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Hanss-Josef Ortheil

Die Moselreise

Roman eines Kindes

Die Entstehung der »Moselreise«

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Es ist 5.45 Uhr. Wann immer es möglich ist, stehe ich in der Frühe zu dieser Zeit auf. Ich mache mir einen Kaffee und nehme ihn mit in mein Arbeitszimmer. Spätestens gegen 6 Uhr sitze ich an meinem Schreibtisch und beginne zu schreiben. Ich schreibe mit der Hand, ich notiere in einen Tages-Kalender, wie der vorige Tag verlaufen ist, ich notiere, was ich erlebt, mit wem ich gesprochen oder worüber ich nachgedacht habe.
Diese Notizen zum Verlauf des vorigen Tages werden später in ein großes Skizzenbuch kopiert. In dieses Skizzenbuch kommen dann noch weitere Aufzeichnungen, die ich am Tag zuvor während der unterschiedlichsten Tageszeiten in kleinen Notizheften, Notizbüchern oder auch nur auf losen Zetteln gemacht habe. Alle paar Stunden protokolliere ich, wo genau ich mich gerade aufhalte, oder ich notiere Stichworte zu meinen Lektüren, oder ich halte einfach nur fest, was ich als Nächstes vorhabe oder woran ich denke.
Gleichzeitig sammle ich während eines Tages die unterschiedlichsten Dokumente: Ausschnitte aus Zeitschriften und Zeitungen, Post- und Eintrittskarten, Texte, zu denen ich bei der ersten Lektüre irgendeine Art von innerem Bezug empfinde. Dann und wann fotografiere ich auch: Schnappschüsse von meinen Mahlzeiten, von Räumen, in denen ich mich bewege, von Menschen, denen ich begegne. Auch diese Dokumente kommen später in das großformatige Skizzenbuch, sie rahmen die schriftlichen Aufzeichnungen und ergänzen sie um Bilder, Zeichen und Hinweise.
So entsteht Tag für Tag ein bunter Teppich aus Schriften und Bildern, es handelt sich um die Architektur eines Tages, um seine Komposition, um die Folge seiner Phasen, Erlebnisse und Atmosphären. Als Ganzes ergeben all diese Architekturen und Kompositionen ein großes Schreibprojekt, das Projekt meiner Tagesmitschriften, die sich von konventionellen Tagebüchern durch ihren protokollierenden Gestus stark unterscheiden. Ich resümiere nicht, ich verfolge nicht meine Emotionen und Stimmungen, stattdessen geht es um das Festhalten des Augenblicks, um die Moment-Skizze, um das flackernde Denken und Fühlen.
Auf den ersten Blick könnte man denken, diesem großen Projekt liegt eine Art Schreibzwang zugrunde. Ich empfinde dieses tägliche Notieren und Schreiben aber nicht als einen unangenehmen oder sogar quälenden Zwang, das Schreiben »geschieht« vielmehr beinahe von selbst, wie nebenher, wie Essen und Trinken, wie Gehen und Sehen. Wenn ich, durch irgendeinen Umstand gezwungen, mit dem Schreiben aussetze, spüre ich das nach wenigen Stunden sofort. Ich werde unruhig, lustlos und streitbar, es ist, als litte ich unter einem Drogenentzug.
Ich brauche das tägliche Notieren und Schreiben also lebensnotwendig, ich brauche es seit den frühen Kindertagen, seither habe ich nicht aufgehört, Tag für Tag notierend und skizzierend zu schreiben. Inzwischen füllen meine täglichen Notate und Skizzen Tausende von schwarzen Kladden.

