Chefarzt Dr. Norden
– Box 6 –

E-Book 1136-1140

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74097-230-1

Diagnose unmöglich?

Die Klinik-Ärzte stehen vor einem Rätsel

Sophie Petzold stand in der Küche und löffelte Milchpulver in eine Rührschüssel. Sie goss kochendes Wasser dazu. Rührte mit dem Schneebesen um, dass die Milch zu allen Seiten spritzte. Ein Piepton ließ sie innehalten. Sie griff nach dem Mobiltelefon auf der Arbeitsplatte. Wie Farbkleckse prangten die Milchspritzer auf dem Display.

»Mist.« Sie wischte es an der Hose ab. Erst dann warf sie einen Blick darauf. Eine Nachricht von Jakob. Schon die vierte an diesem Morgen. Dabei war es gerade einmal sieben Uhr. »Das kann doch nicht wahr sein! So funktioniert das nicht!«, zischte sie. Ohne die Nachricht zu lesen, steckte sie das Handy in die Hosentasche und angelte die Babyflaschen vom Regal. Schritte tappten durch den Flur.

»Guten Morgen!«

»Morgen.« Sie würdigte ihren Freund Matthias kaum eines Blickes. Nach dem Streit vom vergangenen Abend gab es keinen Grund, freundlich zu sein.

Gurgelnd lief die Milch in die Flaschen.

»Kann ich helfen?«

Sophie verdrehte die Augen. Sie griff nach den Verschlüssen und wollte sie zuschrauben. Wieder einmal fehlten die Verschlussplättchen der Deckel.

»Was funktioniert so nicht?«, fragte Matthias weiter.

Ein Glück, dass er Sophies Rücken ansah. Sonst hätte er bemerkt, dass sie die Gesichtsfarbe wechselte. Sophie starrte auf den Deckel in ihrer Hand. In das Loch in der Mitte.

»Die Deckel für die Fläschchen. Warum sind die nie mit den ­Verschlussplättchen zusammen?«, schimpfte sie.

Matthias hob die Hände.

»Tut mir leid. Damit habe ich ausnahmsweise einmal nichts zu tun.« Er öffnete die Schublade unter dem Besteckkasten. »Da liegen sie doch.«

Sophie fuhr herum. Starrte abwechselnd in die Schublade und auf ihren Freund.

»Danke.« Sie nahm die Plättchen heraus, steckte sie in die Deckel und schraubte die Flaschen zu.

Matthias Weigand stand noch immer da und sah seine Freundin an.

»Was ist denn eigentlich los mit dir? Ärgerst du dich immer noch über unseren Streit?«

»Was erwartest du von mir? Dass plötzlich wieder eitel Sonnenschein herrschst? Bis du den nächsten Streit vom Zaun brichst wegen deiner dämlichen Eifersucht. Nein, danke, darauf habe ich keine Lust mehr.« Sie packte vier Flaschen auf einmal. Rauschte an ihm vorbei in Richtung Kühlschrank.

Matthias sah ihr nach. Was sollte er dazu sagen? Irgendwie hatte Sophie ja recht. Auf der anderen Seite war er nicht allein schuld an der Situation. Hätte sich der Vater von Sophies Tochter Lea an die Vereinbarung gehalten, wäre alles in schönster Ordnung gewesen. Aber diese Diskussion hatten sie inzwischen schon so oft geführt, dass jedes weitere Wort sinnlos war.

»Und wie soll es jetzt mit uns weitergehen?«, stellte er die Frage, vor der er sich am allermeisten fürchtete.

Dieser Blick von Sophie, während sie über eine Antwort nachdachte! Hätte er doch nur darin ­lesen können. Doch ihre Miene war verschlossen. Undurchdringlich wie eine mittelalterliche Stadtmauer.

»Matthias, ich … «, begann sie zögernd, als Lea im Nebenzimmer anfing zu krähen.

Gleichzeitig klingelte Dr. Weigands Telefon. Ein Notfall in der Klinik.

»Ich muss los!«, erklärte er und steckte das Handy wieder in die Tasche. Selten hatte er sich mehr über einen Anruf gefreut als über diesen. »Wir reden später darüber.« Er wollte Sophie küssen.

Sie drehte den Kopf weg. Seine Lippen trafen nur ihre Wange und ein Stück ihres Ohrs.

*

Noch bevor Felicitas Norden die Küche betrat, wusste sie, was sie erwartete. Kaffeeduft und Zeitungsrascheln verrieten ihren Mann.

»Es gibt doch nichts Schöneres, als sich morgens an den gedeckten Frühstückstisch zu setzen«, seufzte sie glücklich und kletterte auf den Hocker neben Daniel.

Er faltete die Zeitung zusammen, dass die eben gelesene Seite oben lag.

»Und ich dachte immer, das Schönste für dich wäre, mich zu sehen.«

»So lange, wie wir schon zusammen sind?« Fees Augen blitzten vor Vergnügen. »Kann es sein, dass du ziemlich hohe Ansprüche hast?«

»Die höchsten. Sonst wäre ich nicht mit dir zusammen«, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

Fee konnte nicht anders. Sie beugte sich zu ihrem Mann und küsste ihn. Ihre Lippen ruhten an den seinen. Ihre Augen forschten in seinem Gesicht. Dieses Zucken um seine Mundwinkel, was hatte es zu bedeuten?

»Du führst doch was im Schilde!«

»Wie kommst du denn auf so etwas?«

»Diesen Gesichtsausdruck kenne ich. Und dieses wunderschöne Kompliment …« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, da steckt etwas dahinter.«

Daniel schnitt eine Grimasse.

»Schade, dass du mich so gut kennst.« Er griff nach der Zeitung und reichte Fee den Artikel, schenkte ihr Kaffee ein, während sie die Schlagzeile überflog.

