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Buch
Katherine Adams ist gewarnt: Sie wird auf keinen Fall die Fehler ihrer Schwester Mary wiederholen. Mit einer Märchenhochzeit war diese in die Dynastie der reichen, mächtigen Familie Manning aufgenommen worden, aber ihre Ehe wurde zu einem Albtraum. Ihr Mann misshandelte und betrog sie, bis er schließlich bei einem Autounfall ums Leben kam. In der gleichen Nacht starb Mary bei der Geburt ihres Kindes. Katherine nimmt ihre Nichte zu sich. Außer sich vor Kummer und Wut gelobt sie, kein Mitglied der Familie Manning jemals in die Nähe des Kindes zu lassen.
Doch dann steht auf einmal Jason Manning vor ihrer Tür, ein charismatischer, blendend aussehender Öl-Magnat, und Katherine erliegt seinem Charme. Wider besseres Wissen glaubt sie ihm, als er behauptet, nicht so zu sein wie die anderen Männer in seiner Familie. Doch Lügen und Geheimnisse gehören zu seinem Erbe. Und Katherine könnte von einer Wahrheit, die sie nicht sehen will, zerstört werden. Aber hat sie denn überhaupt eine Chance, dieser Liebe zu widerstehen?

Autorin
Sandra Brown arbeitete erfolgreich als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der beliebtesten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher Spitzenplätze auf der Bestsellerliste der New York Times erreicht. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.sandra-brown.de
 
Liste lieferbarer Titel
Celinas Tochter (35002) · Die Zeugin (35012) · Blindes Vertrauen (35134) · Trügerischer Spiegel (35192) · Im Haus meines Feindes (35289) · Nacht ohne Ende (35447) · Schöne Lügen (35499) · Ein Hauch von Skandal (36273) · Nachtglut (35721) · Kein Alibi (35900) · Betrogen (36189) · Envy – Neid (36370) · Sündige Seide (36388) · Scharade (36470) · Verliebt in einen Fremden (36519) · Ein Kuss für die Ewigkeit (36620) · Crush – Gier (36606) · Wie ein Ruf in der Stille (36695) · Zum Glück verführt (36694) · Rage – Zorn (36838) · Ein skandalöses Angebot (37050) · Weißglut (36986) · Heißer als Feuer (37131) · Lockruf des Glücks (37250)
Warnschuss (geb. Ausgabe, Blanvalet Verlag 0307)

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Love Beyond Reason« bei Warner Books Inc., New York, a Time Warner Company.

Danke,
Parris, dass du mich zum Schreiben ermutigt hast.
Danke,
Mary Lynn, für deine unermüdliche Unterstützung.

Liebe Leserinnen und Leser,
bevor ich mich der allgemeinen Unterhaltungsliteratur zuwandte, habe ich unter mehreren Pseudonymen Liebesromane geschrieben. »Eine unmoralische Affäre« erschien ursprünglich 1981 (unter meinem ersten Autorennamen Rachel Ryan).
Die Handlung reflektiert Trends und Lebensart, wie sie seinerzeit aktuell waren – doch bleibt das Thema immer populär und allgemeingültig. Wie in jedem Liebesroman stehen die unglücklich Liebenden im Mittelpunkt. Wir erleben Augenblicke der Leidenschaft und Zärtlichkeit, zwischenmenschliche Spannungen – kurzum: sämtliche Facetten der Liebe.
Es macht mir riesigen Spaß, romantische Liebesgeschichten zu schreiben. Sie bestechen durch ihre optimistische Grundhaltung und den unvergleichlichen Charme, der ihnen innewohnt. Probieren Sie es einfach aus. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Vergnügen bei der Lektüre.
Ihre Sandra Brown

1
»Der Stadtrat von Denver einigte sich heute darauf, die öffentlichen Abgaben im kommenden Jahr um sechs Prozent zu erhöhen. Die Stadtverordneten argumentierten damit, dass …«
»Na super«, grummelte Katherine, »das hat mir gerade noch gefehlt, schon wieder weniger Geld im Portemonnaie.« Seufzend legte sie ihre Haarbürste in den gut sortierten Badezimmerschrank zurück und angelte nach einer Flasche Körperlotion, die auf der Ablage in ihrem Bad stand. Dann stellte sie einen Fuß auf den Toilettensitz und trug einen großzügigen Klecks Creme auf ihrem langen, wohl geformten Bein auf. Währenddessen lauschte sie interessiert der Stimme des Nachrichtensprechers, die leise aus dem Radio in ihrem Schlafzimmer erklang.
»Ein bewaffneter Raubüberfall auf einen Supermarkt in Denver konnte heute vereitelt werden. Nach einem Anruf eines aufmerksamen Passanten umstellte eine Sondereinheit der Polizei das Gebäude …«
Höhere Abgaben und steigende Kriminalitätsraten. Das war echt der Bringer, dachte Katherine milde deprimiert, während sie sich die Zähne putzte.
Sie tippte schwer darauf, dass das wieder so ein Abend war, an dem sie in Selbstmitleid und Weltschmerz zerfließen würde. Es passierte zwar selten, aber irgendwie hatte sie heute wohl ihren Moralischen.
Ach, wäre das himmlisch, wenn sie jemandem gute Nacht sagen könnte, ein Schlafzimmer mit ihm teilen, dieselbe Luft atmen, mit ihm gemeinsam Nachrichten hören könnte. Mit ihm? Wieso dachte sie bei diesem Phantomwesen automatisch an einen Mann? Träum weiter, Süße. Sie seufzte. Das Alleinleben hatte seine Vorteile, es konnte einem bisweilen aber auch verdammt auf den Geist gehen.
»Und jetzt das Wetter von morgen …«
Katherine fixierte das Radio und legte die Stirn in Falten. Musste der Moderator der Nachtsendungen nicht zwangsläufig irgendwann die Krise kriegen, weil er pausenlos Selbstgespräche führte?, überlegte sie. War es sein Job, sich in die Hörer hineinzuversetzen? Er wusste bestimmt, dass etliche von ihnen ein Dasein als einsame Couchpotatoes fristeten. Probierte er deswegen, ihnen die Einsamkeit mit flapsigen Sprüchen zu versüßen?
Er hatte eine angenehme Stimme. Gut moduliert mit einem dunklen Vibrato, aber auch irgendwie … steril. Sein locker-flockiger Plauderton klang einstudiert, aufgesetzt und unpersönlich.
