond« gesagt hatte. Ich hatte etwas wie »erhaben« gedacht und nicht das richtige Wort dafür gefunden.

»Wenn man Geröll mag«, sagte Jola.

»Du hast keinen Sinn für die Ästhetik des Kargen«, erwiderte Theo.

»Und du bist einfach nur froh, dich auf festem Boden zu befinden.«

Jola zog Stiefel und Strümpfe aus und warf mir einen fragenden Blick zu, bevor sie die nackten Füße gegen die Windschutzscheibe stützte. Ich nickte zustimmend. Es freute mich, wenn sich meine Kunden möglichst rasch entspannten. Sie sollten sich nicht wie zu Hause fühlen.

»Fliegst du auch so ungern?«, fragte ich Theo.

Sein Blick war vernichtend.

»Er stellt sich schlafend«, sagte Jola. Sie hatte ihr Telefon hervorgeholt und tippte eine SMS. »Wie alle Männer, die Angst haben.«

»Ich betrinke mich, so schnell ich kann«, sagte ich.

»Das erledigt Theo schon vorher.«

Ein Handy piepste. Theo griff in die Innentasche seines Sakkos. Las und antwortete.

»Fährst du oft nach Deutschland?«, fragte Jola.

»Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, sagte ich.

Jolas Handy piepste. Sie las und stieß Theo in die Seite. Beim Lachen zog sie die Nase kraus wie ein kleines Mädchen. Theo sah aus dem Fenster.

»Mir gefällt die Landschaft«, sagte er. »Sie lässt einen in Ruhe. Will nicht ständig bestaunt und bewundert werden.«

Ich verstand genau, was er meinte.

»Mich interessiert in den nächsten zwei Wochen nur, was unter Wasser ist«, sagte Jola. »Die Welt darüber kann mir gestohlen bleiben.«

Auch das verstand ich.

Wir erreichten Tinajo, eine kleine Stadt aus weißen Häusern mit orientalisch anmutenden Türmchen auf den Ecken der Flachdächer. An der Buchhandlung, die aussah, als hätte man sie saniert und danach geschlossen, bogen wir links ab. Nach wenigen hundert Metern hatten wir die letzten gepflegten Vorgärten hinter uns gelassen. Es folgten terrassenförmige Felder, dem Geröll abgetrotzt. Hier und da lagen ein paar Zucchinis auf der schwarzen Erde. Ein flacher Schuppen, auf dessen Dach ein Schäferhund in der prallen Sonne angebunden war, stellte das letzte Anzeichen von Zivilisation dar. Die Straße verwandelte sich in eine Schotterpiste, die sich, von weiß getünchten Steinen markiert, als gewundenes Band durch die Vulkanfelder zog. An dieser Stelle gerieten die meisten Kunden in Aufregung. In scherzhaftem Ton riefen sie: »Wo bringst du uns hin?« und »Das ist ja das Ende der Welt!«

Jola sagte: »Wow.«

Theo sagte: »Krass.«

Ich verzichtete auf touristische Hinweise zu Geschichte und Geologie. Sprach nicht von Vulkanausbrüchen, die in sechs Jahren ein Viertel der Insel unter sich begraben hatten. Ich hielt den Mund und überließ sie ihrem Staunen. Ringsum nichts als Gestein in bizarren Formen. Das Schweigen der Minerale. Nicht einmal ein Vogel ließ sich blicken. Der Wind rüttelte am Auto, als wollte er rein.

Nachdem wir den letzten Vulkankegel umrundet hatten, offenbarte sich plötzlich der Atlantik, dunkelblau mit weißem Spitzensaum und ein wenig unglaubwürdig nach so viel Gestein. An den Uferfelsen explodierte die Brandung zu hoch aufsteigenden Gischtwolken, wie in Zeitlupe gefilmt. Der Himmel eine Fortsetzung des Ozeans mit anderen Mitteln, blaugrau und weiß und windgezaust.

»Ach, Mensch«, sagte Jola.

»Kennt ihr die Geschichte«, fragte Theo, »wie zwei Schriftsteller am Strand spazieren gehen? Der eine beschwert sich, dass alle guten Bücher schon geschrieben worden seien. Schau mal, ruft da der andere und zeigt aufs Meer hinaus, da kommt die letzte Welle!«

Jola lachte kurz, ich gar nicht. Das mineralische Schweigen gewann immer. Nach einigen Minuten Fahrt erreichten wir Lahora. Den Eingang des Orts markierte eine Bauruine, ein Betonquader auf Natursteinfundament, dessen leere Fensterhöhlen über das Meer schauten. Die Schotterpiste verwandelte sich in einen rutschigen Sandstreifen, der steil ins Dorf hinabführte. Falls »Dorf« das richtige Wort war für eine Gruppe von dreißig unbewohnten Häusern.