»Tennis-As Daniela Haile plant Comeback bei Wohltätigkeitsturnier!« Felicitas sah hoch. »Dann hat sie ihre Alkohol-Sucht wirklich überwunden?« Als vielseitig interessierter Mensch erinnerte sie sich an den kometenhaften Aufstieg der talentierten Tennisspielerin. Fast noch besser waren ihr aber die negativen Schlagzeilen in Erinnerung geblieben. Jedes verlorene Spiel von Daniela Haile war von den Medien zerpflückt, ihre Fehler haarklein anaylsiert, das vorzeitige Aus prophezeit worden. Wie viele andere Profisportler auch hatte Dani dem Druck nicht standgehalten. Drogenmissbrauch war keine Seltenheit unter extrem erfolgreichen Menschen. Egal, ob es sich um Leistungssportler, Musikstars oder Schauspieler handelte. Der immerwährende Druck, die Jagd nach dem nächsten Sieg, dem nächsten Hit, dem nächsten Kassenschlager forderte seinen Tribut. Dani hatte nach einem verlorenen Spiel getrunken, um überhaupt schlafen zu können, wie sie in einem Interview verraten hatte.

»Laut diesem Artikel hat ihr früherer Freund und jetziger Ehemann Abel dazu beigetragen, dass sie den Boden unter den Füßen nicht komplett verloren hat. Nach einem Entzug scheint sie wieder fit zu sein«, berichtete Daniel. »Wir können uns übrigens persönlich davon überzeugen.«

Felicitas sah ihrem Mann nach, wie er die Küche durchquerte und verschwand. Einen Schluck Kaffee und einen Bissen Brot später kehrte er zurück und legte zwei Tickets neben sie auf den Tresen.

»Was ist das?« Felicitas putzte sich die Finger an der Serviette ab.

»Tickets für das Wohltätigkeitsturnier. Die hatte ich völlig vergessen. Bis mir dieser Artikel in die Hände gefallen ist.«

»Von wem hast du die Eintrittskarten?«

»Dani hat sich bereit erklärt, eine Anti-Alkohol-Kampagne zu unterstützen. Für diesen Zweck wird ein Werbe-Spot gedreht. Die Regisseurin Rita Herbst ist eine meiner Patientinnen. Sie hat mir die Karten geschenkt als Dankeschön für eine gelungene Behandlung.«

»Soso, ein Geschenk von Frau Herbst. Wenn das so ist, gehen wir selbstverständlich hin«, erwiderte Felicitas und leerte ihren Kaffee. Höchste Zeit, in die Klinik aufzubrechen. »Schon allein deshalb, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.«

Daniel lachte.

»Immer noch eifersüchtig? So lange, wie wir schon zusammen sind?«

»Jetzt erst recht.« Fee küsste ihn, dass er gute Lust bekam, wieder ins Schlafzimmer zurückzukehren. Leider war das an diesem Morgen keine Option. »Schließlich weiß ich, was ich an dir habe.«

*

»Hey, Leute! Erkennt ihr mich noch? Mein Name ist Daniela Haile. Vor ein paar Monaten war ich noch eure Dani. Damals habt ihr mich angefeuert, mit mir jeden Sieg gefeiert. Bis ihr erfahren habt, dass ich diese Siege nicht aus eigener Kraft errungen habe.« Dani lächelte in die Kamera. Wie ging es doch gleich weiter? Was hatte sie sich auf ihrem Zettel aufgeschrieben?

»Schnitt!« Die Stimme der Regisseurin hallte durch die Tennishalle. »Schluss! So geht das nicht.«

Danis Mann Abel Haile fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht.

»Ein Fernsehstar wird sie jedenfalls nicht«, bemerkte der Trainer Peter Marx, der neben ihm stand.

»Weil sie kaum Anweisungen bekommen hat«, bemerkte Abel. »Noch nicht einmal einen Text. Dabei ist das alles andere als leicht, sich nach so einem Absturz vor die Kamera zu stellen und offen darüber zu sprechen.«

»Warum helfen Sie ihr nicht?« Schon zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit fuhr sich Marx mit der Hand durch das Haar.

Abel lächelte.

»Wir sind erst seit ein paar Monaten verheiratet. Ich will nicht den Eindruck erwecken, alles besser zu wissen.«

»Dank Ihnen hat Dani ihre Probleme in den Griff bekommen. Nutzen Sie Ihren Einfluss! Es ist nur zu Danis Besten.«

Abel bemerkte, dass der Trainer den Mund verzog.

»Stimmt was nicht?«

»Alles in Ordnung. Und jetzt gehen Sie schon!«, verlangte der Trainer und sah dem Ehemann nach, wie er sich an der Kamera vorbei schlängelte und auf das Netz zuging. Die Gelegenheit war günstig. Peter schielte nach links und rechts. Blitzschnell verschwand seine Hand in der Sakkotasche. Er zog sie wieder heraus und ließ eine Pille im Mund verschwinden.

Abel trat inzwischen zu seiner Frau. Er nickte Rita Herbst zu, ehe er sich Dani zuwandte.

»Gibt es Probleme mit deinem Text?«

»Ich bin Sportlerin, keine Schauspielerin.«

»Das erwartet auch niemand. Sei einfach du selbst.« Abel lächelte. »So kennen und lieben dich die Menschen. Sie wissen, dass du getrunken hast. Aber sie wissen auch, dass du aufgehört hast. Sag ihnen, warum du das getan hast.«

»Ich wollte am Leben bleiben. Und meinen Fans und mir nicht länger etwas vormachen.«

Abel strahlte.

»Und jetzt bist du zurück, um beim Wohltätigkeitsturnier den Beweis anzutreten, dass es sich gelohnt hat.« Er kam sich vor wie einer der Verkäufer, die in einer Fußgängerzone den besten Gemüsehobel der Welt anpriesen. »Du hast es geschafft, diesem Sumpf zu entkommen. Darauf kannst du stolz sein. Das, und nur das allein musst du den Menschen sagen.« Er dachte kurz nach, musterte den Tennisschläger in Danis Hand. »Vielleicht sollte der Anti-Alkohol-Spot mit einem Aufschlag beginnen. Um den Leuten deine Kraft und Überzeugung zu zeigen.«

Dani lächelte. Sie sah hinüber zu Rita. Auch die machte einen zufriedenen Eindruck.

»Gute Idee. Ich sage gleich den anderen Bescheid.« Sie machte sich auf den Rückweg, um ihr Team über die Planänderung zu berichten.

Abel und Dani standen noch kurz zusammen. Sie sahen hinüber zu Peter.

