Beiträge zur Frühförderung interdisziplinär – Band 19

Prof. Dr. Manfred Pretis ist Professor für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, Heilpäd­agoge und Klinischer Psychologe. Er ist außerdem Koordinator der EU-­Projekte ICF Train und Early Inclusion sowie Initiator von ICF-CY MedUse.

Von dem Autor außerdem im Ernst Reinhardt Verlag lieferbar:

Pretis, M.: Frühförderung und Frühe Hilfen. 1. Aufl. 2020

ISBN 978-3-497-02945-7 (Print); 978-3-497-61346-5 (E-Book); 978-3-497-61347-2 (E-Pub)

Brandau, H., Pretis, M., Kaschnitz, W.: ADHS bei Klein- und Vorschulkindern. 4. Aufl. 2020

ISBN 978-3-497-02931-0 (Print); 978-3-497-61305-3 (E-Book); 978-3-497-61310-6 (E-Pub)

Pretis, M., Kopp-Sixt, S.: ICF-basiertes Arbeiten in der inklusiven Schule. 1. Aufl. 2019

ISBN 978-3-497-02805-4 (Print); 978-3-497-61171-3 (E-Book); 978-3-497-61172-0 (E-Pub)

Pretis, M., Dimova, A.: Frühförderung mit Kindern psychisch kranker Eltern. 4. Aufl. 2019

ISBN 978-3-497-02866-5 (Print); 978-3-497-61234-5 (E-Book); 978-3-497-61235-2 (E-Pub)

Pretis, M.: Frühförderung planen, durchführen, evaluieren. 2. Aufl. 2005

ISBN 978-3-497-61088-4 (E-Book)

Hinweis: Soweit in diesem Werk eine Dosierung, Applikation oder Behandlungsweise erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass der Autor große Sorgfalt darauf verwandt hat, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen oder sonstige Behandlungsempfehlungen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. – Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbib­liografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02999-0 (Print)

ISBN 978-3-497-61390-8 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61391-5 (EPUB)

3., aktualisierte Auflage

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com / TammyJerry6465; Abbildung 11: BEB2015-rehaKIND e. V.

Satz: Katharina Ehle, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

1 Einleitung

2 Smarte Ziele in Frühförderung und Frühtherapie

2.1 Das Spannungsfeld zwischen individueller Förderung und Messbarkeit

2.2 Was sind smarte Ziele?

2.3 Strategien zum Erfolg

2.4 Die Herausforderung des Arbeitens mit Hypothesen

2.5 Smarte Ziele formulieren

2.6 Die Zweifel der Fachkräfte

2.7 Verwechslungsmöglichkeiten

3 Die ICF als Hilfsmittel smarter Zielorientierung

3.1 Gesundheitsprobleme als Ausgangspunkt

3.2 Gemeinsame und verständliche Ziele durch die ICF

3.3 Struktur und Aufbau der ICF

3.4 Von der Theorie zur praktischen zielorientierten Umsetzung

3.4.1 Die Reduktion der Komplexität

3.4.2 Beispiele der Umsetzung der ICF

3.5 Ziele über den Frühbereich hinaus

3.6 Ziele aus der Perspektive der Familien: die „F-Wörter“

4 Smarte Zielerreichung messen

4.1 Die traditionelle Evaluation von Frühfördermaßnahmen

4.2 … und was noch zu berücksichtigen wäre

4.3 Vom Kriteriumsziel zum smarten Prozessziel

4.3.1 Praktikable Zielerreichungsdarstellungen

4.3.2 Zielerreichungsskala (Goal Attainment Skala)

4.3.3 ICF Beurteilungsmerkmale und das Erreichen
von Förderzielen

4.3.4 Die Rolle der Dokumentation

4.4 Rückschritt oder Fortschritt?

4.5 Muss alles messbar sein?

5 Smarte Ziele im Rahmen evidenzbasierter Praxis

5.1 Ein neuer Zugang: „Do’s“ und „Dont’s“?

5.2 Was ist evidenzbasierte Praxis?

5.3 Evidenzbasierte Praxis anhand ausgewählter Interventionen
und Diagnosen

5.3.1 Beispiel: Kind mit Verdachtsdiagnose frühes ADHS

5.3.2 Beispiel: Kind mit FASD

5.3.3 Beispiel: Kind mit Autismus-Spektrum-Störung

5.4 Unterschiedliche Perspektiven und ein gemeinsames Ziel

6 Glossar

7 Literatur

Internetadressen (Stand: 04.05.2020)

Sachregister

1 Einleitung

Ziel dieses Buches ist es, Frühförderung und Frühtherapie in ihrer Wirksamkeit besser darstellbar und für Eltern und Fachkräfte in Teams besser gemeinsam kommunizierbar zu machen. Als Fachkräfte in der Frühförderung und Frühtherapie benötigen Sie durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Professionen in der gemeinsamen Arbeit mit Eltern Modelle der Transparenz und Verständlichkeit. Damit werden Lernmöglichkeiten für die Familie durch eine „Übersetzung“ Ihres fachlichen Wissens in den familiären Alltag eröffnet (Guralnick 2005). Speck (2008) bezeichnete die Frühförderung als eine der komplexesten Interventionen im bio-psycho-sozialen Feld, mit höchsten Anforderungen an Sie als Fachkräfte. Was braucht es dazu, ein solches Ziel der Transparenz, Effektivität und Teilhabe zu erreichen?