Während ich darüber nachdenke, wie man Lahora am besten beschreibt, fällt mir auf, dass ich über die Insel und alles, was sich auf ihr befindet, in der Vergangenheitsform spreche. Kaum drei Monate ist es her, dass ich mit Theo und Jola zum ersten Mal nach Lahora fuhr. Wie üblich hielt ich auf der Klippe am oberen Ende des Orts, damit meine Kunden die Aussicht genießen konnten. Ich erklärte, dass Lahora, anders als viele Reiseführer behaupteten, keineswegs ein altes Fischerdorf sei. Vielmehr handele es sich um eine Ansammlung von Wochenendhäusern, erbaut von wohlhabenden Spaniern, die in Tinajo bereits ein schönes Anwesen besaßen, nur eben ohne Meerblick. Die Inselregierung, fuhr ich fort, habe den Bauplatz inmitten eines der größten Vulkangebiete freigegeben, ohne sich um die Erschließung zu kümmern. Lahora besitze keinen Bauplan. Keine Straßennamen. Keine Kanalisation. Genau genommen besitze Lahora außer mir und Antje auch keine Einwohner. Lahora sei eine Mischung aus Bauruine und Geisterstadt, eine Variation auf die unklare Grenze zwischen Noch-nicht-fertig und Schon-wieder-verfallen.

Tatsächlich hatten die Spanier längst aufgehört, an ihren halb fertigen Häuschen herumzubasteln, und saßen stattdessen auf ihren mit Schwemmholz eingezäunten Terrassen, während der salzige Wind den Putz von den Wänden nagte. Hölzerne Kabeltrommeln dienten als Tische, gestapelte Baupaletten als Sitzbänke. Lahora war ein Endpunkt. Ein Ort des Stillstands. Möbliert mit Gegenständen, die anderswo längst auf dem Müll gelandet wären. Das Ende der Welt.

Wir saßen im Auto und schauten über die flachen Dächer, auf denen Wassertanks, Solarzellen und Satellitenschüsseln versammelt waren, bis hinunter zur ersten Häuserreihe, die bei Flut fast mit den Füßen im Wasser stand. An diesem Ort, versprach ich, würden sie einzigartige Ruhe finden. Die Eigentümer der Häuser kämen, wenn überhaupt, nur an den Wochenenden.

Zum Abschluss meiner kleinen Ansprache verkündete ich zwei Regeln für den Aufenthalt: Nicht schwimmen und nicht spazieren gehen. Die kleine Bucht sei bei jeder Wetterlage ein Hexenkessel, und die Vulkanfelder brächen unbelehrbaren Wanderern regelmäßig die Knöchel. In Lahora könne man sitzen, übers Meer schauen und die nördlich vorgelagerten Inseln betrachten, die wie schlafende Tiere im Dunst zwischen Wasser und Himmel kauerten. Außerdem seien sie schließlich zum Tauchen hier. Täglich würden wir zu den besten Tauchplätzen der Insel fahren, und wenn sie zusätzlich ein paar Sehenswürdigkeiten besuchen wollten, stünde ich wie verabredet als Chauffeur und Reiseführer zur Verfügung.

Sie hörten gar nicht zu. Sie hielten sich an den Händen, betrachteten Dorf und Ozean und wirkten vollständig versunken. Sie fragten nicht wie andere Kunden, warum ich mich an einem so entlegenen Ort niedergelassen habe. Sie plapperten nicht von früheren Tauchabenteuern. Als Jola mir das Gesicht zuwandte und die Sonnenbrille abnahm, waren ihre Augen feucht, was, wie ich glaubte, vom Wind herrührte, der durchs offene Seitenfenster fuhr.

»Ausgesprochen schön hier«, sagte sie.

Ich fröstelte und ließ den Motor an.

Heute kommt es mir vor, als hätte sich dieses erste Kennenlernen vor einer halben Ewigkeit abgespielt, in einem anderen Jahrhundert oder fremden Universum. Obwohl ich, während ich das schreibe, noch immer durchs Fenster den Atlantik sehe, besitzt die Insel keine Gegenwart mehr. Ich lebe buchstäblich aus gepackten Koffern. Am Hafen von Arrecife wartet ein Container mit meiner gesamten Ausrüstung auf die Verschiffung nach Thailand, wo ein Deutscher aus Stuttgart auf irgendeiner Palmeninsel mit weißen Stränden eine Tauchbasis eröffnen will. Der zweite Container mit privaten Sachen ist fast leer geblieben. Als ich überlegte, was ich in Deutschland gebrauchen könnte, fiel mir kaum etwas ein. Was haben Shorts, Sandalen, Bullaugen von gesunkenen Schiffen und ein selbst gefangener, präparierter Schwertfisch im Ruhrgebiet verloren? Der einzig passende Ort für all das ist die Vergangenheit.