Grundgütiger! Katherine, spinn hier nicht blöd rum, rief sie sich mental zur Ordnung, deine Laune ist total im Keller. Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel und glitt aus dem Bad. Vielleicht sollte ich mir eine neue Mitbewohnerin suchen, nachdem Mary geheiratet hat und ausgezogen ist, sinnierte sie auf ihrer obligatorischen Runde durch das Haus. Dabei knipste sie mechanisch in sämtlichen Räumen das Licht aus.
Katherine liebte dieses alte Haus. Ihr Vater war früh verstorben, damals war sie erst sechs Jahre alt gewesen. Nach seinem Tod waren sie dort wohnen geblieben. Ihre Mutter hatte die Raten für das Haus von ihrem kleinen Postangestelltengehalt abgestottert und versucht, Katherine und ihrer jüngeren Schwester Mary eine schöne Kindheit und Jugend zu ermöglichen. Es war bestimmt nicht einfach für eine Witwe gewesen – sie hatten jeden Cent zweimal umdrehen und auf vieles verzichten müssen. Dadurch hatten die Mädchen gelernt, mit Geld umzugehen und sparsam zu leben.
Katherine löschte im Wohnzimmer das Licht und schloss ab. Das mit der neuen Mitbewohnerin war wahrscheinlich kein so guter Einfall. Sie und Mary waren nach dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren zwar prima miteinander ausgekommen, aber sie waren immerhin Schwestern und hatten so ziemlich dieselbe Wellenlänge. Mary war immer gut drauf und das Zusammenleben mit ihr völlig unkompliziert. Durchaus möglich, dass es mit jemand anderem nicht so gut klappen würde.
Mary. Die liebe gute Mary. Ihre Ehe war nicht unbedingt das Gelbe vom Ei. Nein, danke, dachte Katherine trocken. Da blieb sie lieber allein und nahm diese kurzen, wenn auch nervenzermürbenden Phasen als einsamer Trauerkloß in Kauf.
»Soeben erreichte uns noch eine Meldung …«
Katherine tastete nach dem Knopf für die Weckeinstellung und starrte ungläubig auf das Holz- und Chromgehäuse ihres edlen Designerradios, als der Moderator fortfuhr:
»Heute Abend kam der bekannte Industrielle Peter Manning bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Manning verlor die Kontrolle über seinen Wagen, woraufhin das Fahrzeug ungebremst gegen einen Betonpfeiler prallte. Nach den bisherigen Ermittlungen der Polizei brach Mr. Mannings Wagen mit überhöhter Geschwindigkeit aus einer als gefährlich bekannten Kurve aus. Der Fahrer war auf der Stelle tot. Eine bislang noch nicht identifizierte Frau, die auf dem Beifahrersitz des Sportwagens saß, wurde ebenfalls getötet. Peter Manning war der Sohn …«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon, und Katherine zuckte erschrocken zusammen. Sie atmete mehrmals tief durch, bevor sie mit zittrigen Fingern den Hörer aufnahm. Sie sank auf ihr Bett, klemmte den Hörer ans Ohr. »Ja?«, meinte sie gepresst.
»Miss Adams?«
»Ja.«
»Hallo, hier ist Elsie. Ich arbeite im Haus der Mannings. Wir kennen uns von dem Empfang …«
»Ja, Elsie, ich erinnere mich an Sie. Wie geht es meiner Schwester?«, fragte sie in drängendem Ton.
»Deshalb rufe ich an, Miss Adams. Haben Sie das mit Mr. Peter gehört?«
»Hmm-ja«, meinte die Angesprochene gedehnt. Sie musste dem Hausmädchen sicher nicht auf die Nase binden, dass sie es nicht offiziell erfahren hatte, sondern bloß aus dem Radio wusste, oder?
»Also, hier ist der Teufel los. Mrs. Manning brach zusammen, nachdem sie die tragische Nachricht erfahren hatte, sie ist völlig hysterisch und hat Weinkrämpfe. Mr. Manning nimmt es etwas gefasster. Das Haus ist von Fotografen und Reportern mit gezückten Kameras und Mikrofonen umlagert. Ein einziges Blitzlichtgewitter, das kann ich Ihnen sagen …«
»Wie geht es Mary?«, unterbrach Katherine sie ungehalten.
»Darauf komme ich gleich zu sprechen. Als der Polizist sie über den schrecklichen Unfall informierte, saßen alle im Wohnzimmer. Sobald er diese Frau erwähnte, die mit Peter im Wagen saß und ebenfalls den Tod fand, schnellte Mrs. Manning am Tisch herum und beschimpfte Miss Mary, die ja nun wirklich supernett ist. Sie hat ihr fürchterlich schlimme Dinge an den Kopf geworfen. Und meinte allen Ernstes, Miss Mary wäre ihm keine gute Ehefrau gewesen, sonst hätte Mr. Peter sich nicht nachts mit irgendwelchen Flittchen abzugeben brauchen und …«
»Bitte, Elsie, ist mit Mary alles okay?«
»Nein, Miss Adams, nichts ist okay. Sie hielt sich die Ohren zu und rannte die Treppe hoch in ihr Zimmer, weil sie Mrs. Mannings Vorwürfe nicht mehr ertragen konnte. Trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft hielt es niemand für nötig, sich um Ihre Schwester zu kümmern. Ich bin dann irgendwann zu ihr hoch, und sie hat Blutungen, Miss Adams.«
»Oh Gott …«
»Ja, und ich glaube, die Wehen haben eingesetzt. Ich dachte, ich rufe Sie besser an, damit Sie Bescheid wissen. Denn hier denken momentan alle bloß an …«
»Elsie, hören Sie mir jetzt gut zu. Rufen Sie einen Krankenwagen. Mary muss schleunigst ins Krankenhaus. Ich informiere ihren Gynäkologen. Sprechen Sie mit niemandem darüber. Am besten schleusen Sie Mary dann durch den Hintereingang zum Krankenwagen. Okay?«
»Ja, Miss Adams, mach ich. Ich hab Ihre Schwester immer sehr gemocht und dachte …«
»Ist schon okay, Elsie. Bitte kümmern Sie sich darum, dass meine Schwester umgehend in ein Krankenhaus kommt.« Himmel, war die Frau schwer von Begriff! Hier ging es um Leben und Tod. Katherine ging Elsies langatmiges Geschwafel fürchterlich auf den Wecker. Sie hoffte bloß, dass die völlig aufgelöste Hausangestellte es hinkriegte, die Notrufnummer zu wählen. Mary gehörte schleunigst in fachärztliche Betreuung.