Förder- und Behandlungseffekte, die für alle Beteiligten als Erfolg beobachtbar und messbar sind;

Eine gemeinsame Sprache, um Förder- und Behandlungsprozesse verständlich zu gestalten und Teilhabe aller Beteiligten auf Augenhöhe zu gewährleisten. Das bezieht sich sowohl auf die Kommunikation innerhalb Ihres Teams als auch mit Eltern;

Verfügbare Förder- und Behandlungsmethoden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist oder wenigstens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet wird.

Um diese Ziele zu erreichen, wird im vorliegenden Buch auf der Basis vieler praktischer Beispiele ein Modell vorgestellt, das auf drei zusammenhängenden Aspekten (s. Abbildung 1) aufbaut:

Was bedeuten diese theoretischen Säulen?

1 „Smarte“ Formulierung und Evaluierung von Förder- und Behandlungszielen: Von Förder- und Behandlungsmaßnahmen wird erwartet, dass sie zielorientiert und wirksam sind, d. h. gewünschte Entwicklungsfortschritte einleiten oder das Beibehalten vorhandener Fähigkeiten unterstützen. Die Erreichung dieser Ziele steht dabei mit Ihrem „Handeln“ als Fachkraft in logisch-kausalem Zusammenhang: Es ist Ihr fachliches „Tun“, das Entwicklungsbedingungen für das Kind und die Familie verändert und nicht die Reifung oder der Zufall. Das Modell „smarter“ Zielformulierung bietet dafür einen Rahmen, Zielplanung und Zielevaluation zu vereinfachen und vor allem für Eltern verständlich und nachvollziehbar zu machen.

DEFINITION

Die Abkürzung (das Akronym) SMART steht dabei für „Spezifisch – Messbar – Anspruchsvoll (attraktiv, aktivitätszentriert) – Realistisch und Terminiert (vgl. Schäfer 2010).

Ziele können dabei die bestmögliche Entwicklungsförderung der Kinder, die Vermeidung von Verschlechterungen, die Selbstbefähigung („Empowerment“) der Eltern, mit schwierigen Situationen besser umgehen zu können oder die Steigerung der Lebensqualität der Familie im Allgemeinen betreffen. Ziel- und Erfolgsorientierung bedeutet in der Arbeit in und mit Familien vor allem, dass erstens sehr individuell abgestimmt wird, was ein erwünschter Effekt („Outcome“) dieses Förder- und Behandlungsprozesses sein kann. In zweiter Linie betrifft die Frage der Zielerreichung auch Ihr Team, aber auch die Leistungsträger (Krankenkassen, Sozialämter, politische Entscheidungsträger …). Im Sinne der Verwendung öffentlicher Gelder zur Prävention von Behinderung darf es auch als legitimes Interesse finanzierender Stellen angesehen werden, sich die Frage zu stellen, ob die eingesetzten Mittel auch effektiv (d. h. im Sinne der Prävention von Behinderung) bzw. effizient (im Sinne einer vertretbaren Kosten / Nutzen-Abschätzung) eingesetzt werden. Smarte Zielformulierung hilft dabei auch die Frage zu klären, WER im Team WAS macht. In dritter Line kann das Erreichen von Zielen als Indikator für die Qualität Ihrer eigenen Arbeit angesehen werden (z. B. im Sinne von Prozess- und Ergebnisqualität (Donabedian 1988). Wenn Sie smarte Ziele erreichbar und realistisch einschätzen, kann dies auch bedeuten, dass Sie als kompetente Fachkraft eingeschätzt werden, die über ein passendes Arbeitsmodell verfügt.

Smarte Zielformulierung Ermöglichen beobachtbarer bzw. messbarer Förder- und Behandlungserfolge
ICF Verwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen (ICF) (WHO 2011a) im Sinne einer gemeinsamen Sprache, um Verständnis und Teilhabe zu gewährleisten
Evidenzbasierte Praxis Förder- und Behandlungsmethoden, die den Bedürfnissen der Zielgruppen folgen und auf wissenschaftlich nachweisbaren Modellen beruhen

Abb. 1: Die drei theoretischen Säulen in Richtung von Transparenz, Teilhabe und Wirksamkeit in Frühförderung und Frühtherapie

!Frühförderung und Frühtherapie sind auf Prävention langfristiger Beeinträchtigung, Vorbeugen von Verschlechterungen bzw. Beibehaltung oder Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit ausgerichtet und somit immer zielorientiert. Ziele sind für alle am Unterstüzungsprozess Beteiligten (wenn auch aus unterschiedlichen Motiven) wichtig, in erster Linie für die Eltern, die im Regelfall ein existentielles Interesse haben, dass Ziele im Sinne einer Verbesserung der Entwicklungssituation ihres Kindes erreicht werden.

Modelle „smarter Zielformulierung“ finden in der Kinder- und Jugendhilfe bereits sehr viel stärkere Verwendung, da die Jugendämter sich im Regelfall stärker als „Auftraggeber“ verstehen, als dies in der Förderung von „Kindern mit Behinderung“ zu beobachten ist.

2 Verwendung der ICF: Um Ihre gemeinsame Arbeit mit Eltern und im Team in Richtung Zielerreichung für alle Beteiligten in gleichem Maße verständlich zu machen, kann die Verwendung einer gemeinsamen Sprache hilfreich sein. Dadurch wird sowohl für Familien als auch für das Team eine gemeinsame Wirklichkeit geschaffen. Dieses gemeinsame Verständnis und „Ziehen an einem Strang“ im Sinne eines „Teams um ein Kind“ (englisch: „Team around the child“) (Limbrick 2011) bildet dabei die Voraussetzung dafür, dass fachliche Impulse in sinnhafte lernförderliche Alltagsaktivitäten für die Familie „transferiert“ werden können:

!Die Hauptaufgabe von Fachkräften in Frühförderung und Frühtherapie kann es somit häufig sein, einer Familie Impulse zu geben, lernförderliche Aktivitäten in den familiären Alltag integrieren zu können (Mahoney 2012).

