Sophienlust
– Box 16 –

E-Book 81-85

Aliza Korten
Patricia Vandenberg
Judith Parker

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74097-234-9

Wir suchen Nestwärme

Denise von Schoenecker hörte aufmerksam zu, als Flugkapitän Alexander Rethy erzählte. Es war eine höchst seltsame Geschichte, die sie zu hören bekam.

»Alexa stand vor mir in einer Art, dass ich nicht an ihr vorbeigehen konnte, gnädige Frau. Wir kamen gerade aus Kairo zurück, und ich war herzlich müde. Aber da stand dieses kleine blonde Mädchen und schien etwas von mir zu wollen. Ich fragte sie, woher sie komme und ob sie zu mir wolle.

›Ja, zu dir‹, antwortete sie. Sie war sehr scheu. Doch es gehört allerlei Mut dazu, auf dem Flughafen auf einen fremden Mann zuzugehen, wenn man erst fünf Jahre alt ist. Dann erklärte sie mir, dass ihre Mutter ihr aufgetragen habe, zu mir zu gehen. Doch das hielt ich für eine Verwechslung.«

Der Flugkapitän schwieg einen Moment. Dann fügte er hinzu: »Ich hole so weit aus, damit es Ihnen möglich ist, das nachzuempfinden, was sich danach ereignete, verehrte Frau von Schoenecker.«

Er warf einen Blick auf das Ölgemälde, das Sophie von Wellentin darstellte, nach der das Gut Sophienlust wohl seinen Namen trug, dieses Gut mit dem wundervollen alten Herrenhaus, das in ein Kinderheim umgewandelt worden war. Dr. Josefa Klinger hatte ihm geraten, Alexa hier unterzubringen. Es gefiel Alexander Rethy, dass es sich bei der Besitzerin des Kinderheims nicht um eine grämliche alte Dame, sondern um eine bildschöne, lebensprühende, glücklich verheiratete Frau und Mutter handelte, bei der sein Töchterchen Alexa gut aufgehoben sein würde.

Alexander Rethy räusperte sich und fuhr fort: »Als ich die kleine Dame fragte, wie sie heiße, sagte sie, sie hieße Alexa von Stöcken. Und plötzlich ahnte ich, dass sie Vivian von Stöckens Tochter sein musste. Ich will Sie nun nicht mit allen Einzelheiten aufhalten, gnädige Frau …«

»Doch, doch, erzählen Sie nur ausführlich, Herr Rethy. Für mich ist das alles wissenswert. Die Geschichte eines Kindes ist für mich immer wichtig. Ich habe diesen Nachmittag für Sie und Alexa reserviert. Erzählen Sie also genau, wie Sie Alexa gefunden haben!«

»Wenn Sie wollen, gnädige Frau? Ich ging nun mit dem Kind Kakao trinken, wie das wohl jeder in meiner Situation getan hätte. Eine Bekannte von mir setzte sich zu uns. Sie ist Stewardess auf unserer Linie, und als Frau verstand sie es wohl noch etwas besser als ich, sich des fremden, schüchternen Kindes anzunehmen. Wenn ich ehrlich bin, dann dämmerte mir bereits in diesem Augenblick, dass Alexa möglicherweise mein eigenes Kind sei. Aber ich wies diesen Gedanken zunächst heftig von mir. Selbst die Verwandtschaft der Namen – ich heiße Alexander, die Kleine Alexa – wollte ich mir gern durch einen Zufall erklären.

Nun ja, meine Freundin Bonny machte das Beste aus allem. Sie brachte Alexa zum Lachen und beschäftigte sie mit Papier und bunten Stiften, während ich an der Information für Frau von Stöcken die Nachricht deponierte, dass wir im Flughafenrestaurant auf sie warteten. Leider konnte meine Freundin Bonny nicht allzu lange bleiben, denn ihre Maschine nach Hamburg wurde aufgerufen. Sie hatte – genau wie ich – vier freie Tage vor sich und wollte diese zu Hause bei ihren Eltern verbringen. Ich hatte kein Recht, sie von ihrem Flug abzuhalten, obwohl ich ihr dankbar gewesen wäre, wenn sie sich freiwillig zum Bleiben entschlossen hätte. Denn ich war wirklich in arger Verlegenheit, was ich mit Alexa anfangen sollte.

Ich begann nun, die Kleine geduldig und zielbewusst auszufragen. So erfuhr ich, dass ihre Mutter krank sei. Doch das machte die Situation nicht gerade übersichtlicher oder einfacher für mich. Dann hörte ich, dass ihre Mutter mit Vornamen Vivian hieße. Es konnte für mich also keinen Zweifel mehr geben, selbst wenn ich die Augen vor Alexas Ähnlichkeit mit ihrer Mutter verschloss.«

Der Flugkapitän holte tief Atem und legte die Hand über die Augen. Denise von Schoenecker ließ ihm Zeit. Außerdem wusste sie von Dr. Josefa Klinger bereits einiges über diesen seltsamen und tragischen Fall. Die Ärztin erholte sich im Augenblick nach schwerer Krankheit in Sophienlust. Sie war zu früh zum Dienst im Krankenhaus zurückgekehrt und hatte das büßen müssen. Aber vielleicht hatte auch das so sein sollen. Denn Josefa Klinger hatte dadurch Vivian von Stöcken in ihren letzten Lebenstagen ärztlich betreut und so Alexas Schicksal kennengelernt. Es schien gütige Fügung gewesen zu sein. Denn Alexa brauchte ein Heim und Liebe. Beides sollte sie nun in Sophienlust finden!

Nun fuhr Alexander Rethy in seinem Bericht wieder fort: »Als ich dann fragte, wann ihre Mutter denn eigentlich kommen werde, bekam ich heraus, dass die Kleine mit Vivian auf mich gewartet hatte. Dann musste Vivian sich aber nicht wohlgefühlt haben. Sie hatte auf mich gezeigt und das Kind zu mir geschickt. Ach, es war eine lange und traurige Odyssee, ehe ich sie im Krankenhaus endlich fand – dem Tod geweiht, wie man mir zuraunte. Dort musste ich mich dann der Tatsache stellen, dass die tapfere Vivian mein Kind zur Welt gebracht hatte, ohne mir jemals etwas davon gesagt zu haben. Sie hätte sich wahrscheinlich nie an mich gewandt, wenn sie nicht gespürt hätte, dass ihre Tage gezählt wären. Ihre Mutter war vor einem guten Jahr gestorben, sodass sie ganz allein mit dem Kind dastand. Deshalb wollte sie mir Alexa anvertrauen.