Katherine legte auf, blätterte hektisch im Telefonbuch nach Marys Frauenarzt und wählte hastig die Nummer. Sie erreichte seine Sprechstundenhilfe, und nachdem sie ihr kurz den Zustand ihrer Schwester geschildert hatte, versprach die junge Frau, den Arzt zu informieren. Er würde umgehend in die Entbindungsklinik fahren.
Ohne groß nachzudenken, zog Katherine Morgenmantel und Nachthemd aus und riss die Schranktür auf. Sie streifte sich eine Jeans über, dabei wünschte sie die Mannings und vor allem Peter auf einen fernen Planeten. Dieser unsensible Mistkerl! Wieso musste er ihr das antun? Hatte er Mary das Leben nicht schon schwer genug gemacht? Nein, er musste noch eins draufsetzen und mit einer seiner Geliebten in den Tod rasen! Mary hatte ihr gegenüber des Öfteren über seine vielen Affären geklagt. Grundgütiger, ihre Schwester war im siebten Monat schwanger! Lieber Gott, hilf ihr, betete Katherine, während sie ein T-Shirt über den Kopf zog und in ein Paar Sandaletten schlüpfte.
Mit wehenden Haaren und ungeschminkt lief sie aus dem Haus, schwang sich in ihr Auto und startete den Motor. Sie bemühte sich, die vorgeschriebene Geschwindigkeit einzuhalten, obwohl sie gern schneller gefahren wäre. Ein weiterer Unfall hätte ihr gerade noch gefehlt. Verletzt oder tot wäre sie ihrer Schwester auch keine Hilfe.
Ach, Mary, warum wolltest du einfach nicht kapieren, auf wen du dich bei Peter Manning eingelassen hattest? War sie dermaßen hin und weg gewesen von dem charmant lächelnden Typen, der fortwährend in den Klatschspalten der Zeitungen auftauchte, dass sie ihren Verstand ausgeknipst hatte? Peter Manning, der Goldjunge, Spross einer der reichsten und prominentesten Familien in Denver, designierter Erbe einer Privatbank, von Immobilien, Versicherungsgesellschaften und zahllosen anderen Unternehmen, und Mary Adams hatten vor einem Jahr geheiratet.
Katherine war – milde ausgedrückt – baff gewesen, als Peter sich mit einem Mal wahnsinnig für ihre Schwester interessierte, die er in einer Kunstgalerie kennen gelernt hatte, wo sie neben ihrem Studium jobbte.
Er war smart, lässig, sündhaft gut aussehend, gebildet und selbstbewusst. Er hatte die süße, naive, vertrauensselige Mary auf Händen getragen und dann peng fallen gelassen. Hart und ohne Netz.
Warum? Diese Frage hatte Katherine sich seit Beginn jener bizarren Romanze aufgedrängt. Mary war zwar hübsch, aber gegen die hinreißenden Beautys und Celebritys, mit denen Peter sich für gewöhnlich schmückte, war sie ein unscheinbares Aschenputtel. Wieso hatte er sich ausgerechnet in ihre Schwester verguckt?
Katherine hupte wie wild, weil ihr Vordermann bei Grün nicht losfuhr. Ihr Ärger betraf jedoch nicht den anderen Fahrer. Nein, sie war wütend auf den Mann, der aus einer fröhlichen, lebensbejahenden jungen Frau ein ängstlich-verhuschtes Nervenbündel gemacht hatte.
Schon nach wenigen Monaten Ehe war Peters Liebe merklich erkaltet und der Typ wie ausgewechselt.
Klar hatte Katherine seine überschwängliche Schätzchen-hier-und-Schätzchen-da-Tour reichlich überzogen gefunden, trotzdem war sie geschockt, als Mary ihr die Horrorstorys ihrer Ehe enthüllte: Peter missbrauchte ihre Schwester körperlich und emotional. Er war mordswütend über Marys Schwangerschaft, und das, obwohl er brutal über sie hergefallen war, bevor sie in irgendeiner Weise Verhütungsmaßnahmen hatte ergreifen können. Die Beziehung war ein einziger Albtraum.
In der Öffentlichkeit gab Peter das Bild einer Traumehe ab. Seinen Eltern und ihren Countryclub-Freunden spielte er den hingebungsvollen Ehemann vor, der seine Frau verwöhnte und ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Wenn es nicht so tragisch wäre, hätte man über diese Farce lachen müssen.
Katherine steuerte auf den Klinikparkplatz und fand zum Glück direkt neben dem Eingang eine Parklücke. Sie schloss ihr Auto ab und lief in den hell erleuchteten Flur. In diesem Augenblick hörte sie auch schon die Sirenen des Krankenwagens.
Sie stellte sich zu Marys Arzt, der bereits im Foyer wartete, als die Glastüren automatisch aufglitten und die Sanitäter die Trage hereinrollten. Als sie ihre Schwester sah, entfuhr Katherine ein leise gequältes Stöhnen. Sie presste hastig eine Hand vor den Mund. Mary hatte die Augen geöffnet, ihr Blick indes war leer. Sie erkannte ihre Schwester nicht, als sie an ihr vorbei in einen der Behandlungsräume geschoben wurde.
Nach der obligatorischen Untersuchung kam Mary auf die Wöchnerinnenstation, wo sie innerhalb einer halben Stunde von einem kleinen Mädchen entbunden wurde.
Der Arzt wirkte erschöpft und niedergeschlagen, als er durch den schwach erleuchteten Gang auf Katherine zusteuerte. Seine Gummisohlen quietschten leise über das blank gebohnerte Linoleum.
»Sie ist in einer schlechten gesundheitlichen Verfassung, Miss Adams. Ich glaube nicht, dass sie die Nacht übersteht.« Katherine, die wie betäubt vor die Wand sank, presste ihre Faust gegen die wunden Lippen und starrte ihn fassungslos an. Ihre meergrünen Augen schwammen in Tränen, die über ihre bleichen pfirsichzarten Wangen rollten, in das honigblonde Haar tropften, das ihr in wirren Strähnen um den Kopf hing.