Abb. 2: Das Verhältnis lernförderlicher Aktivitäten zwischen therapeutischen, heilpädagogischen und elterlichen Angeboten (Mahoney 2012)

Die „Eltern“ (hier im weitesten Sinne verstanden als primäre Bindungs- bzw. Beziehungspersonen) spielen dabei eine weitaus wichtigere Rolle als vielleicht angenommen wird, da sie es sind, die bis zu zwölfmal häufiger lernförderliche Situationen schaffen können als Fachkräfte. Um einen solchen Transfer zu gewährleisten, ist gemeinsames Verständnis notwendig. Anweisungen allein („Führen Sie zuhause diese oder jene Übung durch“) erleichtern dabei eine solche Übersetzung in den Alltag kaum, da sich Eltern „fremdbestimmt und distanziert“ als „Lehrer ihrer Kinder“ fühlen könnten. Auch erweisen sich solche Ansätze langfristig als wenig wirksam (Mahoney 2012). Komplexe Situationen in Frühförderung und Frühtherapie benötigen die Übersetzung in eine Sprache, die als gemeinsame Handlungsstrategie für alle verstanden werden kann: für die Physiotherapeutin im Team, die Ärztin, die Frühförderin und die Eltern. Das spricht keineswegs gegen die einzelnen Fachtermini, sondern für ein darüber hinausgehendes übergreifendes Verständnis zwischen den Professionen und den Eltern. Es darf angenommen werden, dass nur Maßnahmen, die von allen verstanden werden oder deren Sinnhaftigkeit nachvollziehbar ist, zielführend sind. Andernfalls ist zu befürchten, dass Eltern Unterstützungsangebote abbrechen oder so umsetzen, wie sie es für richtig halten bzw. verstehen. Diese Gefahr ist gerade bei der Unterstützung extrem sozial benachteiligter Familien sehr hoch (zwischen 20 bis 66 % Abbruchquoten, Pretis 2016). Wer kennt nicht erstaunliche Praxisbeispiele, wie Familien kreativ und basierend auf eigenem Verständnis Ihre wohlgemeinten Ratschläge umsetzen (da sie diese in ihre eigenen Wahrnehmungs- und Verständnisprozesse übersetzen). Bisweilen kommt dabei im Alltag das Gegenteil dessen heraus, was von Ihnen als Fachkraft möglicherweise beabsichtigt wurde.

TIPP

Reflektieren Sie, in welchen Situationen es Ihnen erfolgreich gelingt, Ihr fachliches Wissen in lernförderliche Aktivitäten der Familie zu übersetzen.

Für ein solches gemeinsames Verständnis wird als Modell die Verwendung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health. Children and Youth Version, WHO 2007) vorgeschlagen (deutsch: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen, Weltgesundheitsorganisation 2011). Die ICF ermöglicht die umfassende Darstellung der konkreten Daseins-Situation eines Kindes und Jugendlichen (mit einem Gesundheitsproblem).

DEFINITION

„Die ICF-CY ist für Fachpersonen in klinischen Settings, in der Pädagogik, Gesetzgebung und Forschung sowie für Angehörige und Betroffene gedacht, um die Dokumentation der Charakteristika von Gesundheit und Funktionsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen.“ (WHO 2011a, 12)

Da die WHO mit Beschluss vom 27.1.2017 beabsichtigt, die Kinder- und Jugendlichenversion mit der bestehenden Erwachsenenversion (ICF) zusammenzuführen, wird in dieser 2. Auflage nur noch auf letztere Bezug genommen.

3Evidenzbasierte Praxis“: Damit ist gemeint, dass sich Frühförderung und Frühtherapie auf Methoden berufen, die auf überindividuellen Erfahrungen beruhen oder auf (messbare) Beobachtungswerte zurückzuführen sind. Der Förderprozess beruht somit nicht auf meiner einzelnen persönlichen Meinung, d. h. nur weil ich als Fachkraft glaube, dass etwas gut für ein Kind oder eine Familie ist, sondern auf übereinstimmenden Erfahrungen mit relevanten „Anderen“ und deren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Solche „empirischen“ Daten eröffnen für Familien und Teams Sicherheit in Bezug auf zwei wichtige Fragen:

a) Wie erklären wir uns wissenschaftlich, dass ein Kind sich anders als andere (typisch entwickelte) Kinder entwickelt (= Begründungswissen)?

b) Wie können wir auf der Basis dieses vorhandenen Wissens gemeinsam Entwicklungsbedingungen verändern (= Veränderungswissen)?

Abb. 3: Feedbackspirale zwischen smarter Zielformulierung, ICF als gemeinsamer Sprache und evidenzbasierter Praxis

Im optimalen Fall gibt es für Sie als Fachkraft Antworten, die auch andere „teilen“, sodass Sie auf diesen Erfahrungsschatz „anderer“ zurückgreifen können, sofern diese Daten öffentlich sind. Förder- und Behandlungserfolge beruhen somit nicht auf rein persönlichen Überzeugungen, magischen Handlungen oder willkürlicher Praxis, sondern auf (überprüfbarem) Erfahrungswissen. Diese Erfahrungswerte mögen dabei unterschiedlicher Natur sein: Sie können auf wissenschaftlichen Studien, Einzelfalldarstellungen, auf Expertenmeinungen oder auf Ihren eigenen fachlichen Überlegungen beruhen. Das Besondere an evidenzbasierter Praxis ist jedoch, dass sie durch andere (die Eltern, Ihr Team, die Scientific Community, verstanden als Gemeinschaft jener, die sich mit einem Thema wissenschaftlich auseinandersetzen) oder durch eigene Beobachtungsdaten überprüft werden können. Frühförderung und Frühtherapie stellen dadurch wissenschaftlich orientierte Handlungen und nicht Glaubenssätze dar.