2
Auf welch seltsame Weise dieses manische tägliche Schreiben in meinen frühen Kindertagen entstanden ist – davon handelt mein autobiographischer Roman Die Erfindung des Lebens. Ich erzähle dort von dem jungen Johannes Catt, meinem Alter Ego, der zusammen mit seiner Mutter in einer stummen Symbiose aufwächst. Vier Söhne hat die Mutter in Kriegs- und Nachkriegszeiten verloren, durch diesen Verlust ist sie mit der Zeit immer sprachloser und schließlich stumm geworden. In ihrer Hilflosigkeit klammert sie sich eng an den fünften Sohn, den jungen Johannes, der von seinem dritten Lebensjahr an ebenfalls immer sprachloser und schließlich auch stumm wird. Als er in die Volksschule kommt, wird das Leben für ihn unerträglich. Er lernt weder sprechen noch schreiben und wird schließlich von dem besorgten Vater aus der Schule genommen.
Für einige Wochen geht der Vater mit dem hilflosen Kind auf das Land, dorthin, wo er selbst zusammen mit zehn Geschwistern aufgewachsen ist. In der weiten Natur rund um einen großen Bauernhof machen Vater und Sohn lange Spaziergänge und Wanderungen, und auf diesen Wegen lernt das stumme Kind allmählich zeichnen und schreiben.
Von da an notiert es Tag für Tag, was es sieht und hört, es notiert die jeweils neu gelernten Worte, es protokolliert Gespräche und Eindrücke, und es ergänzt all diese Aufzeichnungen um Fotos und allerhand Textmaterial, das es auf seinen Wegen irgendwo gefunden und aufgelesen hat. Durch dieses unermüdliche Aufschreiben und Notieren wehrt es sich gegen eine tief sitzende Angst: Gegen die Angst, die Sprache wieder zu verlieren und damit wieder zurückzufallen in den stummen, zeitlosen Kosmos seiner frühen Jahre.
Dagegen kämpft das Schreiben an, es erscheint wie eine leuchtende Schrift-Spur, die bezeugt, dass und wie »Zeit« sich gestaltet hat. Denn in den Spuren der Schrift ist das Vergehen, aber auch die Formung von »Zeit« ablesbar: so ist das gewesen …, dort bin ich gewesen … Indem das Kind in seine Kladden blickt und indem es sich an »Zeit« erinnert, entdeckt es seine eigene Geschichte. Als das Kind diese große Entdeckung macht, weiß es, dass es sich durch das Schreiben retten und am Leben erhalten kann. Es ist nun kein »stummer Idiot« mehr, der Raum und Zeit kaum erlebt, sondern es ist ein »Leser«, der Räume und Zeiten auf sich bezieht und ihre Wirkungen auf die Wahrnehmung protokolliert. So schafft sich das Kind seine ganz besonderen, selbst geschriebenen »Lese«- und »Lebensbücher«, und so entwirft es das »Archiv seines Lebens«.

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Nach den Lesungen aus meinem Roman Die Erfindung des Lebens haben mich die Zuhörer oft gefragt, wie denn genau all die vielen Aufzeichnungen aussahen, die ich bereits als Kind gemacht habe. Die Notate der Moselreise, die sich im Folgenden an diese Vorbemerkungen hier anschließen, vermitteln davon einen guten Eindruck. Sie verfolgen eine fast zweiwöchige Wanderung, die ich als Elfjähriger im Sommer 1963 zusammen mit meinem Vater entlang der Mosel gemacht habe.
Als wir uns damals in Köln in den Zug nach Koblenz setzten, hatte ich viele meiner kleinen Notizkladden, einen Haufen Blei- und Buntstifte, eine Schere, einen Papierkleber und einen Fotoapparat dabei. Schon während der Zugfahrt begann ich mit den ersten Notaten: Was hörte ich auf dem Bahnsteig? Wovon sprach der Vater? In welchem Buch las er so interessiert? Die Notate waren also Mitschriften all dessen, was gerade geschah, und sie enthielten sich fast jeden Kommentars. Ich wollte auffangen und festhalten, was um mich herum passierte, keineswegs aber wollte ich darüber schreiben, was ich empfand.
Damals hatte ich schon einige Jahre täglich notiert und geschrieben, ich war darin also kein Anfänger mehr. So war es zu einer Gewohnheit geworden, während des Tages immer wieder Schreibpausen einzulegen und in diesen Schreibpausen rasch aufzuschreiben, was ich mir unbedingt merken wollte. Solche rasch gesammelten Notate bestanden häufig aus Daten, Namen und anderen Fakten, die sich nicht selten zu kleinen Listen erweiterten.
Zum anderen aber konnten solche Notate auch aus kleinen Schreibübungen bestehen, deren Themen ich mir selbst vorgab. Diese Schreibübungen kannte ich von den Spaziergängen mit meinem Vater her, denn während dieser Spaziergänge hatte mein Vater mir oft einfache Themen gestellt, zu denen ich ohne langes Nachdenken aufgeschrieben hatte, was mir durch den Kopf ging. Warum ich den Wald mag/ Womit ich am liebsten spiele - das waren zum Beispiel solche Themen, die ich mit nur wenigen Sätzen und im Umfang von höchstens einer Seite bearbeiten sollte.
Die raschen Notate und die kleinen Schreibübungen ergaben zusammen mit den gesammelten Postkarten, Fotos und anderen Dokumenten am Ende der Reise ein dickes Konvolut von Notizzetteln und Aufzeichnungen, die ich nach meiner Rückkehr nach Köln in einen längeren, geschlossenen Text umzuschreiben begann. Die Notate benutzte ich als Vorlage zu einer Reiseerzählung, und die Schreibübungen integrierte ich in diese fortlaufende, chronologisch gestaltete Erzählung in der Form von kurzen Stationen. So entstand die Reise-Collage Die Moselreise: als fortlaufende Erzählung einer Reise von Vater und Sohn, aber auch als Stimmen-, Text- und Bilder-Collage des Landschaftsraums Mosel.

