52 Impulse für gelingende Beziehungen
gemeinsam mit Daniela Pucher
Sie haben das Potenzial für eine gelungene Beziehung!
Warum wir alle irgendwie komisch sind
1.Die Schlacht am heißen Buffet
2.Mit Rucksack durchs Leben
3.Romeo und Julia
4.Warum wir die Welt so sehen, wie wir sie sehen
5.Geerbte Sätze
6.Der Staffellauf
7.Ich bringe ein bisschen Schmutz mit
Wie konnte ich mich nur in die verlieben!
8.Der Zebraeffekt
9.Überlebensmuster sind kompliziert
10.Wenn der Partner unangenehm zupft
11.Ein Hungerkünstler kommt selten allein
12.Aufstiegshilfen
13.Mit Gummistiefeln und Schutzhelm
Wenn Sich-Ändern nur nicht so schwer wäre!
14.Raus aus der Komfortzone
15.Veränderungen sind besser als ihr Ruf
16.Den inneren Schweinehund austricksen
17.Vom Nutzen des Nervigen
18.Bewegung, Bewegung, Bewegung
19.Wer ist hier der Chef?
Wir müssen reden
20.Spieglein, Spieglein an der Wand
21.Let’s Talk About Monsters
22.Kein Theater im Theater
23.Sprache schafft Wirklichkeit
24.Immer sagst du nie etwas
25.Bitte dieses Kapitel vielleicht nicht lesen
26.Schreiben ist magisch, Schreiben ist grausam
27.Schubladendenken
Wenn’s im Bett nicht so gut läuft
28.Ein Brief an die Frauen
29.Ein Brief an die Männer
30.Sei nicht so zickig
31.Netzstrümpfe ohne Netz
32.Das hat mein Ex auch immer gesagt
33.Exklusivität als Einschränkung?
Streit, Konflikt und kleine Ärgernisse
34.Nichts wie weg. Beim nächsten Mann wird alles anders
35.Ich sag Ja, du sagst Nein
36.Der Kompromiss als Zeitbombe
37.Freunde der Beziehung
38.Geisterbahn fahren
39.Recht und Unrecht
40.Vergeben
41.Lass mich, ich bin nun einmal so
Den krisenfesten Paaren gehört die Zukunft!
42.Bodenständige Höhenflüge
43.Schau auf dich, dann schaust du auch auf die Beziehung
44.Der Meditationsraum in uns
45.Theorie und Praxis
46.Wasser und Brot oder Schlemmermenü?
47.Wertschätzung und Anerkennung
48.Ich gelobe
49.Mentalisieren – die Königsdisziplin der Liebe
50.Auf Schatzsuche
51.Träumen Sie
52.Couples for future
Das Leben – und speziell das Leben in einer Beziehung – ist wie ein Labor, in dem es darum geht, dass zwei Menschen sich zu reifen Individuen entwickeln. Jeder rund um die 20 herum ist erwachsen, doch kaum jemand ist in diesem Alter bereits eine gereifte Persönlichkeit. Auf dem Weg dorthin haben wir noch viel zu lernen. Vieles von dem, was uns ausmacht, ist schon bei der Geburt angelegt und entwickelt sich in den ersten Monaten und Jahren. Manches davon verlieren wir wieder durch die Art, wie wir genährt und sozialisiert wurden.
Die Partnerin, der Partner ist oft ein guter Therapeut, um diese fehlenden, manchmal auch verleugneten Anteile ins Leben zurückzuholen. Dafür brauchen wir ein anderes Selbstverständnis von der Liebe, als wir es meist mitbekommen haben. Denn die Liebe ist eine Aktivität, kein Zustand. Da geht es schon darum, dass wir Probleme und Konflikte auch aufgreifen und als Chance sehen für den nächsten Entwicklungsschritt. Die Rahmenbedingungen, damit so etwas gelingen kann, sind Sicherheit und die Möglichkeit zur Potenzialentfaltung, wie der Neurobiologe Gerald Hüther sagt.
Mit diesen 52 Impulsen wollen wir Sie einladen, einen vielleicht ganz neuen, in jedem Fall geschärften Blick auf Ihre Beziehung zu werfen – oder, wenn Sie Single sind, auf sich selbst und Ihre persönliche Geschichte. Denn im Grunde haben Sie alles, was Sie brauchen, bereits in sich. Also gehen Sie es an und bleiben Sie dran, damit Sie Ihre Beziehung zu der tiefen Liebe entwickeln, von der Sie nicht einmal zu träumen wagen. Wir – Sabine und Roland – sind ein gutes Beispiel dafür, dass diese Aussicht nicht übertrieben ist. Wir haben in mehr als 40 Jahren sehr viele Höhen und Tiefen erlebt. Doch wir haben bis heute beide den Ehrgeiz, immer weiterzulernen, unsere Potenziale freizulegen und neugierig zu bleiben: auf uns selbst, auf Beziehungen, auf das Leben.
Die Beispiele, die Sie in diesem Buch finden, sind zum Teil aus unserem Leben gegriffen und manchmal überspitzt dargestellt. Wo auch immer Paare uns zu Beispielen inspiriert haben, haben wir die Geschichte so verändert, dass eine Wiedererkennung mit den realen Personen unmöglich ist. Sie werden sich vielleicht trotzdem darin wiederfinden, doch das zeigt nur, wie nahe die Geschichten von uns allen beisammen liegen.
Eines ist uns noch wichtig zu sagen: Wir beide sind heterosexuell orientiert und haben dieses Buch daher aus dieser Perspektive geschrieben. Wir möchten jedoch alle Menschen unabhängig von ihren sexuellen Neigungen ansprechen. Wir haben bereits viele gleichgeschlechtliche Paare begleitet und wissen, dass sich viele Themen ähnlich gestalten.
Wir laden Sie also ein, sich von unseren Impulsen inspirieren zu lassen. Trauen Sie sich, etwas Neues auszuprobieren und Ihr Leben dort neu auszurichten, wo Sie eine Sehnsucht nach Veränderung verspüren. Und denken Sie bitte daran, dieses Buch immer wieder auch zur Seite zu legen und den einen oder anderen Impuls gemeinsam zu besprechen und zu versuchen. Schauen Sie Ihrer Partnerin, Ihrem Partner in die Augen, gehen Sie in Verbindung und spüren Sie die Nähe.
Wir wünschen Ihnen gutes Gelingen!
Sabine und Roland Bösel
Wir wundern uns oft über das seltsame Verhalten unseres Partners oder anderer Menschen – und dabei sind wir selbst genauso seltsam.