Ich schämte mich entsetzlich, doch es gelang mir, allen Widerständen zum Trotz, Vivian noch zu heiraten. Sie ist mit der Gewissheit gestorben, dass ich vor dem Gesetz die volle Verantwortung für mein Kind trage, das ich selbstverständlich sofort anerkannt habe. Die Behörden sind langsam und umständlich. Aber sie haben in unserem Fall das Unmögliche wahr gemacht. Vor allem Frau Dr. Klinger verdanke ich viel. Vivian und ich haben geheiratet, und Alexa heißt heute Alexa Rethy. Ich danke Gott, dass mir das alles noch gelang, ehe die unglückliche Vivian für immer die Augen schloss.«

Die Erschütterung ließ den Besucher abermals für kurze Zeit verstummen. Alexander Rethy dachte an die Blumen, mit denen er Vivians Krankenzimmer geschmückt hatte, und an die kleine, eindrucksvolle Hochzeitsfeier, die der Geistliche für sie gehalten hatte. Alexa hatte der Mutter einen Strauß Blumen aufs Bett legen dürfen. Doch schon kurze Zeit später hatte die tückische Krankheit die schöne Vivian dahingerafft – diese Frau, der er so viel angetan und die er dann für Jahre vergessen hatte. Das war ein Vorwurf, den er sich bis an sein Lebensende machen würde. Aber er hatte das Kind! Alexa sollte es an nichts fehlen. Deshalb fand er Sophienlust gerade richtig für sein Töchterchen.

Selbstverständlich gehörte der Flugkapitän nicht zu dem Personenkreis, der die Stiftung, die mit dem Vermächtnis der früheren Besitzerin von Sophienlust, Sophie von Wellentin, verbunden war, in Anspruch nehmen musste. Er war von Haus aus vermögend und bezog außerdem ein gutes Einkommen als Flugkapitän. Er wollte den vollen Pensionspreis zahlen, und er hatte Frau Dr. Klinger gebeten, Alexa für den Aufenthalt auf Sophienlust großzügig und passend auszustatten. Das war bereits geschehen.

Josefa Klinger, mit der Schwiegertochter der Heimleiterin, Carola Rennert, befreundet, hatte ihm die Geschichte des Kinderheims Sophienlust erzählt. Er wusste, dass Dominik von Wellentin-Schoenecker aus der ersten Ehe der früh verwitweten Denise von Schoenecker stammte und der Alleinerbe von Sophienlust und des riesigen Vermögens seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin war. Doch solange der Junge, nun bereits fünfzehn Jahre alt, das Heim für in Not geratene Kinder nicht selbst verwalten konnte, lag die Verantwortung dafür in den Händen seiner Mutter, die in ihrem zweiten Mann, Alexander von Schoenecker, jederzeit Unterstützung fand. Alexander war Besitzer des benachbarten Gutes Schoeneich und beaufsichtigte beide Güter, Sophienlust und Schoeneich, gemeinsam. Leiterin des Kinderheims war Frau Rennert, von den Kindern ›Tante Ma‹ genannt. Ihr Sohn Wolfgang war als Haus- und Musiklehrer des Heimes tätig. Seine junge Frau Carola, die selbst einmal ein Kind dieses Heimes gewesen war, unterstützte ihn dabei.

Denise von Schoenecker ließ Alexander Rethy auch diesmal Zeit. Sie war

eine gute Zuhörerin. Doch jetzt schöpfte der Besucher Atem und sprach weiter.

»Es war für mein Töchterchen Alexa am Anfang eine höchst erstaunliche Tatsache, dass ich ihre Mutter kannte. Sie wunderte sich darüber. Aber jetzt hat sie sich daran gewöhnt. Für mich ist die Situation allerdings etwas schwierig. Ich bin ständig unterwegs und muss erst einmal darüber nachdenken, wie ich mich als Vater eines kleinen Mädchens zu verhalten habe. Deshalb bin ich Frau Dr. Klinger und auch Ihnen für die angebotene Lösung hier in Sophienlust herzlich dankbar. Die Kinder haben Alexa gleich in ihre Mitte aufgenommen. Glücklicherweise ist sie Kindern gegenüber nicht scheu. Da war ein blonder Junge, ich glaube Henrik hieß er …«

»Das ist mein Jüngster«, schaltete sich Denise lächelnd ein. »Ich habe eine große Familie. Henrik stammt aus meiner zweiten Ehe. Er ist zwar erst sieben Jahre alt, gibt sich aber schon jetzt viel Mühe, uns in Sophienlust zu helfen. Deshalb hat er sich auch gleich um Alexa bemüht.«

»Eine schöne und dankbare Aufgabe, die Sie übernommen haben, gnädige Frau. Ich bewundere Sie.«

»Für uns war es ein großes Glück, als wir nach Sophienlust kamen, lieber Herr Rethy. Heute erscheint es mir nur selbstverständlich, dass wir von unserer sicheren Geborgenheit anderen Menschen und vor allem vereinsamten und unglücklichen Kindern etwas abgeben. Bewunderung verdiene ich sicherlich nicht. Unsere Arbeit ist für uns ein täglicher Quell der Freude, der die Sorgen, die unvermeidlich sind, vergessen lässt.«

»Sie sind eine Idealistin. Das findet man heutzutage selten. Aber es gefällt mir, dass meine Tochter gerade hier sein darf. Ein Jammer, dass Sie Alexas Mutter nicht mehr kennengelernt haben.«

»Ich kann mir Ihre Frau gut vorstellen. Sie war sehr tapfer, nicht wahr?«

Er nickte. »Erst als sie für das Kind keinen Ausweg mehr sah, trat sie an mich heran. Ach, ich wünschte, sie hätte es früher getan! Zwar versichern mir die Ärzte, dass sie unrettbar verloren und dem Tode geweiht war, aber ich kann mich der Vorstellung nicht erwehren, dass man vielleicht doch noch hätte helfen können.«

Wieder brach er ab. Es waren traurige und bittere Erinnerungen, die ihn quälten. Er selbst kam dabei nicht gut davon. Warum habe ich Vivian damals nur verlassen, klagte er sich an. Warum nur? Sie war eine wunderbare Frau!