»Verzeihen Sie meine unverblümte Offenheit, aber ich dachte, Sie sollten wissen, wie ernst es um sie steht. Sie verlor leider sehr viel Blut, bevor sie eingeliefert wurde. Wir konnten nichts anderes tun, als ihr Transfusionen zu geben.« Der Mediziner stockte und musterte Katherine, bevor er leise hinzusetzte: »Es war keine glückliche Schwangerschaft. Sie hat sich kein bisschen geschont. Ich hatte von Anfang an größte Bedenken … Tja, ich bin informiert, was heute Nacht passiert ist. Das mit Mr. Manning tut mir leid. Ich hab das Gefühl, Mary will nicht kämpfen. Sie hat keinen Überlebenswillen mehr«, fügte er mitfühlend hinzu.
Katherine nickte abwesend. Als der Arzt sich zum Gehen wandte, fasste sie ihn am Ärmel und fragte rau: »Und das Baby?«
Ein Strahlen flog über sein Gesicht. »Ein kleines Mädchen. Vier Pfund schwer. Und gut entwickelt. Sie kommt bestimmt durch.«
 
Mary starb in den frühen Morgenstunden. Während der langen, schicksalsschweren Nacht war sie noch einmal aufgewacht und hatte leise nach Katherine gerufen.
»Ein Blatt Papier«, wisperte sie.
»Papier?«, wiederholte ihre Schwester begriffsstutzig. Wusste Mary denn nicht, dass sie voneinander Abschied nehmen mussten?
»Ja, bitte, Katherine. Mach schnell.« Das Sprechen fiel ihr erkennbar schwer.
Katherine durchsuchte das Krankenzimmer hektisch nach einem Stück Papier und begnügte sich schließlich mit einem Papiertuch aus der Box, die in dem winzigen Bad stand.
»Stift«, krächzte Mary.
Katherine angelte einen aus ihrer Handtasche und beobachtete verblüfft, wie ihre völlig entkräftete Schwester mit zitternder Hand ein paar Zeilen auf das Tuch kritzelte. Als sie fertig war, setzte sie ihre Unterschrift darunter.
Mary ließ sich erschöpft in die Kissen sinken, ihr Gesicht wachsweiß vor Anstrengung. Schweißperlen glitzerten auf Stirn und Schläfen. Ihre Lippen waren blau angelaufen. Dunkle Ringe verschatteten ihre Augen, die jedoch das erste Mal seit ihrer Hochzeit wieder freudig strahlten. Für den Augenblick eines Herzschlags sah Katherine wieder die lebenssprühende Mary vor sich, obschon sie vom Tod gezeichnet war. Katherine kämpfte mit den Tränen. Es fehlte nicht viel, und sie hätte hemmungslos geweint.
Mary war blond, mit einem zarten rosigen Teint und einem engelgleichen Schmollmund. Wenn sie lachte, hatten ihre himmelblauen Augen fröhlich gefunkelt. Sie war kleiner und kräftiger als ihre gertenschlanke Schwester und hatte bis zu ihrer Hochzeit penibel auf ihr Gewicht achten müssen – später hatte es ihr komplett den Appetit verschlagen. Die liebe, vertraute Stimme, die gepresst aus ihrer Kehle kam, riss Katherine aus ihren Tagträumen.
»Katherine, nenn sie Allison. Sorg dafür, dass er sie nicht bekommt. Sie dürfen die Kleine nicht bekommen.« Die weißen, abgemagerten Finger bohrten sich in Katherines Oberarm. »Nimm sie zu dir. Sag ihr, dass ich sie sehr geliebt habe.« Sie schloss die Augen, ihr Atem ging aufgewühlt. Als sie die Lider erneut öffnete, blickten ihre Augen verträumt. Friedvoll entrückt. »Allison ist ein wunderschöner Name. Findest du nicht, Katherine?«
 
Das Doppelbegräbnis fand zwei Tage später statt. Es war der reinste Medienzirkus. Die öffentliche Sensationsgier wurde von ehrgeizigen Reportern gestillt, die regelrecht miteinander konkurrierten, Skandalgeschichten in die Welt zu setzen. Das Mädchen, das mit Peter Manning in den Tod gerauscht war, war erst siebzehn gewesen, eine Cheerleaderin und Absolventin der Highschool. Und bei dem Unfall nur spärlich bekleidet, wie die Obduktion ergab. Dass Allison ein Frühchen war und Mary kurz nach der Entbindung starb, machte die Story umso delikater und bot reichlich Raum für zusätzliche Spekulationen.
Katherine empfand tiefe Trauer über den Verlust ihrer Schwester. Peter, der sich bei dem Aufprall das Genick gebrochen hatte, war auf der Stelle tot gewesen. War das nicht ungerecht?, sann Katherine in einem Anflug von Zynismus, wenn sie sich Marys verhärmtes Gesicht vergegenwärtigte, ihre frühere Schönheit gezeichnet von der physischen und psychischen Gewalt, die er ihr angetan hatte. Es war nicht fair.
Zu der Hochzeit war Katherine schweren Herzens gegangen – es war das gesellschaftliche Großereignis des vergangenen Jahres gewesen -, aber die Beerdigung war ein noch größeres Ereignis.
Eleanor Manning, die in ihrem schwarzen Designerkostüm und mit topfrisierter Blondmähne das Klischee der trauernden Society-Mom bediente, schien untröstlich über den Verlust ihres Sohnes. Sie klammerte sich haltsuchend an Peter Manning senior, ihren Mann, einen hoch aufgeschossenen, distinguierten grauhaarigen Herrn, der haltlos weinte. Dabei erklärte sie jedem, der es hören oder auch nicht hören wollte, dass die arme tote Mary ihren Peter, ihren geliebten Sohn, nicht genug geliebt hatte. Im nächsten Atemzug wiederum beschimpfte sie Jason, Peters jüngeren Bruder, dass er der Beerdigung ferngeblieben war.
»Es war blamabel, dass er nicht an der Hochzeit teilnahm. Aber das hier ist der Gipfel! Es ist beschämend für das Ansehen der Familie, dass er nicht zum Begräbnis seines Bruders kommt. Afrika! Mein Gott, er ist so barbarisch wie die Wilden, die da leben. Erst waren es die Indios. Jetzt sind es irgendwelche Negerstämme in Afrika!« An diesem Punkt brach sie in hysterisches Schluchzen aus.
