Titel und Umschlag:
Esther Schmidt · Illustration & Grafikdesign
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© 2020 Michael Weber
Herstellung und Verlag:
BoD — Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7526-3274-3
Unser Dorf, das wisst ihr selbst, liegt ein bisschen abseits; die Landstraße führt nirgendwo wichtiges hin, und wenn sich je eine bedeutende Persönlichkeit hierher zu uns verirrt haben sollte, so hat nie jemand davon erfahren. Als ich ein Kind war, kamen wir nur wenig raus, im Frühjahr vielleicht einmal und einmal im Herbst, um auf den Markt zu gehen. Meine Vorfahren alle wurden hier im Dorf geboren und getauft, haben hier konfirmiert und später geheiratet und sind am Ende hier gestorben und begraben. Das Dorf war ihre ganze Welt, und ich sage euch, auch wenn ihr’s vielleicht nicht glaubt: Obwohl es klein war und immer noch ist, so ist es doch groß genug, um eine ganze Welt zu sein.
Früher war das Dorf sogar noch kleiner als heute, und unsere Schule war geradezu winzig. In einem Klassenzimmer von der Größe einer mittleren Wohnstube wurden alle Kinder der Gemeinde von sechs bis dreizehn Jahren miteinander unterrichtet.
Unser Herr Lehrer hieß Ottmar Bach, und er war bereits als junger Mann zu uns gekommen, gleich nach dem Weltkrieg, der später zur besseren Unterscheidung „der Erste“ genannt wurde. Ottmar Bach hatte in diesem Krieg an der Westfront gekämpft, und es war allgemein bekannt, dass er dort schreckliche Dinge erlebt und vor allem überlebt hatte. Daher genoss er den allerhöchsten Respekt in der Gemeinde: Jungen und Männer rissen sich, wenn sie ihm auf der Straße begegneten, ihre Mützen von den Köpfen, Mädchen und Frauen knicksten, und es gab im ganzen Dorf nur einen, der ihm an Ansehen und erwiesener Ehrfurcht gleichkam, und das war unser Herr Pfarrer.
Der Herr Lehrer war, das muss man sagen, ein ausgesprochen stattlicher Mann, hochgewachsen, kräftig gebaut, mit Händen so groß wie Schaufeln. So manchem Lausejungen, der sonst große Worte führte und nichts als dumme Streiche im Sinn hatte, fiel das Herz in die Hose, wenn eine dieser Hände sich auf seinen Kopf legte oder auch nur auf seine Schulter. Denn der Herr Lehrer, Ottmar Bach, war ein strenger Zuchtmeister, wenn es je einen gegeben hat. Hatte er einen jener Lausejungen — und gelegentlich auch ein Lausemädchen — einer Missetat überführt, schickte er ihn oder sie zuerst einmal auf die Landstraße hinaus, um von den Haselnusssträuchern dort eine geeignete Rute zu schneiden. Das war, wie man sich denken kann, eine schwere Aufgabe, und so manches Kind sah man im Lauf der Jahre schluchzend vor den Haselnusssträuchern stehen. Wenn sie endlich ihre Rute geschnitten hatten, schlichen sie, gleichsam wie Christus auf dem Weg nach Golgatha, mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern ins Schulhaus zurück, wo Ottmar Bach mit der Pfeife im Mund hinter seinem Pult thronend auf sie wartete. Bei ihrem Eintreffen legte er die Pfeife beiseite, prüfte die Rute sorgfältig, zog sein Jackett aus, krempelte die Ärmel hoch und exekutierte die Strafe mit der Leidenschaft eines Scharfrichters aus Berufung.
Viele Jahre lang bewegte er sich dabei durchaus im Rahmen des üblichen, so dass niemand daran Anstoß nehmen konnte, aber als er älter wurde, nahm, na ja, seine Leidenschaft zu, so dass manche Kinder, Jungen vor allem, ein paar Tage lang nicht für die Feldarbeit zu gebrauchen waren. Aus diesem Grund sprach Karl Friedrich Uhl, der Vater des Karl Heinz Uhl, welcher allgemein als der größte Tunichtgut galt, den das Dorf je hervorgebracht hatte, bei unserem Herrn Bürgermeister, Hermann Tremel, vor.