Aber es war endgültig zu spät. Sie ruhte unter dem Hügel mit den vielen Blumen. Für immer.

Jetzt fuhr er aus seinen Gedanken auf. »Frau Dr. Klinger hat viel für Alexa und mich getan. Sehe ich sie hier noch? Ich möchte ihr danken.«

»Sie wohnt drüben im Anbau bei dem jungen Ehepaar Rennert, weil sie sich ein paar Wochen lang hier in der guten Landluft erholen will. Sie war schwer krank und ist hinterher zu früh wieder in den Dienst in der Klinik gegangen. Jetzt sieht sie selbst ein, dass sie sich zu viel zugemutet hatte.«

Der Gast nickte, denn das war ihm bekannt.

Denise läutete. Als kurz darauf ein junges Mädchen eintrat, bat sie, Dr. Josefa Klinger herzubitten, falls sie im Moment zu finden sei.

Wenig später erschien die junge Ärztin, eine aparte Erscheinung mit dunklem Haar und klaren blauen Augen. Sie war zierlich und wirkte neben der hünenhaften Gestalt des Flugkapitäns wie eine Puppe.

Die Begrüßung fiel herzlich aus. Doch schon bald sprachen sie wieder von Vivian von Stöcken.

»Heute ist mir alles klar«, bekannte Alexander Rethy. »Auf Grund ihrer Schwangerschaft konnte Vivian nicht mehr als Stewardess tätig sein. Deshalb bewarb sie sich wohl um eine Anstellung im Büro der Fluglinie. Dadurch verloren wir uns aus den Augen. Die ganze Situation muss unendlich hart für sie gewesen sein. Als Arzttochter wusste sie sicher sowohl über ihren Zustand als auch darüber Bescheid, dass ihre Krankheit unheilbar war. Ich glaube, sie wollte mir nicht zur Last fallen, sondern verhindern, dass ich sie aus Pflichtgefühl heiratete. Denn sie wusste wohl auch, dass sich ihr Leiden über Jahre hinziehen konnte. Alexa ist immerhin schon gut fünf Jahre alt. Was muss Vivian in dieser Zeit gelitten haben! Und ich hatte keine Ahnung davon! Man sollte doch meinen, dass man so etwas spüren müsste.«

»Quälen Sie sich nicht mit Vorwürfen«, mahnte die Ärztin sanft. »Es ist vorbei, und es war nun einmal der Wille Vivian von Stöckens. Sie haben ihr zuletzt noch Ihren Namen gegeben und Alexa anerkannt. Ich weiß, dass der Tod Ihrer Frau friedlich und leicht war. Das muss Ihnen ein Trost sein, Herr Rethy.«

Die junge Ärztin sprach überzeugend und ruhig. Dennoch vermochte sich Alexander Rethy von Vorwürfen nicht freizusprechen. Undeutlich war ihm bewusst, dass er sein Kind nicht für alle Zeiten in Sophienlust lassen könnte. Es war nur eine Übergangslösung. Alexa hatte ein Anrecht darauf, einen Platz in seinem Leben zu erhalten. Aber er konnte sich vorerst nicht vorstellen, wie das zugehen sollte.

»Sie sind sehr freundlich, Frau Dr. Klinger«, antwortete er leise. »Was hätte ich überhaupt ohne Ihre Hilfe anfangen sollen?«

Sie lächelte. »Es hat mir Freude bereitet, mich in der ersten Zeit um Alexa kümmern zu können. Jetzt freue ich mich schon auf unser Wiedersehen. Es ist zwar erst zwei Tage her, dass wir uns getrennt haben, aber ich habe Alexa sehr ins Herz geschlossen.«

»Sie mag Sie ebenfalls gut leiden. Die beiden Tage mit mir im Hotel hat sie sich gründlich gelangweilt und jeden Tag nach Ihnen gefragt. Ich fürchte, ich bin ein unbegabter Vater und muss mich an meine Rolle erst gewöhnen.«

»Alexa ist stolz auf ihren Vati. Sie hat immer geglaubt, dass sie keinen habe. Erst neulich äußerte sie, dass sie sehr glücklich sei. ›Mutti ist im Himmel bei Omi, Tante Josi‹, sagte sie zu mir. ›Aber sie sieht, dass ich bei Vati bin. Und deshalb bin ich nicht traurig. Ich habe Mutti nämlich versprochen, dass ich immer fröhlich sein werde.‹ Seltsame Worte für ein so kleines Mädchen, nicht wahr?«

»Sie spürt, dass sie bei Ihnen geborgen ist und sich auf Sie verlassen kann, Herr Rethy«, schaltete sich nun Denise von Schoenecker ein.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Ohne anzuklopfen stürmten Henrik von Schoenecker und Alexa herein.

»Es gibt Ponys hier, auf denen wir reiten dürfen, Vati«, stieß das blonde Mädchen aufgeregt hervor. »Nick, Henriks großer Bruder, will mir zeigen, wie man reitet. Darf ich reiten? Bekomme ich auch Reithosen wie die anderen Kinder?«

»Natürlich, Alexa. Du sollst alles haben, was man in Sophienlust braucht.«

»Es gibt auch andere Tiere, Sophienlust ist ein richtiger großer Bauernhof, Vati«, fuhr Alexa mit blanken Augen fort. »Henrik hat mir alles gezeigt. Und hier im Wintergarten haben sie einen Papagei, der sprechen kann. Er heißt …«

»Habakuk«, half Henrik aus.

