London im 19. Jahrhundert. Mr. Silver, ein Magier, der mal als Mensch, mal als schwarzer Panther sein Unwesen treibt, hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen: Er muss ihm 999 menschliche Seelen beschaffen. Ein Heer dämonischer Schattenkatzen steht ihm dabei zur Seite. Der mutige Straßenkater Edgar kommt diesen Machenschaften auf die Spur. Gemeinsam mit seinem besten Freund Algernon und der belesenen Katze Leyla versucht er alles, um dem schrecklichen Mörder das Handwerk zu legen.
© Thienemann Verlag GmbH
Marliese Arold wurde als jüngstes Kind von drei Geschwistern in Erlenbach am Main geboren. Das Nesthäkchen liebte die Märchen, die ihre Mutter ihr erzählte und entdeckte sehr früh die Liebe zu Geschichten. Sie konnte von Büchern nicht genug bekommen, aber Bücher waren knapp. Um Abhilfe zu schaffen, beschloss sie kurzerhand, selbst zu schreiben. Über zweihundert Bücher hat die Vollzeit-Autorin, die mit ihrem Mann noch immer in Erlenbach lebt, schon geschrieben. Ihre beiden Kinder sind inzwischen erwachsen. Ihre lustigen, traurigen, spannenden und frechen Erzählungen vermehren sich fröhlich weiter und, tatsächlich, langsam wird es auf ihren Bücherregalen eng!
Es war tiefe Nacht.
Mister Monty Silver saß in seinem Lehnstuhl. Er fühlte sich unbehaglich. Sein Gesprächspartner, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, zog es vor zu stehen, obwohl Mister Silver ihm mehrfach einen Platz angeboten hatte. Das Kaminfeuer flackerte und warf gespenstische Schatten.
»Nun, Sie haben mich gerufen. Was kann ich für Sie tun?«, fragte der hochgewachsene Fremde mit leicht näselnder Stimme. Er fing an, ungeduldig hin und her zu gehen, dabei zog er den linken Fuß ein wenig nach. Der Holzboden knarrte bei jedem seiner Schritte.
»Wie Sie sich vielleicht denken können, dreht es sich um den Vertrag, den ich mit Ihnen vor ein paar Jahren geschlossen habe«, erwiderte Mister Silver stockend. »Ich hätte da gerne ein paar Änderungen und Ergänzungen.«
»Ich nenne unseren Vertrag einen Pakt und Änderungen sind nicht üblich.«
Monty Silver drehte nervös am Knauf seines Spazierstocks. »Aber Sie haben doch damals gesagt, dass ich nach ein paar Jahren … vielleicht …«
»Der langen Rede kurzer Sinn: Sie wünschen also Ihr Eigentum zurück, das Sie mir vor sieben Jahren übertragen haben, als Sie unheilbar krank waren.«
»Genau so ist es.« Monty Silver sah furchtsam zu seinem Besucher auf. Seit er da war, schien die Temperatur im Salon um mehrere Grade gefallen zu sein.
»Heute sind Sie gesund, so, wie ich es Ihnen versprochen habe. Ich habe den Teil unseres … Vertrags erfüllt. Und jetzt fordern Sie Ihren Teil zurück. Was bieten Sie mir als Ausgleich an?« Der Tonfall des Fremden klang ironisch. Er blieb neben dem Stuhl stehen und legte seine Hand auf die Lehne. Seine Finger waren lang, mit spitz zugeschliffenen Nägeln.
Wie Klauen, fuhr es Mister Silver durch den Kopf. Er räusperte sich, bevor er sprach.
»Was verlangen Sie denn?«
»Beschaffen Sie mir 999 Menschenseelen, dann gebe ich Ihnen das zurück, was Sie mir überschrieben haben.«
Mister Silvers Herzschlag setzte für einen Moment aus. Was für eine unverschämte Forderung! Andererseits musste er froh sein, dass sich sein Vertragspartner überhaupt auf einen Handel einließ.
»999 Seelen? Das erscheint mir eine sehr große Anzahl …«
»Ist Ihre Seele das nicht wert?«
»Doch, doch, gewiss.« Monty Silver atmete schwer. »Aber wie soll ich das bewerkstelligen?«
»Ich bin sicher, dass Ihnen etwas einfallen wird. Nehmen Sie sich ein paar Helfer! – Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch einen anderen Termin.«
»Aber …«
Der Fremde verschwand vor Mister Silvers Augen. Er löste sich einfach in Nichts auf. Nur ein leichter Geruch nach Schwefel blieb im Salon zurück.
Edgar, der junge schwarze Kater, erwachte und hob den Kopf. Seine bernsteinfarbenen Augen durchdrangen die Dunkelheit.
Es war kalt geworden im Zimmer, das Feuer im Ofen schon lange ausgegangen. An den Fensterscheiben wuchsen allmählich Eisblumen empor. Der Schein der Gaslaterne drang in die gute Stube der kleinen Londoner Wohnung, in der die alte Miss Emma Sallow bereits seit vielen Jahren wohnte.
Frierend kuschelte sich Edgar tiefer in ihren Faltenrock. Auf Emmas Schoß war es sonst gemütlich warm, heute jedoch nicht. Und dass sie vergessen hatte, ihren Kater zu füttern, war auch ungewöhnlich.
Edgars Hunger wurde langsam unerträglich. Er schloss die Augen und sah wenig später ein Tellerchen mit gebratener Leber vor sich. Daneben stand eine Schale mit zarten Hühnchenstücken. Voller Vorfreude leckte er sich sein kleines Maul. Doch gerade als er mit dem Essen beginnen wollte, hörte er, wie ein Schlüssel in die Tür gesteckt wurde. Er schreckte hoch, mit einem Mal hellwach, und spitzte die Ohren.