Was dahintersteckt und wie diese Weisheit uns hilft, uns selbst und anderen gegenüber verständnisvoller, gelassener, liebevoller und wertschätzender zu sein.
Mitmenschen – selbst unsere engsten Vertrauten – verhalten sich oft „komisch“. Was dahintersteckt und wie hilfreich es ist, sich das eigene Verhalten bewusstzumachen.
Er (kommt mit ihr verspätet zu einer Party): Ich sag dir, ich hab so riesigen Hunger! Hoffentlich haben sie ein gutes Buffet.
Sie: Ja, aber zuerst müssen wir schon ein paar Leute begrüßen.
Er sieht das Buffet und stürzt sich wortlos darauf, ohne auch nur einen Blick auf die vielen Freunde rundherum zu verschwenden.
Sie: Du bist so peinlich! Und dann schaufelst du dir auch noch den Teller so voll!
Gastgeber: Hey, ihr zwei! Na, dir schmeckt’s ja. Seid ihr schon länger da? Ich hab euch ja noch gar nicht gesehen.
Er: Ähm …
Wir Menschen sind allesamt ein seltsames Volk. Wir verhalten uns so, wie es uns vertraut ist – und ein anderer findet das eigenartig. Wir vergessen unsere Manieren und kapern das Buffet, weil der Magen knurrt, und wundern uns, dass der Gastgeber patzig reagiert. Oder wir nehmen bei Diskussionen gerne die Rolle des Kritikers ein, weil wir das sinnvoll finden, und müssen uns dann gefallen lassen, zurechtgewiesen zu werden.
Oder auch umgekehrt. Wir heben irritiert die Augenbraue, weil sich ein anderer vordrängelt, weil wir das ungehörig finden und selbst nie tun würden. Wir sitzen im feinsten Business-Outfit in einem Kunden-Meeting und sind sehr erstaunt, wenn die Kundin ungeniert ihre Brotjause auspackt und genüsslich zu mampfen beginnt.
Auf welcher Seite wir auch immer gerade stehen, in jedem Fall gibt diese Irritation des fremdartigen Verhaltens Anlass zur Verwunderung oder auch Verletzung, Frustration, zum Ärger oder Streit. Das liegt daran, dass jeder von uns instinktiv davon ausgeht, dass die eigene Welt die einzig existierende ist. Wir bewerten das Verhalten anderer vor dem Hintergrund unserer eigenen Sozialisierung. Was für uns „normal“ ist, nehmen wir als Maßstab.
Viele Konflikte würden gar nicht erst entstehen, wären wir in der Lage, über den Tellerrand zu blicken und die Welt unserer Mitmenschen ein bisschen besser kennenzulernen. Gleichzeitig kann auch das Konfliktpotenzial größer werden, je näher uns jemand steht, weil wir dann auch seine oder ihre Schattenseiten entdecken. Wenn der beste Ehemann von allen sich nicht benehmen kann und bei der Party nicht einmal die Gastgeber begrüßt, fragen wir uns unter Umständen, welchen Grobian wir da geheiratet haben. Wir schämen uns fremd, und später, auf dem Nachhauseweg, stellen wir ihn dann zur Rede, um ihm klarzumachen, dass man sich so nicht verhalten sollte und es uns peinlich war.
Als Paartherapeuten laden wir in solchen Situationen dazu ein, einen Blick hinter das Verhalten zu werfen. Das hat gleich mehrere Vorteile: Zum einen hat der „Übeltäter“ nur so die Chance, sich sein inadäquates (oft unbewusstes) Verhalten bewusst zu machen und es so leichter verändern zu können. Zum anderen kann die „peinlich Berührte“ den Partner besser verstehen, Toleranz üben und helfen, dieses Verhalten zu verändern. Und nicht zuletzt entwickelt das Paar auf diese Weise auch das Miteinander weiter und vertieft die Beziehung. Dasselbe gilt natürlich auch für seltsames Verhalten von Geschwistern, Eltern, Kindern oder Freunden.
Nehmen wir das Beispiel vom Buffet. Ja, es ist unhöflich, verspätet auf einer Party zu erscheinen und dann nicht einmal den Gastgeber oder auch irgendjemand anderen zu begrüßen, sondern gleich das Buffet zu stürmen. Vielleicht denken Sie sich jetzt auch, dass das nun wirklich kein Drama sei, es käme schließlich öfter vor, dass sich Menschen am Buffet nicht benehmen können. Das stimmt, und gleichzeitig können wir genau deshalb ganz wunderbar zeigen, wie sehr wir alle von unserer Vergangenheit beeinflusst werden, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Dieser wortlos das Buffet stürmende Mann ist in den 50er Jahren geboren. Der Krieg war vorbei, der Aufbau führte zum Wirtschaftswunder und die Kühlschränke waren voll. Als Kind hörte er zwar davon, dass in Afrika die Kinder Hunger leiden, wenn er einmal nicht aufessen wollte, doch selbst kannte er den Hunger nicht. Es stellte sich heraus, dass sein Vater sehr wohl viel Hunger leiden musste. Er war im Krieg und in russischer Kriegsgefangenschaft, die er nur mit Glück überlebte. Als unser Mann also das Buffet stürmte, schlug sein emotionales Erbe durch: Plötzlich triggerte sein Hungergefühl diese „vererbte“ Angst vor dem Verhungern des Vaters, und er verhielt sich wie ein tatsächlich Verhungernder. Wer nichts zu essen hat, pfeift auf gute Manieren und schaut, dass er schnell etwas in den Magen bekommt!
Eigentlich hätte er dem Gastgeber als Entschuldigung sagen müssen: „Tut mir leid, mein Vater war in Kriegsgefangenschaft und hat sehr viel Hunger gelitten. Ich habe das quasi im Blut und das hat dafür gesorgt, dass ich unhöflich zu dir war.“ Wäre interessant gewesen zu erfahren, wie der Gastgeber darauf reagiert hätte. Vermutlich wäre er gleich noch irritierter gewesen.
Warum, so fragen Sie sich nun möglicherweise, muss ich wissen, welches Blut in meinen Adern fließt, woher es kommt und wohin es geht? Weil Bewusstheit der Schlüssel ist für ein gelungenes Leben! Wenn Sie bei einem „komischen“ Verhalten ertappt werden und sich der Hintergründe nicht bewusst sind, werden Sie immer mit fadenscheinigen Ausreden daherkommen. „Ach ja, ich habe dich seit einer Stunde schon überall gesucht!“, sagen Sie dann vielleicht dem Gastgeber. Oder: „Ja, witzig, oder, kaum war ich da, hat mir schon einer diesen vollen Teller in die Hand gedrückt.“ Wenn wir Pech haben, werden diese Notlügen auch noch schnell entlarvt und dann haben wir uns gleich doppelt danebenbenommen: unhöflich und auch noch unehrlich! Wenn Sie sich hingegen klarmachen, woher Ihr seltsames Verhalten herrührt, es also in Ihr Bewusstsein heben, können Sie es verändern. Nur was uns bewusst ist, können wir auch verändern!
