Petra Zeil, geboren 1980, ist Doktorin der Theologie und hat außerdem Englisch, Französisch, Spanisch und Caritaswissenschaft studiert. Sie schaut sich gerne die Welt an und begeistert sich für Bücher und Sprache(n). Sie liebt es, Tagträume und Gedanken als Geschichten zu Papier zu bringen, und hat eine besondere Vorliebe für Reime.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 Petra Zeil, Neuried

Alle Rechte vorbehalten

Illustrationen und Umschlaggestaltung: Petra Zeil

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7526-7739-3

Für die Nichten meines Lebens: Carolina und Cäcilia.

Für Bernadette,

der ich diese Geschichte am Telefon vorgelesen habe.

Für die Freundinnen seit meiner Kindheit:

Sandra, Cosima, Michaela, Ursi und Carina.

Für alle Liebenden, alle treuen Freunde

und alle Tierschützer.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Wenn ich fliegen könnte

und den Tag frei hätte,

dann hielte mich nichts

im Grau dieser Stadt.

Ich flöge, bis ich ans Ufer käme,

an den alten Hafen am Stadtrand.

Und dann setzte ich mich

auf die Reling des ersten Schiffes,

das nach Süden geht

oder nach Norden.

Ich ließe mir vom Wind die Federn zerzausen,

atmete Freiheit und unverstellte Ideen,

genösse den Aufbruch,

die haltlose Freude,

das Nimmerwiederhier.

Hörte die Menschen reden

in allen Sprachen der Welt,

spürte Hoffnung,

wäre eine Reisende unter Reisenden,

würde mich noch eine Meile

oder eine Seemeile

tragen lassen.

Und mitten auf dem Meer

würde ich mit einem Flügelschlag

abheben,

fortfliegen,

in die Weite,

ins Leben,

in ein fernes Land.

Wenn ich fliegen könnte

und den Tag frei hätte.

Ich nehme mir den Tag frei

und lerne fliegen.

1

Wiederentdeckt

An einem Abend im Herbst – die Sonne war gerade untergegangen – warf Aurelia Feder zufällig einen Blick in ihr Herz und fand dort etwas Unerwartetes. Etwas, was sie dort noch nie gesehen hatte oder was ihr zumindest noch nie aufgefallen war. Es war ein kleines Kästchen aus einem harten Material, vielleicht aus Eisen. Oben hatte es einen kleinen Tragegriff, und die Kanten waren mit geschwungenen Blechstreifen verstärkt, sonst war es schmucklos.

»Wo kommt das denn her?«, fragte sich Aurelia halblaut und wunderte sich sehr. Sie nahm das Kästchen heraus, drehte es um und suchte nach einem Schlüsselloch, fand aber keines. Auch keine Schnallen und auch sonst nichts, womit man das Kästchen hätte öffnen können. Es war fest verschlossen. Und es war schwer. Aurelia stemmte ihre Finger in die Rille unter dem Deckel und brach sich dabei einen Nagel ab. Sie zog und schüttelte, rüttelte, klopfte und schimpfte leise vor sich hin, aber das Kästchen blieb verschlossen. Ratlos stellte sie es vor sich auf den Schreibtisch und betrachtete es lange. Und mit einem Mal kam ihr eine verschwommene Erinnerung, so undeutlich, als gehörte sie nicht ihr.

Oh, Aurelia!

Sie griff nach dem Kästchen, drehte es um und tastete an der Unterseite nach der Klappe. Ja, da war sie! Wenn man nicht wusste, dass sie da war, fand man sie nicht. Doch Aurelia hielt dieses Kästchen nicht zum ersten Mal in den Händen, das dämmerte ihr nun.

Eine kleine Bewegung mit dem Daumennagel, und die Klappe sprang auf. Darunter verbarg sich ein eisernes Rädchen. Mechanisch schlossen sich Aurelias Fingerkuppen um die winzigen Eisenzähnchen. Konnte das sein? Dasselbe Kästchen? Einmal nach links, zweimal nach rechts, fünfmal nach links, nach rechts, bis sie das leise Klicken hörte. Dann sprang der Deckel auf. Das Licht im Studierzimmer flackerte, Aurelia rang nach Luft, und das Kästchen fiel mit einem dumpfen Knall zu Boden. Jemand schrie.

2

Abendspaziergang
am Meer

Professor Henri-Jonathan Staub liebte es, abends am Meer spazieren zu gehen. Die Hälfte der Fenster im alten Schulhaus, in dessen Dachgeschoss er seit Jahrzehnten lebte, überblickte die Bucht mit den Motor- und Segelbooten. Dort war das Meer meist friedlich, fast ein bisschen zahm, fand Staub, wenn er durch das Erkerfenster seiner Bibliothek blickte. Doch er musste nur ein paar Dutzend Schritte gehen, dann hatte er den Ortsrand erreicht. Dann ging es bergauf, und jedes Mal, wenn hinter den letzten Häusern die tosenden Wellen in Sicht kamen, blieb Staub einen Augenblick lang stehen und blickte wie verzaubert auf das offene Meer. Nun war es allerdings Herbst und schon früh dunkel, sodass Staub nichts vom Meer gesehen hätte, hätte an jenem Abend nicht gerade der Vollmond sein Licht auf das Wasser geworfen.