Die drei Hauptbegrifflichkeiten hängen logisch zusammen und bilden optimalerweise eine Qualitätsentwicklungsspirale für Sie als einzelne Fachkraft in der Familie, in Ihrer Frühförderstelle oder Ihrer Praxis im Sinne lernender Organisationen. Der Startpunkt der smarten Zielformulierung ist dabei in Abbildung 2 recht willkürlich gewählt. Ausgangspunkt könnte für Sie als Fachkraft z. B. die Frage sein, welches empirische Wissen in Bezug auf eine Fragestellung (z. B. die Förderung eines Kleinkindes mit ADHS) vorhanden bzw. verfügbar ist, um daraus smarte Ziele zu entwickeln und die Situation mit der Familie und dem Team mittels ICF zu reflektieren.

Die in diesem Buch beschriebenen Anregungen zu smarter Zielformulierung, der Verwendung der ICF und evidenzbasierter Praxis stellen einen gemeinsamen Beschreibungsrahmen dar, mittels dessen für Sie als Fachkraft deutlich gemacht werden kann:

dass die Effekte Ihrer Förderung und Behandlung auch (im Sinne der Prävention) beschreibbar und messbar / einschätzbar sind;

dass Ihre hochindividualisierten Handlungen in und mit der Familie auch überindividuell-abstrakt kommuniziert werden können;

dass Ihre Förderung und Behandlung auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht (d. h. evidenzbasiert ist).

BEISPIEL

Einen gemeinsamen theoretischen Rahmen bieten und daraus Ziele ableiten

Wissenschaftliche Erkenntnisbasis: In Frühförderung und Frühtherapie werden häufig Eingangsrituale (z. B. die Begrüßung mittels Fingerpuppen) durchgeführt. Den Kindern gefällt dieses Ritual meist, manche Eltern machen dabei auch mit. Neben Aspekten der visuellen Aufmerksamkeit beruht diese Aktivität auch auf Erkenntnissen aus der Stressforschung (Ashman et al. 2002). Ritualisierung kann im Sinne von „Vorhersehbarkeit“ Stress reduzieren. Dies ist z. B. bei 7- bis 8-jährigen Kindern depressiver Mütter über erhöhte Plasmacortisolspiegel (als Zeichen für erhöhten Stress) beobachtbar. Der Einsatz von Ritualen kann dabei (auf wissenschaftlicher Basis) eine Reduktion von kindlichem Stress ermöglichen, indem Vorhersehbarkeit geschaffen wird. Dies kann somit den theoretischen Rahmen Ihres Handelns darstellen.

Spielen Fachkräfte in der Frühförderung und Frühtherapie dann nur mit Fingerpuppen?

Überindividuell-abstrakte Sprache: Hier kommt die ICF ins „Spiel“, indem Ihr individuelles Eingangsritual als Fachkraft (für das Kind verstanden als Routine) durch eine abstrakte Beschreibung (z. B. im weitesten Sinne das Item „d2300 Routinen folgen“) auf einer abstrakten Ebene benannt werden kann. Damit werden Ihre Aktivitäten sowohl für Eltern als auch für andere Teammitglieder in einer „Metasprache“ umschrieben und wiederum in den theoretischen Rahmen der Stressforschung gesetzt: Die „Zehn kleinen Zappelmänner“(Suetens 2014) als Sammlung von Fingerspielen z. B. für die Aufwärmphase von Fördereinheiten, die Sie durchführen, erhalten dadurch eine „Bezeichnung“ im Rahmen Ihres Fördermodells. In der Teambesprechung geht es somit nicht mehr um die „Zehn kleinenZappelmänner“, die Sie methodisch einsetzen (im Fingerspiel), sondern um Ritualisierung und Stressreduktion bzw. Vorhersehbarkeit.

Messbare Ziele: Daraus können sich beispielhaft für Sarah (5 Monate) mit ihrer komplexen Lernbehinderung (früher als Mehrfachbehinderung bezeichnet) auch „smarte“ Förderziele ergeben: Nach einem Monat ist bei Sarah durch eine Ganzkörperreaktion bei den „Zehn kleinen Zappelmännern“ Freude zu erwarten, sodass Sarah somit die Bedeutung des durchgeführten Begrüßungsrituals versteht und vorwegnimmt. Nach drei Monaten ist Sarah in der Lage, mittels ihres Körpers zu vermitteln, dass sie genau dieses Eingangsritual aktiv „einfordert“. Als Fachkraft folgen Sie somit einer logischen Kette, die damit beginnt, dass Sie sich über ihren theoretischen Rahmen klar sind und daraus ein Teilhabeziel und „smarte Ziele“ (Feinziele) ableiten. Für die Eltern ist die Erreichung dieser smarten Ziele beobachtbar und somit Erfolge sichtbar. Indem Eltern das Ritual der „Zehn kleinen Zappelmänner“ verstehen, sind sie möglicherweise auch in der Lage weitere Rituale in den Familienalltag zu integrieren.