In unserem emotionalen Erbe steckt viel Potenzial, und zwar im Positiven wie im Problematischen. Viele unserer Eltern und Großeltern, die den Krieg miterleben mussten, haben über ihre Erlebnisse nicht geredet. Das bedeutet, dass Ängste und Traumata, von denen es bestimmt genug gab, sich in ihren Seelen eingespeichert haben und unbewusst über die Generationen weitervererbt wurden. Der noch junge Forschungszweig der Epigenetik untersucht, unter welchen Bedingungen ein Gen aktiviert wird oder nicht. So hat man in manchen Studien herausgefunden, dass die Wirkung von Traumata bis in die dritte Generation nachgewiesen werden kann. Das ist der Grund, warum wir auch bei Kriegsenkeln und Kriegsurenkeln darüber nachdenken sollten, inwiefern es noch traumatische Spuren aus dem zweiten Weltkrieg gibt. Üblicherweise kommen diese vererbten Themen in einem ganz anderen Kleid daher, beispielsweise auch in Form psychosomatischer Reaktionen. Es lohnt sich wirklich, sie zu hinterfragen und zu verstehen, denn sonst bleiben sie weiterhin Teil des emotionalen Erbguts und belasten nicht nur uns selbst, sondern auch die nächste Generation.
Doch es sind nicht nur die Kriegserlebnisse unserer Vorfahren, die uns zu seltsamem Verhalten führen. Oft sind es auch Stimmungen im Elternhaus, unbewusste Aufträge, Loyalitäten zu Vater oder Mutter, die uns unbewusst leiten. In unserem Buch „Warum haben Eltern keinen Beipackzettel?“1 haben wir uns ausführlich damit befasst, welches emotionale Erbe die Fäden in unseren aktuellen Beziehungen zieht. An dieser Stelle kommen unsere Partner ins Spiel, denn sie können besser als alle anderen ihren Finger auf dieses emotionale Erbe legen und uns herausfordern, damit uns unser Verhalten bewusst wird und wir es verändern können. Und es hilft uns auch, toleranter zu sein gegenüber all den „komischen“ Menschen auf dieser Welt!
1Orac, 2013
Über die wichtige Erkenntnis, dass 90 Prozent unseres Tuns mit uns selbst zu tun haben und nur 10 Prozent mit unserem Gegenüber.
Ein paar Menschen warten vor der Supermarktkassa. Eine Frau kommt dazu, geht an der Warteschlange vorbei und bemerkt diese gar nicht. Nennen wir sie die „Verträumte“. Eine der wartenden Personen, die es oft eilig hat in ihrem Leben, begehrt auf. Nennen wir sie die „Getriebene“.
Getriebene (aufgebracht): Haben Sie keine Augen im Kopf? Wir warten hier auch. Hinten anstellen!
Verträumte (erschrocken): Oh, Entschuldigung, das habe ich übersehen.
G: Ja, das sagen sie alle. Tun so, als wären sie die Unschuld vom Lande und lavieren sich so durchs Leben.
V: Sie haben vollkommen Recht, ich stelle mich schon hinten an.
G (zu ihrem Vordermann): Ich packe das einfach nicht. Die Leute haben überhaupt kein Benehmen mehr!
Die Verträumte steht hinten und denkt: Oje, schon wieder einen Fehler gemacht. Dabei habe ich die Schlange wirklich nicht gesehen.
Am Anfang steht dieser so magische Moment: unsere Geburt, der Sprung ins Leben. Die meisten von uns sind zu diesem Zeitpunkt so richtig prall im Leben gelandet, und obwohl die Geburt auch für ein Baby Umstellungsstress bedeutet, pulsiert es dennoch vor lauter Lebenskraft und Energie. Das Leben wird dann bald herausfordernder, denn wir werden von außen beeinflusst, und zwar auf zweierlei Art: Wir werden von unseren Eltern (oder den entsprechenden Bezugspersonen) genährt und von ihnen sozialisiert. Unter Nähren verstehen wir, dass wir als Baby mit allen fünf Sinnen wahrgenommen und angesprochen werden. Ein Baby braucht Berührung, es braucht, dass jemand mit ihm spricht, dass es jemand anschaut, dass es Nahrung bekommt und vertraute Personen riechen kann. Das heißt, es geht darum, dass Mutter und Vater einen Input geben. Ein Baby, das gut genährt ist, bekommt die Grundbotschaft „Es ist gut, zu sein“ mit auf den Weg.
Sozialisation wiederum ist das, was man gemeinhin als „Erziehung“ bezeichnet. Während das Genährtsein für die ersten Lebensjahre wichtiger ist, hat die Sozialisation mehr Auswirkung in den Folgenjahren und in der Pubertät und Adoleszenz. Ein Kind, das ein weites Spektrum an Sozialisation erfährt, lernt, dass es gut ist, Verschiedenes auszuprobieren, und dass es gewisse Spielregeln für ein sinnvolles Miteinander gibt. Allerdings werden wir in der Sozialisation auch manipuliert und manchmal zu kleinen Robotern gemacht, die ganz nach der Pfeife der Bezugspersonen tanzen, anstatt aus der Fülle, die das Leben grundsätzlich für uns bereithält, zu schöpfen. Die Anweisung, immer schön brav still zu sitzen und nur ja nicht die Erwachsenen zu stören beispielsweise, schränkt kleine Kinder in ihrem natürlichen Bewegungsdrang ein und verhindert, dass sie neugierig die Welt erobern.