Langsam rollten wir die Piste hinunter und bogen an der kleinen Mauer, die mit rührender Anmaßung Atlantik und Festland voneinander trennte, links ab. Mein Anwesen bildete das Ende des Orts. An einem Sandplatz standen sich die beiden Häuser in Steinwurfweite schräg gegenüber: die zweigeschossige, mit großzügiger Dachterrasse versehene »Residencia«, in der ich gemeinsam mit Antje lebte, und die »Casa Raya«, das etwas kleinere Feriendomizil. Beiden Gebäuden hatte man ihren Platz in die schwarzen Uferfelsen hineingesprengt. Sie standen erhöht auf Natursteinsockeln, denen die Gischt nichts anhaben konnte. Ich hatte sie günstig erworben und aufwändig saniert, und Antje hatte in den Gärten rings um die Häuser wahre Wunder bewirkt. Tagelang hatte sie mit dem Bauunternehmer um die richtige Aushubmenge gestritten, Pläne für die Bewässerung gezeichnet und auf dem Anfahren von speziellem Boden bestanden. Gewissenhaft untersuchte sie Windbelastung, Sonneneinfall und die Ausbreitungsrichtung von Wurzeln. Mit den Jahren war am Rand der Steinwüste eine Oase entstanden, deren Bewässerung mich ein Vermögen kostete. Flamboyant, Hibiscus und Oleander blühten das ganze Jahr. Massen von Bougainvilleen warfen ihre Farbkaskaden über die Mauern, darüber streckten zwei Norfolktannen ihre dickfingrigen Nadelfächer in die Höhe. Am äußersten Ende Lahoras brannte die Blütenpracht ein Loch in die karge Umgebung.

»Das gibt’s doch nicht«, sagte Theo, schüttelte den Kopf und lachte leise, als könnte er seinen Augen nicht trauen. Jola hatte die Sonnenbrille wieder aufgesetzt und schwieg.

Es gab Kunden, die Lahora nicht mochten, aber niemanden, dem die Casa Raya nicht gefiel. Der schlichte weiße Würfel mit blau gestrichenen Fensterläden verfügte nur über ein Schlafzimmer, Bad und Wohnzimmer mit Kochnische, hatte aber trotz seiner geringen Größe etwas Majestätisches an sich. Unterhalb der Treppe, die zur Eingangstür hinaufführte, warf sich der Atlantik gegen die Lavafelsen. Weniger wütend als routiniert; er machte das seit ein paar Millionen Jahren. Alle zwei Minuten schaukelte sich das Wasser in der Bucht auf, bis eine zwanzig Meter hohe Fontäne in den Himmel schoss. Unglaublich, dass ein solches Schauspiel nicht das Geringste mit uns Menschen zu tun hatte. Nach ihrem Aufenthalt in der Casa schrieben die Gäste aus Deutschland, sie hätten das mythische Tosen noch tagelang im Ohr gehabt. Es war ein Geräusch, das einen bewohnte.

Antje saß bereits auf der Treppe zur Casa und wartete. Auf der Motorhaube ihres weißen Citroëns schlief ihr Cocker Todd. Der einzige Hund im Universum, der freiwillig auf einem heißen Blech in der prallen Sonne lag. Auf diese Weise wollte er verhindern, dass man ohne ihn wegfuhr. Glaubte Antje. Als sie uns kommen sah, sprang sie auf und winkte. Ihr Kleid ein leuchtender Fleck. Sie besaß eine ganze Sammlung bunter Baumwollkleider, jedes mit anderem Muster. Dazu eine Batterie Flip-Flops in passenden Farben. An diesem Tag galoppierten grüne Pferdchen auf rotem Grund über ihren Körper. Als sie Jola die Hand gab, sah das aus, als hätte man zwei Frauen aus verschiedenen Filmen in einem Trickbild zusammengeschnitten. Theo starrte aufs Meer, die Hände in den Hosentaschen.

Ich stellte das Gepäck auf die staubige Erde. Antje hob die Hand zum Dank. Wir hatten uns kaum begrüßt. Ich mochte es nicht, wenn sie mich in Gegenwart anderer Menschen berührte. Obwohl wir seit Jahren zusammenlebten, kam es mir immer noch komisch vor, dass wir ein Paar sein sollten. Jedenfalls in der Öffentlichkeit.

Während ich die leeren Tauchflaschen vom Vormittag in die Garage der Residencia schleppte, wo sich die Füllstation befand, führte Antje unsere Gäste ins Ferienhaus. Die Unterbringung der Kunden gehörte zu ihren Zuständigkeiten. Außer der Casa gab es noch einige Ferienapartments in Puerto del Carmen, die sie für andere Eigentümer verwaltete. Die meisten ihrer Gäste waren meine Tauchschüler. Antje buchte, übergab Schlüssel, rechnete ab, machte sauber, pflegte Gärten, beaufsichtigte Handwerker. Nebenher führte sie das Büro meiner Tauchschule, aktualisierte die Homepage und erledigte den Papierkram der Tauchverbände. Nach unserer Ankunft auf der Insel hatte sie keine zwei Jahre gebraucht, um sich unentbehrlich zu machen. Selbst mit der Mañana-Mentalität der Inselspanier kam sie zurecht.