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Dass Die Moselreise aber mehr war als nur eine schlichte Reiseerzählung, das ahnte ich als Kind nicht. Ich war stolz, so viel wie möglich von den Erlebnissen, Gesprächen und Orten der Reise festgehalten zu haben, aber ich wusste nicht, dass für einen erfahrenen Leser hinter der dokumentarischen Folie der Erzählung noch eine ganz andere Erzählung sichtbar wurde. Ich meine die Erzählung von Vater und Sohn, ja ich meine die Erzählung von ihrer engen Zusammengehörigkeit und von ihrer gegenseitigen starken Liebe und Achtung.
Unaufhörlich gibt der Junge, der ich war, sich nämlich Mühe, dem Vater so nahe wie möglich zu sein und ihn, so gut es eben geht, zu verstehen. Jeder Bemerkung des Vaters geht er nach, jedem noch so kleinen Hinweis und Zeichen. All diese Hinweise und Zeichen werden aufgegriffen, genauer betrachtet und weiterverfolgt, so dass die Moselreise darüber zur Geschichte einer intensiven Annäherung an all die Welten wird, in denen der Vater zu Hause ist.
Durch den Vergleich mit diesen Welten konstruiert der Junge seine eigenen Welten, ja man könnte sogar sagen, dass er sie genau wie der Vater abgrenzt, vermisst, beschriftet und für sich bewohnbar macht. Dadurch aber wird die Fremde zu einem Raum, der durch den vertrauten und immer selbstverständlicher werdenden Umgang mit dem Vater allmählich seine bedrohliche Fremdheit und Ferne verliert. Das Kind zieht die Welt während des Schreibens immer enger an sich heran, und es lernt, sich in dieser fremden Welt immer freier und erfahrener zu bewegen.
Es genügt dem Jungen aber nicht, durch den engen Umgang mit dem Vater die Erfahrung einer immer stärkeren Vertrautheit mit der Welt zu machen. Damit die Vertrautheit mit der Fremde sich herstellen kann, muss auch die Mutter in diese Vertrautheit einbezogen sein. So schreibt der Junge ihr an jedem Tag mehrere Postkarten mit kurzen Berichten, Fragen und Deklamationen. Diese Postkarten sind der Versuch, den Abstand zur zweiten, stark geliebten Elternfigur zu verringern und sie einzubinden in die Sphären von Vater und Sohn.
Die Mutter nämlich ist (wegen einer schweren Herzkrankheit, die ein längeres Reisen unmöglich macht) zu Hause, in der Kölner Familienwohnung, geblieben. Jede Erinnerung an sie weckt das »Heimweh« und belebt die Sehnsucht nach baldiger Rückkehr. Um diese Sehnsucht auf ein zumindest erträgliches Maß zu verringern, bindet der Junge die Reise an Bilder der Mutter. Er erinnert sich an sie, er versucht sich vorzustellen, was sie gerade tut und womit sie beschäftigt ist. Lange Zeit gelingt es ihm, durch das Aufbieten all dieser Szenen und Erinnerungen so etwas wie ein nahes Mutter-Bild herzustellen und die damit verbundenen starken Empfindungen zu beruhigen.
Mit dieser Beruhigung ist es jedoch vorbei, als der Junge während der Reise auf ein Klavier trifft und auf diesem Klavier spielt. Das Klavierspiel trägt ihn sofort und mit großer Wucht zurück in den Raum der Familienwohnung und vor allem zurück zur Mutter. Klavier spielen nämlich hat der Junge bereits als stummes Kind von der damals noch ebenfalls stummen Mutter gelernt. Sie war seine erste Klavierlehrerin, und das Klavier war das erste Instrument, mit dessen Hilfe es dem Kind gelang, seine Gefühle auszudrücken und anderen zu vermitteln.
Die Begegnung mit dem Klavier ist also in der Erzählung von der Moselreise der Moment der Krise: Vater und Sohn überlegen ernsthaft, nach Hause zurückzukehren. Damit wäre freilich ein Eingeständnis verbunden, das Eingeständnis nämlich, dass es sich außerhalb der Kölner Familienzelle kaum leben lässt. Instinktiv spürt das Kind, dass dieses Eingeständnis eine Niederlage bedeuten würde. Und so richtet es sich auf und kämpft gegen das »Heimweh« an.
Die Moselreise wird dann doch fortgesetzt und führt sogar noch zu einem überraschenden, verblüffenden Schluss, der von heute aus beinahe wie ein novellistisches und damit kunstvolles Ende erscheint. Es ist ein Ende, in dem die Familientrias von Mutter, Vater und Sohn in durch die Reise veränderter Form wiedererscheint und in ihrer veränderten Erscheinung den Eindruck erweckt, ein neues, erweitertes Lebensprojekt für die gemeinsame Zukunft gefunden zu haben.