»Habakuk«, wiederholte Alexa. »Vicky Langenbach hat ein Meerschweinchen, andere Kinder haben Kaninchen oder Vögel oder Goldhamster.«

»Sie sehen, Alexa ist schon ganz zu Hause hier.« Denise von Schoenecker sah den in seiner Rolle noch so unsicheren Vater aufmunternd an. »Sophienlust heißt das Haus der glücklichen Kinder, sagt Henrik«, plauderte Alexa nun unbefangen weiter. »Jetzt bin ich auch ein glückliches Kind, weil ich hier wohne. Nicht wahr, Tante Josi?«

Dr. Josefa Klinger, die als Assistenzärztin das tragische Ende und die vom Tod überschattete Hochzeitsfeier Vivian von Stöckens miterlebt hatte, zog Alexa auf ihre Knie. »Ja, du bist ein glückliches Kind«, raunte sie ihr zärtlich ins Ohr, wobei ihre Lippen das halblange blonde Haar des Kindes streiften. Doch sie errötete, als sie bemerkte, dass Alexander Rethy die kleine Szene beobachtete. Als sie die Augen wegwenden wollte, begegnete sie dennoch dem Blick des hochgewachsenen Mannes, der ständig um den Erdball flog und doch so ganz anders war, als Josefa Klinger sich einen Flugkapitän vorgestellt hatte.

So also hielt Alexa Rethy Einzug in Sophienlust.

*

Bonny steuerte sofort auf Alexander Rethy zu, als sie ihn entdeckte.

»Hallo, Alex! Was war mit der Kleinen?«, erkundigte sie sich. »Du hast Urlaub genommen. Das kam ziemlich plötzlich. Aber mit der kakaotrinkenden jungen Dame hatte es wohl nichts zu tun?«

Alexander nahm die Hand der Stewardess und sah sie nachdenklich an. »Doch«, erklärte er leise. »Mir fällt erst jetzt wieder ein, dass du sie ja gesehen und im Restaurant sogar beschäftigt und betreut hast. Findest du es sehr erstaunlich, wenn ich dir sage, dass sie meine Tochter ist?«

Bonny blinzelte, als schaue sie plötzlich in ein zu grelles Licht. »Deine – was?«

»Meine Tochter Alexa. Leider ist ihre Mutter tot.« Er sagte es traurig und ernst, denn er trauerte aufrichtig um Vivian, der das Leben so viel schuldig geblieben war.

»Das verstehe ich nicht. Ihr habt doch auf die Mutter gewartet neulich. Da lebte sie offenbar noch. Oder war es nicht die Mutter?« Bonny kam die Sache etwas unheimlich vor. Auch hatte sie den Eindruck, dass Alexander auf seltsame Weise verändert sei. Hätte er nicht so ernst und traurig ausgesehen, sie wäre geneigt gewesen, das Ganze für einen Scherz zu halten. Denn woher sollte er plötzlich eine fünfjährige Tochter haben?

»Ihre Mutter ist vor ein paar Tagen gestorben. Es blieb mir gerade noch Zeit, sie zu heiraten. Alexa trägt jetzt meinen Namen.«

»Alex, du hast ein sterbendes Mädchen geheiratet, weil es ein Kind von dir hatte?«, stammelte Bonny unsicher. »Bist du wenigstens überzeugt, dass die Kleine wirklich dein eigenes Fleisch und Blut ist?«

»Ich habe die Frau geheiratet, die ich immer liebte, Bonny«, wies er die hübsche Stewardess beinahe scharf zurecht. »Einen Zweifel an der Herkunft meiner Tochter gibt es nicht.«

»Das …, das passt einfach nicht zu dir, Alex. Ich hab’ mir immer eingebildet, dass du dir nicht viel aus Mädchen machst.« Bonny schluckte einmal.

»Woraus du ersiehst, dass man sich irren kann, Bonny. Doch ich will dir gestehen, dass ich es selbst nicht gewusst habe. Und jetzt muss ich mich erst daran gewöhnen, dass ich nur noch an meinem Kind gutmachen kann, was ich an der Mutter versäumt habe – sechs Jahre lang!«

»Was …, was wird aus dem Kind, Alex? Es muss doch irgendwo bleiben, wenn es keine Mutter mehr hat.«

»Zunächst hatte sich eine Ärztin des Krankenhauses, in dem Vivian starb, Alexas angenommen. Durch deren Vermittlung befindet sich die Kleine jetzt in einem sehr guten Kinderheim. Ich bin Frau Klinger natürlich sehr zu Dank verpflichtet. Ehrlich gesagt, ich wäre ohne ihre Hilfe in arger Verlegenheit gewesen.«

»Nun hast du also plötzlich eine Tochter. Kommt dir das nicht geradezu unwahrscheinlich vor?«, wunderte sich Bonny, indem sie die reizende kleine Nase kraus zog. »Es passt einfach nicht zu dir.«

»Alexa ist ein hübsches Kind. Das kannst du nicht abstreiten«, spottete Alexander Rethy.

»Doch, doch – sehr niedlich. Trotzdem, es kommt so …, so unerwartet. Ich muss mich an den Gedanken erst gewöhnen.«

»Für dich macht es doch nun wirklich keinen Unterschied, Bonny«, tröstete der Flugkapitän die Stewardess.

Sie hob die Schultern. »Vielleicht doch, Alex. Das kannst du gar nicht beurteilen.«

Sie hätten wohl noch länger geplaudert, wenn die Arbeit nicht ihr Recht gefordert hätte. Alexander Rethy übernahm die Papiere für seinen nächsten Flug und führte einige Telefongespräche. Vor allem vertiefte er sich in den soeben eingegangenen Wetterbericht. Kurz bevor er sich ins Cockpit seiner Maschine begeben musste, rief er noch einmal in Sophienlust an. Nachdem Frau Rennert ihm versichert hatte, dass mit Alexa alles in bester Ordnung sei, ließ er Dr. Josefa Klinger an den Apparat rufen.