Ich warf die benutzten Tauchanzüge in die Waschanlage im Garten und ging ins Haus. Plötzlich verspürte ich Lust auf einen Aperitif. Campari auf Eis. Normalerweise trank ich nur, wenn ich musste. Im Flugzeug, auf Hochzeiten oder an Silvester. Der Campari bezog sich irgendwie auf Jola und Theo. Ich roch und schmeckte das Getränk, ohne zu wissen, ob Antje es vorrätig hatte. Im Kühlschrank fand ich eine Flasche, goss reichlich ein und freute mich daran, wie die Eiswürfel knackten. Das Glas trug ich hinaus auf die untere Terrasse. Wenn man den Stuhl ganz dicht an die Brüstung stellte, konnte man quer über den Sandplatz ins Wohnzimmerfenster der Casa sehen. Gerade wurden die Vorhänge aufgezogen. Antjes buntes Kleid erschien hinter der Scheibe. Im Hintergrund sah ich Jola und Theo nachdenklich die Küchenzeile betrachten. Vermutlich waren sie Besseres gewöhnt. Oder sie fragten sich, was sie hier überhaupt kochen sollten, wo es doch in Lahora nicht einmal einen Kaugummiautomaten gab. An diesem ersten Abend würde Antje sie zum Essen einladen und morgen nach dem Tauchen mit ihnen einkaufen fahren. So machten wir es immer mit Gästen in der Casa.

Drüben erklärte Antje Herd, Mikrowelle und Waschmaschine. Theo schien zuzuhören, während sich Jola aufs Sofa fallen ließ. Ihr Kopf hüpfte im Fenster auf und nieder; wahrscheinlich prüfte sie die Federung. Ich war versucht, mir auszumalen, wie Theo sie über den Esstisch warf, ihr das Kleid hochschob – und löschte die Vorstellung gleich wieder. Kundinnen waren tabu. Ich arbeitete in einer Branche, in der man Badehosen als Arbeitskleidung trug.

Jolas Tagebuch, erster Tag

Samstag, 12. November. Nachmittags.

Unglaublicher Ort. Weiße Fassaden mit verrammelten Fensterläden. Pralle Sonne und schwarzer Sand. Jeden Augenblick kann Zorro um die Ecke biegen. Man will sofort ein Duell abhalten. Die Luft schmeckt salzig. Ich find’s genial hier, aber weil Theo es auch mag, muss ich natürlich das Gegenteil behaupten. Die erhabene Ästhetik des Kargen! Alles klar, alter Mann. Entspann dich doch einfach mal. Die Welt wird nicht schöner, wenn du deine Poesie drüber kippst. Auch nicht größer, wichtiger oder besser. An der Welt prallst du einfach ab. Wie das Meer an den Felsen zersprühen deine Worte und fließen in dich selbst zurück. In zehntausend Jahren hättest du vielleicht eine kleine Ecke rund geschliffen, aber so alt wirst du nicht. Du am allerwenigsten.

Aber ich halte den Mund. Spreche nicht über Literatur und nicht vom Sterben. Wir geben uns Mühe. Das wird ein schöner Urlaub. Ich werde ihn nicht provozieren, und er wird sich nicht provozieren lassen. Waffenstillstand.

Na ja, Urlaub: Eigentlich bin ich hier, weil ich diese Rolle will. Ich brauche die Rolle. Lotte ist meine letzte Chance. Ich habe Lottes Foto aus dem Buch gerissen und im Schlafzimmer übers Bett gepinnt. Ich könnte sie die ganze Zeit anschauen. Das Mädchen auf dem Meeresgrund. Wie sie sich in rotem Badekostüm und altmodischer Taucherausrüstung an einem Wrack festhält. Die Augen stark geschminkt hinter der Taucherbrille. Das lange Haar schwebt ihr wie eine Wasserpflanze um den Kopf. Sie ist so schön. Und stark. Eine Kämpferin. Herd und Kinder waren ihr nicht genug. Sie suchte die Gefahr. Ihr Tagebuch ist spannend wie ein Krimi. In den Fünfzigern war Tauchen kein Sport, sondern Pionierarbeit. Eine Mutprobe für Männer, nicht für Frauen. Lotte war das erste Mädchen, das darauf bestand, mit den Fischen zu schwimmen. Theo hat das Foto über dem Bett bemerkt und sich auf die Lippen gebissen.

Sven ist ein Strahlemann. Nur zwei Jahre jünger als Theo, aber anders gebaut. Schwimmhäute zwischen den Zehen, Kiemen hinter den Ohren. Der schaut mich nicht an. Sieht mich gar nicht. Wahrscheinlich, weil ich kein Fisch bin. Den soll er ja auch erst aus mir machen. Dafür wird er bezahlt, und nicht zu knapp.

Dem Sven seine – ja was? – heißt Antje. Assistentin? Frau? Schwester? Sekretärin? Vorgestellt hat sie sich als »die Antje«. Als wäre das Berufsbezeichnung und Familienstand in einem. Sven hat derweil in die Luft geguckt. Anscheinend ist die Antje ihm peinlich. Dabei ist sie ein kleiner Hingucker, plaudert viel und riecht nach Nivea. Blond wie eine Schwedin. Ins Wasser geht sie nicht. Das hat sie uns gleich zu Anfang erklärt. Das Wasser sei Svens »Aggregatzustand«. Element oder Metier hat sie wohl gemeint. Dem alten Mann geht so was durch Mark und Bein. Wer nicht richtig sprechen kann, soll die Klappe halten, lautet seine Devise. Menschen, die bei der Vorstellung einen Artikel vor ihren Namen setzen, kann er schon gar nicht leiden. Ich bin die Antje, das ist der Sven. So reden kleine Kinder. Aber anschauen tut er die Antje trotzdem gern.