Die Moselreise
Ein Reisetagebuch im Sommer 1963

24. Juli 1963
Im Bahnhof
Der Mann mit der roten Mütze
Die Pfeife des Mannes mit der roten Mütze
Der schrille Pfiff
»Achtung, Achtung! Zug auf Gleis 1a fährt sofort ab! Bitte Vorsicht an der Bahnsteigkante!«
 
Im Zug
Papa: Willst Du zum Fenster rausschauen, oder wollen wir Karten spielen?
Ich: Ich möchte erst zum Fenster rausschauen und dann Karten spielen.
 
Blick aus dem Fenster
Am liebsten würde ich laufend aussteigen: Jetzt, jetzt und wieder jetzt…
Ich möchte mir alles genauer und länger anschauen, es geht viel zu schnell…
Wenn ich aus dem Fenster schaue, schaue ich eine Weile auf einen Punkt, so fest und lange, bis er verschwunden ist, das hilft…
Wir sind gegen zehn Uhr in Koblenz angekommen und haben unsere Rucksäcke und Taschen gleich in ein Schließfach gepackt, zum Glück gibt es in Koblenz genügend Schließfächer. Dann haben wir den Bahnhof verlassen und festgestellt, dass es in Koblenz ein schönes Sommerwetter gab, so, wie wir es uns gewünscht hatten. »Was für ein schönes Sommerwetter«, hat Papa gesagt, und ich habe gesagt, dass wir am besten gleich an den Rhein gehen sollten, weil es dort zusammen mit dem schönen Wetter bestimmt am schönsten sei.
 
Papa hat noch eine Weile hin und her überlegt, er wollte sich nämlich zunächst etwas anderes in Koblenz anschauen, dann aber hat er doch gesagt, dass wir uns wegen des schönen Wetters jetzt nichts anderes mehr anschauen, sondern gleich zum Rhein gehen. Ich habe ihn gefragt, wie wir heraus bekommen, wo der Rhein liegt, da hat er gesagt, dass es ganz einfach sei, zum Rhein zu kommen, man müsse nur geradeaus gehen, und er wisse genau Bescheid.
 
Papa weiß immer genau Bescheid, wie man in einer Stadt etwas findet, auch wenn er gar keine Stadtpläne dabei hat, weiß er das immer genau, ich möchte bloß wissen, wie er das macht. Ich glaube, dass er in Koblenz so genau Bescheid weiß, weil er ja schon mehrmals in Koblenz war, aber wie macht er es, in Städten genau Bescheid zu wissen, in denen er noch nie war? Ich werde versuchen, auf dieser Wanderung heraus zu bekommen, wie Papa es anstellt, genau Bescheid zu wissen, dann kann ich es später vielleicht auch.
Postkarte 1
Liebe Mama, ich sitze im Koblenzer Hauptbahnhof und schreibe Dir: Wir sind gut angekommen! Im Zug habe ich aus dem Fenster geschaut, und dann habe ich mit Papa Karten gespielt. Zum Schluss hat Papa eine Zeitung gelesen, und ich habe etwas aufgeschrieben und gekritzelt. In Koblenz gibt es ein »astreines« Sommerwetter, wie Papa eben gesagt hat. Wir denken beide an Dich. Dein Bub
Wir sind also zum Rhein gegangen und haben ihn sofort gefunden, auch am Rhein war es schön sonnig, und ich bin ein kleines Treppchen hinunter bis ganz nahe ans Wasser gegangen und habe die Steine übers Wasser hüpfen lassen, ganz lange habe ich Steine übers Wasser hüpfen lassen, und Papa hat unter einem großen Baum in der Nähe gesessen und ein kühles Glas Moselwein getrunken und viele Zeitungen gelesen.
Wie die Steine hüpfen
Erst ein paar kurze, dann immer längere Sprünge
tap-tap-tap-taap-taaap-taaaap
Die Steine flitzen über das Wasser, beinahe ohne es zu berühren
Die Steine tauchen nicht ein, das Wasser verschluckt sie
 
Moselwein – Namen
»Cröver Nacktarsch«
»Zeller Schwarze Katz«
»Bullayer Brautrock«
 