Hermann Tremel saß gerade in seiner Küche in der Wanne, denn es war Samstag, und er wäre nicht geneigt gewesen, irgendjemanden zu empfangen. Dass seine Frau den Uhlen Schmied, wie Karl Friedrich Uhl aufgrund seines Berufes genannt wurde, dennoch zu ihm vorließ, lag daran, dass dieser ein etwas unheimlicher Geselle war, schwarz an den Händen, an den Unterarmen und sogar im Gesicht, dazu ebenso wortkarg wie schmallippig.
Als der Uhlen Schmied also die Küche betrat, erschrak der Herr Bürgermeister. „Was soll denn das?“ rief er entrüstet aus. „Verschwinde, aber schnell!“
„Der Herr Lehrer hat meinen Sohn heute morgen schon wieder verdroschen“, entgegnete der Uhlen Schmied unbeeindruckt, indem er sich einen Stuhl zurechtzog.
„Na und?“ gab der Herr Bürgermeister zurück. „Jeder weiß, dass dein Sohn ein Hundskrüppel ist.“
„Schon“, gab der Uhlen Schmied zu. „Allerdings hat meine Frau ihm jetzt die Hände verbinden müssen, weil sie blutig sind, und darum kann er heute und die nächsten Tage nicht in der Werkstatt helfen oder auf dem Acker, weil doch kein Dreck in die Wunden kommen darf.“ Er machte eine kurze Pause.
Der Herr Bürgermeister verstand. „Warum gehst du nicht hin und sprichst mit dem Herrn Lehrer?“ schlug er vor.
„Na ja“, sagte der Uhlen Schmied und scharrte verlegen mit den Füßen.
Dem Herrn Bürgermeister fiel ein, dass der Uhlen Schmied in seiner Jugend selbst schon das eine oder andere Mal in den Genuss der Haselnussrute gekommen war; offenbar scheute er ein erneutes Zusammentreffen mit dem Herrn Lehrer. „Also gut“, sagte er einlenkend. „Ich werde es für die nächste Gemeinderatssitzung auf die Tagesordnung setzen. Und jetzt raus hier!“
Zur Gemeinderatssitzung in der Wohnstube des Bürgermeisters versammelten sich im darauffolgenden Monat: Leonhard Weiß und Hans Knödel, beides Bauern, der Tischler Eberhard Krauß, der Schafzüchter Friedrich Rosenbauer und natürlich der Herr Bürgermeister selbst, Hermann Tremel, in seiner ganzen Pracht, denn er war ein starker Mann, wie man das nennt.
„Wir müssen“, sagte der Herr Bürgermeister, „etwas unternehmen wegen des Herrn Lehrers, weil er in letzter Zeit die Kinder so sehr verhaut, dass sie in der Werkstatt oder im Stall oder auf dem Feld oder im Wald nicht helfen können. Es hat deswegen schon eine Reihe von Beschwerden gegeben, zuletzt von dem Uhlen Schmied.“ Die Gemeinderäte schienen lachen zu wollen, denn sie hatten schon von dem Besuch des Uhlen Schmieds beim Bürgermeister gehört, aber als der Bürgermeister ihnen einen strengen Blick zuwarf, husteten sie nur ein bisschen in ihre Hände. „Die Frage ist nur“, fuhr der Bürgermeister fort, „was man da tun kann. Es handelt sich schließlich nicht um irgendjemanden, sondern um den Herrn Lehrer Bach, der, wie jeder weiß, ein Weltkriegsveteran ist und auch sonst eine, na ja, Respektsperson.“
Die Gemeinderäte und der Bürgermeister warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu. Bis auf Leonhard Weiß, dem Ältesten in der Runde, waren sie alle schon bei dem Herrn Lehrer in der Schule gewesen und von ihm verhauen worden; Leonhard Weiß aber hatte vor ein paar Jahren noch einen Nachzügler bekommen, einen etwas zarten Jungen, der gerade erst in der zweiten Klasse war. Kurz gesagt: Keiner der Gemeinderäte konnte sich auf Anhieb vorstellen, die Methoden des Herrn Lehrer in Frage zu stellen, jedenfalls nicht, wenn dieser zugegen war.