»Ich wollte mich verabschieden, Doktorin. Ist alles im Lot bei Ihnen? Erholen Sie sich, und lassen Sie sich von Alexa nicht allzu sehr tyrannisieren.«

»Mir geht’s blendend. Hier muss man sich einfach erholen. Das macht die Sophienluster Luft, Herr Rethy. Alexa ist bereits ganz zu Hause hier. Jetzt liegt sie schon im Bett. Sicher möchte sie gern mit Ihnen sprechen. Ich lasse nachsehen, ob sie noch wach ist.«

»Danke, Frau Doktor. Geben Sie nur gut auf sich acht. Für mich ist es wunderbar, dass Sie zusammen mit meiner Kleinen in Sophienlust sind. Sie hatte ja nur ihre Mutti. Irgendwann wird die Sehnsucht kommen und die Erkenntnis, dass sie von Vivian für immer allein gelassen worden ist. Ich danke Ihnen nochmals für alles, was Sie für das Kind und für mich getan haben.«

»Nichts zu danken. Es sollte wohl so sein, Herr Rethy. Hier kommt Alexa.«

»Hallo, Vati. Wann kommst du mich besuchen?«

»Hm, so bald werde ich nicht kommen können. Aber ich schicke dir Postkarten von unterwegs, Alexa. Leider muss ich viel unterwegs sein. Es ist ein unpraktischer Beruf, wenn man Flugkapitän ist.«

»Henrik sagt, es ist große Klasse«, erklärte Alexa überzeugt. »Stimmt es, dass du ein Flugzeug allein in die Luft steigen lässt?«

»Nun ja, das stimmt, Alexa. Aber ich kann dich aus diesem Grund nicht gerade oft besuchen. Jetzt geht es gleich los.«

»Aber es ist Abend, Vati.«

»Man fliegt auch nachts, Kleines. Ich erkläre es dir später mal genau. Irgendwann werde ich dich auch mitnehmen, wenn du ein bisschen größer bist. Dann fliegen wir zusammen nach Amerika.«

»Oder in den Himmel, zu Omi und Mutti?«

Ihm stockte der Atem. »Nein, Alexa, so hoch kann kein Flugzeug der Welt fliegen«, sagte er schließlich bedrückt. »Dahin kommen wir nicht, solange wir leben.«

»Schade, Vati. Es wäre am schönsten, wenn es doch ginge.«

»Nicht traurig sein, Kleines.«

»Nein, Vati, ich bin ja im Haus der glücklichen Kinder, und ich habe Mutti versprochen, dass ich fröhlich bleiben werde.«

»Recht so, Alexa. Bis bald. Sei lieb und vergiss mich nicht. Ich bin dein Vati.«

»Ja, Vati, Tante Josi hat es mir erklärt. Ich konnte es nämlich nicht verstehen, weil alles so schnell gegangen ist. Magst du mich überhaupt? Du hast mich doch vorher nicht gekannt.«

»Ich mag dich sehr gern, Alexa.«

Dann kam Dr. Josefa Klinger nochmals an den Apparat, und endlich hängte er ein. Ein wehmütiges Lächeln stand in seinem sonnengebräunten Gesicht, als er zu seiner Maschine ging. Zum ersten Mal ließ er jemanden zurück – ein kleines Mädchen, seine Tochter Alexa!

Bonny nickte ihm zu. Sie stand mit Käppchen und Handschuhen am Einstieg zur Ersten Klasse und empfing die Fluggäste, die die umständlichen Kontrollen schon hinter sich hatten.

Bonny war Alexander Rethy sehr sympathisch. Sie war ein typisches Hamburger Mädchen, blond und sauber und anständig.

Doch schon bald hatte der Flugkapitän keine Zeit mehr, an Alexa oder Bonny zu denken. Auch an Josefa Klinger dachte er nicht mehr, als er die Checkliste zur Hand nahm und nun gemeinsam mit seinem Co-Piloten Punkt für Punkt die Kontrolle aller Geräte durchführte, wie es sich für einen gewissenhaften Flugzeugführer vor dem Start gehörte. Dann erhielt er das Zeichen, dass er zum Start fahren könne. Die Leute vom Turm meldeten, dass alles klar sei, die Männer vom Bodenpersonal traten von der Maschine zurück. Jemand winkte ihn zum Start ein. Es war wie immer und doch anders, weil diesmal jemand zurückblieb: ein kleines blondes Mädchen.

Als Alexander Rethy die Boeing schon hoch in der Luft hatte, wurde ihm klar, dass die zurückliegenden wenigen Tage die ereignisreichsten seines Lebens gewesen waren. Er hatte Vivian wiedergefunden, und sie war seine Frau geworden. Unbewusst hatte er es sich immer gewünscht, doch erfüllt hatte sich sein Wunsch erst an dem Tag, an dem Vivian gestorben war. Und jetzt wartete dort unten irgendwo in der Dunkelheit sein Kind auf ihn, die kleine Alexa, die seit wenigen Tagen seinen Namen trug.

Der Flugkapitän besann sich nun und hielt die übliche kleine Ansprache an seine Passagiere, indem er ihnen einen angenehmen Flug wünschte. Er flog für eine amerikanische Linie. Also sprach er zunächst Englisch, dann Deutsch, zuletzt Französisch.

Der Co-Pilot grinste ihm zu: »Immer derselbe Käse …«

Alexander Rethy ärgerte sich über das alberne Benehmen des anderen. Schließlich wollte jedermann einen guten Flug haben und heil ankommen. Seine Stimmung besserte sich erst, als Bonny ihm einen sündhaft starken Kaffee brachte.

»Danke, Bonny. Du bist und bleibst ein Engelchen.«

»Kommt mir gar nicht so vor. Eben hat mich ein dicker Kerl gefragt, ob ich morgen Abend mit ihm im Hotel bleiben will. Auf den scheine ich einen durchaus irdischen Eindruck zu machen.«

»Unverschämter Bursche. Soll ich ihm Bescheid sagen?«, bot er an.