Moselwein – Namen 2
Ich: Was sind das für seltsame Namen?
Papa: Das sind Namen von Weinlagen. Cröv, Zell und Bullay sind Orte an der Mosel, wo Wein angebaut wird.
Ich: Und Nacktarsch und Schwarze Katz und Brautrock?
Papa: Wie es zu diesen Namen kam, erzähle ich Dir, wenn wir in Cröv, Zell und Bullay angekommen sind.
Irgendwann ist Papa zu mir gekommen und hat auch ein paar Steine übers Wasser hüpfen lassen, und dann hat er gesagt, dass jetzt bald Mittag sei und ich sicher großen Hunger hätte. Ich hatte aber gar keinen Hunger, und das sagte ich auch gleich, weil ich noch weiter am Rhein bleiben wollte. Papa aber sagte, in Wahrheit hätte ich sicher Hunger, ich merke es bloß nicht, und außerdem habe er auch Hunger, schließlich sei ja jetzt Mittag. Papa hatte recht, es war Mittag, und da hat man eben Hunger, auch in Koblenz ist das so.
Fragen
Ob Mama sich ein Mittagessen kochen wird, nur für sich allein?
Ob Mama mich vermisst, wenn sie nach dem Essen allein an den Rhein geht?
Mama hat mir versprochen, nach dem Mittagessen an den Rhein zu gehen. Sie steht in Köln am Rhein, ich in Koblenz, wir stehen nach Mittag beide am Rhein und denken aneinander. Ob das klappt?
Papa sagte dann, dass wir an einem ganz besonderen Ort essen würden, nämlich hoch oben, in der Höhe also, in einem Berghotel, das den Namen »Rittersturz« hat. Ich wollte eigentlich nicht in die Höhe, ich wäre lieber am Rhein geblieben, aber Papa sagte, dass wir nicht immer am Rhein bleiben könnten, weil es in Koblenz noch etwas anderes zu sehen gebe als bloß den Rhein, und vom Hotel »Rittersturz« aus könne man überhaupt alles von Koblenz sehen, den Rhein, die Mosel und überhaupt alles.
 
Weil es aber so sonnig und heiß war, sind wir nicht zu Fuß hinauf zum Hotel »Rittersturz« gegangen, sondern wir sind mit einem Bus hinauf gefahren, und oben auf der Höhe war wirklich ein großes Hotel, das eine schöne Gartenterrasse hatte, so dass wir uns auf die Terrasse gesetzt haben, von wo aus Papa mir ganz Koblenz von oben erklären konnte.
 
Immer, wenn ich mit Papa unterwegs bin, fahren wir sehr bald irgendwo hinauf auf eine Höhe, damit er mir alles erklären kann. Papa mag das sehr, und wenn wir auf der Höhe angekommen sind, pfeift er vor sich hin und freut sich, dass wir nun so hoch sind und man die ganze Umgebung gut überblicken kann. Papa mag es einfach, die Landschaften gut zu überblicken, und ich mag es auch ein bisschen, obwohl ich es unten am Rhein doch noch etwas schöner fand. Papa fragte mich, ob es mir hoch oben gefalle, und ich sagte »ja, sehr«, aber unten am Rhein habe es mir noch etwas besser gefallen, da sagte er, dass wir nach dem Essen noch einmal hinunter an den Rhein gehen würden, mir zuliebe, dass wir aber jetzt etwas Gutes essen wollten, denn hier oben, im Berghotel, gebe es etwas viel Besseres zu essen als unten am Rhein.
Buntpostkarten Berghotel »Rittersturz«
In der Hotelhalle des Berghotels »Rittersturz« haben wir drei Buntpostkarten gekauft, auf denen das Berghotel abgebildet ist. Zwei dieser Karten klebe ich in mein Reisetagebuch, die dritte schicke ich an Mama.
Wir haben uns hingesetzt und den Ober hin und her laufen lassen, und wir haben etwas zu trinken und zu essen bestellt. Papa hat eine Roulade gegessen und ich eine Bratwurst, und ich muss sagen, dass das Essen wahrhaftig sehr gut war und wahrscheinlich viel besser als das Essen unten am Rhein. Jedenfalls habe ich vom Berghotel«Rittersturz« aus den Rhein sehen können und auch die Mosel, die wir nun entlang wandern wollen bis Trier, und ich habe eine römische Brücke gesehen und eine Festung, es war schon toll, auf der Höhe zu sitzen und das alles zu sehen.
 