»Alles in Ordnung mit Peter? Sein Gezappel macht mich ganz schön nervös«, sagte Dani mit einem Blick auf ihren Trainer.

»Dann schau‘ doch lieber mich an.«

»Das macht mich noch nervöser.« Dani lachte.

»Wenn mir das in zwanzig Jahren noch gelingt, habe ich alles richtig gemacht.« Abel zwinkerte seiner Frau zu. »Und jetzt zeig allen, mit wem sie es zu tun haben!« Ein Kuss, und er machte sich auf den Rückweg.

Dani griff nach dem Schläger. Der Balljunge warf ihr einen Ball zu. Sie fing ihn auf. Wie gut Abel sie doch kannte! Mit Ball und Schläger fühlte sie sich wie ein anderer Mensch. Sie beugte sich vor. Konzentrierte sich auf die gelbe Filzkugel in ihrer Hand. Ließ sie auftippen. Ein Mal, zwei Mal. Warf sie in die Luft. Zog den rechten Arm nach hinten. Sprang hoch. Schlug mit aller Kraft zu. Landete auf dem Boden. Sie hörte das Knacken. Der Schmerz war nur eine Zehntelsekunde langsamer. Dani schrie auf und ging in die Knie. Stürzte kopfüber auf den Hartplatz.

Abel rannte los.

»Was ist passiert, Schatz?« Er schlitterte über den Platz und landete neben seiner Frau.

»Mein Bein«, keuchte Dani und umklammerte das rechte Knie.

»Ganz ruhig. Alles wird gut. Rita holt Hilfe«, versprach Abel und wich nicht von der Seite seiner Frau, bis das Martinshorn ertönte.

*

»Kannst du die Probe bitte schnell ins Labor bringen. Es ist sehr dringend!« Schwester Elenas Gummisohlen quietschten auf dem Vinylboden. Im Gehen stellte sie eine Palette mit Röhrchen auf den Tresen und eilte schon weiter, als sie stutzte. Sie kehrte zurück und nahm den Pfleger Jakob ins Visier. Er saß am Computer. Anders als angenommen arbeitete er nicht etwa konzentriert, sondern starrte vor sich hin.

Elenas Faust landete auf der Theke, dass die Röhrchen klapperten.

»Aufwachen!«

Jakob zuckte zusammen.

»Geht das auch ein bisschen leiser?«, beschwerte er sich, als sein Blick über Elenas Schulter fiel.

Sofort glättete sich sein Gesicht. Er sprang vom Stuhl auf, ging schnurstracks an seiner Chefin vorbei und auf Sophie zu, die um die Ecke gebogen war.

»Sophie, endlich! Ich habe dir schon acht Nachrichten geschrieben.« Unter Elenas fassungslosen Blicken nahm er sie an den Schultern und küsste sie links und rechts auf die Wange, bedacht darauf, das Baby nicht zu zerquetschen, das sie sich in einer Trage um den Bauch geschnallt hatte. »Warum hast du nicht geantwortet?«

»Weil ich auch noch etwas anderes zu tun habe.« Eigentlich hatte sie ärgerlich klingen wollen. Doch Jakobs Begrüßung, die offensichtliche Freude, sie zu sehen, nahm ihr allen Wind aus den Segeln. Es war noch nicht lange her, da hatte sich Matthias genauso gefreut. Doch seit Leas Geburt war vieles anders geworden zwischen ihnen.

Elena stand noch immer da und beobachtete Jakob. Als Freundin von Matthias und Sophie fühlte sie sich den beiden verpflichtet. Und ärgerte sich maßlos über Jakobs Verhalten. Wieso konnte er nicht akzeptieren, dass sich Sophie gegen ihn entschieden hatte?

»Ich habe gerade Pause. Hast du Lust auf einen Kaffee?«, hörte Elena den Pfleger fragen.

»Ich bin mit der Kollegin Lekutat verabredet«, erwiderte Sophie. »Als Chirurgin kann sie mir ein paar Sachen erklären.«

»Aber du hast doch Erziehungsurlaub.«

Sophie lachte spöttisch.

»Das heißt doch nicht, dass ich meine Facharztausbildung abbreche. Die liegt nur solange auf Eis, bis ich einen Krippenplatz für Lea habe.«

Jakob zog eine Augenbraue hoch.

»Aber unsere Abmachung steht noch, oder? Ich passe heute Abend auf sie auf.«

»Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun«, erwiderte Sophie. Das Baby wurde unruhig. Sie streichelte die weiche Wange. »Na, bekommst du schon wieder Hunger, du kleiner Vielfraß?«

»Wir können das Füttern ja mit dem Kaffee verbinden«, insistierte Jakob und wollte Sophie am Ellbogen fassen, als das Telefon hinter dem Tresen klingelte.

»Soweit ich weiß, hast du erst in einer Stunde Pause«, machte Elena ihn auf die unabänderlichen Tatsachen aufmerksam. Sie beugte sich über die Theke und hob ab. »Station 3, Schwester Elena.«

Das Gespräch dauerte nicht lange. Sie legte den Hörer zurück auf die Gabel.

»Planänderung. Das war Dr. Norden. Du wirst in der Notaufnahme gebraucht.«

Jakob rollte mit den Augen.

»Warum ich?«

»Ich begleite dich.« Elena zwinkerte Sophie zu, als sie an den beiden vorbei ging und den Weg Richtung Ambulanz einschlug.

Jakob blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

»Musste das sein? Ich bin doch nicht der einzige Pfleger an dieser Klinik«, maulte er unterwegs.

Elena blieb so abrupt stehen, dass er um ein Haar mit ihr zusammengestoßen wäre.

»Kann es sein, dass du die kleine Lea dazu benutzt, um Sophie wieder näherzukommen?«

»Benutzen? Was ist das denn für eine hässliche Umschreibung.«

Elena holte tief Luft. Als Mutter zweier fast erwachsener Kinder wusste sie, dass man mit Sturheit gar nichts erreichte. Sie seufzte.