„Ich habe“, sagte der Herr Bürgermeister, „mir schon etwas überlegt. Wir sind uns doch einig“, sprach er, „dass ein Kind, wenn es über die Stränge schlägt, verhauen werden muss. Insofern kann man dem Herrn Lehrer keine Vorwürfe machen, nicht wahr?“ Die Gemeinderäte wiegten die Köpfe. „Wenn“, fuhr der Bürgermeister fort, „er sie mit der Haselnussrute schlägt, gibt es Striemen, mitunter sogar blutende Wunden. Wenn wir ihm aber ein Brett geben, mit dem er sie verhauen soll, dann gibt es lediglich blaue Flecken. Ich habe es dem Eb“ - er meinte den anwesenden Gemeinderat Eberhard Krauß, seines Zeichens Schreiner - „bereits erklärt und ihn gebeten, sich ein paar Gedanken zu machen.“
Eberhard Krauß, genannt der Schreiners Eb, zog ein fleckiges Stück Papier hervor, entfaltete es bedächtig und legte es auf den Tisch, wo er es sorgfältig glatt strich. Die Gemeinderäte rückten zusammen und beugten sich darüber. Mit Bleistift war darauf ein langes, schmales Brett mit großen Löchern darin gezeichnet; an einem Ende hatte das Brett einen Griff.
„Wozu sind die Löcher?“ wollte der Rosenbauer wissen.
„Die Löcher“, sagte der Schreiners Eb, „sollen den Luftwiderstand verringern, damit der Herr Lehrer, wenn er die Lumpen verhaut, sich nicht ganz so arg anstrengen muss.“
Alles nickte beifällig; es war, wie man zugeben musste, eine beeindruckende Erfindung. Man klopfte dem Schreiners Eb auf die Schulter, gratulierte ihm zu seinem Einfallsreichtum und beschloss einstimmig, ein solches Werkzeug bei ihm in Auftrag zu geben.
Zur Übergabe der neuartigen Gerätschaft an den Herrn Lehrer Ottmar Bach versammelten sich in der Woche darauf die Gemeinderäte vollzählig vor dem Schulhaus. Alle waren sie frisch rasiert und hatten ihre Sonntagskleider angezogen. Der Schreiners Eb trug das fertige Brett unter dem Arm; er hatte es sorgfältig in braunes Papier eingeschlagen und mit einem Bindfaden verschnürt. Endlich schlug es zwölf Uhr, und die Kinder kamen herausgerannt. Nachdem sie noch einmal gegenseitig den Sitz ihrer Krawatten geprüft und sich ein paar aufmunternde Worte zugesprochen hatten, gingen die Gemeinderäte hinein. Sie fanden den Herrn Lehrer an seinem Pult sitzend, wo er soeben dabei war, sich seine Pfeife anzuzünden.
„Wir haben“, sagte der Herr Bürgermeister, Hermann Tremel, „für Sie, Herr Lehrer, etwas, das wir Ihnen geben möchten.“ Er nickte dem Schreiners Eb zu, der dem Herrn Lehrer das Bündel mit leicht zitternden Händen übergab.
Der Herr Lehrer sah es verwundert an, wickelte es aus und betrachtete den Gegenstand darin mit noch größerer Verwunderung. „Was um alles in der Welt ist das?“ fragte er, an den Herrn Bürgermeister gewandt.