Wie wir genährt und sozialisiert wurden, formt unsere Persönlichkeit und eröffnet uns entweder ein weites oder enges Spektrum an Möglichkeiten. Und so sammeln wir Erfahrungen: Man bleibt bei der roten Ampel stehen, man wäscht sich die Hände vor dem Essen. Wenn man Wasser ins Feuer gießt, geht das Feuer aus. Regenwürmer kitzeln, wenn sie über die Handfläche krabbeln. Und genauso lernen wir: Eltern streiten und versöhnen sich nicht, also ist das Eheleben eine Last. Der Vater ignoriert mich, also muss ich mich sehr anstrengen, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Oder wir folgen bestimmten Sätzen, die wir immer wieder hören und an die wir unser Verhalten bis ins Erwachsenenleben anpassen. Ein Beispiel: „Klettere nicht auf den Baum, du wirst hinunterfallen.“ Als Kind lernen wir, dass wir unseren Impulsen nicht vertrauen können, weil die Mama weiß, dass da etwas passiert. Was ist die Folge? Wir klettern nie Bäume hoch, machen diese Erfahrung nicht – und am Ende sind wir wirklich sehr ungeschickt und fallen tatsächlich hinunter, wenn wir es dann doch einmal versuchen.2 Auf diese Weise füllt sich allmählich unser Rucksack mit den verschiedensten Erfahrungen, und den tragen wir immer mit uns herum. Dieses Repertoire haben wir stets zur Verfügung und wenden es je nach Situation an.
Kehren wir zu unserer Szene an der Supermarktkassa zurück. Stellen Sie sich zwei kleine Mädchen in zwei verschiedenen Familien vor. Beide sind Sandwich-Kinder, haben also ältere und jüngere Geschwister, beide fühlen sich nicht ausreichend wahrgenommen von ihren Eltern. Das eine Mädchen geht mit dieser Situation so um: Es schließt daraus, wie wichtig es ist, sich zu behaupten, um gesehen zu werden. Es erlebt vielleicht sogar, was es heißt, ausgeschlossen zu werden. Kinder kompensieren solche unangenehmen Erlebnisse unter anderem mit einem unbewussten Beschluss, der bei dem einen Mädchen lautet: „Ich werde es allen zeigen und ich werde für mein Recht kämpfen!“ Diesen Beschluss nimmt es unbewusst ins Erwachsenenleben mit. Das zweite kleine Mädchen geht mit seiner Situation anders um. Es erlebt ebenfalls, wie es ist, nicht wahrgenommen zu werden und zu kurz zu kommen. Doch es schützt sich anders, es beschließt: „Ich warte, bis ich drankomme. Ich komme ja ohnehin mit wenig aus.“ Dieser Beschluss steckt in ihrem Rucksack drin.
Diese beiden zu erwachsenen Frauen gewordenen Mädchen haben Sie weiter oben an der Supermarktkassa kennengelernt, und Sie erraten bestimmt, wer mit welchen Beschlüssen durchs Leben geht: Die Getriebene hat beschlossen zu kämpfen, sie begehrt sofort auf. Die Verträumte hat beschlossen, mit wenig auszukommen, sie unterwirft sich und ist still. Beide haben ganz bestimmt festgestellt, dass sich die jeweils andere komisch bzw. ungehörig oder irritierend verhalten hat.
Das ist das, was so spannend ist, wenn sich zwei Menschen begegnen. Wenn es zwischen den beiden kracht und man hinter die Kulissen schaut, haben sie, so unterschiedlich sie sich auch verhalten, oft sehr ähnliche oder sogar gemeinsame Themen. So ist das ganz besonders in Liebesbeziehungen. Es verlieben sich immer Seelenverwandte ineinander, und Seelenverwandtschaft heißt, dass wir vielleicht Unterschiedliches erlebt haben, aber in unserem Rucksack stecken ähnliche Emotionen zu einem bestimmten Thema, und daraus haben wir entsprechend unbewusste Beschlüsse gefasst.3 Die Strategien, die wir unbewusst entwickelt haben, um mit diesen Emotionen umzugehen, sind wiederum verschieden, und deshalb entstehen die Konflikte.
In der Imagotherapie sprechen wir davon, dass 90 Prozent unserer Frustrationen mit unserer Geschichte zu tun haben und nur 10 Prozent mit den aktuellen Umständen. Für bestimmte Situationen wurde uns als Kind ein gewisser Spielraum genommen, und mit der Zeit sind wir davon überzeugt, dass mehr als dieser eingeschränkte Spielraum gar nicht möglich ist. So wird auch unsere Kreativität eingeschränkt und wir reagieren in bestimmten Situationen nicht flexibel, sondern in eingefahrenen Mustern. Dabei gäbe es immer auch noch andere Möglichkeiten. Die Getriebene an der Kassa könnte auch ganz neutral und unaufgeregt denken: „Ah, interessantes Verhalten.“ Und sie könnte sagen: „Ich glaube, Sie haben übersehen, dass wir hier schon angestellt sind. Aber Sie haben ja nur so wenig eingekauft, ich lasse Sie vor.“ Dass sie zu diesem Denken und Verhalten nicht in der Lage ist, liegt an ihrem Rucksack. Sie hat gelernt, dass sie kämpfen muss, daher poltert sie los und verweist die andere ans Ende der Schlange. Der Humor, die Kreativität und Flexibilität und auch die Großzügigkeit, all das ist bei ihr verloren gegangen.
Und so ist es auch in Paarbeziehungen. Wenn wir uns die Mühe machen, einen Konflikt zum Anlass zu nehmen, um in unsere Rucksäcke zu schauen, können wir diese unbewussten Beschlüsse aus unserer Kindheit und die daraus entwickelten Strategien erkennen, auflösen und neue Möglichkeiten entdecken, wie wir uns in Zukunft anders verhalten wollen.
Wir können davon ausgehen: Wenn wir beim Partner ein „komisches“ Verhalten beobachten und uns das aus der Fassung bringt, lohnt es sich zu prüfen, ob vielleicht gerade die 90 Prozent aus unserer eigenen Geschichte durchkommen. Und was ist mit den restlichen 10 Prozent? Stellen Sie sich eine Garderobe vor mit Haken, an die jeder seinen Mantel hängen kann. Stellen Sie sich weiters vor, so ein Mantel repräsentiert die 90 Prozent und der Haken die 10 Prozent. So ist diese Formel zu verstehen: Ohne die 10 Prozent, die die aktuelle Situation ausmachen, fehlt uns der Aufhänger für unseren Mantel. Das heißt, gibt es keinen Anlass, kommt unser eingefahrenes Muster nicht zum Einsatz.