Zwei Fremde betraten die Wohnung, ein Mann und eine Frau. Edgar hatte sie noch nie gesehen, aber er wusste, dass sie nebenan lebten. Er erkannte sie an ihren Stimmen – oft genug hatte er durch die dünne Wand gehört, wie sie miteinander stritten.
»Irgendwas stimmt nicht. Ich habe Emma schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.« Das war die Frau.
»Aber trotzdem … so einfach in ihre Wohnung … das geht doch nicht …«, wandte der Mann ein.
»Wozu hat sie mir dann einen Schlüssel gegeben, du Dummkopf? Ich habe Emma versprochen, nach ihr zu schauen, wenn sie mal krank ist …«
Die Tür zur guten Stube ging auf, und eine hagere Frau schob ihre spitze Nase in den Raum. Ihre lebhaften Augen huschten überall umher.
»AchdulieberGott! Ich fürchte, wir kommen zu spät.« Sie bekreuzigte sich.
»Warum ist es hier denn so dunkel?«, fragte der Mann und versuchte, über seine Frau hinwegzusehen. »Spart sie wieder an Kerzen? Und wie kalt es ist! Warum hat sie den Ofen nicht angestellt?«
»Schschsch, Henry, sprich doch nicht so laut!«, mahnte die Frau. »Sie sitzt in ihrem Schaukelstuhl. Ich glaube, sie ist …«
»Tot?«, dröhnte Henry. »Aber das Katzenvieh hockt doch noch auf ihrem Schoß!« Er schob seine Frau zur Seite und trampelte ins Zimmer. »Runter mit dir, du verdammtes Biest!«, schnauzte er Edgar an und wedelte mit seinem Arm. »Geh von ihr weg, du Teufelsbraten!«
So hatte noch niemand mit Edgar gesprochen! Mit einem Satz sprang der Kater auf den Boden und starrte den Mann fassungslos an. Henry trat nach ihm, aber Edgar wich aus und flüchtete mitten durch die Beine der Frau in den Flur. Sie kreischte erschrocken auf. Edgar geriet in Panik. Da die Wohnungstür offen stand, huschte er ins Treppenhaus. Aus lauter Angst, dass die beiden ihm folgen und ihn treten oder schlagen könnten, sprang er die Treppe hinunter, zwei Stockwerke, bis er vor der geschlossenen Haustür stand. Dort konnte er nicht weiter. Er drückte sich in eine dunkle Ecke und hoffte, dass ihn niemand finden würde.
Im Haus wurde es laut. Schritte, Poltern, aufgeregte Stimmen. Türen klappten. Ein Möbelstück wurde gerückt. Etwas schleifte über den Boden. Edgars Fell sträubte sich, es fiel ihm schwer, still zu stehen.
Nach einer Weile kam der Nachbar die Treppe herunter. Der Kater machte sich ganz klein, um nicht von ihm gesehen zu werden. Doch Henry beachtete ihn gar nicht. Er schien es eilig zu haben, öffnete die Haustür und war draußen, bevor Edgar reagieren konnte. Der kleine Kater hätte das Haus gern verlassen, aber die Tür fiel vor seiner Nase zu – und allein konnte er sie nicht öffnen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als in seine Ecke zurückzukehren und zu warten.
Es dauerte gar nicht lange, bis der Nachbar zurückkam, gefolgt von einem dicken Herrn, der einen dunkelbraunen Gehrock und einen Zylinder trug. Der Duft nach Kampfer, der ihn umgab, war Edgar vertraut. Er kannte den Herrn. Es war der Doktor, der gelegentlich zu Emma kam, mit seinem schwarzen Lederkoffer und dem Stethoskop. Meistens ließ er ein kleines Fläschchen mit Tropfen da, nachdem er sich eine halbe Stunde mit Emma nett unterhalten und einen Kräuterlikör getrunken hatte. Und immer streichelte er Edgar und sagte ein paar freundliche Worte zu ihm.
Edgar nahm an, dass der Doktor auch jetzt einen Kräuterlikör mit Emma trinken wollte, und folgte den beiden Männern die Treppe hinauf, respektvoll Abstand haltend. In Emmas Wohnung hatten sich inzwischen etliche Hausbewohner versammelt. Jemand hatte ein paar Kerzen angezündet, der Geruch von Wachs lag in der Luft.
Emma saß nicht mehr in ihrem Schaukelstuhl, sondern lag auf dem Sofa, auf dem sie nachts auch schlief. Sie sah seltsam aus – die Hände gefaltet, als wollte sie beten. Sie hatte die Augen fest geschlossen und machte nicht den Eindruck, als wollte sie gleich mit dem Doktor einen Kräuterlikör trinken.
Der Doktor kniete sich neben das Sofa. Er nahm das Stethoskop aus seinem Lederkoffer, drückte den Trichter auf Emmas Brust und hielt sein Ohr gegen das andere Ende des Rohrs. Die Leute im Raum, die sich leise unterhalten hatten, verstummten. Alle Augen waren auf den Doktor gerichtet.
Dieser lauschte, schüttelte dann den Kopf und sagte: »Ich kann nichts mehr tun. Möge Miss Sallow in Frieden ruhen.«
Wie auf ein Kommando fingen einige Frauen an zu schluchzen, während sich der Doktor erhob. Er schaute im Raum umher – ob er den Kräuterlikör suchte? –, dabei fiel sein Blick auf Edgar.