»Jakob, du hast mir ja selbst gesagt, dass du in Sophie verliebt bist …«

»Ich bin nicht in sie verliebt«, unterbrach er seine Chefin, »ich liebe sie.«

Die Art, wie er diese Worte sagte, rührte an Sophies Herz. Als Sophies Freundin blieb ihr trotzdem keine Wahl.

»Ihr habt euch lange vor der Entbindung in beiderseitigem Einvernehmen getrennt. Sophie lebt jetzt in einer glücklichen Beziehung. Dein Kind kann in einer intakten Familie groß werden. Möchtest du das alles wirklich zerstören?«

Jakob stemmte die Hände in die Hüften.

»Woher wollen Sie wissen, dass meine Gefühle einseitig sind? Vielleicht hat Sophie ja inzwischen erkannt, dass die Trennung ein Fehler war.«

»Jakob!«

»Warum mischen Sie sich in Sachen ein, die Sie nichts angehen?«, fragte er, drehte sich um und marschierte Richtung Notaufnahme davon.

Elena sah ihm nach. Sie hatte getan, was sie konnte. Trotzdem war ihr Herz schwer.

*

Seite an Seite standen Dr. Daniel Norden und Matthias Weigand vor dem Monitor an der Wand. Da mehrere Augenpaare mehr sahen, hatte der Klinikchef zudem die Unterstützung von Dr. Aydin erbeten. Er stand ein Stück entfernt, um vom Rollstuhl aus eine bessere Sicht zu haben. Vor dem schwarzen Hintergrund leuchtete der Unterschenkel von Dani Haile gespenstisch weiß.

»Osteopenie, eindeutig. Ihre Knochen sind zu dünn, um den nötigen Eingriff durchzuführen«, erläuterte Matthias die Ergebnisse der Untersuchungen.

»Aber warum?« Daniel hatte die Arme verschränkt. Der rechte Zeigefinger an der Wange verriet, dass er angestrengt nachdachte. »Für eine altersbedingte Osteoporose ist sie mit Ende zwanzig viel zu jung.«

»Dann könnte die Ursache Krebs sein«, bemerkte Milan von hinten.

Matthias schüttelte den Kopf.

»Blut und MRT sind unauffällig.«

Dr. Aydin legte die Hände an die Greifgriffe. Er hatte genug gesehen. Die Muskeln an seinen Oberarmen spielten, als er hinüber zu den Kollegen fuhr.

»Es kann doch nicht so schwer sein, den Grund für die Osteopenie herauszufinden. Immerhin sind wir Vollprofis!« Typisch Milan Aydin! Bescheidenheit war ein Fremdwort für ihn.

»Klingt, als wäre das die leichteste Sache der Welt.« Matthias grinste schief.

Daniel Norden ging zum Schreibtisch, griff nach dem Tablet. Eine Weile wischte er auf dem Bildschirm hin und her. Studierte die Ergebnisse der Blutuntersuchung, die das Labor in die Patientenakte eingespielt hatte. Matthias sah ihm über die Schulter.

»Da kannst du suchen, was du willst. Das Alter passt nicht. Dani Haile war vor dem Unfall völlig gesund und das MRT unauffällig«, zählte er noch einmal auf.

Dr. Norden war anderer Meinung.

»Seht mal hier!« Er deutete auf eine Zahl, die sich zwischen den anderen in der Kolonne versteckte. »Dieser Wert deutet auf Nierenprobleme hin. Warum hat eine Frau in diesem Alter so schlechte Nierenwerte?«

»Ich sage doch: Krebs!«, beharrte Dr. Aydin auf seiner Annahme. Er rollte hinüber zum Schreibtisch und ließ sich die Ergebnisse zeigen. »Erst sind die Knochen dran und dann die Nieren.«

»Dani Haile war eine unserer besten Tennisspielerinnen. Weltrangliste Platz 4.« Dr. Norden stand der Unglaube ins Gesicht geschrieben. Sollte sie wirklich ein Opfer dieser heimtückischen Krankheit sein?

»Sie könnte eine Nierenerkrankung haben, die für die Osteopenie verantwortlich ist. So etwas wäre behandelbar. Frau Haile könnte wieder spielen und an ihre früheren Erfolge anknüpfen«, dachte Matthias laut nach. »Aber wenn es Krebs ist, ist ihre Karriere ein für alle Mal beendet.«

Daniel war ein weiteres Detail ins Auge gestochen.

»Hier steht, dass sie bei einer Körpergröße von 182 Zentimetern 75 Kilogramm wiegt.« Er hob den Kopf und dachte nach.

Der Kollege Aydin las ihm die Gedanken vom Gesicht ab.

»Sie hat ziemlich zugelegt in ihrer Trainingspause.«

»Woher weißt du das denn schon wieder?«, fragte Matthias.

Milan musterte den Kollegen aus schmalen Augen.

»Sag bloß, du erinnerst dich nicht an diesen Anblick bei ihrem letzten Turnier? Diese Figur! Vor allen Dingen die Beine … ein Gedicht.« Er legte die Spitzen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger zusammen und küsste sie.

Daniel und Matthias lachten.

»Das ist ja mal wieder typisch.«

»Was denn?« Milan Aydin warf den Kopf in den Nacken. »Nur, weil ich nicht laufen kann, muss ich doch nicht allen Vergnügen entsagen. Ganz im Gegenteil.«

»Schön. Darüber unterhalten wir uns später«, erwiderte Daniel. »Im Augenblick interessiert es mich mehr, warum Dani Haile so zugenommen hat.«

»Vielleicht hält sie es mit unserem lieben Milan und hat sich einfach mal etwas gegönnt«, platzte Matthias heraus.

Der Klinikchef schüttelte den Kopf.

»Das würde ich ja gern glauben. Dummerweise muss ich bei Hochleistungssportlern immer zuerst an Steroide denken.« Aus seiner Zeit als Allgemeinmediziner mit eigener Praxis kannte er sich aus mit solchen Dingen. Ob ehrgeiziger Hobbysportler oder Profi: Die Medikamente, die das Wachstum von Organen und Muskeln begünstigten, waren ein beliebtes Mittel zur Leistungssteigerung. Als natürlich vorkommende Stoffe erfüllten diese Steroide im Körper von Mensch und Tier viele bio­chemische Aufgaben. Doch chemisch hergestellt und in unkontrollierten Mengen konsumiert, waren schwere Nebenwirkungen nicht selten. »Wenn sie an die Spitze zurückwill, könnte sie schwach geworden und zu solchen Mitteln gegriffen haben.«

»Das würde zumindest die Gewichtszunahme erklären«, räumte Dr. Aydin ein.