»Nicht nötig. Ich habe ihm erklärt, dass ich bei meiner Großtante übernachten müsse. Sein dummes Gesicht hättest du sehen sollen, Alex. Wahrscheinlich bildet er sich ein, dass er mit ein paar hundert Dollar die Welt erobern kann.«

Der Co-Pilot tat Zucker in seine Tasse und rührte um. »Du versäumst die besten Chancen, Bonny«, spöttelte er. »Möglicherweise ist er ein Millionär und würde dich heiraten.«

»Kann schon sein«, erwiderte sie schulterzuckend. »Aber ich würde ihn nicht heiraten. Und da zum Heiraten bekanntlich zwei gehören …«

Als Bony das Cockpit verlassen hatte, sagte der Co-Pilot leise: »Sie ist ein prima Mädchen.«

Diesmal war Alexander ganz und gar seiner Meinung. »Das ist sie«, antwortete er mit Überzeugung.

*

»So – fertig!« Befriedigt betrachtete Nick sein Werk. Alexa stand neben ihm. Beide befanden sich im Augenblick im Wald von Sophienlust.

»Steht wirklich mein Name darauf?«, fragte die Kleine.

»Natürlich, Lexi. Jedes Kind, das in Sophienlust wohnt, bekommt einen solchen Baum mit seinem Namensschild. Wir nennen unseren kleinen Wald hier den Märchenwald. Zuerst gab es mal einen Waldbrand. Dadurch entstand die kahle Stelle. Und dann kam uns die Idee mit den Namensbäumchen. Gefällt dir dein Baum?«

»Er ist sehr schön. Aber es gibt sehr viele Bäume hier. Wo sind die Kinder denn alle geblieben?«

»Leider bleiben sie nicht immer hier, Lexi«, erklärte Dominik der kleinen Neuen mit einem Seufzer. »Wenn es nach mir ginge, würden sie alle für immer bei uns bleiben. Denn es gibt bestimmt keinen Platz auf der Welt, an dem es schöner ist als in Sophienlust.«

»Ja, es ist wunderbar hier«, stimmte Alexa, die inzwischen von allen Kindern Lexi gerufen wurde, ihm aus vollem Herzen zu. »Ich bleibe bestimmt für immer, denn meine Mutti ist im Himmel und meine Omi auch. Mein Vati aber muss immerzu mit dem Flugzeug fliegen. Er hat nicht viel Zeit für mich. Deshalb gehe ich auch nicht fort.«

»Hm, wir behalten dich gern.«

»Glaubst du eigentlich, dass mein Vati mich überhaupt mag? Er war auf einmal da. Mutti sagte, ich sollte hingehen. Da wusste ich noch gar nicht, dass er mein Vati ist. Dann kam das Fest mit den vielen Blumen, und jetzt ist er mein Vati. Ob er mich lieb hat – so wie euer Vati euch?«, zweifelte sie besorgt.

»Bestimmt hat er dich lieb. Ich habe ihn gesehen und verstehe mich auf die Leute. Er ist ein prima Kerl, sonst wäre er bestimmt nicht Flugkapitän.«

»Das Fliegen ist mir ziemlich wurscht«, erklärte Lexi matt. »Mit so einem Flugzeug kann man nicht einmal in den Himmel fliegen – ich meine, in den richtigen Himmel, wo meine Mutti ist.«

Die Kinderstimme schwankte verdächtig. Doch der Fünfzehnjährige verstand sich auf solche Fälle. Er warf einen letzten Blick auf das frisch gepflanzte Bäumchen im Märchenwald und hob die kleine Lexi dann auf seine Arme.

»Komm, ich trage dich huckepack. Du sagst hüh und hott, und ich trabe zum Gutshaus zurück. Dort darfst du dann noch ein bisschen auf einem der Ponys reiten bis zum Abendbrot.«

»Ja, Nick, das ist fein.« Schon war Lexi getröstet. Sie lachte und jauchzte, während Nick mit ihr durch den Wald trabte. Unterwegs trafen sie den alten Oberförster Bullinger, der sich eine Weile mit Nick unterhielt.

»Warum nennt er dich junger Herr, Nick?«, wollte Lexi wissen, als sie weiterzogen.

»Nun ja, der alte Justus sagt das auch. Es ist, weil Sophienlust eigentlich mir gehört. Aber du musst dir nichts daraus machen, denn ich kann nichts dafür und bilde mir auch nichts darauf ein.«

»Ich dachte, Sophienlust gehört deiner Mutti.«

»Nein, meine Urgroßmutter hat es mir hinterlassen. Aber es macht in unserer Familie keinen Unterschied. Alles gehört uns gemeinsam. Ich bin Mutti und Vati dankbar, dass sie bis jetzt das Kinderheim und das Gut so gewissenhaft für mich verwaltet haben und das auch weiterhin tun werden. Ich muss ja noch zur Schule gehen und dann zur Universität, bis ich einmal selbst Herr auf Sophienlust werden kann. Aber so alten Leuten wie dem Oberförster Bullinger oder dem früheren Verwalter Justus, denen kann man die Gebräuche von früher nicht abgewöhnen. Sie wären unglücklich, wenn sie bloß Nick zu mir sagen müssten. Deshalb lasse ich ihnen den kleinen Spaß.«

»Soll ich auch junger Herr sagen?«

»Bloß nicht! Die Kinder würden uns beide auslachen.«

»Was ist eigentlich eine Urgroßmutter?«, erkundigte sich Lexi, als das Herrenhaus schon in Sicht kam.

»Das ist die Mutter der Großmutter. Also, zum Beispiel die Mutti von deiner Omi im Himmel war deine Urgroßmutter.«

»Aber die habe ich doch nie gesehen«, wunderte sich Lexi.

»Ich meine Urgroßmutter auch nicht. Im Biedermeierzimmer hängt ihr Bild. Ich habe nicht einmal meinen richtigen Vati gekannt. Er starb, ehe ich geboren wurde.«

»Ach so, und jetzt ist Onkel Alexander dein Vati. Es ist komisch, dass er genauso heißt wie mein Vati.«

»Na ja, das kommt eben vor. So, jetzt wirst du mir zu schwer. Du bist ja schon ein großes Mädchen. Hol rasch deine Reithosen. Ich werde inzwischen das Pony satteln, Lexi.«

Alexa schoss davon wie ein Pfeil. Wenig später saß sie stolz auf dem kleinen Pony, das Nick an der Leine führte.