Machen Sie sich als Fachkraft das Leben damit nicht unnötig komplizierter, da sowohl das Kind als auch die Familie in der Arbeit die „Zehn kleinen Zappelmänner“ durchaus zu schätzen wissen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch deren Funktion verstehen? Dies trifft teilweise zu: Die formulierten smarten Ziele (Erkennen und Einfordern des Rituals) sind hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit „messbar“, sodass sowohl die Eltern als auch Sie dies als Erfolg ansehen können. Die Verwendung der gemeinsamen ICF basierten Sprache erfordert zwar für Sie als Fachkraft mehr Aufwand, da damit in Ihrer Arbeit eine neue theoriegeleitete Beschreibungsebene eingeführt wird, gleichzeitig erhält Ihr Handeln auch einen wissenschaftlich anerkannten Namen (im konkreten Fall einen ICF Code). Es ist dabei zu erwarten, dass somit der Austausch mit Ihrem Team erleichtert wird, da für andere Fachkräfte die „Zehn kleinen Zappelmänner“ in einen theoretischen Rahmen gesetzt werden, was auch zur Aufwertung Ihrer eigenen pädagogisch-therapeutischen Arbeit führt. Gerade in der Kommunikation mit anderem Fachpersonal erscheint dies hilfreich, da (wenigstens hinter vorgehaltener Hand) immer wieder Fragen auftauchen, was denn Fachkräfte bei kleinen Kindern „eigentlich“ tun: Konkret eröffnen Sie eine Einheit mit den „Zehn kleinen Zappelmännern“, abstrakt-theoretisch verfolgen Sie (im oben genannten Beispiel) mit ihrem Handeln das Ziel, dass Sarah Routinen erkennt, antizipiert und entsprechend handelt, also ICF d2300.

Die Zielformulierung mittels smarter Prinzipien führt im Erfolgsfall zum Erreichen von Zielen und somit zur konkreten Beobachtbarkeit von Effekten, die Ihrer Frühförderung und Frühtherapie zugeschrieben werden können. Etwas Besseres könnte Ihnen und den Familien nicht passieren: Damit wird die häufig intuitiv erlebte Wirksamkeit Ihrer Intervention zu einer beschreibbaren Veränderung, die mit Ihren Maßnahmen in Zusammenhang gebracht wird und zur Förderung oder Beibehaltung von Fähigkeiten (z. B. bei fortschreitenden Erkrankungen) ursächlich beiträgt.

Reflektieren Sie einzelne von Ihnen am häufigsten durchgeführte Aktivitäten in Bezug auf deren theoretischen Hintergrund. Auf welche theoretischen Grundlagen führen Sie die Verwendung einzelner Fördermaterialien wie z. B. das „Bällchenbad“, die „Kugelbahn“, den „Stachelball“ zurück?

2 Smarte Ziele in Frühförderung und Frühtherapie

2.1 Das Spannungsfeld zwischen individueller Förderung und Messbarkeit

Grundkonsens besteht in frühen Förder- und Behandlungsmaßnahmen, dass diese zielorientiert und in hohem Maße individuell in Bezug auf die Bedürfnisse des Kindes und der Familie ausgerichtet sind. Bereits der Text der entsprechenden zugrunde liegenden Gesetzeswerke (in Deutschland das SGB IX § 26, in Österreich die entsprechenden Landesbehinderten- oder Chancengleichheitsgesetze) enthält diese Zielperspektive, indem frühe Förder- und Behandlungsmaßnahmen präventiv wirken sollen. Als Fachkräfte verfügen Sie somit über WISSEN und FÄHIGKEITEN, wie Sie Behinderung abwenden, mindern, bzw. auszugleichen vermögen oder eine Verschlimmerung verhüten können, auch um längerfristige Sozialleistungen zu vermeiden.

In der konkreten Arbeit erfordern Ihre Frühförder- und Frühtherapiemaßnahmen in Mitteleuropa (für die Schweiz sind dies Leistungen der heilpädagogischen Früherziehung) meist einen Förder- und Behandlungsplan, weil gemeinsam mit der Familie und für die Familie Ziele erreicht werden sollen, die über die Möglichkeiten und Wirksamkeit der alltäglichen Erziehungsarbeit in der Familie hinausgehen. Voraussetzung dafür ist freilich in den meisten Ländern eine „Etikettierung“ bzw. Stigmatisierung“, wenn für die Kinder aufgrund von Abweichungen von der alterstypischen Entwicklung eine bedeutsame Teilhabebeeinträchtigung vorliegt oder droht. Der Fokus dieser Aussage liegt dabei auf der „Teilhabebeeinträchtigung“, die häufig in Förder- und Behandlungsplänen kaum beschrieben wird, obwohl sie einen Kernpunkt gesetzlicher Regelungen darstellt und in Zukunft in Deutschland (im Rahmen des Bundesteilhabegesetzes) eine noch viel stärkere Bedeutung haben wird. Bei der Hinwendung zur smarten Zielformulierung wird es somit noch pointierter um den Fokus der „Teilhabebeeinträchtigung“ bzw. der Teilhabeziele gehen.

DEFINITION

Teilhabe ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation […] Eine Beeinträchtigung der Partizipation (Teilhabe) ist ein Problem, das ein Mensch im Hinblick auf sein Einbezogensein in Lebenssituationen erleben kann.“ (WHO 2011a, 41)

Tabelle 1 verdeutlicht jeweils die beiden Seiten der Medaille „Abweichung von alterstypischer Entwicklung und Teilhabebeeinträchtigung“. Typische Förder- und Behandlungspläne in der Frühförderung und Frühtherapie beschreiben häufig zwar die Abweichung von der Altersnorm, kaum jedoch die daraus resultierende Teilhabebeeinträchtigung.