Katherine wusste sehr wenig über Jason Manning. Peter hatte ihn selten erwähnt, anscheinend war er ihm völlig gleichgültig. Mary dagegen hatte sich gefreut, als Jason ihr nach der Hochzeit geschrieben hatte.
Mit einem strahlenden Lächeln hatte sie Katherine den Brief hingehalten. Es brauchte nie viel, um Mary glücklich zu machen.
»Peters Bruder hat mir aus Afrika geschrieben. Weißt du, er arbeitet dort bei einer Ölfirma oder so. Ist ja auch egal, jedenfalls entschuldigt er sich, dass er bei unserer Hochzeit unmöglich weg konnte, und er gratuliert mir zu dem Baby. Hör mal.« Sie konzentrierte sich auf den weißen Bogen mit der großen, kraftvollen Schrift.
»›Ich freue mich schon auf meine Rückkehr nach Hause, schließlich möchte ich meine junge Schwägerin auch persönlich beglückwünschen. Wenn du so hübsch bist wie auf den Fotos, die Mutter mir geschickt hat, dann könnte ich mich im Nachhinein noch ohrfeigen, dass ich dich nicht eher kennen gelernt hab. Peter hat verdammt großes Glück gehabt!‹ Natürlich zieht er mich bloß auf«, sagte Mary errötend. »Aber klingt er nicht total nett? Warte mal, hier: ›Pass auf dich auf und auf die kleine Nichte oder den Neffen. Find ich spitzenmäßig, das mit dem Baby. Wow, ich werde Onkel! Onkel Jace!‹«
Katherine nickte bekräftigend, wenn auch aus reiner Sympathie. Sie war entsetzt, wie dünn Mary geworden war, trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft. An dem betreffenden Tag hatte sie sich ernsthafte Sorgen um die Gesundheit ihrer Schwester gemacht, die ihr kreuzunglücklich vorkam. Was interessierte da der abtrünnige Bruder und Schwager? In ihrem Kopf hatte sich ohnehin ein Bild von den Mannings festgesetzt, und zwar nicht gerade ein positives, aber das behielt sie besser für sich.
Die ersten Wochen nach dem Begräbnis waren schwer für Katherine. Jeder Tag wurde zur dumpfen, zermürbenden, erschöpfenden Routine. Sie arbeitete seit fünf Jahren in der Public-Relations-Abteilung eines Elektrokonzerns, schrieb Presseartikel und Analyseberichte. War es wirklich schon so lange her, dass sie ihren Collegeabschluss gemacht hatte? Machte sie diesen öden, langweiligen Kram tatsächlich schon so lange? Sie bekam zwar ein gutes Gehalt, betrachtete den Job jedoch lediglich als Sprungbrett für ihre weitere Karriere. Sie war eine begabte Texterin und hätte ihre Kreativität gern mehr gefordert. Mit der neuen Verantwortung, die mit dem Baby auf sie zukam, war sie vermutlich gezwungen, sich einen besser bezahlten Job zu suchen.
Allison! Katherine war hellauf entzückt von ihrer Nichte. Jeden Abend fuhr sie zum Krankenhaus und betrachtete das Baby durch die Glastrennwand der Frühgeborenenstation. Allison entwickelte sich prächtig, und Katherine konnte es kaum erwarten, die Kleine endlich in den Armen zu halten. Dafür musste Allison mindestens fünf Pfund auf die Waage bringen. In ein paar Tagen, erklärte der Kinderarzt der besorgten Tante, könne sie Allison bestimmt aus dem Krankenhaus holen.
Katherine nahm sich zwei Wochen Urlaub für diese Zeit, weil sie sich ausschließlich um das Baby kümmern wollte. Zudem begann sie mit der Suche nach einer Ganztagsbetreuung für die Kleine. Bevor sie Allison einem Fremden anvertraute, wollte sie auf Nummer sicher gehen, dass ihr die Einrichtung hundertprozentig zusagte. Dass sie gar nicht das Sorgerecht hatte, ließ sie völlig außer Betracht.
Folglich fiel sie aus allen Wolken, als der Anwalt der Mannings unangekündigt in ihrem Büro erschien. Er knallte ihr einen Stapel wichtig aussehender Dokumente auf den Schreibtisch und erklärte ihr von oben herab, dass seine Mandanten »… beabsichtigen, das alleinige Sorgerecht für das Kind auszuüben«.
»Meine Mandanten sind entschlossen, das Kind bei sich aufzunehmen und zu adoptieren. Selbstverständlich werden Sie für den zeitlichen und organisatorischen Aufwand, den Sie in den letzten Wochen hatten, als das Kind im Krankenhaus lag, entschädigt.«
»Das heißt, Sie wollen mich kaufen, stimmt’s?«
»Bitte, Miss Adams, ich glaube, Sie verstehen da etwas grundlegend falsch. Meine Mandanten sind finanziell in der Lage, die Kleine in großzügigen Verhältnissen aufwachsen zu lassen. Sie können ihr alles bieten: ein schönes Heim, eine hervorragende Ausbildung, eine unbekümmerte Jugend. Sie wollen doch sicher auch das Beste für das Kind, oder?«
»Ihre leibliche Mutter hielt es für das Beste, wenn ich Allison großziehe.« Sie verschwieg ihm vorsichtshalber die handschriftliche Notiz, die Mary gemacht hatte.
»Ich bin sicher, die Wünsche des Vaters wären davon stark abgewichen.« Katherine hasste den abfällig-dozierenden Ton, mit dem der Anwalt sie abzufertigen suchte. »Im Übrigen ist jede weitere Diskussion müßig. Kein Gericht wird einer berufstätigen jungen Singlefrau mit unklaren Moralvorstellungen die Vormundschaft für ein Kind zusprechen, zumal sich ein wahrhaft gut situiertes, prominentes Paar wie die Mannings bereiterklärt, die Verantwortung für ihr einziges Enkelkind zu übernehmen, die Erbin und Nachkommin ihres ältesten Sohnes.«
Der Typ war derart beleidigend und anmaßend, dass Katherine innerlich rebellierte. Trotzdem hielt sie den Mund. Ihr war klar, dass der Anwalt es darauf anlegte, sie einzuschüchtern. Sie konnte sich bildhaft vorstellen, dass er vor Gericht kein gutes Haar an ihr lassen würde. Wenn sie bloß daran dachte, wie eine solche Anhörung ausgehen könnte, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Katherine setzte sich über ihre anfängliche Panik hinweg. Jetzt galt es, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Nägel mit Köpfen zu machen. Sie hatte ihrer Schwester auf dem Sterbebett versprochen, dass sie Allison zu sich nehmen würde. Andererseits durfte sie den Einfluss und den Ruf der Mannings nicht unterschätzen. Sie kannten bestimmt Gott und die Welt, hatten Freunde in wichtigen Positionen, die sämtliche Hebel in Bewegung setzen würden, um die Vormundschaft zu erwirken. Folglich würde sie mit Allison verschwinden müssen. Sie überlegte hin und her, bis sie alles detailliert geplant hatte.