»Tja, und was wird jetzt wohl aus dir, Kleiner?«
Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf den Kater. Henry, der hinter seiner Frau gestanden hatte, trat einen Schritt vor und zischte: »Bist du schon wieder da, du Vieh?«
Jemand sagte: »Schwarze Katzen bringen Unglück!«
Eine Frau bückte sich, um nach Edgar zu greifen.
Der Kater fauchte. Dann drückte er sich an die Wand, huschte in Schlangenlinien zwischen den Leuten hindurch – hinaus zur Treppe, hinunter zur Haustür, die just in diesem Moment von außen geöffnet wurde. Mit einem großen Satz sprang Edgar durch die offene Tür ins Freie.
Feuchte Kälte empfing den kleinen Kater. Es begann gerade erst zu dämmern, aber auf den Straßen war es schon laut und es herrschte reger Verkehr. Die hölzernen Rollläden vor den Geschäften wurden hochgezogen. Dienstmädchen schrubbten mit Bürste und Wasser die Hauseingänge. Kaminkehrer waren unterwegs, Gemüse- und Käsehändler schoben ihre Handkarren in Richtung Innenstadt. Auf dem Straßenpflaster ratterten die Räder der Wagen und Kutschen, Peitschen knallten, Fußgänger wichen fluchend zur Seite, wenn es eng wurde.
Edgar drückte sich ängstlich an den Hauswänden entlang, verwirrt von all dem Lärm und den Gerüchen. An manchen Ecken duftete es nach frisch gebackenem Brot, und gelegentlich drang aus einer Garküche der verlockende Duft nach Gebratenem, sodass es Edgar fast schwindelig wurde. Sein Hunger war allmählich nicht mehr auszuhalten, das Bauchkneifen so schmerzhaft, dass er manchmal wimmernd innehielt. Er verstand die Welt nicht mehr. Bisher war er so beschützt und behütet gewesen, Emma hatte ihm täglich sein Futter gegeben, ihn gestreichelt und mit ihm geschmust – und auf einmal war alles anders … Schrecklich!
Der Kater versuchte, die Straße zu überqueren, denn von der anderen Seite drang ein verführerischer Duft zu ihm. Vielleicht würde er dort etwas zu essen finden.
Er schaute nach links und nach rechts, ohne einen Schritt zu wagen. Wieder rollten die Räder knapp vor seiner Nase vorbei, die Speichen wirbelten im Kreis, die Hufe der Pferde klapperten auf dem Pflaster. Eines der Tiere ließ direkt vor ihm einen Haufen Pferdeäpfel fallen, sie dampften in der Kälte.
Edgars Pfote zuckte vor und wieder zurück. Gab es jetzt eine Lücke? Er war es nicht gewohnt, Entfernungen und Geschwindigkeiten einzuschätzen. Jetzt! Er schoss los.
Von der Gegenseite kam eine Kutsche, die er nicht gesehen hatte. Ein großes Rad erfasste ihn und schleuderte ihn durch die Luft. Edgars Körper schlug hart auf dem Pflaster auf.
Der kleine Kater blieb zunächst wie benommen liegen. Dann hob er langsam den Kopf, stand vorsichtig auf und schüttelte sich. Der Schreck saß ihm noch in den Gliedern, aber offenbar war ihm nichts passiert.
Als er weitergehen wollte, stieß er auf zwei Beine, die ihm im Weg standen. Die Zeit schien auf einmal stillzustehen. Der Lärm auf der Straße klang gedämpft. Es war, als ob Edgar plötzlich allein mit seinem Gegenüber wäre.
Die Füße steckten in derben schwarzen Lederstiefeln und ein langer dunkler Umhang reichte fast bis zu den Knöcheln. Edgar blickte ängstlich hoch. Es war ein großer Mann, der die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte. In der rechten Hand hielt er einen Stab … nein, etwas anderes – eine Stange mit einer großen geschwungenen Klinge am oberen Ende. Eine Sense.
Edgars Fell sträubte sich. Die Gestalt hatte etwas Unheimliches an sich.
Der Mann zog mit einer Handbewegung seine Kapuze ein Stück zurück und Edgar erblickte einen weißen Totenschädel. Der Kiefer bewegte sich, und der Schädel fing an zu sprechen:
»Neun Leben wurden dir gegeben,
daraus kannst du dein Schicksal weben.
Neune nanntest du dein Eigen,
eines muss ich jetzt abzweigen.
Nutz die anderen mit Bedacht,
du hast der Leben nur noch acht.«
Edgar starrte die Gestalt an. Er war in diesem Augenblick unfähig, sich zu rühren. Der Schädel grinste und klackte mit den Zähnen. Dann schwang der Kuttenmann die Sense – und verschwand vor Edgars Augen.
Der sonderbare Moment war vorbei, die Zeit lief weiter und der Straßenlärm drang wieder laut in Edgars Ohren.
Der Kater fauchte wütend und verwirrt die leere Stelle an. Was sollte das? So hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen! Und was hatte das zu bedeuten – neun Leben?
Doch es war niemand da, der ihm Antwort geben konnte. Edgar setzte sich in Bewegung und trottete weiter, eng an der Häuserwand entlang. Er musste jetzt unbedingt etwas zu essen finden – und wenn es eine Maus war! In Emmas Wohnung hatte es nur selten Mäuse gegeben – und Edgar hatte auch erst eine einzige in seinem Leben gefangen. Die hatte nicht einmal besonders gut geschmeckt – er hatte die Hälfte davon wieder hervorwürgen müssen. Das Futter, das er von Emma bekommen hatte, war entschieden besser gewesen.
Aber Emma würde sich nun nie mehr um ihn kümmern. Er musste lernen, für sich selbst zu sorgen.