»Du stellst dich geschickt an. Bald kannst du ganz allein reiten«, lobte Nick seine neueste Schülerin.

»Es macht Spaß, Nick«, sagte Lexi strahlend.

»Natürlich macht es Spaß«, erklang jetzt eine fröhliche Stimme. Sie kam von Dr. Josefa Klinger, die eben von einem ausgedehnten Spaziergang zurückkehrte. »Du siehst auf dem Pferd aus wie eine Prinzessin, Lexi.«

»Tante Josi, Nick sagt, dass ich es schon gut mache«, berichtete das Kind voller Stolz.

»Stimmt das, Nick?«

»Sie stellt sich besonders geschickt an. Vielleicht haben wir eine Nachwuchsreiterin für unsere Juniorenklasse vor uns.« Nick war ein Pferdenarr und ein begeisterter Reiter, der in Jugendturnieren schon manchen Preis nach Hause gebracht hatte. Gewiss gab er sich auch deshalb so besonders geduldig mit der fünfjährigen Alexa ab, weil er in ihr ein Reitertalent entdeckt zu haben glaubte.

Die junge Ärztin lehnte sich an die Umzäunung des Reitplatzes und schaute zu, wie Nick mit Lexi die einzelnen Gangarten übte. Das Pony war brav und kannte die einzelnen Befehle recht gut. Trotzdem war nicht zu übersehen, dass Lexi fest und mit angeborenem Talent im Sattel saß.

Josefa Klinger schaute über sich in den Himmel, wo einsam ein Flugzeug seine Bahn zog. Sie dachte an den Flugkapitän Alexander Rethy, der ihr eine Postkarte aus Los Angeles und eine andere aus Kairo geschickt hatte. Auch an Lexi waren Karten gekommen, aber immer hatten nur ein paar nichtssagende Worte darauf gestanden. Das Schreiben schien nicht seine starke Seite zu sein, und das tat der jungen Ärztin aus Gründen, die sie sich selbst nicht recht eingestehen mochte, von Herzen leid. Er

hatte doch sicherlich Zeit zu einem Brief! Verdiente sie nicht ein bisschen mehr, als zwei armselige Ansichtskarten mit bunten fremden Marken, die ihr sofort von den Kindern abgehandelt wurden?

Carola Rennert kam mit ihrem Zwillingswagen vorüber. »Wie geht’s, Josi?«, rief sie der Ärztin zu. »Bist du auch nicht zu weit gelaufen? Frau Dr. Frey sagte mir heute, als ich sie traf, dass du dich noch sehr schonen müsstest. Ich fürchte, du bist bei dir selbst eine ziemlich unvernünftige Ärztin.«

»Ich bin nicht weit gegangen und habe mich unterwegs ausgeruht. Jetzt schaue ich hier Lexis Reitkünsten zu.«

»Wenn erst deine Zwillinge bei mir reiten lernen, Carola«, meinte Nick lachend.

»Das hat noch ein bisschen Zeit«, gab die hübsche junge Frau mit einem sanften Lächeln zurück. Carola Rennert war selbst einmal ein Sophienluster Kind gewesen. Sie hatte hier Wolfgang Rennert, den Haus- und Musiklehrer, kennen- und lieben gelernt und so eine endgültige Heimat in Sophienlust gefunden. Denise von Schoenecker hatte für das junge Paar eigens einen Anbau errichtet. Inzwischen waren die Zwillinge Alexandra und Andreas die ganze Freude der glücklichen Eltern und Gegenstand der ständigen Bewunderung aller Sophienluster Bewohner geworden.

Vom Haus her erklang der Gong, der die Kinder zum Abendessen rief.

»Schluss für heute«, sagte Nick und half Lexi sachgerecht beim Absitzen. Das Kind wollte davonlaufen. »Halt, kleine Dame, eine richtige Reiterin kümmert sich um ihr Pferd. Jetzt werden wir gemeinsam das Pony absatteln, wie sich das gehört. Zum Händewaschen vor dem Essen bleibt dann immer noch Zeit, denn es gongt zweimal, wie du weißt.«

Ein lang aufgeschossenes Mädchen mit lustigen Sommersprossen auf der Nase schloss sich ihnen an, während Josefa Klinger mit Carola Rennert und dem Kinderwagen zum Anbau ging.

»Sie reitet gut, Pünktchen«, sagte Nick. »Hast du sie beobachtet?«

»Hm.«

»Bist du schlechter Laune, Pünktchen? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte Nick.

»Überhaupt nicht. Ich hab’ bloß keine Lust zum Reden.«

»Na schön, dann sei still.«

Pünktchen, die eigentlich Angelina Dommin hieß, aber nicht einmal in der Schule mit ihrem richtigen Namen gerufen wurde, hatte keine Angehörigen mehr, die sich um sie kümmerten. Ihre Heimat war nun Sophienlust, und es stand für sie bereits fest, dass sie einmal Nick heiraten würde. Denn der Erbe von Sophienlust hatte sie vor Jahren gefunden und nach Sophienlust gebracht, als sie verzweifelt und verlassen gewesen war. Deshalb hatte er einen besonderen Platz in ihrem kleinen Herzen, aber deshalb litt Pünktchen auch ständig unter Eifersucht. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass Nick sich jetzt so intensiv mit Lexi beschäftigte, obwohl diese noch nicht einmal zur Schule ging.

Als das Pony in seiner Box war, rannte Lexi zum Haus, um sich zu waschen. Pünktchen wanderte langsam neben Nick einher. »Sooo besonders geschickt stellt sie sich auch nicht an«, schmollte sie.

Nick lachte. »Ach, Pünktchen! Du wirst doch nicht auf Lexi eifersüchtig sein? Sie ist wirklich sehr geschickt, und es ist nun mal meine Aufgabe, mich um sie zu kümmern. Wir haben heute ihr Namensbäumchen im Märchenwald gepflanzt und jetzt eine Reitstunde abgehalten. Wenn du magst, reiten wir zwei nach dem Abendessen noch ein bisschen.«

Pünktchen war sofort versöhnt. »Bleibst du in Sophienlust?«, fragte sie. »Oder fährst du dann nach Schoen­eich?«

Nick hatte als künftiger Herr von Sophienlust ein eigenes Zimmer im Herrenhaus. Doch er wohnte im Allgemeinen drüben in Schoeneich bei seinen Eltern.