Nach dem guten, nein, nach dem sehr guten Essen habe ich auf der dritten Buntpostkarte an Mama geschrieben und die Karte dann in den Briefkasten des Hotels geworfen.
Postkarte 2
Liebe Mama, wir sitzen im Hotel »Rittersturz« hoch über Koblenz und haben gerade zu Mittag gegessen. Gleich gehen wir wieder an den Rhein, und dort denke ich an Dich, denn Du stehst dann ja zur selben Zeit in Köln am Rhein. Mach Dir keine Sorgen, es geht mir sehr gut. Auch Papa hat sehr gute Laune und lauter prima Ideen. Dein Bub
Wir sind mit dem Bus wieder hinunter gefahren, und Papa hat Wort gehalten, und wir sind noch einmal für eine Stunde an den Rhein gegangen. Papa hat die »Rhein-Zeitung« gelesen, und ich habe wieder die Steine hüpfen lassen, und am Schluss hat auch Papa noch einmal die Steine hüpfen lassen. Papas Hüpf-Rekord war neunmal, und ich bin bis sieben gekommen, immerhin, beinahe hätten meine Steine sogar so oft gehüpft wie Papas Steine, also neunmal.
An Mama denken
Ich habe an Mama gedacht und daran, wie sie in ihrem langen, hellen Mantel in Köln am Rhein steht und an mich denkt.
Mama hat einen Moment die Augen geschlossen und ganz feste an mich gedacht.
Und ich habe einen Moment die Augen geschlossen und ganz feste an Mama gedacht.
Und da hat es wirklich geklappt, wir haben uns beide gesehen.
Dann aber sind Papa und ich wieder zum Bahnhof gegangen, wir haben unser Gepäck aus dem Schließfach geholt und sind mit einer Bummelbahn nach Kobern-Gondorf gefahren. In Kobern-Gondorf haben wir unser Gepäck bis zu einem Hotel getragen, das Hotel hieß »Zum Keglerheim«, weil man dort kegeln konnte. Ich sagte, dass ich große Lust zum Kegeln hätte, Papa aber sagte, dass man nicht am Nachmittag kegle, sondern am Abend, und wenn die Kegelbahn frei sei, würden wir dann auch versuchen, am Abend zu kegeln, vorher aber sollten wir uns die Mosel anschauen.
 
Wir haben unsere Badesachen aus den Koffern geholt und sind hinunter zur Mosel gegangen, und dann haben wir beide in der Mosel gebadet, und manchmal sind ein paar Schiffe vorbei gekommen, und Papa hat mir erklärt, dass es keine Schiffe, sondern Schleppkähne seien.
Die Mosel
Die Mosel bei Kobern-Gondorf ist nicht so breit wie der Rhein bei Köln.
Papa sagt, der Rhein sei ein »mächtiger«, die Mosel aber ein »lieblicher« Fluss.
An »lieblichen« Flüssen wächst sehr viel Wein, an »mächtigen« wächst nicht so viel Wein, dafür aber fahren mehr Schiffe.
Ich habe ununterbrochen in der Mosel gebadet, aber Papa ist nach einer Weile ans Ufer gegangen und hat etwas gelesen. Das Buch, das er liest, ist auf Latein und auf Deutsch und von einem alten, römischen Autor.
Das Buch, das Papa liest
Magnus Ausonius: »Mosella« – so heißt der Autor, und so heißt das Buch.
Das Buch handelt von der Mosel.
Papa sagt, dass auch Ausonius die Mosel »lieblich« nenne, und zwar schreibe er gleich zu Beginn seines Buches: »amoena fluenta«, das heißt: »liebliche Fluten«.
Ich habe Papa gebeten, mir später einmal aus dem Buch vorzulesen, und er hat es mir versprochen.
Es war toll, in der Mosel zu baden, fast zwei Stunden haben wir in ihr gebadet, dann sind wir zurück zum Hotel gegangen, und ich habe Papa gefragt, ob jetzt Zeit sei zum Kegeln. Papa aber hat »nein, jetzt noch nicht« gesagt, und dann hat er wieder gesagt, dass ich nach dem langen Baden doch sicherlich Hunger hätte, aber ich hatte gar keinen Hunger, und das habe ich ihm dann auch gesagt. Da hat er gesagt, dass der Hunger schon noch kommen werde, und damit er auch richtig komme, wollten wir vor dem Abendessen noch auf die Höhe gehen, denn oberhalb von Kobern-Gondorf gebe es eine Ritterburg, die wir uns anschauen sollten.
 