Edgar bog in eine schmale Gasse ein, die kaum einen Meter breit war. Finsternis und übler Gestank empfingen ihn, denn man hatte dort Unrat abgeladen. Der kleine Kater, der bisher nur Emmas saubere Wohnung kannte, ekelte sich ein bisschen, aber der Hunger trieb ihn vorwärts. Wo Abfälle lagen, da gab es gewöhnlich auch Mäuse und Ratten …
Da war schon eine, und zwar ein Riesenbiest! Zwei dunkle Augen glänzten in der Dunkelheit. Spitze Zähne blitzten auf.
Edgar blieb stehen. Diese Ratte war bestimmt keine Beute für ihn! Sie war fast so groß wie er. Ohne Angst saß sie auf einem Stein und blickte ihn höhnisch an.
Der Kater überlegte, ob er weitergehen oder den Rückzug antreten sollte. Er traute sich nicht an ihr vorbei. Griffen Ratten Katzen an? Ihm fehlte jegliche Erfahrung …
»Hihi, biste ’n Angstschisser, ja?«, nölte die Ratte. »Haste noch nie jemanden wie mich gesehen? Komm nur her, wenn du Mumm hast!«
»Guten Tag«, sagte Edgar höflich.
»Was soll an dem Tag gut sein, haste ’ne Meise?«, spottete die Ratte. »Die Nacht ist unser Freund, je finsterer, desto besser. Das gilt übrigens auch für Schleicher wie dich. Mondschein lädt Gesindel ein …« Sie lachte ein raues Lachen.
Edgar wagte sich einen Schritt vor. Die Ratte saß mitten im Weg, er wusste nicht, ob er sich links oder rechts an ihr vorbeidrängen sollte.
»Würdest du vielleicht … ein Stück zur Seite gehen, damit ich vorbeikann?«
»Hier kommt keiner ohne Wegzoll vorbei!«
»Wegzoll?«
»Na, ein Stück Käse oder Schinken. Wenn du willst, dass ich Platz mache. Dalli!«
»Aber … aber ich habe nichts …« Edgar verharrte in der Bewegung.
»Geh zur Seite, Stinker!«, forderte eine fremde Stimme. »Hier komme ich!«
Bevor die Ratte reagieren konnte, fegte eine große Pfote sie von ihrem Platz. Die Ratte überschlug sich in der Luft und suchte dann laut quiekend das Weite.
Vom anderen Ende der Gasse her näherte sich ein stattlicher Kater, bestimmt doppelt so groß wie Edgar. Grüne Augen leuchteten in der Dunkelheit.
»Und du – mach auch Platz!«
Schon hatte sich Edgar eine gewaltige Ohrfeige eingehandelt – die erste seines Lebens. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Der Schlag schleuderte ihn zur Seite. Seine Wange schmerzte, der Gegner hatte die Krallen ausgefahren. Edgar spürte Feuchtigkeit. Blut.
Zitternd drückte er sich gegen die Wand und wartete darauf, dass der andere Kater weiterging.
Der Große schritt betont langsam an ihm vorbei.
Edgar wagte kaum zu atmen, aus Furcht, ihn zu reizen. Seine Schnurrhaare zitterten vor Aufregung. Er hätte sich gerne hingesetzt und sich geputzt, aber er wollte lieber warten, bis der andere weg war. Sicher war sicher …
Endlich war der fremde Kater vorüber und ein Stück entfernt. Edgar fuhr sich mit der Pfote über die verletzte Wange und zuckte zusammen. Es tat weh und brannte. Leise wimmerte Edgar.
Der andere Kater musste scharfe Ohren besitzen, denn ehe Edgar es sich versah, war er zurückgekehrt und baute sich vor ihm auf. Seine Augen schwebten über ihm wie zwei grüne Monde.
»Willst du noch was sagen, Weichei?«
»N-n-n-nein«, stotterte Edgar und schlotterte vor Angst, da er befürchtete, dass er sich gleich eine weitere Ohrfeige einhandeln würde. Gegen diesen Gegner hatte er keine Chance. Der Große würde ratzfatz Apfelmus aus ihm machen.
»Wie heißt du, Zwerg? Oder hast du keinen Namen?«
»Man … man nennt mich Edgar. Manchmal Eddy oder Ed.«
»Und was machst du hier?«
»Ich … suche etwas zu essen. Mein Frauchen … Emma … sie hat mich nicht gefüttert … Alles ist so seltsam … Ich glaube gar, sie ist tot …«
»Ich glaube gar, sie ist tot«, äffte der fremde Kater Edgar nach. »Weißt du das nicht?«
»Sie hat nicht mehr geatmet und wurde ganz kalt und steif …« Traurigkeit stieg in Edgar auf, er musste einen Schluchzer unterdrücken, denn er hatte Emma sehr geliebt.
»Dann ist sie tot. Nichts mehr zu machen. Menschen haben nur ein Leben, nicht neun wie wir Katzen. Arme Geschöpfe, dabei bilden sie sich immer so viel ein.«
Edgar wurde ein bisschen mutiger. Der andere Kater schien zumindest daran interessiert zu sein, sich mit ihm zu unterhalten. Vielleicht würde er doch keine Prügel mehr bekommen …
»Äh … wie ist das?«, fragte Edgar zaghaft. »Was meinst du damit – neun Leben?«
»Wo kommst du denn her, du Dummie? Hat dir deine Mutter nichts beigebracht?«
»Ich kann mich kaum an sie erinnern«, gestand Edgar. »Eines Tages war sie nicht mehr da – und ich kam zu Emma …«
Erinnerungen überfluteten ihn. Warme Milch in einem Fläschchen. Streichelnde Hände. Eine flauschige Decke … Emma hatte ihn den Verlust seiner Mutter schnell vergessen lassen. Nach ein paar Tagen bei ihr begann ein aufregendes Leben: Er war auf Entdeckungsreise gegangen, hatte erfahren, dass seine kleinen Krallen bestens zum Klettern geeignet waren, beispielsweise die Vorhänge hoch … Er hatte noch genau das Bild vor Augen, als er das erste Mal auf der Gardinenstange gelandet war und sich nicht mehr heruntergetraut hatte. Miss Emma Sallow war trotz ihres vorgerückten Alters auf einen Stuhl gestiegen und hatte ihm einen Besen vor den Bauch gehalten. Es hatte eine Stunde gedauert, bis Edgar es gewagt hatte, auf den borstigen Untergrund zu steigen und sich dann vorsichtig herunterheben zu lassen.