Daraus leitet sich auch die gute Nachricht für uns Paare ab: Meistens haben nur 10 Prozent eines Konflikts mit der aktuellen Situation zu tun, 90 Prozent lassen sich auf unsere Rucksäcke zurückführen. Warum das eine gute Nachricht ist? Weil wir mit dieser Sichtweise Konflikte ganz anders und viel nachhaltiger lösen können. Denn wenn wir uns – wie das oft so üblich ist – darum streiten, wer in einer bestimmten Situation nun Recht hat oder nicht, kommen wir nie weit. Wir kreisen dann ja auch nur um die 10 Prozent! Wenn wir uns stattdessen um die 90 Prozent kümmern, können wir feststellen: Ah, als Kind fühlte ich mich zwischen meinen Geschwistern so unbeachtet, daher also reagiere ich so empfindlich, wenn mir meine Partnerin dauernd ins Wort fällt, denn da fühle ich mich genauso missachtet. Schon allein dieses Wissen ist ein großer Schritt, um uns mit diesem für uns so heiklen Thema „Ich bin Luft für alle“ auszusöhnen. Damit Sie uns richtig verstehen: Die Erkenntnis, warum wir in bestimmten Situationen so unflexibel und übertrieben reagieren, ist nicht als Ausrede gedacht. Sie soll Ihnen jedoch das Verständnis erleichtern. Und noch etwas: Diese 90-10-Regel gilt natürlich nicht für alle Situationen: Wenn Ihnen Ihre Partnerin ein Bein stellt und Sie sich verletzen, wäre es reichlich deplatziert, nach Ihren 90 Prozent zu fragen!
Seien Sie Ihrer Partnerin, Ihrem Partner grundsätzlich dankbar für „komisches“ Verhalten. Denn es ist dieser 10-Prozent-Aufhänger, der Ihnen beiden klarmacht, dass sich dahinter Ihre Seelenverwandtschaft verbirgt. Das ist der Beginn, an dem sich ein Knoten auflösen kann. Denn wenn Sie Ihre 90 Prozent benennen können, tut sich auch Ihr Partner leichter, die 10 Prozent zu verändern!
2siehe auch Impuls Nr. 5
3siehe auch Impuls Nr. 8
Wenn wir uns verlieben, haben wir immer auch zwei Familiensysteme im Hintergrund. Es ist für eine gelungene Beziehung entscheidend, dass wir uns davon emanzipieren und auf Basis unserer Historie ein eigenes System entwickeln.
Sie hat einen Ferienjob im Handwerks- und Handelsbetrieb der Familie ihres Liebsten begonnen und sitzt als Telefonistin im Büro. Da kommt ihr Schwiegervater in spe herein.
Schwiegervater: Na, wie gefällt es dir bei uns?
Sie: Ja, eh gut. Viel Trubel hier und viel zu tun!
Schwiegervater: Du könntest jederzeit bei uns einsteigen, das weißt du.
Sie: Aber du weißt doch, dass ich ganz bestimmt mein Studium abschließen möchte und dann Psychologin werde.
Schwiegervater: Klar weiß ich das. Aber wenn du richtig arbeiten willst, kannst du jederzeit zu uns kommen.
Sie (entrüstet): Psychologin zu sein ist doch auch richtige Arbeit!
Diese kleine Szene hat sich so ähnlich im Jahr 1980 im Unternehmen der Familie Bösel – einem großen Fleischereibetrieb in Wien – abgespielt. Wir ahnten noch nicht, wie sehr diese doch sehr unterschiedliche Sichtweise auf Arbeit unsere Liebe prägen würde. Für Roland war Arbeit das, was er von seinen Eltern vorgelebt bekam: identitätsstiftend und erfüllend, jedoch auch körperlich anstrengend und unternehmerisch riskant. Seine Eltern und Großeltern arbeiteten quasi rund um die Uhr, nur am Sonntag ruhten sie sich aus. Es war sonnenklar, dass er den Betrieb in der dritten Generation fortführen sollte. Dementsprechend war und ist es für ihn ein hoher Wert, „couragiert zu sein und anzupacken, wo es nötig ist“. Verstärkt wurde diese Sicht auch noch durch die Existenz eines Onkels väterlicherseits, der Künstler war. Es wurde von Rolands Vater erwartet, dass er seinen Bruder ins Unternehmen holt, denn Maler zu sein, „das ist ja kein ordentlicher Beruf“!
Sabine wiederum wurde geprägt durch eine Haltung, die sich in einem Satz ihrer Großmutter manifestierte: „Was du im Kopf hast, kann dir niemand mehr nehmen.“ Kein Wunder, wenn man die Geschichte der Großmutter kennt. Sie hat zwei Weltkriege durchgestanden, ihr gesamtes Geld verloren und die Shoah erlebt. Es war ihre Bildung, die ihr half zu überleben. Sabine besuchte eine teure Privatschule und es war sonnenklar, dass sie einen gehobenen und intellektuellen Beruf wählen würde. Sabines höchster Wert war, ganz in der Tradition ihrer Großmutter, die Bildung. Dass sie ihr Studium abschließen würde, stand völlig außer Frage.
So trafen wir aufeinander, die intellektuelle Sabine und der bodenständige Roland, beide mit unserer unterschiedlichen Sozialisation im Gepäck. Wir waren unter anderem genau deshalb auch so fasziniert voneinander: In Rolands Familie wurde nicht lange diskutiert. Wenn es ein Problem gab, da wurde angepackt – für Sabine eine ganz neue Welt. Und Roland umgekehrt war erstaunt, dass es Urlaube abseits von Erholung und Nichtstun geben kann. Er war schnell begeistert von Sabines Ideen, Bildungsurlaube zu machen und fremde Länder und Kulturen zu erforschen.
So ähnlich ist es bei jedem Paar, das sich ineinander verliebt. Jeder bringt die eigene Geschichte, das eigene So-geworden-Sein mit in die Beziehung. Jeder Mensch hat eine eigene Welt, die geprägt ist von den Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Jede Familie hat eigene Traditionen – und damit meinen wir nicht nur die Art, wie man Weihnachten und Neujahr begeht, sondern jedes Verhaltensmuster, das unbewusst von einer Generation in die nächste übernommen wird: ob man alle Entscheidungen vorher gemeinsam bespricht oder nicht, welche Erwartungen man an die Partnerin bzw. den Partner hat betreffend Familienplanung und -betreuung, ob man als Frau Karriere machen sollte und vieles mehr.
Wie sollte es auch anders sein? Wir werden in unsere Familie hineingeboren, und alles, was wir beobachten und erleben, übernehmen wir, und dieses Verhalten wird zu unserer Normalität. Unangenehme Erfahrungen oder gar Gewalt empfinden wir zwar auch als Kind nicht als Normalität und spüren, dass etwas nicht stimmt. Doch wir sind zu jung, um solche Erlebnisse zu reflektieren und zu verarbeiten. Stattdessen entwickeln wir Überlebensstrategien. All diese „seltsamen“ Verhaltensweisen sind Teil einer Tradition, und es liegt an uns zu entscheiden: Wollen wir sie fortsetzen oder durchbrechen und etwas Neues etablieren?