Tab. 1: Das Verhältnis zwischen Diagnose, Beschreibung abweichender Entwicklung und Teilhabebeeinträchtigung anhand zweier ausgewählter Beispiele

ICD-10 Diagnose Abweichung von der alterstypischen Entwicklung Teilhabebeeinträchtigung bezogen auf eine konkrete Lebenssituation
G80 (infantile Zerebralparese) Freies Laufen zum Grenzstein 18. Lebensmonat noch nicht erreicht

das Sich-selbstständig-Fortbewegen z. B. im häuslichen Kontext

das Angewiesen-Sein auf fremde Hilfe

Autonomie

das Hantieren mit Gegenständen, die sich nicht in Griffweite befinden

F80 (umschriebene Entwicklungsstörung des Sprechens und der Sprache) Verwendung von nur fünf verständlichen Wörtern im Alter von 36 Monaten, was weniger als einem Prozentrang 16 gemäß (SBE-3-KT) entspricht und somit als weit unter der Altersnorm angesehen werden darf

das Kommunizieren durch Sprache mit Gleichaltrigen

das Sich-Verständigen im Spiel

das Ausdrücken von Bedürfnissen

Dieser Schwenk von der Abweichung / Störung / Schädigung in Richtung Teilhabebeeinträchtigung ist schwierig, da wir bislang kaum in Richtung konkreter Auswirkungen in relevanten Lebenssituationen für Kinder und Familien gedacht haben. Die Beschreibungssprache solcher Teilhabebeeinträchtigungen erscheint auch sehr nahe an unserer Alltagssprache:

Es geht nicht um eine „Störung der Impulskontrolle“ (b1304), sondern um das Ausgeschlossen-Sein aus der Gruppe der Gleichaltrigen (d7504);

Nicht der Muskeltonus einer einzelnen Extremität (b7351) ist das Problem, sondern die Schwierigkeit, z. B. Schreib- oder Kommunikationswerkzeuge unserer Gesellschaft (Smartphone etc.) zu verwenden (d3600).

Die Zielperspektive für den Förder- und Behandlungsplan stellt somit primär die Verhinderung möglicher Teilhabebeeinträchtigungen dar und nicht das Erreichen von z. B. Meilensteinen der Entwicklung. Das zugrunde liegende „Etikettierungs-Ressourcendilemma“, dass Kinder und Familien nur dann Fördermaßnahmen erhalten, wenn eine „Etikettierung“ vorliegt, wird noch immer als massive Zugangsbeschränkung zur notwendigen Bedarfsabdeckung gesehen. Es darf europaweit angenommen werden, dass dadurch nur 60 % notwendiger Frühförder- und Therapiemaßnahmen im Bereich verletzlicher Kleinkinder vonseiten der Eltern in Anspruch genommen werden.

Im englischen Sprachraum wird von „individuellen Familien-Unterstützungsplänen (IFSP oder Individual Family Service Plans für Kleinkinder bzw. IEP Individualized Educational Programs (Bruder 2010) im Bereich des Kindergartens und der Schule) gesprochen. Der englische Begriff selbst vermittelt, dass stärker als im deutschen Sprachraum die Familie als Leistungsempfänger angesehen wird, nicht so sehr das Kind allein, wie dies im Begriff des „Förder- und Behandlungsplans“ stärker suggeriert wird. Beiden Zugängen ist gemeinsam, dass die Planung früher präventiver Förder- und Therapiemaßnahmen meist folgende Merkmale aufweist:

Individualität (d. h. auf die einzigartigen Bedürfnisse des Kindes und der Familie ausgerichtet).

Ressourcen- und Stärkenorientierung (d. h. die vorhandenen Fähigkeiten des Kindes und der Familie werden benannt).

Bedarfsspezifität (d. h. auf die Wünsche und Sorgen der Eltern und beobachtbare Abweichungen zur alterstypischen Entwicklung und den damit zusammenhängenden notwendigen Etikettierungen als „behindert oder von Behinderung bedroht“ wird Bezug genommen).

Zielkompetenzorientierung, d. h. zu erwerbende Kompetenzen für das Kind und die Familie werden z. B. über Teilhabe- und smarte Ziele beschrieben.

Orientierung an Diensten, d. h. welche konkreten Dienste ein Kind und eine Familie daraus folgend benötigen.

Auf einer praktischen Ebene beschreiben die meisten Förder- und Behandlungspläne somit:

was das Kind und die Familie kann und in der Lage ist zu tun (=Ist-Stand und vorhandene Ressourcen);

in welchen Bereichen eine Abweichung vom alterstypischen Verhalten bzw. alterstypischer Entwicklung vorliegt bzw. was als Ressource oder Stärke interpretiert werden kann;

welche Zielkompetenzen das Kind und die Familie erwerben sollen;

welche Maßnahmen / Ressourcen / Interventionen dafür aus Ihrer Sicht als Fachkraft notwendig erscheinen.

Diese Basis-Bausteine „Ist-Situation, Ressourcen, Abweichung von alterstypischer Entwicklung und Anliegen der Eltern / Zielkompetenzen oder Teilhabeziele“ verdeutlichen auch den gemeinsamen Weg des Teams und der Familie von der Beobachtung über die Bewertung in Richtung Zielformulierung, d. h. vom IST über die Bewertung zum SOLL.

