ISBN: 978-3-95573-055-0
2. Auflage 2018, Bremen
© 2013 Klarant GmbH
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes 83976589 (Michele Paccione) von Shutterstock.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
„Ossi ist heute Abend mal wieder geschäftlich unterwegs“, erzählte Heide auf dem Weg zum Einkaufszentrum, wo sie und Barbara sich jeden Dienstag die Mittagspause vertrieben, „und ich sitze mit den beiden Kindern allein zu Hause. Manchmal denk ich, seine Geschäfte haben zwei Beine und solche Kurven“ - sie beschrieb sie mit ihren Händen - „und ich sollte mich mal an seine Fersen hängen. Aber dann habe ich doch Angst vor der Wahrheit und lass es so weiterlaufen.“ Sie sah Barbara an. „Oder besser gesagt, ich lasse ihn laufen und tröste mich damit, dass er bisher ja immer wieder von seinen Geschäften zurückgekommen ist.“
Heide ging voran, betrat das Einkaufszentrum, blieb plötzlich stehen und atmete ganz tief ein. „Das hier ist für mich das reinste Labsal!“, rief sie.
Barbara schlug grinsend Blicke zur Decke, denn das sagte Heide jedes Mal, wenn sie herkamen. „Hier kennst du keine Verpflichtung“, nahm sie ihr das Wort aus dem Mund, „hier vergisst du Arbeit, Kinder, Mann und sogar die Eier, die zu Hause im Kühlschrank fehlen. Lieber keine Eier zu Hause, als deine dir heilige 'Einkaufszentrumsfreiheit' antasten.“
„Genau!“ Heide warf Barbara einen Blick zu, der sagen sollte: Nimm du mich bloß nicht auf den Arm, du hast ja keine Ahnung vom Los einer doppelbelasteten Frau!
Dabei hatte Barbara gar nicht beabsichtigt, sie auf den Arm zu nehmen, sie glaubte ihrer Kollegin gerne, dass sie es nicht leicht hatte - die Kinder, der Haushalt, dazu noch vier halbe Tage die Woche als Sekretärin im Übersetzungsbüro zu arbeiten. Tauschen wollte sie mit ihr bestimmt nicht! Nur war ihr eigenes Leben auch nicht gerade das Gelbe vom Ei, obwohl Heide das fest zu glauben schien.
„Wie geht es übrigens deinem Gregor?“ fragte Heide, während sie sich die Auslage eines Stoffgeschäftes ansah.
„Gut“, antwortete Barbara in diesem erschreckend nüchternen Ton, den sie in letzter Zeit immer anschlug, wenn jemand sie nach 'ihrem' Gregor fragte.
„Gut!“ wiederholte Heide ebenso barsch. „Wie du das sagst, als wolltest du ihn am liebsten erschießen!“
Heide hastete weiter zum Schuhgeschäft, zur Drogerie, dann zur Boutique und im Kleidersortiment wühlen. Vorzugsweise Abendkleider! Immer dasselbe, Barbara kannte das alles zur Genüge. Und dazu seufzen in Raten und Vorhaltungen, wie gut sie, Barbara, es doch hätte, es eben nur nicht wüsste!
„Hier, das musst du dir mal ansehen! Ist das nicht ein Traum?“ Heide hielt sich ein nachtblaues Abendkleid aus Seide vor, deutete ein paar Walzerschritte an, blieb dann unvermittelt stehen und hängte das Kleid zurück. „Aber was soll ich mit einem Abendkleid! Könnte ich höchstens zum Bad schrubben oder Wäsche aufhängen anziehen, denn mit mir geht ja sowieso keiner aus. Himmel, du weißt gar nicht, wie gut du es hast!“ Sie nahm eins aus hellgrünem Chiffon vom Ständer, betrachtete es, sagte: „Wenn ich an deiner Stelle wäre, ich würde Gregor die Füße küssen, vor lauter Dankbarkeit, würde ...“
Da riss Barbara plötzlich der Geduldsfaden. „Was weißt du schon von meinem Leben“, fuhr sie Heide an. „So wenig wie ich von deinem! Ich kann dein Gejammer und deinen unbegründeten Neid langsam nicht mehr hören!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Boutique.