»Du hast also dein ganzes Leben bei dieser Emma verbracht?«, fragte der Fremde.
»Ja.«
»Hat sie dich nicht ins Freie gelassen? Bist du niemals über die Dächer spaziert? Hast du nie Tauben gejagt?«
»Ich war meistens in der guten Stube. Bei schönem Wetter saß ich manchmal am offenen Fenster und schaute hinaus.«
»Oh, du armes Ding. Du weißt ja anscheinend gar nichts vom wahren Leben.«
Irrte sich Edgar, oder hörte er jetzt tatsächlich etwas Mitgefühl in der Stimme des anderen Katers heraus? Oder war es Spott?
»Ist es … bei dir anders?«
»Das will ich meinen. Sieht man das nicht?« Der Fremde baute sich vor Edgar auf. Da es inzwischen ein bisschen heller geworden war, konnte der kleine Kater ihn deutlicher erkennen. Das Fell schimmerte rot und hatte einige kahle Stellen, wo sich Narben und verkrustete Wunden befanden. Das linke Ohr war zerfetzt. Trotzdem machte der Kater einen imposanten Eindruck. Er sah aus wie ein Kämpfer, der sich durch nichts erschüttern ließ.
»Du siehst … tapfer aus«, murmelte Edgar.
Der fremde Kater machte sich noch größer. »Das bin ich auch«, trumpfte er auf. »Der beste Kämpfer von London. Du kannst froh sein, dass du mich getroffen hast.«
»Oh. Und wie heißt du?«
»Algernon. Jede Katze, jede Ratte, jede Maus kennt diesen Namen. Selbst die Fische in der Themse kennen ihn, obwohl die nicht reden können. Ich bin berühmt und gefürchtet – Algernon, der König der Straße.«
Edgar schwieg beeindruckt.
»Jetzt hat’s dir wohl die Sprache verschlagen, Kleiner? Normalerweise gibt sich Old Algernon nicht mit solchem Grünzeugs wie dir ab, aber diesmal will ich eine Ausnahme machen. Du brauchst einen, der dir sagt, wo’s langgeht, sonst wirst du hoffnungslos untergebuttert. Ich … hm … würde dir drei, vier Tage geben, höchstens. Dann bist du deine neun Leben los und schwimmst als Leiche im Fluss. So, jetzt aber genug geschwatzt! Komm mit, Ed, wir werden dir jetzt was zu essen jagen, bevor du noch ganz vom Fleisch fällst.«
Algernon setzte sich in Bewegung, und Edgar schloss sich ihm an. Er wusste nicht genau, was er von seiner neuen Bekanntschaft halten sollte, aber er war froh, nicht mehr allein zu sein. Und Algernon kannte sich offenbar bestens aus …
»Wie … wie ist das eigentlich?«, fragte Edgar, nachdem er eine Weile hinter dem roten Kater hergetrottet war. »Warum hast du von neun Leben geredet?« Das Thema interessierte ihn brennend.
Algernon blieb stehen und wandte den Kopf. »Du weißt gar nichts, wie? – Also, für eine Katze gibt es viele Gefahren. Sie kann so dusselig sein und von einem Dach runterfallen. Oder sie kann einen Fisch fressen und an einer Gräte ersticken. – Er …«, dabei hob Algernon den Kopf und schaute nach oben, aber Edgar konnte dort niemanden sehen, »Er meinte es gut mit uns Katzen – und deswegen können wir schon eine Menge aushalten. Wir sterben nicht gleich, sondern bekommen noch mal eine Chance. Und dann noch mal. Insgesamt neun Mal. Dann ist Sense. Kapiert, Schnucki?«
»Ja«, sagte Edgar kleinlaut. »Dann … dann habe ich nur noch acht Leben. Vorhin hat mich eine Kutsche erfasst – und da war ein Mann, der sagte so einen komischen Spruch auf.«
»Ach, du meinst den Kuttenmann.« Algernon grinste Edgar an und zeigte dabei seine Zähne, die nicht in allerbestem Zustand waren. »Der kommt immer. Der ist mir auch schon ein paarmal über den Weg gelaufen.«
»Du kennst ihn?«
»Sicher. Wir haben uns schon öfter unterhalten. Schräger Typ.«
»Wie viel … wie viele Leben hast du noch, Algernon?«, fragte Edgar bang, der langsam die Zusammenhänge zwischen Tod und Leben und dem Mann mit der Sense begriff.
»Ich weiß nicht. Acht oder vier, vielleicht auch nur noch sechs. Ich habe nicht mitgezählt. Es interessiert mich nicht besonders. Können wir jetzt über etwas anderes reden oder hat dir dieser Totenschädel so gefallen?«
»Nein. Er war … gruselig.«
»Na also. Dann komm. Wir wollen heute noch ein bisschen Spaß haben!«
Edgar hielt sich dicht an Algernons Seite. Sie trotteten durch die engen Gassen. Ohne Algernon hätte sich Edgar sicherlich heillos verlaufen, aber der Straßenkater schien sich bestens auszukennen. So erreichten sie nach einer Weile einen breiten Fluss – die Themse. Nebel schwebte über dem Wasser, das nach Fisch und Unrat roch.