»Genau wie das Nierenproblem.« Matthias nickte, ohne den Blick vom Tablet zu wenden.

»Und die abnehmende Knochendichte.« Daniel schaltete das Tablet aus und legte es zur Seite. Er sah hinüber zu Matthias. »Frag sie, welche Tabletten sie schluckt.«

»Und wenn sie schweigt?«

»Dann brauchen wir eine Urinprobe.«

»Gut.« Mattias Weigand wollte sich schon auf den Weg machen, als Daniel ihn zurückhielt.

»Im Übrigen würde ich dich bitten, Jakob in diesen Fall miteinzubeziehen. Er interessiert sich für eine Fortbildung als Fachpfleger, weiß aber die Richtung noch nicht. Dieser Fall könnte ihm bei der Entscheidungsfindung helfen.«

»Muss das sein? Du weißt

doch …«

»Auf private Befindlichkeiten kann ich in der Klinik keine Rücksicht nehmen.« Dr. Nordens Stimme war freundlich, aber bestimmt. »Du bist Oberarzt und ich erwarte ein professionelles Verhalten.«

Diese Ansage war deutlich. Matthias‘ Adamsapfel bewies es.

»Natürlich. Noch etwas?«

Dr. Norden schüttelte den Kopf.

»Das ist alles.«

*

Als der Pfleger Jakob erfuhr, warum er in die Notaufnahme gerufen worden war, löste sich sein Unwillen in Begeisterung auf.

»Dani Haile! Ich darf Sie, die großartige Tennisspielerin, pflegen. Das ist der Wahnsinn!« Er überschlug sich förmlich, als er Puls und Blutdruck kontrollierte und die Tropfgeschwindigkeit der Infusion einstellte. »Dritter Platz in der Weltrangliste. Ich habe kein Spiel von Ihnen verpasst. Ihnen hätte ich tagelang beim Spielen zuschauen können. Diese Eleganz, diese Kraft und Präzision …«

»Es war leider nur der vierte Platz«, korrigierte Dani ihn.

Abel Haile war sich nicht sicher, ob ihn diese ungezügelte Begeisterung eifersüchtig machen sollte. Doch seine Frau lächelte. »Aber trotzdem danke. Das ist sehr nett von ihnen.«

Schritte näherten sich, die Tür ging auf. Matthias Weigand war überrascht, den Pfleger schon im Zimmer zu sehen. Ohne Jakob eines Blickes zu würdigen, trat er ans Bett.

»Wie fühlen Sie sich, Frau Haile?«

»Wenn das Bein nicht gebrochen wäre, würde es mir besser gehen.«

»Das glaube ich gern.« Er drehte den Urinbecher in den Händen. »Ich muss Ihnen eine Frage stellen, die möglicherweise etwas überraschend kommt …«

Danis Lächeln erlosch.

»Um was geht es?«

Dr. Weigand räusperte sich. So schwer hatte er sich diesen Gang nicht vorgestellt.

»Aufgrund Ihrer Gewichtszunahme und einiger anderer Hinweise muss ich Sie fragen, ob Sie Medikamente nehmen, um wieder fit zu werden. Sogenannte Steroide?«

Abel setzte sich kerzengerade auf.

»Erlauben Sie mal …«

Dani legte die Hand auf den Arm ihres Mannes.

»Nein«, erwiderte sie ruhig. »So etwas würde ich nie tun. Schon gar nicht nach den Erfahrungen, die ich gesammelt habe.«

Am liebsten hätte Dr. Weigand sich an dieser Stelle verabschiedet. Doch er kannte seinen Chef. Wusste, dass er erst zufrieden sein würde, wenn er es schwarz auf weiß hatte.

»Wir brauchen leider eine Urinprobe.«

Jakob trat einen Schritt vor.

»Hast du nicht gehört, was Frau Haile gesagt hat?«, zischte er den Arzt an.

Wenn Blicke töten könnten, wäre der Pfleger auf der Stelle tot umgefallen. Zum Glück war Matthias Profi genug, um nicht die Contenance zu verlieren.

»Frau Haile …« Er wandte sich wieder seiner Patientin zu.

»Sie vertrauen mir also nicht.« Danis Stimme hatte alle Farbe verloren. Sie sah hinüber zu ihrem Mann, suchte in seinem Gesicht nach einer Antwort.

Abel presste die Lippen zusammen. Warum waren die Ärzte so unsensibel? Wussten sie nicht, was Dani hinter sich hatte? Der Skandal, als ihre Alkoholsucht bekannt geworden war. Die Anfeindungen, schließlich die Sperrung. All das hatte ihr Selbstvertrauen völlig zerstört. Und nun so etwas!

»Du musst diese Probe nicht abgeben, wenn du nicht willst«, sagte er.

Sie nickte, sah wieder hinüber zu Matthias.

»Ich möchte das nicht.«

»Ich kann Sie gut verstehen.« Wieder mischte sich Jakob ein. »Nach diesem Skandal ist Vertrauen für Sie sehr wichtig.« Er lächelte Dani an, als wäre sie seine beste Freundin. »Meiner Ansicht nach ist die Gewichtszunahme völlig normal. Bestimmt haben Sie in letzter Zeit weniger trainiert als sonst.«

Dani Haile war anzusehen, wen der beiden Klinikmitarbeiter sie sympathischer fand.

»Sie haben recht.« Ihre Stimme erinnerte an ein kleines Mädchen. »Danke, dass wenigstens Sie mir glauben.«

Unter Dr. Weigands glatter Oberfläche brodelte es gewaltig. Die feinen Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten es.

Noch immer hielt er den Urinbecher in der Hand. Er umrundete das Bett und setzte sich auf den Hocker daneben.

Dani verfolgte ihn mit Blicken. Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Sie denken, ich bin dumm«, sagte sie ihm auf den Kopf zu.