Verdutzt hastete Heide ihr nach. „Tut mir leid“, sagte sie. „Ich meine, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Schon gut. Mir tut es auch leid. Mir sind die Nerven durchgegangen.“
Heide schob ihre Hand unter Barbaras Arm, sah sie forschend an. „Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee und einer umfangreichen Beichte, das erleichtert ungemein!“
Barbara lachte. „Kaffee ja, aber zu beichten gibt's nichts. Mir ist nur übel, ganz tief drin. Seelischer Schüttelfrost und kalte Füße, und es geht einfach nicht vorbei.“
In der Cafeteria bestellten sie zwei Cappuccini. Barbara legte ihre Finger um die Tasse, sagte: „Na wenigstens der ist heiß!“ Dann lachte sie, aber ihr Lachen klang wie gurgeln mit Bitterlösung. „Weißt du, als ich Gregor kennen lernte, war ich neunzehn, er war einunddreißig. Er hatte gerade die schlechtgehende Import-Exportfirma seines Vaters übernommen und aus dem Laden innerhalb eines Jahres eine kleine Goldgrube gemacht. Ich habe ihn bewundert, richtiggehend angehimmelt, diesen gutaussehenden Erfolgsmann, der so lässig mit Leuten verkehrte, vor denen ein kleines Mädchen wie ich am liebsten einen Hofknicks gemacht hätte. Er nahm mich mit auf elegante Partys, in die Oper, auf Reisen, und ich war mächtig stolz, dass er ausgerechnet mich wollte. Erst viel später habe ich begriffen, dass ich auch nur eine Art Geschäftsinvestition war.“
„Geschäftsinvestition? Wie meinst du das?“
Barbara lächelte schwach. „Er hat mir einmal lachend erklärt, dass meine Schönheit so bestechend wäre, weil ich mir ihrer nicht bewusst sei, und ähnlich verhielte es sich mit meiner Intelligenz. Eine Frau wie ich, die vier Sprachen spricht, als wären sie alle ihre eigene Muttersprache, und dann auch noch was fürs Auge - das soll ihm erst mal einer nachmachen! Weißt du, Heide, so toll ist das Gefühl nur ein Art Zierrat zu sein nun wirklich nicht.“
„Aber Gregor liebt dich doch - oder etwa nicht?“
„Er sagt, er liebt mich, aber er meint, er liebt an mir, das was ich ihm an Lob einbringe.“
Heide schüttelte den Kopf. „Du tust ihm unrecht. Er verwöhnt dich, ihr führt ein aufregendes Leben, seid oft auf Reisen, geht schick aus ... Er könnte doch genug andere Frauen haben, aber er bleibt bei dir. Und wenn du wolltest, würdet ihr längst verheiratet sein. Was steht dagegen, dass er stolz auf dich ist? Meiner ist kein bisschen stolz auf mich, nimmt mich weder mit auf Geschäftsreisen noch auf elegante Partys! Für ihn bin ich nur Putzfrau und zuständig für die Aufzucht seiner Kinder. Und wenn du glaubst, das wäre toll, dann täuscht du dich.“
„Aber es sind doch auch deine Kinder!“ Barbara sah sie verständnislos an.
„Es sind nicht auch meine Kinder, sondern ausschließlich meine Kinder. Ossi ist nur der Erzeuger, damit hat sich die Sache für ihn.“ Heide schüttelte den Kopf. „Also ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt. In meinen Augen hast du alles, was sich eine Frau nur wünschen kann. Du lebst mit Gregor in einem sagenhaften Haus, wirst verwöhnt, gehst paarmal in der Woche aus, hast teure Kleider, eine Putzhilfe, fährst ein Auto, und dass du im Übersetzungsbüro arbeitest ist ja eher ein Hobby für dich, als notwendig.“
„Jetzt nicht mehr“, sagte Barbara. „Ich werde Gregor verlassen.“
Heide riss den Mund auf und starrte sie fassungslos an. Sie hätte dazu gerne etwas gesagt, aber ihr fehlten einfach die Worte.
Barbara seufzte. „Hör mal, Heide, du hast eben gesagt, meine Arbeit wäre nur ein Hobby für mich. Du täuscht dich. Ohne meine Arbeit hätte ich nichts. Nichts was von mir selbst ist. Ich wäre nur Gregors Marionette, nur ein Luxusweibchen. Meine Arbeit ist für mich der einzige Lebensinhalt. Und das, finde ich, ist nicht genug. Da muss es noch etwas Anderes geben, etwas, das ich an Gregors Seite nicht gefunden habe und wohl auch nie finden werde. Und danach will ich suchen, bevor es zu spät ist. Ich fühle mich leer, mir ist kalt.“
Heide warf beide Hände hoch. „Ich verstehe es nicht! Wirklich, ich kann's nicht verstehen.“ Sie zuckte die Schultern und seufzte.