Algernon sprang auf ein Abfallrohr, aus dem sich eine widerliche Brühe in den Fluss ergoss.
»Komm her, Edgar, hier kannst du lernen, wie man Fische fängt.«
Edgars Schnurrhaare sträubten sich ein wenig, aber er gehorchte und stellte sich hinter Algernon auf das Abfallrohr. Algernon hatte seinen Kopf weit über das Rohr hinausgeschoben und verharrte in Lauerstellung.
Edgar sah sich um, während er auf der glatten Röhre balancierte. In einigem Abstand fuhren Schiffe über den Fluss, was Algernon jedoch nicht zu stören schien. Im Nebel wirkten die Boote und Lastkähne wie gespenstische Schatten. Auch die Geräusche schien der Nebel zu dämpfen. Einige Vögel flatterten am Ufer entlang und stießen dabei schrille Schreie aus. Einer landete nur wenige Meter entfernt und schaute die beiden Katzen interessiert mit seinen stechend gelben Augen an. Edgar wurde nervös, der Vogel kam ihm ziemlich groß vor.
»Alles Angeber und Wichtigtuer!«, knurrte Algernon. »Die Biester warten nur darauf, dass einer von uns etwas fängt, um uns dann die Beute abzujagen. Faule Fettsäcke! Sieh sie nur an, wie dick ihr Kropf ist. Sie werden bald nicht mehr fliegen können, weil sie zu schwer sind!«
»Lügner, Lügner!«, kreischte die Möwe und trippelte am Ufer entlang. »Das sagst du nur, weil du nicht fliegen kannst. Du bist neidisch, jawoll!«
»Hör nicht auf dieses Ungeziefer, Edgar!«, brummte Algernon. »Diese Möwen sind die Pest. Und nimm dich in Acht vor ihrem Schnabel.« Plötzlich schnellte er blitzschnell vor und hatte tatsächlich einen kleinen Fisch in der triefenden Pfote. »Bingo! So macht man das!«
Der Fisch zappelte. Algernon warf ihn Edgar zu. »Hier, iss! Normalerweise bin ich nicht so, aber heute habe ich meinen großzügigen Tag.«
Edgar versuchte, den Fisch aufzufangen. Er war nicht besonders geschickt, und fast wäre der Fisch ins Wasser zurückgeschnellt. Der schwarze Kater trat mit der Pfote auf die Schwanzflosse. Der Fisch drehte und wand sich. Edgar starrte angewidert auf die Beute. Dieses glitschige Ding sollte er essen?
Algernon, der ihn beobachtete, kicherte. »Kennst du keinen Fisch?«, fragte er. »Noch nie welchen gegessen?«
»Noch keinen … lebendigen«, ächzte Edgar, der Mühe hatte, den Fisch festzuhalten. Um ein Haar wäre er ihm entwischt. Er musste die zweite Pfote benutzen. Edgar dachte daran, wie lecker Emmas Futter immer ausgesehen hatte – appetitlich auf einem Teller oder in einer Schale angerichtet. Und nun vor seiner Nase – dieser ekelhafte, stinkende Fisch! Wenn nur nicht der Hunger in seinem Bauch gewesen wäre!
Die Möwe trippelte näher heran. In ihren Augen blitzte Gier.
»Du magst keinen Fisch, das sehe ich«, sagte sie. »Gib ihn mir!«
»Untersteh dich, Eddy«, knurrte Algernon. »Für dieses langschnäbelige Drecksvieh ist jede Gräte zu schade! Nun iss den Fisch schon, oder glaubst du, er schmeckt besser, wenn du ihn vier Wochen aufhebst?«
Edgar hob die Pfote, um dem Fisch einen tödlichen Hieb zu versetzen. Doch dieser machte eine blitzschnelle Bewegung, kam frei und sprang ins Wasser. Weg! Edgar starrte ihm verdutzt nach.
»Also, du bist wirklich ein Volltrottel!« Algernons Stimme klang genervt.
»Tut mir leid«, sagte Edgar zerknirscht.
Die Möwe lachte ein keckerndes Lachen. »So blöd, so blöd!« Sie schwang sich in die Luft und kreiste über Edgar. Ein weißer Klacks fiel herunter. Er verfehlte Edgar nur knapp.
»Miststück!«, fauchte Algernon, sprang aus dem Stand in die Höhe und hätte fast eine Schwanzfeder erwischt. »Das zahle ich dir heim! So was versuchst du gar nicht mehr bei meinem Freund, verstanden?«
Edgar glaubte, sich verhört zu haben. »Hast du eben … Freund gesagt?«, fragte er, während sich ein warmes Gefühl in seiner Brust ausbreitete.
»Ist mir versehentlich rausgerutscht.« Algernon wich seinem Blick aus.