Der Kinderarzt war einverstanden, Allison ein paar Tage früher aus der Klinik zu entlassen als geplant, machte jedoch zur Bedingung, dass Katherine mit der Kleinen in der folgenden Woche bei ihm vorstellig werden solle. Also versprach sie es ihm, obwohl es ihr mächtig schwerfiel zu lügen.
Sie rief einen Immobilienmakler an und besprach mit ihm den Verkauf des Hauses. Die Summe sollte auf ein Konto fließen, das sie auf den Namen ihrer kleinen Nichte eingerichtet hatte. Das Geld ließe sich später problemlos mit den angelaufenen Zinsen abheben, überlegte sie. Sämtliche Möbel sollten versteigert werden bis auf ein paar wenige Stücke, an denen Katherine besonders hing. Der Makler sollte den Erlös der Auktion als Provision bekommen und war einverstanden.
Katherine machte eine Kopie des kaum leserlichen Papiertuch-Dokuments und deponierte es in einem vorsorglich angemieteten Bankschließfach.
Sie ging nicht mehr ans Telefon und ließ sich auf der Straße nicht mehr blicken. Ihr Wagen parkte ein ganzes Stück vom Haus entfernt, abends vermied sie es, Licht zu machen. In Erwartung der gerichtlichen Vorladung, die jeden Tag ins Haus flattern konnte, hätte sie sich am liebsten unsichtbar gemacht. Bloß nicht auffallen, untertauchen, bevor es irgendjemand merkt, schärfte sie sich ein.
Sie packte ihr kleines Auto so voll, wie es eben ging. Als sie Allison im Krankenhaus abholte, klopfte ihr Herz zum Zerspringen.
Sie legte das Baby in den Maxicosi, den sie mit dem Sicherheitsgurt auf dem Beifahrersitz befestigte. Dann beugte sie sich über die Kleine und hauchte ihr einen zarten Kuss auf den weichen Haarflaum.
»Weißt du, ich bin als Mutter völlig unerfahren«, flüsterte sie dem schlafenden Kind zu, »aber das macht gar nichts. Wir werden uns bestimmt aneinander gewöhnen.«
Sie betrachtete Allisons süßes Gesicht, das sie ungeheuer an Marys erinnerte, und atmete befreit auf – das erste Mal, seit sie die Nachricht von Peters tödlichem Unfall erfahren hatte. Sie fühlte sich, als wäre eine Riesenlast von ihren Schultern genommen.
Während sie durch Denver fuhr, verkniff sie sich einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Berge und die vertraute Landschaft. Sie zwang sich, nicht an den Verkauf des Hauses zu denken, ihr geliebtes Zuhause. Stattdessen fokussierte sie sich auf die Zukunft, ihre und Allisons. Was geschehen war, war geschehen – ihre Vergangenheit war Schnee von gestern und hatte von nun an niemanden mehr zu interessieren.
 
Katherine drückte den Rücken durch und rollte mit den Schultern, um ihre verkrampfte Muskulatur zu lockern. Sie hockte auf dem mit Zeitungen ausgelegten Wohnzimmerboden in ihrem Apartment, das früher bestimmt mal eine Doppelgarage gewesen war. In der vergangenen halben Stunde hatte sie eine Kommode gestrichen, die sie in Allisons Kinderzimmer stellen wollte. Am Vorabend hatte sie das Möbel in einem warmen Blauton lackiert, jetzt versah sie die Schubfächer mit einem kontrastierenden mimosengelben Streifen. Die gelbe Farbe war auf die Zeitung gekleckert, dabei waren ein paar Tropfen auf Katherines nackten Beinen gelandet.
Sie tauchte den feinen Pinsel in den Farbtopf und seufzte zufrieden. Mit einem Säugling zu verreisen, war bestimmt kein Zuckerschlecken. Sie hatte aber keine Alternative gehabt. Gottlob war alles prima gelaufen. Allison war ein Engel von einem Baby, das sich lediglich bemerkbar machte, wenn es eine frische Windel brauchte, und friedlich weiterschlief, sobald sie es gefüttert hatte.
Aus Erzählungen wusste Katherine, dass sie ganz früher in dem kleinen texanischen Städtchen Van Buren gelebt hatten. Später waren sie umgezogen, weil die Versicherungsgesellschaft, bei der er damals beschäftigt gewesen war, ihrem Vater einen besser bezahlten Job in Denver angeboten hatte.
Sie erinnerte sich dunkel, dass ihre Mutter von Osttexas und seinen sattgrünen Weiden und den tiefen Wäldern geschwärmt hatte. Ihre Eindrücke deckten sich jedoch absolut nicht mit den stereotypen Beschreibungen, die Texas als weithin kahle Landschaft darstellten, mit Gestrüppballen, die von schneidenden Winden über karstige Ebenen gefegt wurden. Nach einer langen Autofahrt durch Westtexas war Katherine überrascht,Van Buren exakt so vorzufinden, wie ihre Mutter es beschrieben hatte: eine verschlafene kleine Universitätsstadt, umgeben von Kiefernwäldchen.
Katherine spähte unwillkürlich aus ihrem großen Wohnzimmerfenster und lächelte. Sechs Pekannussbäume säumten den Hof, der ihr umgebautes Garagenapartment von dem Haus trennte, wo Happy Cooper, die Eigentümerin, wohnte.
Ihre Vermieterin war ein richtiger Schatz. Katherine, die gegen Ende der Frühjahrs-Semesterferien in Van Buren eingetroffen war, hatte das große Glück gehabt, diese Wohnung zu finden, die vorher zwei Jahre lang an Studenten vermietet gewesen war. Das Apartment hatte zwei Schlafräume, Wohnzimmer, Küche und Bad und war für eine Studentenbude relativ geräumig.