Staub war schon auf dem Rückweg zum Schulhaus und sah in einiger Entfernung den alten Steinturm vor sich, in dem seine frühere Schülerin Aurelia Feder wohnte. Der Turm stand ein wenig außerhalb des Dorfes und blickte beinahe mit dem Selbstverständnis eines Leuchtturmes aufs Meer. Aber er war der letzte Überrest eines Klosters, das es schon lange nicht mehr gab. Die Kapelle im Erdgeschoss des Turmes war noch erhalten. Sie hatte große Fenster aus buntem Glas, die geheimnisvoll schimmerten, wenn drinnen das Licht brannte. Von der Kapelle aus führte eine Wendeltreppe hinauf zu den beiden Stockwerken, die Aurelia bewohnte.

Ach, Feder! Wieso bist du hierher zurückgekommen? Warum bist du nicht in der großen Stadt geblieben und hast getan, was ich dir beigebracht habe? Aus dir hätte etwas werden können, du warst meine kreativste, meine Lieblingsschülerin. Zu gut, um hier zu versauern.

Aber hier war sie, nun schon wieder seit fast zwei Jahren, und Staub freute sich jedes Mal, wenn er sie sah. Wie alt mochte Aurelia inzwischen sein? Anfang vierzig? Vielleicht schon ein bisschen älter. Staub mochte sie sehr, und er mochte auch Rosemarie, ihre alte Tante, die oft zu Besuch kam und manchmal wochenlang bei Aurelia blieb.

In Aurelias Studierzimmer brannte Licht. Staub blieb stehen und blickte hinauf. Eine Laterne stand innen auf dem Fenstersims, gerade so, als wäre der Turm tatsächlich ein Leuchtturm. Dahinter sah man Regale voller Bücher und – ja – Staub sah Aurelia Feder, wie sie durch das Zimmer ging und mit dem Rücken zum Fenster stehen blieb. Staub fand es fast ein bisschen unmoralisch, dass er dort unten im Dunkeln stand und sie heimlich beobachtete, aber es sah so friedlich aus, wie sie dort oben umherging bei ihren Büchern in der erleuchteten Stube. Aurelia hatte Bücher immer geliebt, eine Leidenschaft, die sie mit Staub teilte, die er als ihr Lehrer vielleicht sogar in ihr entfacht hatte. Sie hatte etwas in der Hand, drehte es ganz geschäftig und schien es aufmerksam zu untersuchen. Eine Weile noch stand Staub so da und wollte gerade weitergehen, als Wind aufkam und das Meer hinter ihm hart gegen die Klippen schlug. Im selben Moment flackerte das Licht in Aurelias Studierzimmer, und jemand schrie. Staub stolperte ein paar Schritte zurück, der Wind riss ihm seine Mütze vom Kopf, er fuhr herum und suchte mit dem Blick den Boden ab. Ja, da war sie, seine Mütze, zum Glück! Er setze sie wieder auf und blickte hinauf zu Aurelias Fenster. Es war dunkel.

3

Kühe

Auf der Weide, die an Aurelia Feders Grundstück angrenzte, grasten Kühe. Eineinhalb Dutzend. Daran war nichts Besonderes. Daran war wirklich nichts Besonderes. Grasende Kühe sah man schließlich immer wieder an allerlei Orten. Es war also tatsächlich absolut nichts Besonderes daran.

4

Frederik

Als Professor Staub den Schlüssel ins Portal des alten Schulhauses steckte, zitterten seine Hände noch immer.

»Da bist du ja endlich, großer Häuptling Bücherstaub«, rief ihm eine freudige Kinderstimme aus dem Wohnzimmer entgegen, als er oben in seiner Wohnung angekommen war, »komm schnell und setz dich zu mir! Ich habe Popcorn gemacht!«

Staub lächelte und vergaß einen Augenblick lang seine innere Unruhe. Sein Enkel Frederik war da. Er hatte die Sommerferien bei Staub verbracht und sich danach einfach geweigert, wieder zu gehen. Alle Ermahnungen und Bitten seiner Eltern hatten nichts genützt. Frederik wollte bei seinem Großvater bleiben, und schließlich hatten seine Eltern es resigniert erlaubt. Zunächst einmal für ein Jahr. Staub hatte ein ratloses Gesicht gemacht und seine Schultern gezuckt, um zu zeigen, wie ohnmächtig er war angesichts der Sturheit seines Enkels. Aber in Wirklichkeit hatte er sich gefreut wie ein Schneekönig und sein Glück kaum fassen können. Jetzt lebte er nicht mehr allein im alten Schulhaus. Frederik war bei ihm, und Staub ließ sich von ihm sein Leben durcheinanderwirbeln und fühlte sich wieder jung.