Dem Herrn Bürgermeister trat sichtlich der Schweiß auf die Stirn. „Das, werter Herr Lehrer, ist ein Gerät, vom Schreiners Eb eigens für Sie ausgedacht, mit dem wir Sie in Zukunft die Hundskrüppel zu verhauen bitten.“ Der Herr Lehrer stand abrupt auf, und Hermann Tremel machte einen Satz nach hinten. „Weil“, fuhr er mit brüchiger Stimme fort, „wenn Sie sie mit der Haselnussrute verhauen, bis sie bluten, können sie zu Hause nicht helfen.“
„Ich verstehe.“ Der Herr Lehrer nickte. Er legte die Pfeife beiseite, nahm sein neues Werkzeug mit beiden Händen an seinem Griff und kam hinter seinem Pult hervor. Die Gemeinderäte traten jeder ein paar Schritte zurück und zogen die Köpfe ein. Der Herr Lehrer wog das Brett in der Hand, stellte sich breitbeinig hin und schwang es dann ein paarmal kräftig durch die Luft, dass es nur so pfiff. „Gar nicht mal schlecht“, sagte er anerkennend, „gar nicht mal schlecht, Hermann“, sagte er an den Herrn Bürgermeister gerichtet, und „gut gemacht, Eberhard, du hast dein Handwerk ordentlich gelernt“, zum Schreiners Eb. Beide erröteten. Der Herr Lehrer aber sah sie gar nicht richtig an. Er stand da wie der schreckliche Engel mit dem flammenden Schwert, betrachtete sein neues Werkzeug und schwang es durch die Luft, einmal schnell, dann wieder langsam; und mit jedem Schwung hellte sich sein Gesicht ein wenig mehr auf, bis zuletzt ein dröhnendes Lachen aus ihm herausbrach, ein Lachen, wie man es wohl nie zuvor in unserem Dorf gehört hatte und seitdem nie wieder hörte, ein Lachen, so ungnädig und so abgründig, dass sich jeder, der es hörte, entsetzte. Die Männer, der Herr Bürgermeister und die Gemeinderäte, standen da, warfen einander erschrockene Blicke zu und starrten das Ungeheuer, das sie erschaffen hatten, mit weit aufgerissenen Augen an.
Der Vater meiner Mutter war, na ja, katholisch. Da lacht ihr! Heute kräht kein Hahn mehr danach, aber früher, gegen Ende des 19. Jahrhunderts und sogar in meiner Kindheit noch, war das anders. Meines Großvaters Name war Hans, eigentlich Johann, und er lebte über den Fluss rüber, und obwohl damals schon eine Brücke da war und eine Straße von hier nach dort, gab es so gut wie keine Verbindung zwischen den beiden Ortschaften, da die unsere, wie ihr wisst oder euch denken könnt, ganz evangelisch war und die andere eben ganz katholisch. Mein Großvater kam also eines Tages hier durch, auf dem Weg in die Stadt, und es war ihm recht zuwider, aber als er schon hindurch war, fiel ihm eine junge Frau ins Auge, die mit der Sense das Gras am Wegrand mähte. Obwohl er annehmen musste, dass sie evangelisch war, verfiel er ihr auf den ersten Blick, stellte ihr nach, entlockte ihr ihren Namen, Margarete, machte ihr umständlich den Hof und ließ nicht eher locker, als bis sie ihn genauso herzlich liebte wie er sie.
Das alles geschah natürlich heimlich und im Verborgenen, denn schließlich war er katholisch und sie evangelisch, und eine Ehe zwischen ihnen nach allen Regeln des Anstands und der Sitte ausgeschlossen. Sie konnten aber nicht voneinander lassen, die beiden, und trafen sich in den Wäldern oder in Büschen und Scheunen, je nachdem, wie es sich ergab und das Wetter oder die Jahreszeit es zuließen.
Eines Tages jedoch hatten sie es satt, ihre Liebe vor der Welt zu verheimlichen. Sie sprachen vom Heiraten, wussten aber nicht, wie sie es anfangen sollten. Der Hans, mein späterer Großvater, schlug vor, die Margarete solle katholisch werden; er habe gehört, dass das möglich wäre, peinlich zwar und ein lebenslanger Makel, aber immerhin. Die Margarete jedoch — meine Großmutter, wie ihr vielleicht schon erraten habt — weigerte sich rundheraus, darüber auch nur nachzudenken, erwiderte aufgebracht, er könne ebensogut evangelisch werden, und sie, für ihr Teil, denke nicht daran, ihren Glauben aufzugeben. Sie stritten eine ganze Weile herum, am Ende beschimpfte die Margarete den Papst