»Ich hatte noch nie einen Freund«, meinte Edgar glücklich. »Du bist der erste. Danke.«
»Ach, bilde dir bloß nichts drauf ein. Ich bin oft ziemlich unausstehlich – und dann wirst du es bereuen, mit mir Freundschaft geschlossen zu haben. Manchmal habe ich so schlechte Laune, dass ich den ganzen Tag nichts reden möchte. Da darf mir auch keiner zu nahe kommen, weil ich dann sehr schnell Ohrfeigen austeile. – Oh, hier ist wieder einer!« Algernon angelte einen zweiten Fisch aus der Themse, der deutlich größer war als der erste. »Der entkommt uns aber nicht mehr!« Er packte die Beute mit den Zähnen und sprang ans Ufer, wo er dem Fisch den Garaus machte. Dann halbierte er ihn und warf Edgar einen Teil zu. »Und jetzt denk nicht lange drüber nach, sondern iss! Oder willst du verhungern?«
Edgar verschlang den Fisch mit Todesverachtung. Es war das Widerlichste, was er in seinem Leben gegessen hatte – aber was sollte er machen? Hier gab es niemanden, der ihm gebratene Leberstückchen servierte oder ihm eine Schale Sahne hinstellte! Und die gierige Möwe, die schon wieder in der Nähe umherspazierte, wartete nur darauf, dass er seinen Magen entleerte und alles hervorwürgte.
Edgar schluckte und hoffte, dass das glitschige Ding unten blieb und seinen quälenden Hunger stoppte.
Inzwischen hatte Algernon seine Hälfte ebenfalls vertilgt und strich sich über die Schnurrhaare. Er schien zu überlegen, ob er weiterangeln sollte, entschied sich aber dann dagegen.
»Komm, Edgar, hier gibt’s zu viele Zuschauer. Wir müssen weiter. Ich habe heute noch eine Verabredung.« Er machte ein paar drohende Schritte auf die freche Möwe zu, die erschrocken hochflatterte. Algernon lachte. »Das nächste Mal erwische ich dich«, kündigte er an und trottete am Ufer entlang. »Genieße die Tage, die dir noch bleiben.«
Edgar schlich hinter dem roten Kater her, gespannt, wohin er ihn führen würde.
Auf dem Kai wimmelte es unterdessen von Menschen. Schiffe legten an und wurden entladen, Männer rollten Fässer und trugen Kisten. Es ging laut und hektisch zu, und überall hockten oder flogen die neugierigen Möwen, immer darauf erpicht, irgendeinen Brocken zu erhaschen. Edgar musste schweren Stiefeln ausweichen und hatte Mühe, den Anschluss an Algernon nicht zu verlieren. Der große Kater ließ sich von dem Trubel nicht irritieren. Ruhig und geschickt schlängelte er sich überall durch und wich den Männern aus, die nach ihm treten wollten.
Edgar dagegen wusste kaum, wo ihm der Kopf stand. So viele neue Eindrücke! Der Lärm, die vielen Menschen, die Gerüche … Es war eine Welt, die er nicht kannte, aber in der er sich ab sofort zurechtfinden musste. Um ein Haar wäre er von einem Fass überrollt worden. Im letzten Augenblick sprang er zur Seite.
Algernon hatte den Vorfall beobachtet.
»Eddy, du musst besser aufpassen, sonst bist du bald platt wie ein Blatt Papier – und das wäre schade.«
»Ich … ich … versuch’s ja«, stammelte Edgar, dem der Schreck noch in den Gliedern saß. Er war froh, als sie das Gewühl hinter sich ließen und einen Schleichweg nahmen, der zwischen zwei Kistenbergen hindurchführte. Der Gang war zwar eng und ziemlich dunkel, aber sie begegneten keinem Menschen. Es roch nach verfaultem Fisch, und Edgar musste wieder daran denken, was sich in seinem Magen befand. Ihm war leicht übel.
»Wohin gehen wir, Algernon?«, fragte er, um sich abzulenken.
»Wart’s ab!«, lautete die ruppige Antwort.
Edgar schwieg einige Augenblicke, doch dann siegte seine Neugier. »Mit wem bist du verabredet?«
Algernon blieb stehen, drehte sich um und funkelte ihn mit seinen grünen Augen an. »Habe ich dir schon gesagt, dass ich es nicht leiden kann, wenn jemand zu viele Fragen stellt?«
»Entschuldigung!« Edgar hatte das Gefühl, noch viel lernen zu müssen, was den Umgang mit Algernon betraf. Er nahm sich vor, erst zu überlegen, bevor er etwas sagte. Schweigend trottete er hinter dem roten Kater her.
Sie entfernten sich von der Themse und näherten sich der Innenstadt. Edgar hatte großen Respekt vor den Kutschen, sie flößten ihm Furcht ein. Wenn die Holzräder vor seiner Nase vorbeirollten, wurde ihm schwindelig. Dazu kam der ohrenbetäubende Lärm, der in seinem Kopf dröhnte und dröhnte …
Algernon schien sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Ohne Nervosität wartete er ab, bis die Lücke zwischen zwei Kutschen groß genug war, dann rief er: »Los, Edgar!« Die beiden Kater sausten pfeilschnell über die Straße und kamen heil auf der anderen Seite an.
Hier gab es eine Reihe von Läden, aus denen die unterschiedlichsten Düfte strömten. Einmal roch es nach Süßwaren, ein anderes Mal nach Leder, und oft genug konnte Edgar den Geruch nicht identifizieren. Algernon spazierte stolz auf dem Sims vor den Schaufenstern entlang und spiegelte sich hin und wieder in einer der Glasscheiben.
»Grausamer Mord an Katzen! Tod auf der Straße!«, brüllte ein Zeitungsjunge direkt vor Edgar. Er trug eine Holzkiste voller Zeitungen vor sich her, die mit einem Gurt an seinem Hals befestigt war. Der kleine Kater zuckte zusammen und wich dem Jungen aus, der sich neugierig nach ihm bückte.
»Keine Angst!«, rief Algernon ihm zu. »Vor dem da brauchst du dich nicht zu fürchten! Er zwickt dich höchstens ein bisschen in den Schwanz.«
Edgar sprang mit einem Satz auf das Fenstersims zu Algernon. Er zitterte.