TIPP

Auch wenn die deutliche Unterscheidung zwischen „Beobachtung“ und „Bewertung“ bei Ihnen als Fachkraft wahrscheinlich hinlänglich bekannt ist, ist die Umsetzung im Förder- und Therapiealltag häufig eine Herausforderung. Es kann hilfreich sein, sehr sensibel die eigene Beobachtungssprache in Richtung „versteckter“ Bewertungen zu überprüfen: Jan tut sich leicht beim Legen eines Puzzles. Der Wortschatz Alinas ist gut oder umfangreich. Ahmet bewegt sich sicher im Raum. Alle fett gedruckten Adjektive repräsentieren mit hoher Wahrscheinlichkeit versteckte Bewertungen und nicht primär Beobachtungen.

Eine reine Ist-Situationsbeschreibung, was Julia (Tabelle 2) bereits kann und über welche Ressourcen die Familie verfügt, ist dabei nicht ausreichend, da ein Vergleichsrahmen (z. B. alterstypischer Kompetenzen) fehlt. Aus einer reinen Ist-Stand-Erhebung könnte (ohne die notwendige Bewertung) kein gesetzlicher Anspruch auf Förderung oder Therapie abgeleitet werden. Es benötigt auch den Vergleich zur alterstypischen Entwicklung oder aber zu Sorgen und Anliegen der Eltern.

Diese Basisbausteine (s. Abbildung 4) werden im Laufe des Kapitels durch den Aspekt der Arbeitshypothesen, smarter Zielformulierungen, Dokumentation und Evaluation vervollständigt.

Tab. 2: Basiskomponenten (Ist-Situation, Bewertung in Bezug auf Entwicklungsnormen unter Berücksichtigung von Ressourcen und zu erwerbende Kompetenzen unter Heranziehung von ICF Codes)

Ist-SituationDiagnose: Von Seiten des Klinikums wurde bei Julia der Verdacht auf frühkindlichen Autismus (F84) geäußert.
Julia (3;6 Jahre) erhielt Frühförderung. Beide Eltern kommen zum Erstgespräch. Zurzeit besucht Julia regelmäßig eine Kita und wirkt äußerlich gepflegt. Beinahe jeden Tag fragen die Eltern beim Abholen nach (sie kommen meist abwechselnd), wie der Tag in der Kita verlaufen sei und was sie als Eltern zuhause tun können.
Im durchgeführten Sprachtest SBE 3–KT erreicht Julia einen Gesamtwert von 30 Punkten. In der Freispielzeit beschäftigt sich Julia vornehmlich mit einem Spielzeug (Kreisel). Sie verbringt beinahe die gesamte Freispielzeit damit. Wenn sich ihr eine Erzieherin zuwendet, lässt sie sich ungefähr für eine Minute von ihrer Beschäftigung ablenken.
Bisweilen (im Sesselkreis) beobachtet Julia andere Kinder, senkt bei Blickkontakt jedoch ihren Kopf. Sprachlich richtet sich Julia an die Erzieherin oder an andere Kinder mit Einwortsätzen. Dies bezieht sich vor allem auf ihren Kreisel („Haben“). Im Bewegungsraum sucht sie die Nähe zu einem anderen Mädchen und folgt den Anweisungen der Erzieherinnen.
Bewertung in Richtung alterstypischen Verhaltens und in Bezug auf Ressourcen / Stärken Lt. Bescheid des Kreisamtes Z (vom 2.3.2014) erscheint Julia im Zusammenhang mit ihrer Verdachtsdiagnose F84 von Behinderung bedroht. Sowohl in ihrem Spielverhalten (vornehmlich Einzelspiel mit Hauptinteresse an einem Gegenstand und sich wiederholenden Tätigkeiten) als auch in ihrer Kommunikation (siehe Sprachbeurteilungstest) zeigen sich grenzwertige bis hin zu deutlichen Abweichungen von alterstypischer Entwicklung, die Fördermaßnahmen erforderlich erscheinen lassen.
Julia besucht die Kita gerne und zeigt Interesse an anderen Kindern, was als Stärke angesehen werden kann. Die Eltern als weitere Ressource von Julia erscheinen bemüht, die bestmögliche Förderung umzusetzen.
Die Eltern hoffen, dass die Verdachtsdiagnose nicht zutrifft.
Zu erwerbende Zielkompetenzen (Teilhabeziele), bereits mit ICF Codes versehen, um zu demonstrieren, wie dies in der Praxis umgesetzt werden kann Teilhabeziele (in Übereinstimmung mit den Eltern)

Julia spielt mit anderen Kindern (d8803).
Julia drückt ihre Bedürfnisse altersgemäß sprachlich aus (d330).
Die Eltern wünschen sich Gewissheit über das Vorliegen der Verdachtsdiagnose (e5802).