Wie stark Familientraditionen auf uns wirken, hat selbst die Weltliteratur vielfach aufgegriffen. Die Geschichte von Romeo und Julia kennen Sie bestimmt. Die beiden versuchen, sich gegen die alte Tradition – in ihrem Fall die Feindschaft zwischen den Familien – aufzulehnen, und scheitern doch sehr tragisch. Wir können uns unserer Geschichte nicht entziehen. Wir sind immer ein Produkt unserer Eltern und damit das Produkt zweier Familiensysteme, und jedes Elternteil ist wiederum ein Produkt zweier Familiensysteme. Wenn Sie sich in Ihren Partner verliebt haben, dann haben Sie nicht nur zu ihm, sondern implizit auch zu seiner Familie Ja gesagt – und dasselbe gilt auch umgekehrt. Dieser Umstand steht in direktem Zusammenhang mit dem, was wir in Impuls Nr. 2 geschrieben haben: 90 Prozent unseres Verhaltens wird geprägt durch unsere Vergangenheit – also unsere Herkunftsfamilie – und nur 10 Prozent durch die aktuelle Situation.
Das ist weder eine gute noch eine schlechte Nachricht, sondern eine Tatsache, die wir akzeptieren und anerkennen sollten. Denn wenn Sie wissen, dass Ihr Verhalten zu 90 Prozent durch Ihre Geschichte determiniert ist und nur zu 10 Prozent durch die Situation, in der Sie gerade sind, dann wirft das doch ein ganz anderes Licht auf die Möglichkeiten, die Sie haben! Um das Beispiel vom Beginn dieses Impulses noch einmal zu bemühen: Wenn Sie gerade darüber streiten, was denn „richtige“ Arbeit ist, dann brauchen Sie sich nicht länger darum bemühen herauszufinden, wer von Ihnen beiden Recht hat. Denn Sie wissen, dass Sie beide eine Meinung vertreten, die in Ihrer jeweiligen Welt nachvollziehbar ist. Gehen Sie diesen beiden Welten besser auf die Spur und versuchen Sie, die jeweils andere zu verstehen. Das bringt Sie viel weiter. Es kann gut sein, dass Sie eine ganz neue Definition von „richtiger“ Arbeit finden und damit eine neue Familientradition begründen.
Es ist unser Glück, dass wir heute viel freier sind und nicht mehr so sehr gefangen in unseren Familienverstrickungen wie Romeo und Julia. Solche Tragödien sind erfreulicherweise zumindest in unseren Breitegraden äußerst selten. Wir haben die Freiheit, jederzeit zu entscheiden, ob wir unsere Traditionen weiter pflegen wollen oder nicht. Goethe fasste das so zusammen: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Schauen Sie sich gut an, was Sie auf Ihren Weg mitbekommen haben, entwickeln Sie es so weiter, dass es zu Ihrem (gemeinsamen) Leben und in Ihre Zeit passt. Das gilt für jede Entscheidung, die Sie zu treffen haben, und für jede Erfahrung und die Art, wie Sie mit ihr umgehen und sie in Ihr Leben integrieren. Denn, so setzte Goethe seine Weisheit fort: „Was man nicht nützt, ist eine schwere Last.“
Es gibt so viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt auf dieser Welt. Ein psychologischer Blick hinter die Kulissen dieser Weisheit.
Er (sitzt mit seinem Freund beim Kaffee): Stell dir vor, gestern ist Susi erst nach Mitternacht von ihrem Frauenabend heimgekommen. Nach Mitternacht! Also ich glaube, da stimmt etwas nicht.
Freund: Was meinst du? Dass sie in Wahrheit bei einem anderen war?
Er: Na ja, ist das so abwegig? Sie ist ja eine fesche Frau!
Freund: Ja, schon. Aber deswegen muss sie ja noch lange nicht fremdgehen.
Er: Also ich weiß nicht … Wer weiß, ob sie mich wirklich liebt!
Wie wir bestimmte Situationen bewerten und wie wir uns verhalten, ist immer davon abhängig, was wir dazu in unserem Gehirn abgespeichert haben. Die Wissenschaften haben sich viel damit beschäftigt und die unterschiedlichen Phänomene systematisiert. Eines davon ist der sogenannte Priming-Effekt. Dabei geht man davon aus, dass die Art, wie wir Situationen betrachten, von einem aktuellen Reiz ausgelöst und dann mit früheren Erlebnissen und Erfahrungen gekoppelt wird. Das heißt, wir sehen, hören, riechen, schmecken oder empfinden etwas, und das ruft bestimmte Inhalte in unserem Gehirn ab. Je nachdem, worauf wir dabei zurückgreifen können, interpretieren wir die Situation. Das heißt, es werden durch eine Erfahrung Kerben in unserem Gehirn geschlagen, und die werden aktiviert, sobald wir in eine ähnliche Situation kommen. Ein klassisches Beispiel dafür: Wir haben ein Fahrrad gekauft – und plötzlich stellen wir fest, wie viele Menschen in unserer Umgebung Rad fahren.
Unser Gehirn lässt sich da relativ leicht austricksen. Machen wir ein kleines Experiment. Beantworten Sie bitte die folgenden Fragen: Welche Farbe haben Häuser in Griechenland? Ein Blatt Papier hat welche Farbe? Und ein Schneefeld? Eine Braut trägt meistens ein Kleid welcher Farbe? Was trinken Kühe?
Wenn Sie die letzte Frage mit „Milch“ beantwortet haben, dann herzlich willkommen im Club, denn dann ist es Ihnen ergangen wie den meisten Menschen. Keine Frage, die richtige Antwort wäre „Wasser“ gewesen. Doch die Fragen davor haben in Ihrem Gehirn eine Kerbe zur Farbe Weiß geschlagen, und da fällt uns im Zusammenhang mit dem Stichwort „Kuh“ sofort Milch ein.
Solche Kerben haben wir im Laufe unseres Lebens sehr viele entwickelt. Manche von ihnen haben sich zu wahren Autobahnen ausgewachsen. Jede Bewertung, die wir vornehmen, hat etwas mit dem zu tun, was wir erlebt haben, das betrifft sowohl positive wie auch negative Erfahrungen. Ein blühender Kirschbaum löst angenehme Gefühle aus, wenn er zum Beispiel mit vielen schönen Geburtstagen verknüpft ist, die immer zur Zeit der Kirschblüte gefeiert wurden. Der Anblick eines Kirschbaums kann aber auch traurig machen, wenn wir bei seinem Anblick von den Eltern erzählt bekommen haben, dass sie sich scheiden lassen werden.