Lahora: Das Spanischbuch an der Schule hatte diese seltsamen Beispielsätze. Meine Hunde sind unter dem Bett. Ich höre mich selber schreien. Te llegó la hora: Dir schlägt die Stunde. Kein Mensch weit und breit. Kein Auto außer Antjes Wagen mit Hund auf der Motorhaube, und ohne Auto kommt man hier gar nicht hin. Mit anderen Worten, bis auf uns ist der Ort leer. Das hat dem alten Mann gleich gefallen: Hier müsste man eine Geschichte spielen lassen! – Mach doch. Lass spielen. Schreib was, statt immer nur darüber zu reden. Ich hab nichts gesagt.

Der alte Mann ließ den Blick auf Antjes Schwedinnen-Busen ruhen und hörte aufmerksam zu: Dass wir benutztes Klopapier nicht in die Toilette, sondern in den Eimer daneben werfen sollen, weil sonst die Rohre verstopfen. Elektrische Geräte ausstecken, wenn wir das Haus verlassen. Nicht direkt nacheinander duschen, falls wir warmes Wasser haben wollen. Nicht aus der Leitung trinken. Keine Gartenmöbel auf die Bewässerungsschläuche stellen. Bescheid sagen, wenn wir ins Internet wollen, damit Sven die Satellitenschüssel justieren kann. Nicht schwimmen, nicht spazieren gehen – das wussten wir schon.

Ich stand dann lange im Garten und sah zu, wie das Meer mit sich selber spielt. Plötzlich war der alte Mann hinter mir, ein Glas Rotwein in der Hand. Er legte mir den Arm um die Schultern, drückte mich an sich und küsste mich auf den Scheitel.

»Kleine Jola«, sagte er, mehr nicht.

Mir wurden die Augen feucht. Ich hielt mich an ihm fest. Wenn er will, kann er sich gut und richtig anfühlen. So ist es immer: Man fährt meilenweit weg, um weniger bequem zu schlafen und sich besser zu verstehen.

2

Ein typischer Abend. Alle Fenster offen. Warme Luft fuhr durchs Haus und beseitigte den Unterschied zwischen drinnen und draußen. In der Küche klapperte Antje mit den Töpfen. Ein Geräusch, so gemütlich wie Regen auf einem Zeltdach. Ich saß gern am Computer in unserem winzigen Arbeitszimmer, während sie nebenan am Herd hantierte.

384.000 Treffer bei Google. Das war ein Schock. Auch wenn ich nicht recht wusste, was mich erschreckte. Im Hintergrund lief die Software zum Auslesen des Tauchcomputers. Sollte Antje im Türrahmen erscheinen, konnte ich blitzschnell umschalten. Ich hatte keine Lust zu erklären, was ich da machte und warum. Eigentlich war es nicht meine Art, Kunden zu googeln.

Das halbe Internet schien aus Jola zu bestehen. Wikipedia-Eintrag, Fan-Seiten, Facebook-Profil, Twitter, Pressemeldungen, You Tube. Hunderte von Fotos. Wie viele Gesichter ein Mensch besitzen konnte. Je länger ich schaute, desto schneller schienen sie sich zu vermehren. Von Seite zu Seite, von Link zu Link. Es war faszinierend. Und irgendwie abstoßend.

»Jolante Augusta Sophie von der Pahlen, Künstlername: Jola Pahlen, geboren am 5. Oktober 1981 in Hannover, ist eine deutsche Schauspielerin. Von der Pahlen entstammt einem baltischen Adelsgeschlecht. Im Alter von elf Jahren spielte sie eine CD mit Kinderliedern ein und übernahm einen Gesangspart in einer Inszenierung von »Woyzeck« am Staatstheater Hannover. Erste Fernseherfahrungen sammelte sie 1995–1997 im Kinderprogramm »Toggo« von Super RTL. Seit dem 4. Dezember 2003 spielt von der Pahlen in der SAT.1-Telenovela »Auf und Ab« die Rolle der Bella Schweig. Von der Pahlen lebt mit dem Schriftsteller Theodor Hast zusammen. – Jola Pahlen in der deutschen und englischen Version der Internet Movie Database.«

An der Zimmerdecke erklang ein Zwitschern. Der Gecko hatte seinen Schlafplatz hinter der Vorhangstange verlassen und machte sich für die abendliche Insektenjagd bereit. Als ich ihn vor Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, war er drei Zentimeter lang und fast durchsichtig gewesen und hatte keine Ahnung vom Leben gehabt. Inzwischen war er länger als mein Zeigefinger und wusste, dass er mich nicht zu fürchten brauchte. Ich hatte ihn Emil getauft, auch wenn Antje sagte, dass er ein Weibchen sei. Sie behauptete, es gebe von dieser Gecko-Art überhaupt keine Männchen. Die weiblichen Tiere würden sich durch Klonen vermehren. Dabei grinste sie mich an, als handelte es sich um einen feministischen Schachzug der Natur. Mich störte das nicht. Ich mochte Emil. Er hatte wunderschöne Füße und lief mit Nanotechnik kopfunter an der Decke entlang.