»Schwache Nerven, wie?«, kommentierte der Straßenkater. »Das musst du dir abgewöhnen.« Er setzte sich. »Na gut, kleine Pause, bis du dich wieder erholt hast.«
»Aber … aber er hat doch etwas von einem Mord an Katzen gesagt«, stammelte Edgar und versuchte, sein Zittern unter Kontrolle zu bringen. Vergebens. Er schlotterte am ganzen Körper. Er begann sich zu putzen, vielleicht würde das helfen.
»Du weißt wirklich gar nichts von unserer Stadt, wie?«, fragte Algernon gelassen.
»Nein.« Edgar warf Algernon einen scheuen Seitenblick zu. Der Straßenkater konnte sich wahrscheinlich kaum vorstellen, dass Edgars Welt bisher aus zwei Zimmern und einem schmalen Flur bestanden hatte. Ein kleines, überschaubares Revier, in dem es keine Feinde gab …
»Ich wundere mich, dass du nicht vor Langeweile gestorben bist«, knurrte Algernon, als hätte er Edgars Gedanken gelesen. »Du musstest nicht jagen, hast keine gefährlichen Abenteuer erlebt und offenbar auch nicht erfahren, was in der Stadt so passiert. Was hast du eigentlich den lieben langen Tag gemacht?«
Edgar unterbrach seine Säuberungsaktion und überlegte. »Ich … ich habe viel geschlafen … Mit einem Wollknäuel gespielt … Emma hat mich gestreichelt … und …« Ihm fiel nichts mehr ein, und er kam sich ziemlich dumm vor.
»Das ist doch alles nichts für einen echten Kerl!«, brummte Algernon. »Ein Kater braucht Herausforderungen. Und frischen Wind um die Nase! Er muss seinen Gegnern zeigen, wo’s langgeht! – Du kannst von Glück reden, dass du noch so jung bist! Denn ein solches Leben wie deins macht jeden Kater faul und fett! Und faule, fette Kater sind unvorsichtig – das kann tödlich enden …« Er leckte sich kurz das Maul. »Wobei wir wieder beim Thema wären. Es gibt in dieser Stadt einen Killer, der es auf Katzen abgesehen hat.«
Edgar fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. »Warum … tut er so etwas?«
»Tja, wenn ich das wüsste!« Algernons Augen funkelten. »Er ist verrückt. Oder er hasst Katzen. Oder … Keine Ahnung! Komm, wir müssen weiter.«
Er sprang vom Sims und trottete den Gehsteig entlang.
Edgar folgte ihm wie ein Schatten, neugierig darauf, mehr zu erfahren.
»Ist das schon öfter vorgekommen?«
»Ja, es gibt schon eine Menge tote Katzen. Achtundzwanzig oder sogar vierzehn … vielleicht noch mehr … elf oder so …«
»Warte.« Edgar drängte sich an seine Seite. »Aber elf ist weniger als vierzehn … und viel weniger als achtundzwanzig.«
Algernon blieb stehen und schaute Edgar streng an. »Bist du dir da so sicher, Klugscheißer?«
Edgar schrumpfte unter diesem Blick. »Ja, äh … ich meine … vielleicht …« Er war sich zwar sicher, aber ein inneres Gefühl sagte ihm, dass es besser war, die Klappe zu halten.
»Es sind jedenfalls zu viele tote Katzen«, fuhr Algernon fort und setzte sich wieder in Bewegung. »Wenn es so weitergeht, gibt es bald keine Katzen mehr in ganz London – und irgendwann trifft es auch dich oder mich …«
Edgar erschauderte. »Aber … aber dagegen muss man doch was tun«, meinte er. »Kann man sich denn nicht schützen?«
»Wenn du immer in der Stube hocken bleibst, dann passiert dir wahrscheinlich nichts«, grunzte Algernon und blinzelte Edgar an. »Aber wenn du mich fragst – das ist noch schlimmer als tot sein. Das ist, als wäre man lebendig begraben!« Er gähnte. »Darauf kann ich verzichten – selbst wenn ich Gefahr laufe, dem Killer zu begegnen.«
Edgars Gehirn arbeitete fieberhaft. »Passieren denn diese … Morde nur nachts? Und gibt es eine bevorzugte Gegend, in der der Mörder zuschlägt?«
Algernon zögerte mit der Antwort. Dann grinste er Edgar an und zeigte wieder sein schlechtes Gebiss.
»Hör mal, du bist ja ein ganz cleveres Bürschchen! Das klingt fast so, als hättest du Lust, dem Katzenschlächter das Handwerk zu legen. Und ich hätte jede Wette abgeschlossen, dass du dich lieber feige irgendwo verkriechst. Also gut, ich bin dabei! Algernon hat die Nase vorn, wenn es um ein Abenteuer geht! Nieder mit dem Killer, yeah!« Groß und beeindruckend baute er sich auf dem Pflaster auf.
»Aber … so habe ich es doch gar nicht gemeint«, setzte Edgar an, doch Algernon war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihm zuzuhören. Er teilte einem unsichtbaren Gegner Schläge aus.
»Und jetzt – nimm das hier! Und auch noch diesen da! Ja – Volltreffer!« Er fauchte triumphierend und drehte sich einmal um seine eigene Achse. Seine Augen hatten einen verzückten Ausdruck angenommen.
Edgar hatte Algernon bisher bewundert, doch jetzt fragte er sich zum ersten Mal, ob in dessen Kopf auch alles in Ordnung war. Aber da hörte Algernon auch schon mit seinem Theater auf, und seine Augen sahen wieder normal aus.