»Ich fahre später rüber, denn nach dem Abendessen kommt Andrea mit Hans-Joachim.«

Andrea war Nicks Stiefschwester. Sie stammte aus Alexander von Schoeneckers erster Ehe und war mit dem jungen Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet. Die beiden lebten in Bachenau, wo sie ein Tierheim gegründet hatten, das den Namen ›Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere‹ trug. Für die Sophienluster Kinder spielte das Tierheim eine große Rolle. Es gab dort eine Braunbärin mit zwei Jungen, zwei Schimpansen, eine Ringelnatter namens Olga, einen uralten Esel, der den Namen Benjamin trug, und noch andere Tiere. Fast mit jedem dieser Tiere war einmal ein Kinderschicksal verknüpft gewesen, doch alle diese Kinder hatten Sophienlust inzwischen wieder verlassen, weil sie in einer Familie ein neues Glück gefunden hatten.

Nick hatte auch noch einen großen Stiefbruder. Sascha studierte in Heidelberg und kam nur noch selten heim nach Schoeneich. Auch er stammte aus der ersten Ehe Alexander von Schoeneckers. Als der Gutsherr von Schoen­eich Denise geheiratet hatte, hatten Sascha und Andrea eine zweite Mutter, Nick einen zweiten Vater bekommen. Henrik aber war der Spross dieser neuen, unendlich glücklichen Verbindung.

»Dann wirst du keine Zeit mehr zum Reiten haben«, bemerkte Pünktchen enttäuscht. »Ich dachte, wir könnten heute Abend noch Halma spielen. Aber du bleibst bloß, weil Magda heute rote Grütze gemacht hat.«

»Das mit der roten Grütze stimmt. Magda ist nun mal die beste Köchin der Welt«, gestand Nick freimütig. »Aber zu einem kurzen Galopp nach dem Essen reicht die Zeit auf jeden Fall, Pünktchen. Du kannst es mir doch nicht verübeln, dass ich meine Schwester sehen will, wo sie jetzt so selten kommt und meistens nur noch für ihren Mann und das Tierheim Zeit hat?«

»Schon gut, Nick. Dir ist immer alles andere wichtiger«, seufzte Pünktchen.

Nick wurde einer Antwort enthoben, denn jetzt ertönte der Gong zum zweiten Mal. Eilig wuschen sich die beiden die Hände und erschienen danach am großen Esstisch, wo Tante Ma eben die Hände faltete, um das Tischgebet zu sprechen.

*

Josefa Klinger half Carola, die Zwillinge zu versorgen und schlafen zu legen. Dann bereiteten die beiden Frauen gemeinsam das Abendessen zu. Gerade als sie fertig waren, kam Wolfgang Rennert mit dem Wagen aus Bachenau zurück, wo er etwas zu erledigen gehabt hatte.

»Hm, das duftet beinahe so gut wie bei Magda drüben in der Küche vom Herrenhaus«, stellte er schnuppernd fest.

»Josi ist nicht nur eine gute Ärztin, sondern auch eine ausgezeichnete Köchin«, entgegnete Carola lachend. »Sie hat einen Käseauflauf gemacht. In fünf Minuten können wir essen.«

»Herrlich. Sie könnten für immer und ewig bei uns bleiben, Frau Dr. Klinger«, meinte Wolfgang Rennert in bester Laune. »Wenn Carola Ihnen die Küche überließe, wäre die Arbeit tadellos aufgeteilt. Allerdings könnten wir Ihnen kein Gehalt zahlen«, scherzte er.

»Ich würde auch keines nehmen, Herr Rennert«, erwiderte Josefa Klinger. »Mein Chefarzt hätte da im Übrigen auch noch ein Wörtchen mitzureden. Ich bin krankheitshalber beurlaubt, aber nicht frei, um bei Ihnen die Stelle einer Köchin anzunehmen, wenn ich das auch gern täte. Außerdem kann Ihre Frau selbst so gut kochen, dass das auch gar nicht nottut.«

»Sie hätte dann aber mehr Zeit zum Malen. Ich habe nicht behauptet, dass sie nicht kochen kann«, wehrte sich Wolfgang Rennert.

Carola Rennert war eine begabte Malerin, die ihre knappe Freizeit gern diesem schönen Hobby widmete und ihre Bilder auch gut verkaufte.

»Es geht trotzdem nicht, denn ich habe nun mal den Beruf einer Ärztin und werde in der Klinik zurzeit von einer ausländischen Kollegin vertreten, die jedoch nur für eine begrenzte Zeit bleiben kann. Nicht, dass ich mich für unersetzlich hielte, aber ich liebe nun mal meinen Beruf.«

»Schade«, seufzte Wolfgang Rennert. »Essen wir also den Käseauflauf.«

Inzwischen hatte Carola aufgedeckt und das lecker duftende Gericht auf den Tisch gestellt. Dazu gab es einen bunten Salat, der einem Schlemmerlokal alle Ehre gemacht hätte.

»Was hören Sie von Lexis Vater?«, erkundigte sich der Hauslehrer.

Josefa spürte, dass ihre Wangen heiß wurden. Sie senkte den Blick auf ihren Teller, als sie antwortete: »Nicht viel. Er hat zwei Postkarten geschrieben. Offenbar ist es nicht leicht für ihn, sich freizumachen und sein Töchterchen zu besuchen, wie er es sich vorgenommen hatte.«

»Als Pilot einer US-Fluglinie hat er sicherlich allerlei anderes im Kopf als ein Kind von fünf Jahren, von dessen Existenz er bisher keine Ahnung hatte«, mutmaßte Wolfgang Rennert. »Ein Glück, dass Lexi sich bei uns wohlfühlt und nichts entbehrt. Ihr Vater wird sie wahrscheinlich nach und nach vergessen, sodass unser Freund Nick endlich wieder einmal ein Kind haben wird, das für immer bei uns bleibt.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Josefa etwas verständnislos.