Die gute Nachricht: Wir können diese Kerben umlenken und neu definieren. Wir können den armen Kirschbaum von seinem in unseren Augen schlechten Image befreien, indem wir die negative Erfahrung vom Baum entkoppeln und ihn mit anderen, positiven Assoziationen verknüpfen. Mit Frühlingsbeginn, blitzblauem Himmel und einer Weltmeisterschaft im Kirschkernweitspucken zum Beispiel.
Der Mann in unserer Einstiegsszene, der seiner Susi nicht vertrauen kann, hatte vermutlich bisher keine guten Erfahrungen in Sachen Vertrauen, und ihn plagt Unsicherheit. Vielleicht hat er bereits gescheiterte Beziehungen hinter sich, in denen er oder seine Partnerin Außenbeziehungen hatten, oder andere Erlebnisse, bei denen sein Vertrauen enttäuscht oder missbraucht wurde. Vielleicht hat er auch von seinem konservativen Elternhaus mit auf den Weg bekommen: „Frauen, die sich nach Mitternacht noch auf der Straße herumtreiben, sind leichte Mädchen.“
Was können Sie tun, um Ihre neuronalen Autobahnen umzulenken? Machen Sie sich bewusst, in welchen Situationen Sie von tiefen Kerben geleitet werden, und fokussieren Sie ganz bewusst auf das, was mehr Sinn macht. Im Falle des enttäuschten Vertrauens könnten Sie sich zum Beispiel darauf besinnen, wann und von wem Ihr Vertrauen in der Vergangenheit belohnt wurde. Welche guten Gründe fallen Ihnen ein, Ihrer Partnerin zu vertrauen?
Manche dieser gedanklichen Trampelpfade sind schwer zu identifizieren. Wenn Sie beispielsweise vor einem Berg Arbeit sitzen, es schon kurz vor Dienstschluss ist und sich der Schreibtisch immer noch biegt, fühlen Sie vielleicht Verzweiflung aufkommen. „Das schaffe ich nie, schon gar nicht heute, und dabei sollte ich doch noch diesem Kunden ein nettes Mail schreiben.“ Dann beschließen Sie, wenigstens diesem Kunden noch zu schreiben, bevor Sie heimgehen. Und stellen fest, dass Ihnen kein einziger netter Satz einfällt. Kein Wunder, wenn Ihre neuronalen Bahnen bereits komplett auf Verzweiflung und Versagen eingestellt sind!
In solchen Fällen empfehlen wir Ihnen: Drehen Sie den Computer ab, gehen Sie nach Hause und entspannen Sie sich. Machen Sie einen Spaziergang oder joggen Sie eine Runde durch die Siedlung, essen Sie etwas Feines. Tun Sie sich etwas Gutes, damit Ihr neuronaler Trampelpfad sich wieder glättet. Überlegen Sie, wo dieser Trampelpfad seinen Ursprung haben könnte. Liegt es daran, dass Ihre Eltern beruflich gescheitert sind oder Sie in jungen Jahren schwierige Phasen durchstehen mussten, in denen Sie nicht wussten, wie Sie über die Runden kommen sollen? Visualisieren Sie: Wie sieht mein aufgeräumter Schreibtisch morgen aus, sodass ich mit Leichtigkeit eine Sache nach der anderen angehen kann?
Je öfter es Ihnen gelingt, Ihre persönlichen Trampelpfade zu erkennen und sie zu positiven Bildern umzuleiten, desto besser. Es mag sein, dass Sie Rückschläge erleiden, doch dann denken Sie daran, wie oft es Ihnen schon gelungen ist, aus einem solchen Pfad auszusteigen und in ein anderes Erleben zu kommen. Und wenn Sie bemerken, dass Ihre Partnerin bzw. Ihr Partner gerade aus alten Pfaden aussteigt und neue entwickelt, geben Sie ihr bzw. ihm dafür eine dicke, fette Wertschätzung!
Sie machen uns manchmal das Leben schwer und beschränken uns in unseren Möglichkeiten. Über Glaubenssätze und innere Richter und wie sie unser Denken und Handeln prägen.
Sie und er sind mit ihrem sechsjährigen Sohn unterwegs, da treffen sie auf der Straße eine Bekannte.
Er: Wir waren gerade dabei, eine geeignete Volksschule in der Umgebung zu finden.
Bekannte: Ach, so groß ist euer Sohn also schon! Ja, ja, jetzt beginnt der Ernst des Lebens!
Zu Hause im Vorzimmer legen sie alle drei ihre Jacken und Schuhe ab.
Sie: Ich weiß nicht, irgendetwas ist mir über die Leber gelaufen.
Er: Du bist schon komisch, seit wir unsere Bekannte getroffen haben.
Sie (nach einigem Nachdenken): Jetzt, wo du es sagst: Ich kann es nicht ausstehen, wenn jemand meint, mit der Schule beginne der Ernst des Lebens. Da kommen in mir nur noch Stress und negative Gedanken an schwierige Lehrer und Zwänge hoch. Furchtbar!
Stellen wir uns ein Baby vor, ganz frisch zur Welt gekommen. Ist es nicht ein vollkommen wahrhaftiges Wesen? Frei von Zuschreibungen und Bewertungen schaut es in die Welt und saugt alles auf, aus reiner Neugierde, ohne die Nase zu rümpfen oder ein schlechtes Gewissen zu haben, ohne Empörung und Scham. So lang, bis wir es erziehen, denn dann beginnt der Prozess der Sozialisation. Der Begriff „Erziehung“ trifft es auf den Punkt: Wir ziehen an diesem neuen Erdenbürger herum und verbiegen seine neutrale, neugierige Weltsicht, damit er sich aus unserer Sicht richtig verhält.
Es sind viele Sätze, die unser Erwachsenwerden begleiten. „Lass das Baby ruhig schreien, es muss auch lernen, alleine zurechtzukommen“ oder später dann „Das macht man nicht“ oder „Sei ja schön brav und ärgere den Papa nicht“. Mit dem Älterwerden werden diese Sätze vielschichtiger: „Mach schneller!“ oder „Sei nicht so egoistisch“ oder „Es gehört sich nicht, so viele Fragen zu stellen“, „Sei nicht so naiv“ oder „Das steht dir nicht zu“. Die Variationen könnten wir hier wohl endlos fortsetzen, doch wir sind sicher: Sie haben bestimmt sofort selbst Sätze parat, die Sie von klein auf kennen – und die Sie vielleicht auch zu Ihren Kindern sagen oder gesagt haben. Viele dieser Anweisungen sind auch gut und hilfreich: „Setz eine Haube auf, es ist eiskalt draußen“ oder „Sag danke zu der freundlichen Frau“. Damit lernen wir den Umgang mit Gefahren und wie wir uns so verhalten, dass ein gutes und friedliches Miteinander in der Gesellschaft möglich ist.