»Ganz im Gegenteil.« Er hielt den Becher hoch und lächelte. »Ich halte Sie für eine sehr intelligente Frau. Deshalb bin ich immer noch hier.«

*

»Rechnungen. Immer nur Rechnungen. Überall Rechnungen.« Der Verwaltungschef der Behnisch-Klinik griff nach einem Stapel Papier und warf ihn in die Luft. Wie Laub im Herbst segelten die Blätter zu Boden und verteilten sich auf dem Teppich, der schon bessere Tage gesehen hatte. »Ich komme mir vor wie ein Wohlfahrtsverein. Oder eine Bank.«

Nur mit Mühe konnte sich Dr. Daniel Norden ein Lächeln verkneifen.

»So ein großer Apparat kostet einfach Geld. Das liegt in der Natur der Sache.«

»Wollen Sie mir etwa etwas über Finanzen erzählen? Dann können Sie ja gleich meinen Posten übernehmen.« Diesmal schien es dem Sparfuchs, wie er heimlich von den Mitarbeitern genannt wurde, wirklich ernst zu sein. Das erkannte Daniel schon an seinem Gefühlsausbruch. Normalerweise ging er mit seinen Emotionen mindestens genauso sparsam um wie mit Geld.

»Auf gar keinen Fall.« Abwehrend hob Dr. Norden die Hände. »Sie sind der beste Mann für diese Stelle. Ich kann mir keinen anderen vorstellen.«

Aber auch mit diesen Schmeicheleien kam er nicht weiter. Dieter Fuchs zog einen Ordner zu sich heran und schlug ihn auf.

»Hier steht es schwarz auf weiß: Die Ausgaben für das Personal verschlingen einen zweistelligen Millionenbetrag. Aber das ist längst noch nicht alles.« Die Seiten raschelten zwischen seinen Fingern. »Steuern, Abgaben, Versicherungen. Und dann die Verbrauchskosten! Allein knapp eine Million Euro für Strom, Wasser und Gas.« Seine Faust landete neben dem Ordner auf dem Tisch. »So geht das nicht weiter.«

»Darf ich?« Dr. Norden zog die Unterlagen zu sich heran. Zahlen über Zahlen. Ein Eldorado für seinen jüngsten Sohn Jan. Er dagegen war ein Mann der Tat. Kein Theoretiker. »Wo sehen Sie die Lösung?«

»Ganz einfach.« Dieter Fuchs fletschte die Zähne. »Wir brauchen mehr Patienten.«

»Ausgeschlossen.« Daniel schüttelte den Kopf. »Sie wissen, was das bei gleichbleibendem Personal bedeutet. Weniger Zeit für den einzelnen Patienten, noch mehr Belastung für unsere Mitarbeiter. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Nicht für die Menschen, die ihr Schicksal vertrauensvoll in unsere Hände legen. Und auch nicht für das Personal.« Daniel Norden wusste nicht, wie oft er diese Diskussion schon geführt hatte. »Wir brauchen eine andere Lösung.« Er blätterte in den Unterlagen. »Vielleicht können wir an den Verbrauchskosten sparen.«

Dieter Fuchs fixierte seinen Kollegen. Besser gesagt die Brusttasche des weißen Kittels. Ein blauer Fahrer auf dem weißen Stoff, dort, wo die Kugelschreiber neben der kleinen Taschenlampe steckten. Langsam kletterten seine Mundwinkel hoch. Der eine ein bisschen höher als der andere.

»Ich glaube, ich habe eine bessere Idee.«

»Ach ja?« Dr. Norden neigte den Kopf.

»Ihr Kittel …«

»Ich weiß. Der Kugelschreiber. Deshalb wollte ich ihn aber nicht wechseln. Da kommen im Laufe des Tages mit Sicherheit noch ein paar andere Flecken dazu.«

»Das meinte ich nicht. Ich spreche von der Wäscherei.« Dieter Fuchs fuhr mit der Hand über die Halbglatze. Versicherte sich, dass die drei, vier Strähnen noch an ihrem Platz lagen. »Wir könnten die Wäsche in Zukunft auswärts waschen lassen. Outsourcing nennt man das. Sehr beliebt heutzutage. Alle großen Firmen tun das. Damit wäre zumindest ein kleiner Teil unserer Probleme gelöst.«

»Wie meinen Sie das?« Daniel ahnte es, wollte es aber aus dem Mund des Verwaltungsdirektors selbst hören.

»Norden, ich bitte Sie. Sie sind doch sonst nicht so begriffstutzig. Wir schließen die Wäscherei und sparen damit nicht nur Personal-, sondern auch Verbrauchskosten wie Strom und Wasser. Und die freigewordenen Räume könnten wir zu Patientenzimmern umbauen. Oder vermieten. Da findet sich sicher eine Möglichkeit.« Fuchs‘ Augen verrieten, wie zufrieden er mit seiner Idee war.

Ganz im Gegensatz zu Daniel Norden.

»Aber das Personal. Sie können die Leute doch nicht einfach vor die Tür setzen.«

»Haben Sie eine Ahnung, was ich alles kann.« Dieter Fuchs konnte es kaum erwarten. Sein Stift kratzte über ein Blatt Papier. Zahlenkolonne reihte sich an Zahlenkolonne. Hinter jeder Ziffer verbarg sich ein Schicksal. Zumindest Daniel Norden schien es so.

»Und welche Firma wollen Sie mit der Wäsche beauftragen? Es dürfte nicht leicht sein, einen Anbieter zu finden, der uns zuverlässig mit frischer Wäsche versorgt. Nicht auszudenken, was passiert, wenn uns die Handtücher ausgingen. Oder die Bettwäsche.«

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.« Der Verwaltungsdirektor erhob sich von seinem Stuhl und ging vor zur Tür. Für ihn war das Gespräch zu Ende. Nun gab es genug zu tun, um den Plan so schnell wie möglich in die Tat umzusetzen.

Zögernd folgte Dr. Norden seinem Kollegen, noch immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, dieses Vorhaben im Keim zu ersticken. Vergeblich. Auf die Schnelle fehlte Daniel die zündende Idee, um die zahlreichen Mitarbeiter der Wäscherei vor einer Kündigung zu bewahren.