Katherine legte den Pinsel beiseite und tappte auf nackten Füßen leise in den Raum, der später einmal Allisons Kinderzimmer werden sollte und in dem sie erst einmal beide schliefen. Sie beugte sich über die Wiege, die sie in einem Secondhandladen aufgetrieben und neu gestrichen hatte, und betrachtete zärtlich ihre Nichte. Man konnte der Kleinen praktisch beim Gedeihen zusehen. In den zwei Monaten, die sie in Van Buren wohnten, hatte sie an Gewicht zugelegt und war ein süßer kleiner Wonneproppen geworden. Katherine lächelte mild. Sie nahm den kleinen Stoffhasen aus der winzigen Patschehand und breitete eine leichte Decke über das schlafende Kind.
Katherine genoss die freien Tage, die sie gemeinsam mit dem Baby verbringen konnte. Wie durch ein Wunder hatte sie einen Job in der Presseabteilung der Universität gefunden. Dann galt es, das Problem mit der Kinderkrippe zu lösen. Zu ihrer Verblüffung hatte Happy sich zaghaft anerboten, Allison zu betreuen. Als ihre Vermieterin mit dem Vorschlag herausrückte, hatte Katherine sie mit großen Augen angesehen und wie ein Honigkuchenpferd gestrahlt. Dann waren ihre Nerven mit ihr durchgegangen, und sie hatte zu Happys nicht geringem Entsetzen zu weinen begonnen.
Was hätte sie bloß ohne Happy gemacht, eine Großmutter, die ihre eigenen Enkelkinder leider viel zu selten sah? Sie hatte selbst zwei Töchter, die mit ihren Familien an der Küste wohnten, und einen Sohn, der in Louisiana lebte und arbeitete. Dass er noch Single war, war Happy unbegreiflich. Nach dreiundvierzig glücklichen Ehejahren wollte es der verwitweten Mrs. Cooper nicht in den Kopf, dass jemand freiwillig allein leben mochte.
Ja, alles klappte wie geschmiert. Katherines neuer Job war zudem interessanter als der alte in Denver. Sie fand es zwar ein wenig merkwürdig, dass ihr Boss die unangenehme Angewohnheit hatte, sie pausenlos anzustarren, dass er stark schwitzte und sich dauernd die Lippen leckte, aber darüber sah sie geflissentlich hinweg. Sie liebte ihren Job.
Sie kratzte sich abwesend die Nase und schmierte unabsichtlich Farbe darauf. Plötzlich klopfte es an der Tür, und sie stand leise summend auf. Wer mochte das sein? Happy? Wohl eher nicht, denn ihre Vermieterin machte sich für gewöhnlich nicht die Mühe anzuklopfen.
Katherine zupfte an den kurzen ausgefransten Hosenbeinen ihrer Shorts, die sie aus einer alten abgeschnittenen Jeans fabriziert hatte. Hoffentlich nahm die Person an der Tür keinen Anstoß an ihrem saloppen Outfit.
»Ja bitte?«, meinte sie, sobald sie schwungvoll die Tür aufgerissen hatte.
Spontan verschlug es ihr die Sprache. Vor ihr stand ein Schrank von einem Mann. Groß, breitschultrig und ausnehmend attraktiv. Mit kohlschwarzen Haaren und strahlend blauen Augen.
Er musterte Katherine von oben bis unten, und sein sinnlicher Mund verzog sich zu einem amüsierten Grinsen, als er ihre nachlässige Aufmachung bemerkte. Oha, vermutlich sah sie verboten aus! Da sie ohnehin vorhatte, den ganzen Tag zu Hause zu arbeiten, brauchte sie sich doch nicht großartig in Schale zu werfen, oder? Stattdessen hatte sie ihr honigblondes Haar hastig zu einem lockeren Dutt hochgesteckt, mit bunten Haarnadeln, die wie Igelstacheln von ihrem Kopf abstanden. Sonnengebleichte Strähnen hingen ihr in Stirn und Schläfen, klebten ihr feucht im Nacken.
Ihr Gesicht war von der Anstrengung und den feuchtwarmen spätsommerlichen Morgentemperaturen gerötet. Die superkurze abgewetzte Shorts wurde nur noch von einem verwaschenen Arbeitshemd getoppt, dessen Ärmel Katherine oder Mary irgendwann einmal abgeschnitten hatten. Die Hemdzipfel waren unter den Brüsten zusammengeknotet. Zum Anstreichen langte das Hemd allemal, in der momentanen Situation indes war es eher grenzwertig.
Katherines erster Impuls war, die Tür zuzuknallen und sich weitere Peinlichkeiten zu ersparen, aber der Mann blickte ihr tief in die weit aufgerissenen grünen Augen und meinte lapidar: »Ich bin Jason Manning.«

2
Seine Enthüllung traf Katherine wie ein Schlag in die Magengrube, ihr Hirn war mit einem Mal wie leer. Sekundenlang stand sie zur Statue erstarrt, ehe sie vor den Türrahmen sank und hörbar ausatmete – wie ein Ballon, dem pfeifend die Luft entweicht. Sprachlos betrachtete sie dieses Prachtexemplar von einem Mann, der von sich behauptete, Peter Mannings Bruder zu sein.
Als sie nicht antwortete und keinerlei Anstalten machte, ihn hereinzubitten, bemerkte er spöttisch: »Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Ich hab bestimmt nicht vor, über Sie herzufallen, Miss Adams. Auch wenn ich gut zwei Jahre in Afrika gelebt habe, ändert das nichts an der Tatsache, dass ich ein zivilisierter Mensch bin.«
In seinen Augen blitzte der Schalk, und Katherine wurde augenblicklich wütend. Der Typ war hier, um die kleine Welt zu zerstören, die sie mühsam für sich und Allison aufgebaut hatte, und besaß auch noch die Unverschämtheit, sich auf ihre Kosten lustig zu machen!
»Darf ich reinkommen?«, fragte er höflich, woraufhin Katherine widerstrebend beiseitetrat. Sie schloss die Tür hinter ihm, überlegte es sich anders und riss sie wieder auf. Er registrierte ihre Reaktion und grinste noch breiter. Die Grübchen in seinen Wangen waren so ziemlich die einzige Ähnlichkeit, die er mit Peter hatte, fand sie. Seine Zähne schimmerten unbeschreiblich weiß in dem braun gebrannten Gesicht.