»Was ist los?«, fragte Frederik sofort, als sich Staub neben ihm aufs Sofa fallen ließ und abwesend in die Popcornschüssel griff.

»Nichts«, sagte Staub, bemüht, interessiert auf den Fernsehbildschirm zu starren.

»Du lügst ja, großer Häuptling!«, rief Frederik empört und warf ein Kissen nach Staub, das diesen mit voller Wucht am Kopf erwischte und ihn ganz verdattert zurückließ. »Sag, was los ist, Opa!«

»Ach, du hast ja recht«, seufzte Staub und kratzte sich seinen immer lichter werdenden Kopf. »Mir ist gerade etwas Komisches passiert. Es hat mit Aurelia Feder zu tun.«

Und Staub erzählte seinem Enkel, was er beobachtet hatte: das flackernde Licht, der Schrei, dann die Dunkelheit. Erst hatte er schnell weitergehen wollen, doch ein ungutes Gefühl in der Magengrube hatte ihm keine Ruhe gelassen. Fast gerannt war er, durch die Einfahrt auf den Turm zu, und hatte den Klingelknopf gedrückt, aber nichts regte sich. Noch zweimal drückte er, mit immer größerer Panik. Er war schon dabei, mit ungeschickten Fingern die Nummer der Polizei in sein uraltes Handy einzutippen, als im Turm-Treppenhaus Licht anging und er Schritte auf der Steintreppe hörte. Dann öffnete sich die Tür, und Aurelia stand vor ihm. Er sah es sofort, sie hatte Angst. Ihre Pupillen waren geweitet, ihr Gesicht war totenblass, und sie hatte eine Strickjacke fest um sich geschlungen. Er packte sie an den Schultern.

»Feder«, flüsterte er, »mein Gott, was ist passiert?«

Zuerst sah sie ihn nur fragend an, dann schüttelte sie den Kopf. »Nichts«, sagte sie schließlich.

Er glaubte ihr nicht, wollte sie nicht gehen lassen und bestand sogar darauf, in den Turm gelassen zu werden, um sich selbst davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.

»Sie sehen, Professor Staub, es ist nichts«, sagte sie schließlich. »Es ist lieb, dass Sie sich um mich sorgen, aber ich bin ok. Wirklich!«

Es kostete ihn Überwindung, zu gehen. Er hatte ein seltsames Gefühl. Andererseits konnte er tatsächlich nichts Auffälliges entdecken.

Frederik sah ihn lange an und sagte irgendwann »Mhhh.«

Staub nickte. »Komisch, oder? Sie verschweigt mir etwas.«

»Ich werde morgen zu ihr gehen«, sagte Frederik, »und nach dem Rechten sehen. Zum Glück sind ja Herbstferien! Vielleicht kommt Pandie mit.«

Abermals nickte Staub. Frederik und seine Freundin Pandora Muschel liebten Abenteuer, und Aurelia gab Pandora seit Kurzem Klavierunterricht. Doch Staub quälte die Ahnung, dass Aurelias Geheimnis von der Sorte war, die man nicht ausgerechnet zwei Elfjährigen erzählte.

5

Die Andere

Die Andere stand in der Ecke zwischen Bücherregal und Tür. Aurelia spürte es, auch wenn sie sie im Dunkeln nicht sehen konnte. Um auf den Lichtschalter zu drücken, musste Aurelia an ihr vorbei. Sie wagte es nicht. Ob die Andere ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde, wenn sie versuchen würde, schnell aus dem Zimmer zu laufen? Wenn sie doch nur nicht geschrien hätte! Sie wollte gefasst und selbstbewusst wirken, sonst machte sie alles nur noch schlimmer. Sie atmete tief ein. Die Luft brannte in ihrer Nase wie Chlorwasser.

»Soso«, sagte sie endlich, »da bist du also wieder!«

Die Andere lachte leise. »Hast du geglaubt, ich würde gehen? Einfach so?«

»Mach das Licht an!«, sagte Aurelia.

»Warum sollte ich?«, fragte die Andere.

Aurelia bebte innerlich. »Mach das Licht an und stell dich mir!«

»Warum machst du es nicht selbst an?«, fragte die Andere. Sie bewegte sich in der Dunkelheit, Aurelia konnte es hören. »Komm doch rüber! Hier ist der Schalter.«

Aurelia lauschte. Kam die Andere auf sie zu? Vorsichtig ging sie einen Schritt zurück. Wo war ihr Schreibtischstuhl? Konnte sie ihn als Waffe einsetzen? Langsam bewegte sie den Kopf und sah den Stuhl im Mondlicht, das ins Zimmer fiel. Sie streckte den Arm aus und griff nach der Lehne.