Jede dieser Anweisungen nimmt das heranwachsende Kind auf. Es geht davon aus, dass sie wahr sind, und irgendwann werden sie zu einer Selbstverständlichkeit. Es verinnerlicht diese Anweisungen. Wenn es also von klein auf hört: „Mach schnell“, dann lernt es, dass man immer schnellmachen muss im Leben. Es lebt entsprechend dieser Prämisse und versagt sich damit aber auch die vielen Erlebnisse, die man nur hat, wenn man sich auch einmal Zeit lässt. Es wird ihm ein Teil seiner Potenziale genommen, die zu seiner Persönlichkeit gehören.
Zunächst – in der Kindheit – ist diese verinnerlichte Stimme unsere Verbündete. Wenn die Mutter vermittelt „Reiß dich zusammen, das tut doch nicht weh“ und wir uns dementsprechend verhalten, werden wir mit der Mutter weniger Konflikte haben. Das heißt, dass diese Verinnerlichung uns als Kind das Überleben sichert, weil wir schließlich in einer Abhängigkeit von den Eltern stehen. Beim nächsten Sturz mit dem Rad werden wir also die Zähne zusammenbeißen, weil wir nicht wehleidig sein dürfen, oder ganz im Gegenteil noch mehr den Schmerz zeigen und übertreiben, um dann endlich doch die ersehnte Aufmerksamkeit von Papa und Mama zu erhalten.
Fatal ist jedoch, dass diese Anweisungen und Ermahnungen sich zu einem inneren Richter entwickeln, den wir mit in unser Erwachsenenleben nehmen. Um beim Beispiel mit der Wehleidigkeit zu bleiben: „Das halte ich schon aus“, sagen wir, wenn wir aufgefordert werden, beim Umzug von Freunden zu helfen, obwohl wir seit Jahren chronische Kreuzschmerzen haben. Heimlich leiden wir dann vor uns hin, und wenn die Freunde merken, wie sehr uns die Schmerzen plagen, wundern sie sich über unser „komisches“ Verhalten: „Warum hast du denn nichts gesagt, es wäre doch in Ordnung gewesen, wenn du nicht geholfen hättest!“
Dieser innere Richter ist ziemlich ungnädig und kann sehr mächtig werden. Er manifestiert sich beispielsweise in den sogenannten fünf Antreibern, die der Psychologe Eric Berne in der Transaktionsanalyse definiert: Sei perfekt! Mach schnell! Sei stark! Mach es allen recht! Streng dich an! Innere Richter bilden sich auch dann in uns, wenn wir das Verhalten der Eltern kopieren oder auf die eine oder andere subtile Art manipuliert werden. Etwa, wenn eine Tochter vom Vater sexuell missbraucht wurde. Als wäre das nicht schlimm genug, wird sie auch noch angewiesen, nur ja nichts zu sagen. So vermittelt er ihr gleichzeitig, dass sie es ist, die etwas Böses getan hat. Die Einstellung „Mit mir stimmt etwas nicht“ kann sich aus dieser tragischen Konstellation entwickeln, eine Überzeugung, die ein überaus strenger Richter in allen Fragen der Körperlichkeit sein kann.
Ähnlich ist das mit Glaubenssätzen, die wir von unseren Eltern oder anderen Bezugspersonen übernehmen. Der Unterschied zum inneren Richter ist, dass Glaubenssätze als eine Art Lebensweisheit in Sprüchen daherkommen: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Frauen gehören an den Herd. Geld verdirbt den Charakter. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Männer denken immer nur an das eine. Frauen können nicht logisch denken. Unternehmer sind Ausbeuter. Oder eben jener, der oben in unserer Szene ausgesprochen wurde: Mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens. Wir sind sicher, Sie können diese Liste mit Glaubenssätzen aus Ihrer Familie ergänzen. Wie eine Tradition übernehmen wir diese Sätze und hinterfragen sie meistens nicht.
Sowohl Glaubenssätze als auch diese strengen Sätze des inneren Richters beeinflussen unser Denken und Handeln, indem sie uns einschränken. Frauen sind nicht gut in Mathematik? Wenn ich als Frau diesen Satz verinnerlicht habe und dann während meines Soziologie-Studiums in einer Statistik-Vorlesung nur das Wort „Mittelwert“ höre, werde ich reflexartig abschalten und mich gar nicht erst bemühen, die Zusammenhänge zu verstehen. Oder ein anderes Beispiel: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Es liegt nahe, dass ich viel eher burnoutgefährdet bin, wenn ich an diesem Glaubenssatz festhalte. Der innere Richter kann da ganz schön grausam und ungnädig sein, so sehr, dass wir uns damit gar nicht gerne konfrontieren wollen.
Doch darin liegt auch ein großes Heilungspotenzial, und deswegen haben wir uns eine Partnerin, einen Partner ausgesucht, der dann unbewusst an genau den richtigen Stellen zupft. Um mit diesen inneren Stimmen zurechtzukommen, brauchen wir Menschen als eine Art Blitzableiter, auf die wir diese Stimmen projizieren. Da ist der Partner, die Partnerin die beste Adresse. Mitunter wird daraus ein richtiger Machtkampf, der damit beginnt, dass der Partner einem genau die Sätze des eigenen inneren Richters um die Ohren haut. Denn möglicherweise hat er einen sehr ähnlichen inneren Richter.4 Wenn der Partner zu uns sagt „Jetzt reiß dich zusammen, ist doch nicht so schlimm“, dann hat er vielleicht einen inneren Richter, der ihm zuraunt „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ – und schon ist die höllische Mixtur beisammen und wir werden protestieren. Wie komme ich dazu, mir so etwas sagen zu lassen! So redest du nicht mit mir! Denn natürlich haben wir Gefühle und es geht nicht immer nur ums Zusammenreißen. Es geht genauso darum, dass der andere uns zuhört und uns tröstet. Gefühle zu zeigen ist die Würze des Lebens! So weist der eine auf das hin, was sie sich beide als Kinder nicht getraut haben, nämlich sich aufzulehnen gegen dieses strenge Regime. Letztlich aber ringen die zwei kleinen Kinder um die Befreiung von diesen inneren Richtern.