»Frau Pahlen, Sie entstammen einer adligen Familie. Inwieweit hat Sie das geprägt?«

»Jeden Menschen prägt seine Herkunft. Ich habe von meiner Familie gelernt, schöne Dinge zu bewahren. Wenn ich sehe, wie jemand ein Wasserglas ohne Untersetzer auf einen Biedermeiertisch stellt, bereitet mir das körperliche Schmerzen. Achtlosigkeit ist der schlimmste Feind der Schönheit.«

»Ihr Vater ist ein erfolgreicher Filmproduzent. Ihre Familie ist reich. Sehnen Sie sich manchmal danach, etwas aus eigener Kraft zu schaffen?«

»Alles, was ich tue, geschieht aus eigener Kraft. Weder mein Vater noch meine Familie stehen bei ›Auf und Ab‹ vor der Kamera. Das bin ich.«

»Aber es heißt doch, Ihr Vater hätte Ihnen die Rolle bei AuA besorgt?«

»Erfolg braucht immer eine Mischung aus Glück, Fleiß und Talent.«

»Frau Pahlen, Sie sind seit letzter Woche 30 Jahre alt. Wird es nicht Zeit, bei AuA aufzuhören?«

»Warum? Glauben Sie, dass man mit 30 für Telenovelas zu alt ist?«

»Für Telenovelas nicht, aber vielleicht für die erste richtige Spielfilmrolle.«

»Da habe ich schon ein konkretes Projekt im Auge.«

»Dann wünschen wir viel Glück, Frau Pahlen.«

Das feine Trippeln weicher Füße. Emil erschien auf dem Monitor, dessen beleuchtete Oberfläche kleine Fliegen anzog. Mitten auf Jolas Gesicht blieb er sitzen. Schaute mich aus schwarzen Knopfaugen an und zeigte die Zunge. In Filmen sind Menschen, auf deren Porträt ein Reptil sitzt, am Ende verrückt.

Theodor Hast erzielte 12.400 Treffer bei Google. Die meisten davon hatten mit seiner Beziehung zu Jola Pahlen zu tun. Sein Wikipedia-Eintrag bestand aus zwei Zeilen ohne Foto.

»Geboren 1969 in Reutlingen, deutscher Schriftsteller. Sein Romandebüt »Fliegende Bauten« erschien im Jahr 2001. Lebt in Berlin, Stuttgart, New York.«

Der dreifache Wohnort weckte unangenehme Erinnerungen. Im Jurastudium hatte man uns beigebracht, Fachliteratur unter Angabe sämtlicher Verlagssitze zu zitieren. »Volker Schlön, Wertpapierrecht unter besonderer Beachtung des Wertpapierhandelsgesetzes, Berlin, Heidelberg, New York, 6. Auflage.« So ein Buch kostete im Laden 129 Mark und war in der Universitätsbibliothek notorisch vergriffen, sofern gerade eine Hausarbeit mit Bezügen zum Wertpapierrecht geschrieben werden musste. In Theos Fall war es nicht sein Buch, sondern er selbst, der angeblich an drei Orten zugleich lebte.

»Ein irritierendes Glanzstück.«

»Klare Ankündigung künftiger Geniestreiche.«

»Es gibt viele Menschen, die mich mögen, aber nur einer muss mit mir zusammenleben. Das bin ich. (Theodor Hast, »Fliegende Bauten«, S. 23).«

Laut Klappentext auf der Homepage des Verlags ging es um eine Hauptfigur namens Martin und die Suche nach Identität. Es klang kompliziert. Weiterhin hielt die Seite eine Leseprobe bereit.

»Er fragte sich, wie es sein konnte, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen und sich am siebten frei genommen hatte – gab es denn schon Tage, bevor die Erde im 24-Stunden-Takt um die Sonne fuhr? Und wieso hielt sich Gott an die Sieben-Tage-Woche? Es musste bedeuten, dass Gott irgendwo angestellt war. Martin hätte gern gewusst, bei wem. Er stellte sein Glas zur Seite und sah nach oben. Der zerrissene Himmel eilte nach Osten, als gäbe es dort etwas Dringendes zu erledigen. Auswandern, dachte er. Das ergäbe doch nur Sinn, wenn das Land, in das wir fliehen, nicht immer nur wir selbst wären.«

Antje las eine Menge. Wenn ich einen Roman zur Hand nahm, schlief ich darüber ein.

Das Zischen einer Pfanne. Ich roch Kaninchen. Den Computer ließ ich eingeschaltet. Für Emil war der Monitor ein phantastisches Jagdrevier.

Antje hatte für vier Personen gedeckt. Zwei Gläser pro Person, eins für Wasser, eins für Wein. Mir fiel auf, dass die Gläser direkt auf dem Teakholz des Esstischs standen. In den Schubladen der Anrichte suchte ich nach Untersetzern.

Jola redete viel. Ihre Hände flogen durch die Luft, als wollte sie Insekten verscheuchen. Das lange Haar schien ihr im Weg zu sein. Ständig schaufelte sie es von einer Seite zur anderen. Antje brachte kanarische Kartoffeln in Salzkruste, Champignons in Olivenöl und drei verschiedene Mojo-Saucen. Es ging um diesen Film. Jola war dabei, ein Buch über Lotte Hass zu lesen, und hatte abenteuerliche Vorstellungen vom Tauchen: im schicken Badeanzug ins Wasser springen und rasant die Flasche leer atmen, am besten Auge in Auge mit einem Walhai. Theo aß Kartoffeln. Eine nach der anderen, in gleichmäßigem Tempo, als verrichtete er eine Routinearbeit.