»Immer noch skeptisch, dass ich Ihnen an die Wäsche will?«, zog er sie auf. Sein Grinsen verschwand, und er sagte weich: »Wenn ich Sie in diesem Outfit sehe, muss ich zwar einräumen, dass die Vorstellung verdammt reizvoll ist, trotzdem würde ich mich niemals an einer Lady vergreifen, die Farbsprenkel im Gesicht hat.«
Katherine blickte an ihren abgerissenen Klamotten hinunter und stellte entsetzt fest, dass der zerschlissene Flanellstoff aufreizend an ihren Brüsten klebte. Als sie Allison vorhin gebadet hatte, hatte sie ein paar Spritzer Wasser abbekommen. Es hatte sie nicht weiter gekümmert, dass das Arbeitshemd dabei nass geworden war – bis jetzt.
Oh Gott!, stöhnte sie mental. Sie riskierte einen weiteren Blick zu Jason Manning, dessen Astralkörper soeben in die Hocke ging. Er angelte nach einem feuchten Tuch, mit dem sie überschüssige Acrylfarbe weggewischt hatte. Hingerissen und wie paralysiert registrierte sie, dass er zu ihr trat und mit Daumen und Zeigefinger ihr Kinn anhob.
Er bog ihr sacht den Kopf zurück, konzentrierte sich auf ihr Gesicht und wischte mit dem Lappen behutsam den Farbtupfer von ihrer Nase. Als wäre es das Natürlichste von der Welt, einer wildfremden Frau im Gesicht herumzufummeln! Katherine verschlug es den Atem. Seine Nähe war überwältigend, erotisierend. Die Finger auf ihrem Kinn waren zupackend und doch zärtlich. Seine Haut war sehr dunkel. Den tiefbraunen, wettergegerbten Teint hatte er bestimmt nicht von irgendwelchen Reisen in tropische Urlaubsparadiese, tippte Katherine.
Die Fältchen, die sich bei jedem Lächeln um seine Augenwinkel fächerten und sein Gesicht wie ein feines Netz überspannten, waren ein weiterer Hinweis darauf, dass er sich die meiste Zeit über draußen aufhielt. Hatte Mary nicht irgendwas von einer Ölgesellschaft erwähnt? Sie wusste es nicht mehr so genau. Sie wusste überhaupt nichts mehr. Seitdem er dicht vor ihr stand und in ihrem Gesicht herumwischte, schien ihr Oberstübchen das reinste Vakuum.
Seine Lider waren von dichten schwarzen Wimpern umkränzt, die schwarz geschwungenen Brauen wirkten wie aufgemalt. Katherine, die ihm bis zur Schulter reichte, hob behutsam den Blick und gewahrte seinen ausgeprägten Adamsapfel. Aus dem Ausschnitt seines geknöpften Baumwollshirts ringelte sich schwarzer Flaum, der zweifellos seine gesamte Brust bedeckte. Grundgütiger! Was dachte sie da?
Und wieso nahm sie es widerspruchslos hin, dass er ihr im Gesicht herumwischte? Ärgerlich über sich selbst stieß sie seine Hand weg und trat hastig einen Schritt zurück.
»Was wollen Sie, Mr. Manning?«
Er zuckte mit den Achseln und warf den Lappen achtlos auf die Zeitungen, die auf dem Boden ausgebreitet lagen. »Eine Coke wäre nicht schlecht.« Er grinste gewinnend.
»Das meinte ich nicht. Und das wissen Sie auch ganz genau«, schnappte sie. Sie war wütend und verzweifelt. Sein freundliches Getue war doch bloß aufgesetzt, ein Trick, um ihr Misstrauen zu zerstreuen und sie in Sicherheit zu wiegen. Na, wenn schon, sie hatte die Avancen seines Bruders eiskalt abgeschmettert und würde auch diesen Typen vor die Wand fahren lassen. Schaudernd erinnerte sie sich daran, wie schamlos Peter sich ihr gegenüber verhalten hatte. »Weshalb sind Sie hergekommen?«, fragte sie eisig.
Er seufzte und durchquerte das Zimmer, fläzte sich auf ihr Sofa. Sie hatte das alte Schätzchen neu bezogen und war mächtig stolz auf ihr Werk.
»Ich glaube, den Grund dafür können Sie sich denken, Katherine.« Spontan machte ihr Herz einen Satz. Aha, waren sie schon bei den Vornamen angelangt? Das war zweifellos wieder einer seiner entwaffnenden Tricks.
Er lehnte sich lässig vor das Rückenpolster und musterte sie eindringlich. »Ich bin hier, um das Kind meines Bruders abzuholen.«
Obwohl sie genau wusste, was er mit seinem Besuch bezweckte, stockte Katherine bei seinen Worten das Herz. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie schwankte. Kämpfte die drohende Ohnmacht nieder.Von wegen, sie würde weder schlappmachen noch vor ihm zu Kreuze kriechen.
Ihr Gesicht weiß wie eine Wand, schüttelte sie langsam den Kopf und presste hervor: »Nein.«
Er las die tiefe Bestürzung in ihrer Miene und stand auf. War in zwei, drei Schritten bei ihr. Sie wich zurück, torpedierte ihn mit einem eisig-vernichtenden Blick, und er blieb betroffen stehen. Fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die immer ein bisschen zerwühlt wirkten, und fluchte leise.
Er zog ein paar Mal die Unterlippe zwischen die Zähne und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. Als hätte er die Situation völlig unter Kontrolle, schob er abwartend die Hände in die Hüften. Katherine wäre in ihren schäbigen Klamotten am liebsten im Erdboden versunken. Sie wippte unbehaglich von einem nackten Fuß auf den anderen, hielt seinem Blick jedoch hartnäckig stand.
Schließlich räusperte er sich. »Hören Sie! Ich weiß, es ist für alle Beteiligten nicht einfach. Können wir es nicht wenigstens so schmerzlos wie möglich machen? Ich hätte wirklich gern eine Cola, wenn Sie eine haben. Oder einen Kaffee. Ich finde, wir sollten unser gemeinsames Problem wie vernünftige Erwachsene diskutieren. Okay?«
»Ich habe kein Problem, Mr. Manning.«
»Jace.«