Abb. 4: Basisbausteine der Förder- und Behandlungsplanung

In der Umsetzung der Zielorientierung unterscheidet sich die europäische Tradition früher Fördermaßnahmen bislang deutlich von US-amerikanischen Ansätzen: Bei letzteren wurde bereits von Beginn an sehr stark darauf geachtet, Förderfortschritte messbar und evaluierbar zu machen. Die unzähligen Studien zu den Headstart-Programmen, die sich seit Beginn der 1960er Jahre vor allem mit Kindern aus sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen beschäftigten, sind ein deutliches Beispiel dafür (Advisory Committee 2012). Das mag damit zusammenhängen, dass viele ursprüngliche Frühförderungsinitiativen in Amerika im weiteren Zusammenhang von universitären Programmen entwickelt wurden und somit von Anfang an ein verstärkter Fokus auf die Evaluierbarkeit und wissenschaftliche Nachweisbarkeit gelegt wurde. Dies mag aber auch daran liegen, dass Zielorientierung und Darstellung der Wirksamkeit im Sinne von Zielerreichung ein Kriterium der Finanzierung von Programmen darstellten. Die Annahme dahinter ist, dass sich fachliche Zielorientierung in Förderung und Behandlung von intuitiver Elterlichkeit oder Freiwilligenprogrammen unterscheidet. Elterlichkeit kann zwar auch zielorientiert sein (im Regelfall wollen alle Eltern das Beste für ihre Kinder), reduziert sich jedoch nicht nur auf das Erreichen von Zielen. Abweichend zu Ihrer Fachlichkeit als Frühförderin oder Therapeutin erziehen Eltern ihre Kinder häufig auf Basis von Alltagstheorien und wünschen sich von ihren Kindern meist mehr, als nur „leistungsfähige gesunde Menschen“ zu werden. Elterlichkeit kennt im Regelfall auch keinen „Zeitablauf“. Für Sie als Fachkraft endet Ihr Arbeitsauftrag mit Erreichung Ihrer gemeinsam mit den Eltern vereinbarten Ziele oder mit Ablauf der Kostenübernahme. Dies soll nicht bedeuten, dass gerade die Förderung (intuitiver) elterlicher Feinfühligkeit oder Responsivität ein nicht ungemein wichtiges Förderziel selbst sein kann und sein sollte. Wie in Kapitel 1 erwähnt, beschreibt vor allem Mahoney (2012) in seinen Forschungsarbeiten, dass eines der wichtigsten Ziele der Frühförderung das Schaffen aktivitäts- und lernförderlicher Situationen für das Kind gemeinsam mit seinen Eltern darstellt.

Der amerikanischen Tradition, die bereits von Beginn an verstärkt an Zielorientierung und Wirksamkeitsmessung orientiert war, steht die europäische Philosophie der Frühförderung gegenüber. Diese verstand sich sehr viel personenzentrierter und individualistischer und entwickelte sich auch viel dezentralisierter (d. h. weniger im Naheverhältnis zu Universitäten), und zeigte stärkere Nähe zu Elterninitiativen (Lebenshilfe) oder karitativen Trägern (Diakonie, Caritas, Rotes Kreuz, Arbeiterwohlfahrtetc.). Aufgrund sehr individueller Zugänge der einzelnen Leistungsanbieter und der föderalistischen Strukturen in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit unterschiedlichen Ländergesetzen erschien somit eine Vergleichbarkeit der Qualität der Arbeit mit den Familien, die Einschätzung der Wirksamkeit oder Effizienz von frühen Therapien und Fördermaßnahmen deutlich erschwert. Dies führte auch dazu, dass im Vergleich zur US-amerikanischen Situation in Europa kaum aussagekräftige empirische Daten vorliegen, die die Wirksamkeit früher Fördermaßnahmen über die von Ihnen als Fachkraft bzw. von den Eltern häufig individuell wahrgenommenen Frühfördereffekte beschreiben. Eltern und Sie als Fachkraft mögen durchaus erkennen, dass es zu (positiven) Veränderungen gekommen ist, die der jeweiligen Förderung oder Therapie zuzuordnen sind, daneben ist es aber auch notwendig, diese Wirkung überindividuell (d. h. objektivierend) zu erfassen. Dieses Fehlen „objektiver Daten“ wird zurzeit im Rahmen der Qualitätsdiskussion und in der Wirksamkeitsforschung in Mitteleuropa deutlich bemängelt. Daraus resultiert die Notwendigkeit, dass frühe Therapie- und Fördermaßnahmen besser in ihrer Wirksamkeit oder Effizienz dargestellt werden sollten. Es erscheint nur eine Frage der Zeit, und erste Ansätze sind hier bereits in einzelnen norddeutschen Bundesländern zu beobachten, bis die Wirksamkeits- und Effizienzdiskussion auch auf die Leistungsträger überschwappt.

!Unterschied zwischen Wirksamkeit und Effizienz:
Von Wirksamkeit einer Therapie / Maßnahme kann dann gesprochen werden, wenn erwartete Effekte oder Veränderungen auf die Durchführung der Maßnahme zurückzuführen sind (und nicht einfach durch Reifung oder den Zufall geschehen).
Effizienz als Kosten-Nutzen-Verhältnis bedeutet, dass die dafür eingesetzten Ressourcen (meist durch Geldbeträge / Investitionen repräsentiert) in einem vertretbaren Verhältnis zu den erreichten Effekten stehen.
So kann eine hochfrequente Therapie bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen (z. B. 20h / Woche) zwar als wirksam erachtet werden (wenn sich Veränderungen zeigen), ob sie in Bezug auf die einzusetzenden (finanziellen) Mittel jedoch effizient ist, bleibt offen und wird in der gegenwärtigen Diskussion um Förderbedarfe auch kritisch diskutiert (Weinmann et al. 2009).
Die Frage, ab wann eine Intervention als effizient anzusehen ist, ist nicht aus der Maßnahme selbst abzuleiten, sondern eine sozial-, gesundheitspolitische oder ethische (willkürliche) Festsetzung.

Aus diesem Grund erscheint es nicht verwunderlich, dass die jetzige zu beobachtende Bewegung in Richtung genauerer Zielformulierung und verstärkter Hinwendung zur Wirksamkeitsmessung aus dem englischen Sprachraum hervorgeht.