Ich sagte, dass ich sie streng nach Vorschrift unterrichten würde. Sorgfalt und Sicherheit stünden in jeder Situation an erster Stelle. Es gehe nicht um Abenteuer, sondern um Sachkenntnis und Technikbeherrschung.

Jola schob die Unterlippe vor und spielte kleines Mädchen. Ob sie sich nicht mit einem Walhai anfreunden könne?

Ich sagte, dass wir Engelhaie sehen würden. Höchstens zwei Meter lang und die meiste Zeit flach am Boden liegend. Da verwandelte sich das kleine Mädchen in eine Strategin mit schmalen Augen und gefährlichem Lächeln.

»Hauptsache, ich kann beim Casting sagen, dass ich mich mit Haien auskenne.«

Ich dachte, dass sie es gar nicht nötig habe, sich so aufzuführen. Zwischen ihren Schneidezähnen befand sich eine niedliche kleine Lücke, die dafür sorgte, dass ich ihr ständig auf den Mund schauen musste. Plötzlich lag ihre Hand auf meinem Arm. Ihr Augenaufschlag verriet Übung. Ob ich nicht glaubte, dass sie eine gute Lotte wäre?

Theo schaute von seinem Teller auf.

»Reiß dich zusammen«, sagte er.

Es klang wie eine Ohrfeige. Antje zuckte zusammen, als hätte er sie gemeint. Der Wind bewegte die Vorhänge an den offenen Fenstern; es war ein wenig kühl geworden. Die Uhr an der Wand zeigte kurz vor sieben. Schon kroch die Nacht aus den Ecken des Raums. Ich stand auf, um das Licht einzuschalten und die Fenster zu schließen.

»Magst du die Kartoffeln nicht?«, fragte Antje.

»Doch«, sagte Jola, fischte schnell mit der Hand die kleinste aus der Schüssel und schob sie in den Mund. »Aber ich habe keinen rechten Hunger.«

»Essstörungen«, erklärte Theo, leerte sein zweites Glas Wein und schenkte sich nach. »Sie ist ohnehin zu alt für die Rolle. Wenn sie auch noch fett wird, hat sie überhaupt keine Chance.«

Er lachte wie über einen gelungenen Witz. Antje verschwand in der Küche, um das Kaninchen zu holen. Jola starrte auf ihren unbenutzten Teller. Mit Kunden war es wie mit Familienangehörigen. Man konnte sie sich nicht aussuchen. Während wir auf den Hauptgang warteten, überbrückte ich das Schweigen, indem ich noch einmal klärte, was wir voneinander erwarteten. Sie wollten zwei Wochen Exklusivbetreuung rund um die Uhr, mit unbeschränkter Anzahl von Tauchgängen, Erwerb des »Advanced Open Water Diver« plus Nitrox-Zertifizierung, dazu Unterkunft in der Casa Raya, Ausleihen des Equipments und Fahrdienst zu sämtlichen Tauchspots und Sehenswürdigkeiten der Insel. Ich wollte 14.000 Euro. Normalerweise fasste ich mehrere Kunden in Gruppen zusammen. Jola und Theo zahlten dafür, dass ich für die kommenden vierzehn Tage keine anderen Aufträge angenommen hatte. Nicht billig, aber dafür gehörte ich vollständig ihnen. Wir gaben uns die Hände. Jolas Telefon piepste. Sie las, lächelte und tippte eine Antwort. Antje kam zurück, einen dampfenden Schmortopf zwischen zwei Handtüchern tragend.

»Conejo en Salmorejo«, sagte sie.

Knochen ragten aus dem Ragout. Theos Telefon piepste. Er lächelte und legte Jola die Hand auf den Oberschenkel. Sie schickten sich tatsächlich gegenseitig SMS, während sie sich im selben Raum befanden. Antje verteilte Kaninchenstücke. Ihr Cocker Todd kam aus der Küche, wo er den Herd angebetet hatte, sondierte die Lage und bezog neben Jola Position. Offensichtlich hielt er sie für das schwächste Glied der Kette. Ich kostete, lobte das Essen und erinnerte an meine einzige Bedingung: Am übernächsten Mittwoch, den 23. November, bekam ich einen Tag frei. Theo wollte wissen, warum sie an diesem besonderen Mittwoch auf meine Dienste verzichten müssten. Das Kaninchen schmeckte ihm. Ebenso der Wein, den er praktisch allein trank. Mit einem schnellen Blick hielt ich Antje davon ab, eine zweite Flasche zu holen. Jola bemerkte unseren Blickwechsel und lachte, zum ersten Mal an diesem Abend völlig ungekünstelt.

»Was?«, fragte Theo.

»Nichts«, sagte Jola.