*

»Pfleger Jakob!« Andrea Sanders Stimme hallte über den Flur. »Gut, dass ich Sie treffe. Der Chef möchte Sie sprechen. Er erwartet Sie in seinem Büro.«

»Worum geht es?«, rief er Dr. Nordens Assistentin nach.

Doch da entfernten sich ihre Schritte schon wieder. So blieb Jakob nichts anderes übrig, als sich auf den Weg zu machen.

»Ah, da sind Sie ja schon«, begrüßte Daniel Norden seinen Mitarbeiter. »Dann können wir ja gleich anfangen.« Er setzte sich neben Matthias Weigand an den Besprechungstisch. Mit einer Geste bot er auch Jakob einen Platz an.

»Dachte ich es mir doch.« Der Pfleger rollte mit den Augen. »Was soll ich noch großartig sagen? Er hat ja sicher schon gepetzt.«

Daniels Augen wurden schmal.

»Nein, hat er nicht. Der Kollege Weigand hat mich lediglich gebeten, ihn vom Fall Haile zu entbinden. Von Ihnen möchte ich gern wissen, warum das so ist.«

Jakob zögerte, ließ sich dann aber doch auf den freien Stuhl fallen.

»Woher soll ich das wissen?«, schnaubte er. »Ich habe lediglich um Verständnis für Frau Haile geworben. Nach dem, was sie durchgemacht hat, sollte man nicht wie eine Dampfwalze über ihre Gefühle rollen.«

»Solche Unterstellungen muss ich mir nicht gefallen lassen.« Matthias sprang vom Stuhl auf und schüttelte die Faust vor Jakobs Nase.

»Matthias, bitte«, verlangte Daniel mit Nachdruck.

Erst nach mehrmaliger Aufforderung nahm der Notarzt wieder Platz. Um Jakobs Mundwinkel zuckte es verdächtig. Daniel sah von einem zum anderen.

»Also, was ist passiert?«

»Jakob ist mir in den Rücken gefallen, als ich Frau Haile um eine Urinprobe gebeten habe. Er hat mich vor dem Ehepaar der Lächerlichkeit preisgegeben«, beschwerte sich Dr. Weigand.

Der Klinikchef wandte sich an den Pfleger.

»Stimmt das?«

»Es ging mir nur um die Art und Weise, wie der Kollege Weigand mit der Patientin gesprochen hat. Ich war nie gegen eine Urinprobe.«

Matthias legte den Kopf in den Nacken und lachte. Es klang alles andere als fröhlich.

»Da sind wir ja einer Meinung«, erwiderte Dr. Norden. Wieder ein Blick von links nach rechts. »Es geht hier um das Wohl der Patientin. Da haben verletzte Eitelkeiten nichts zu suchen. Im Übrigen können Sie, Jakob, froh sein, wenn der Kollege Sie unter seine Fittiche nimmt. Sie sind es, der eine Fortbildung zur Fachpflegekraft absolvieren will.«

Jakob schluckte. Dieser Seitenhieb hatte gesessen.

»Schon klar.«

»Dann kann ich mich in Zukunft auf eine konstruktive Zusammenarbeit verlassen?«

»Von mir aus.« Was blieb Jakob auch anderes übrig?

Daniel sah hinüber zu Matthias Weigand.

»An mir soll es nicht scheitern.«

»Gut. Dann hätten wir das ja geklärt.« Dr. Norden erhob sich. »Sie können wieder an Ihren Arbeitsplatz gehen, Jakob. Falls es Neuigkeiten im Fall Haile gibt, wird sich der Kollege mit Ihnen in Verbindung setzen.« Er nickte Jakob zu. »Du bleibst bitte noch kurz hier, Matthias. Wir haben noch etwas zu besprechen.«

Jakob verabschiedete sich und marschierte aus dem Zimmer. Er wollte gar nicht mehr hören, was die beiden für Heimlichkeiten hatten. Es war so oder so klar, dass er den Kürzeren ziehen würde. Auf der ganzen Linie.

*

»Nanu, was machst du denn für ein Gesicht?«, fragte Schwester Elena, als Jakob an den Tresen zurückkehrte.

»Ich hätte heute im Bett bleiben sollen.« Er versetzte dem Papierkorb einen Tritt. Polternd fiel er um und rollte über den Boden.

Schwester Elena überlegte kurz. Dann bückte sie sich selbst nach dem Eimer und den beiden Papierkugeln, die herausgerollt waren.

»Was ist passiert?«, erkundigte sie sich. »Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen, wenn du dich um die schöne Dani kümmern darfst, Traum aller Männer zwischen achtzehn und dreißig.«

Jakob ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er zog eine Augenbraue hoch.

»Ach, Sie hatten Ihre Finger also doch im Spiel.«

»Bist du mir böse?«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Darum geht es gar nicht.« Er knibbelte am Nagelbett. »Sie hatten recht. Wegen Sophie, meine ich.«

»Ach.« Elena war ehrlich überrascht. »Woher rührt die plötzliche Erkenntnis?«

»Tun Sie doch nicht so! Sie wussten doch gleich, dass es eine dumme Idee ist, sich mit Weigand zu messen. Die dümmste Idee, die ich je hatte.«

Er wirkte so unglücklich, dass Elena Mitleid bekam.

»Und jetzt?« Ihre Stimme war weich wie Butter.

»Gehe ich beiden aus dem Weg.«

»Wie soll das gehen? Immerhin arbeitet ihr hier zusammen. Und wolltest du nicht Lea regelmäßig sehen? Wie soll die Übergabe stattfinden, wenn du weder Matthias noch Sophie begegnen willst?« Eine Frage berechtigter als die andere.

»Keine Ahnung.« Jakob zuckte mit den Schultern, sah seine Chefin von unten herauf an. »Ich muss mich eben entlieben. Haben Sie nicht ein Geheimrezept für so was?«

Schwester Elena lachte.

»Wenn das so einfach wäre, bliebe der Menschheit viel Unglück erspart. Mal abgesehen davon, dass ich dann heute eine reiche Frau wäre.«

Jakob lachte nicht mit ihr. Auch Elena wurde wieder ernst.