Ich fragte Papa, ob die Ritterburg oberhalb von Kobern-Gondorf etwas Ähnliches sei wie das Berghotel »Rittersturz« oberhalb von Koblenz, und da hat er »ja, in etwa« gesagt, und dann sind wir durch viele Weinberge hinauf auf die Höhe gestiegen und haben uns die Mosel und Kobern-Gondorf, das aus Kobern und daneben Gondorf besteht, von oben angeschaut. Vater hat wieder vor sich hin gepfiffen und mir die ganze Landschaft erklärt, und dann habe ich gesagt, dass ich nun wahrhaftig großen Hunger hätte, und da hat Papa »siehst Du« gesagt, und wir sind herunter zu unserem Hotel gegangen und haben dort ein paar Schnittchen verputzt.
Die Niederburg von Kobern-Gondorf
Die Niederburg liegt etwa 150 Meter hoch.
Sie hat einen Bergfried und sehr hohe Außenmauern.
Sie ist eine Höhenburg, die von Adligen bewohnt wurde.
Das ist etwa neunhundert Jahre her.
Noch während des Verputzens der Schnittchen hat Papa den Besitzer des Hotels, der noch sehr jung war, gefragt, ob wir etwas kegeln könnten, und der junge Besitzer hat gelacht und gesagt »na klar«, und dann sind wir hinüber zur Kegelbahn gegangen und haben die Kegel abgeräumt.
 
»Abräumen« hat Papa immer wieder gerufen,«abräumen« oder auch »abgeräumt«, und dann hat er mit einem einzigen Wurf die Kegel abgeräumt, und nach einer Weile habe ich sie auch abgeräumt und sogar einmal ein Schwein geworfen und einen Kranz, das war toll, richtig toll, und als Papa gefragt hat, wie es mir auf der Reise gefalle, habe ich gesagt, dass es sehr schön sei, und da hat Papa, weil er sich darüber gefreut hat und es uns so toll erging, noch einmal einen Moselwein bestellt, und wir haben dann zusammen (ich natürlich nur eine«Sinalco«) »gebechert«, wie Papa gesagt hat, und nach dem Bechern sind wir, wie Papa gesagt hat, »ab in die Betten« gegangen und haben dann auch sehr gut geschlafen…
Kegeln
Hohe und niedrige Hausnummer
Fuchsjagd
Alle Neune
 
Postkarte 3
Liebe Mama, heute Abend habe ich zum ersten Mal gekegelt. Kegeln macht großen Spaß, vor allem das »Abräumen«. Dann stürzen die Kegel alle übereinander her und kollern in ein Loch, und man sieht sie nicht mehr. Ich wünsche Dir eine gute Nacht. Dein Bub

25. Juli 1963
Ich habe nicht gut geschlafen, und das kam daher, dass ich mit Papa in einem Zimmer geschlafen und ihn atmen gehört habe. Kurz bevor ich richtig einschlafen wollte, hat das angefangen, ich habe Papa atmen gehört, und ich habe so sehr darauf geachtet, wie er atmete, dass ich selbst nicht einschlafen konnte. Ich habe mich auch gefragt, wie ich denn selbst atme, und ich habe versucht, mir dabei zuzuhören, wie ich atme, aber ich habe mich nicht atmen hören, und es war so, als atmete ich überhaupt nicht. Papa aber hat sehr viel und ganz verschieden geatmet, mal leiser und langsamer, mal lauter, dann aber auch eine Zeitlang überhaupt nicht. Ich habe ihm dabei immer weiter zugehört und das hat mich so durcheinander gebracht, dass ich vergessen habe, einzuschlafen. Erst tief in der Nacht bin ich eingeschlafen, aber nicht richtig, denn ich bin während der Nacht immer wieder wach geworden und habe Papa beim Atmen zugehört. Am Morgen habe ich Papa davon erzählt, und Papa hat gelacht und gefragt, wie er denn atme, und ich habe Papas Atmen nachgemacht, alle Sorten.
Papa nachmachen
Manchmal mache ich Papa nach.
Ich mache nach, wie er etwas isst oder trinkt.
Ich mache nach, wie er lacht.
Ich mache nach, wie er die Brille aufsetzt und Zeitung liest.
Ich mache Papa nach, weil er manchmal so komisch ist, und weil er es mag, wenn ich ihn nachmache.
Mama mache ich niemals nach. Mama ist nicht komisch.
Wir haben im »Keglerheim« ein kleines Frühstück (zwei Scheiben Brot mit Marmelade, Pfefferminztee) gefrühstückt, und dann haben wir unsere Rucksäcke und Taschen zum Bahnhof gebracht und sie dort aufgegeben. Die Taschen sind ohne uns mit einem Zug weiter bis nach Moselkern gefahren worden, dort konnten wir sie später wieder am Bahnhof abholen. Wir selbst aber haben uns zu Fuß auf die Wanderung nach Moselkern gemacht.
 