Ihr passt nicht zueinander, dachte ich und verbot mir den Gedanken gleich wieder. Das Privatleben meiner Kunden ging mich nichts an. Ich erklärte, was es mit dem 23. November auf sich hatte. Im Spätsommer hatte ich draußen beim Hochseefischen ein ungewöhnlich starkes Signal auf dem Sonar empfangen. Der Gegenstand lag in gut hundert Metern Tiefe und maß über achtzig Meter in der Länge. Vielleicht nur ein ungewöhnlich geformter Steinhaufen. Oder ein sensationeller Fund. In den letzten Jahren waren weltweit kaum noch neue Wracks entdeckt worden, schon gar nicht im tauchbaren Bereich. Die Koordinaten hatte ich im GPS-Gerät markiert; das Auffinden der richtigen Stelle sollte keine größeren Probleme bereiten. Aber eine erstmalige Wrackbetauchung in hundert Metern Tiefe war kein Pappenstiel – vor allem allein. Seit Wochen bereitete ich mich darauf vor, berechnete Gasgemische, zerbrach mir den Kopf, wie ich die Zeit am Grund auf über zwanzig Minuten verlängern konnte, ohne danach über drei Stunden Dekompressionsstopps machen zu müssen, bevor ich auftauchen konnte. Außerdem hatte ich eine Spezialanfertigung von Trockenhandschuhen in Auftrag gegeben und war dabei, ein Heizsystem in meinen Tauchanzug einzubauen. Bernie hatte versprochen, mit der Aberdeen und seinem ebenfalls schottischen Kumpel Dave die schwimmende Basis zu stellen. Das waren professionelle Bedingungen für ein professionelles Unternehmen.

Jola hörte zu, als käme das Wort Gottes aus meinem Mund. Ihre großen Augen begannen, meine eigene Begeisterung zu spiegeln. Es fiel mir schwer, zum Ende zu kommen.

Am 23. November wurde ich vierzig Jahre alt, und ich wollte meinen Geburtstag hundert Meter unter dem Meeresspiegel feiern. Allein. Oder noch besser: in Gesellschaft eines Frachters aus dem zweiten Weltkrieg, der seit siebzig Jahren verschwunden war.

»Da will ich mit«, sagte Jola. »Ich könnte die Bootsmannschaft verstärken.«

»Das ist eine Expedition, kein Ausflug«, sagte ich. »Jeder Handgriff muss sitzen.«

Eindringlich sah sie mich an.

»Ich bin auf Schiffen aufgewachsen.«

»Ihr Vater besitzt eine Benetti Classic«, sagte Theo.

Diese Information musste ich erst einmal verdauen. Die Benetti kostete gebraucht so viel wie ein Luxuspenthouse. Und zwar in Manhattan.

»Trotzdem«, sagte ich. »Tut mir leid.«

»Oder du trainierst mich auf diese Tiefe und ich tauche mit dir. Lotte hätte das gefallen.«

Wider Willen musste ich lachen.

»Bitte!«, rief Jola. »Wir haben zwei ganze Wochen!«

»Nötig wären mindestens zwei Jahre«, sagte ich. »Wenn ich versuchen würde, dich mit da runterzunehmen, käme ich ins Gefängnis.«

»Wie lang?«, fragte Theo, ohne den Blick von Jolas flehender Miene zu lassen.

»Lebenslänglich«, sagte ich. »Wegen Mordes.«

»Schluss damit«, sagte Antje, der das Gespräch nicht gefiel. »Solche Expeditionen überleben nur professionelle Taucher. Wer möchte Sorbet aus Kaktusfeigen?«

»Ich ginge liebend gern für ein paar Jahre ins Gefängnis«, sagte Theo in einem Tonfall, als würde er das Thema wechseln. »Da hätte ich endlich Ruhe zum Schreiben.«

Antje zog die Hand zurück, die sie nach seinem leeren Teller ausgestreckt hatte.

»Aber dafür müsstest du einen Menschen verletzen.«

»Das ist ein Vorteil, oder nicht?« Theo drehte die Weinflasche um und schüttelte den letzten Tropfen in sein Glas. »Wer sowieso ins Gefängnis will, hat einen Freischuss. Er muss nur noch entscheiden, wen es erwischen soll.«

Mit dem Messerrücken schob Jola Kaninchenstücke über den Tellerrand. Todd fing sie aus der Luft.

»Hört nicht auf Theo«, sagte sie. »Das Schockieren gehört zu seinem Job. Leider macht er es in den letzten Jahren lieber am Esstisch als am Computer.«

»Immer noch besser«, sagte Theo, »als sich durch peinliche Sätze vor der Kamera zu blamieren.«

Abrupt stand Jola auf und trat ans Fenster.

»Meine peinlichen Sätze«, sagte sie mit dem Rücken zu uns, »zahlen unsere Miete.«

In der Wandlampe brannte sich ein Nachtfalter brummend und zischend zu Tode. Die Kaninchenfasern zwischen meinen Zähnen bereiteten mir ein unbehagliches Gefühl, das ich im ganzen Körper spürte. Antje hob den Kopf und sah Theo mitfühlend an.

»Und warum schreibst du nichts mehr?«

Manchmal könnte ich sie umbringen.

Jolas Tagebuch, erster Tag

Samstag, 12. November. Nachts.