»Aber ich finde es sehr lobenswert, dass du nachgedacht hast und verantwortungsbewusst handeln willst.«

Der Pfleger zuckte nur mit den Schultern. Er beugte sich vor, zog die Computertastatur zu sich heran und öffnete die Internetseite von Dani Haile. Höchste Zeit, sich ein bisschen abzulenken. Und was war besser dazu geeignet als eine schöne Frau?

*

»Dani Haile ist negativ auf Steroide.« Daniel Norden saß am Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm.

Matthias Weigand stand hinter ihm und sah ihm über die Schulter.

»Die Beta-Zwei-Proteine sind aber erhöht«, machte er den Klinikchef aufmerksam. »Sieht so aus, als hätte Milan recht, und wir haben es doch mit einem Tumor zu tun.« Er deutete auf den Wert in der Zahlenkolonne. »Möglicherweise ein Lymphom.«

»Was haben die anderen Tests gesagt?«

»Wir haben Dani buchstäblich auf den Kopf gestellt. Ohne Ergebnis. Es gibt nicht den kleinsten Hinweis auf ein Karzinom.«

»Dann also doch Steroide.« Daniel lehnte sich zurück.

»Ich sagte doch schon, dass der Test auf Steroide negativ war«, wiederholte Matthias mit Nachdruck. Seit wann hörte sein Chef schlecht?

»Ein Laborant verdient viel weniger als ein Arzt. Obwohl wir ohne diese unsichtbaren Helden verloren wären«, dachte der Klinikchef laut nach. »Vielleicht hat jemand versucht, den Steroidmissbrauch zu vertuschen.«

»Du denkst, jemand aus Dani Hailes Team hat den Laboranten bestochen?« Matthias sprang zurück, um nicht von Daniels Stuhl überfahren zu werden.

»Das ist lediglich eine Vermutung.« Daniel Norden stand auf. Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und wanderte durch das Zimmer hinüber zum Fenster.

Er sah hinunter in den Klinikgarten. Angelegt von der Gründerin der Klinik, Dr. Jenny Behnisch, zum Wohle der Patienten und Mitarbeiter. Wie so oft spielten auch an diesem Vormittag Kinder auf dem Spielplatz unterhalb des Fensters. Ein Mädchen saß auf der Schaukel. Ihre Zöpfe flogen auf und ab. Zwei Buben backten in schönster Einträchtigkeit Sandkuchen, um sie später an Besucher des Gartens zu verkaufen.

Normalerweise beruhigten Daniel diese kleinen Geschichten. Zeigten sie ihm doch, dass die Welt ihre Leichtigkeit nicht verloren hatte. Doch an diesem Tag fand er keine Ruhe. Das mochte auch an den drei Rauchern liegen, die in einer Ecke des Gartens zusammenstanden und sich ihrem Genuss hingaben. Wäre es nach Daniel gegangen, hätte er das Rauchen auf dem Klinikgelände verboten. Wieder ein Streitpunkt mit Dieter Fuchs, der die Abwanderung von Patienten fürchtete. Daniel Norden drehte sich zu Matthias um. »Ich wüsste nicht, welche andere Erklärung es für Frau Hailes Zustand geben könnte.«

»Und was sollen wir jetzt tun?«

Die Frage war berechtigt. Nicht umsonst war Dr. Daniel Norden von seiner Freundin Jenny Behnisch zum Klinikchef berufen worden. Neben seinen herausragenden medizinischen Fähigkeiten stach besonders eine Stärke hervor: Daniel Norden war ein begnadeter Diagnostiker. Matthias Weigand konnte sich an keinen Patienten erinnern, der unverrichteter Dinge wieder nach Hause gegangen war. Sicher, manchmal dauerte es ein bisschen länger, um eine Krankheit zweifelsfrei benennen zu können. Hin und wieder bedurfte es ungewöhnlicher Wege, um eine Diagnose zu untermauern. Aber immer stand ein Krankheitsbefund vor Beginn einer Therapie. Unter den Blicken seines Kollegen kehrte Daniel an den Schreibtisch zurück. Er tippte ein paar Worte in die Suchmaschine des Internets ein, wartete kurz, um im Anschluss das Ergebnis zu studieren. Matthias fragte sich schon, ob Daniel ihn vergessen hatte, als sich die Miene des Klinikchefs erhellte. »Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, wie wir herausfinden, ob Dani Haile Anabolika einnimmt.«

»Und welchen?«

»Wenn wir Frau Haile dieses Medikament verabreichen«, er deutete auf den Namen, den seine Internetrecherche ergeben hatte, »und sie nimmt keine Steroide, wird sie Atemnot bekommen. Damit wäre der Beweis erbracht, dass sie sauber ist.

»Bekommt sie keine Atemnot, ist der Beweis erbracht, dass sie uns angelogen hat«, zog Matthias die zweite mögliche Schlussfolgerung.

»Oder selbst nichts von den Medikamenten weiß.« Daniel starrte auf den Bildschirm. Einen Verdacht wollte er nicht aussprechen. Es gab viele Menschen, die von einem Comeback, einem neuen Triumph Dani Hailes profitierten. »Ich weiß, dass das eine sehr ungewöhnliche Methode zur Wahrheitsfindung ist. Aber eine andere Möglichkeit fällt mir im Augenblick nicht ein.«

»Wie willst du die Patientin davon überzeugen?«, fragte Dr. Weigand.

»Wenn Dani wirklich keine Steroide einnimmt, leidet sie an einer tödlichen Krankheit. Ich denke, das ist Argument genug, um dem Experiment zuzustimmen.« Einen Haken gab es aber trotzdem. »Wenn möglich, sollte unser lieber Verwaltungsdirektor keinen Wind von der Sache bekommen. Ich bin mir nicht sicher, ob er unsere Behandlungsansätze für gut befindet.« Dr. Norden zwinkerte seinem Kollegen zu.

»Ich werde schweigen wie ein Grab.« Matthias hob die Hand zum Schwur und ging gemeinsam mit Daniel zur Tür.

»Das weiß ich. Soll ich mit der Patientin sprechen und ihr unsere Idee nahebringen?«

Matthias Weigand zog einen Mundwinkel hoch.