„Vielleicht liegst es ja an mir, vielleicht kann ich mich nicht deutlich ausdrücken ... oder ich rede chinesisch. Gregor versteht es jedenfalls auch nicht - noch viel weniger als du! Er hört mir nicht einmal mehr zu, wenn ich 'mal wieder davon anfange', lässt solche Bemerkungen los wie: 'Wenn der Mensch keine Probleme hat, dann macht er sich welche'. Vor ein paar Tagen habe ich ihm gesagt, dass ich mir eine eigene Wohnung nehmen werde, und er hat geantwortet, dass er es nicht leiden kann, wenn ich ihm so unmotiviert drohe. Er glaubt doch tatsächlich, ich würde mir irgendwelche Probleme zurechtschustern, nur um ihm damit zu drohen! Und dann will er von mir Fakten, will wissen, was genau an unserer Beziehung, an unserem Leben anders sein müsste. Aber Empfindungen, Sehnsüchte, Ängste lassen sich nicht immer rationell erklären. Und weil ich es nicht rationell erklären kann, hat er nicht mehr als ein müdes Lächeln für mich übrig. Ich muss mein Leben neu einrichten. Ich weiß nicht genau wie, aber so, wie es jetzt ist, gehe ich kaputt.“
„Hast du schon eine Wohnung gefunden?“ fragte Heide.
„Nein“, antwortete Barbara, „nichts was mich irgendwie anspricht, wo ich mich zu Hause fühlen könnte. Es müsste nicht groß sein, weißt du, aber irgendwie müsste es mir genügend Platz zum Atmen lassen.“ Sie schüttelte lachend den Kopf und gab zu: „Besonders deutlich drücke ich mich tatsächlich nicht aus.“
„Du wirst staunen, aber diesmal verstehe ich was du meinst, und ich glaube, ich kann dir sogar zu was Tollem verhelfen. Eine Art Gartenhaus, aber alles da, was man braucht. Wenn du willst, vermittle ich dir einen Besichtigungstermin.“
„Klar, anschauen kostet ja nichts!“ Barbara lachte, und dann fielen sich die beiden Frauen in die Arme und weinten ein bisschen.
Das Gartenhaus entpuppte sich als kleines, altes Häuschen hinter einem Mietshaus. Der große Garten, durch einen Zaun vom Vorderhaus abgetrennt, würde ganz alleine ihr gehören. Im hinteren Teil des Gartens standen ein paar Obstbäume, vor dem Haus wuchsen Blumen und Sträucher. Eine alte Linde verdeckte das Mietshaus fast völlig, nur ein Stück vom Dach war noch zu sehen. Mit leuchtenden Augen sah sich Barbara um. „Es ist wie im Märchen“, flüsterte sie dabei.
Von innen wirkte das Haus sehr heruntergekommen. Die Wände, seit Jahren nicht mehr gestrichen, waren schmutzig und vergilbt, der Lack an Türen und Fenstern blätterte ab, und auf dem Boden lag zerschlissenes Linoleum. Doch das hielt sie nicht ab, sich auf der Stelle in das Häuschen zu verlieben. Es war ein Kleinod! Hier würde sie nicht nur wohnen, hier würde sie leben!
Als sie wieder ins Freie traten, deutete der Hausmeister auf die Obstbäume. „Die gehören dazu, darum muss man sich auch kümmern. Zwetschgen, Äpfel und Birnen. Und Gras mähen muss man - he du da! Hau ab! Weg mit dir!“, schrie er plötzlich und drohte einem kleinen Jungen, der durch ein Loch im Zaun geschlüpft war, mit erhobener Faust.
Der Junge maß ihn mit abgrundtiefer Verachtung, wischte sich die Nase mit dem Ärmel, wandte sich plötzlich Barbara zu und ergründete sie mit Blicken bis in alle Tiefen.
Barbara lächelte ihn an. Sein Gesicht blieb so bewegungslos wie vorher, aber in seinen Augen blitzte plötzlich etwas auf. Etwas wie Freude, etwas wie ein Lachen.
„Weg da! Verschwinde!“ zeterte der Alte weiter, hob wieder die Fäuste und ging auf den Jungen zu.
Da sprang der Kleine hoch, riss sich einen grünen Apfel vom Baum, bückte sich und war auch schon verschwunden. Flink wie ein Wiesel, und so, wie er gekommen war - durch das Loch im Zaun.
Barbara konnte nicht anders, sie musste lachen und handelte sich damit einen bitterbösen Blick des Alten ein. „Rotzjunge! Vom Schulhof drüben!“, schimpfte er.
„Und ab wann könnte ich hier einziehen?“ fragte Barbara.
„Sofort. Aber mit dem Mietvertrag habe ich nichts zu tun. Wenn Sie interessiert sind, dann müssen Sie sich an die Hausverwaltung wenden. Die Adresse haben Sie ja.“ Er schloss das Häuschen wieder ab, ließ den Schlüssel in seiner Kitteltasche verschwinden und stapfte grußlos davon.
„Auf Wiedersehen, Herr Beuerich“, rief Barbara ihm nach.
„Wiedersehen“, brummte er, wandte sich noch mal um und hob die Faust. „Äpfel klauen! Das Gras zertrampeln! Rotzjunge!“