Während unserer Wanderung sind wir direkt an der Mosel entlang gewandert, auch die Eisenbahnstrecke verlief direkt entlang der Mosel, so dass die Züge manchmal ganz nahe an uns vorbei fuhren. Das Wandern war also ganz einfach, denn wir brauchten überhaupt keine Karten, wir gingen einfach immer an der Mosel entlang, die Mosel war unser Reiseführer. Weil wir aber keine Karten brauchten und auch sonst nicht abgelenkt waren, konnten wir uns beim Wandern unterhalten, und so fragte ich Papa, was er denn am Morgen so alles aus der Zeitung erfahren habe, denn Papa hatte nach dem Frühstück noch kurz in einer Zeitung gelesen.
 
Papa sagte, dass er einen Artikel über den neuen Papst gelesen habe, und dann erzählte er mir etwas über den neuen Papst, der Paul VI. heißt und der Nachfolger von Johannes XXIII. ist. Papa und Mama haben Johannes XXIII. sehr verehrt und gemocht, deshalb fragte ich Papa, ob er auch den neuen Papst, Paul VI., verehre und möge. Papa sagte aber, dass er das noch nicht sagen könne, vielmehr werde sich das noch herausstellen, und zwar dann, wenn der neue Papst einige Zeit im Amt sei. Dann erzählte Papa auch noch davon, dass der neue Papst früher Erzbischof von Mailand gewesen sei und dass er jetzt die große und schwere Aufgabe habe, das Zweite Vatikanische Konzil weiter zu führen und an ein gutes Ende zu bringen. Ich fragte Papa, wie man eigentlich so ein Konzil führe, und Papa erklärte es mir, und ich hörte gut zu und überlegte, was ich selbst tun würde, um ein Konzil gut zu Ende zu führen.
Das Zweite Vatikanische Konzil
Das Zweite Vatikanische Konzil hat im Oktober des vorigen Jahres begonnen. Viele Kardinäle und Bischöfe nehmen an ihm teil.
Wenn ich Papst wäre, würde ich anordnen, dass jeder Kardinal oder Bischof, der an dem Konzil teilnimmt, an jedem Sonntag in Rom mit den Römern zu Mittag essen soll, und das immer an einem anderen Ort mit immer anderen Menschen.
Durch das Mittagessen an immer einem anderen Ort mit immer anderen Menschen könnte der Kardinal oder Bischof erfahren, was die Menschen über das Konzil denken und was sie als Nächstes von ihm erwarten und ob sie gute Vorschläge haben, worüber man während des Konzils alles reden sollte.
Wie gestern war auch heute sehr gutes Wetter, und Papa hat sich sehr gefreut, dass wir so ein Glück mit dem Wetter hatten, und auch ich habe mich sehr gefreut. Kurz vor Mittag sind wir dann in Kattenes angekommen. Der Name Kattenes kommt von den eisernen Ketten, die die Bewohner früher durch die Mosel gespannt hatten, um die Schiffe der Raubritter zu zerstören. Direkt an der Mosel gab es das »Weinhaus Gries«, das eine schöne, offene Terrasse mit viel Weinlaub drum herum hat, hier waren noch viele Tische frei, und so setzten wir uns an einen der freien Tische und ruhten aus. Papa trank ein Glas Moselwein, und ich trank einen Sprudel, und dann schrieb ich an Mama eine Karte.
Postkarte 4
Liebe Mama, heute wandern wir von Kobern-Gondorf nach Moselkern und machen gerade in Kattenes Rast. Das Wandern geht ganz leicht, denn es geht immer an der Mosel entlang. Wir haben uns überlegt, wie es mit dem Konzil weiter geht und was der neue Papst tun soll, damit es gut weiter geht. Hast Du da dazu auch ein paar Ideen? Herzliche Grüße von Deinem Bub
Eigentlich wollten wir im »Weinhaus Gries« nur eine Rast machen, aber dann gefiel es uns dort so gut, dass wir gleich zum Mittagessen geblieben sind. Gegenüber von Kattenes, auf der anderen Moselseite, lag nämlich hoch oben auf einem Hügel die Burg Thurandt. Sie hat nicht nur einen, sondern gleich zwei mächtige Türme, und das gefiel Papa so gut, dass er begann, die Burg mit den zwei Türmen (»Bergfriede« sagt Papa dazu) zu zeichnen.
Papa zeichnet
Papa zeichnet mit der Brille auf der Nase. Er schaut über die Brille weg auf das, was er zeichnen will. Und er schaut durch die Brille hindurch auf das, was er zeichnet.
Wenn Papa zeichnet, sieht man seine Zunge zwischen den Lippen.
Wenn Papa zeichnet, verzieht er manchmal das Gesicht, als tue ihm etwas weh. Es tut ihm aber nichts weh, er hat nur Angst, dass er das Zeichnen nicht richtig hinbekommt.