ISBN: 978-3-95573-076-5
1. Auflage 2013, Bremen (Germany)
© 2013 Klarant UG (haftungsbeschränkt), www.klarant.de
Titelbild: Unter Nutzung des Bildes 129185459 von Mayer George (Shutterstock).
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Aus den Boxen dröhnten die Beats, so laut, dass die Gläser, die in der Nähe der riesigen Discbox standen, klirrten und im Takt mithüpften. Die Vögel im Garten waren schon vor zwei Stunden vor Schreck verstummt, als der Bassgitarrist sein Instrument an den Verstärker angeschlossen und ein paar Übungsakkorde gezupft hatte. Inzwischen hatten die gefiederten Freunde wahrscheinlich nicht nur den Garten oder das Viertel verlassen, sondern waren aus der Stadt in die umliegenden Wälder geflüchtet.
Es wurde getanzt, klar. Wild, ungestüm, ausgelassen, verzückt von den Rhythmen, die direkt in den Kopf hämmerten. Über allem ein verdächtig süßlich riechender Qualm, den auch der Duftmix aus Parfüm, Deo und Schweiß nicht überdecken konnte. Auf zusammengeschobenen Tischen an der Schmalseite des Zimmers stand ein halb leergefuttertes Büffet und daneben die verschiedensten Alkoholika, die in verwirrend vielen Flaschen auf der improvisierten Bar aufgebaut waren, beziehungsweise überall herumstanden.
"Das ist die verrückteste Fete, die ich seit Jahren mitgemacht habe." Chrissy Jefferson musste brüllen, damit ihre Freundin Jessie sie verstand. "Was sich hier herumtreibt, sind die schrägsten Typen von ganz Denver und Denver County. Ich wusste gar nicht, dass hier überhaupt so heiße Typen wachsen."
"Die meisten von ihnen kommen von der Uni in Geneva", dämpfte Jessie die Begeisterung ihrer Freundin. "Sie verleben hier ihre Semesterferien und arbeiten nebenbei auf den Farmen oder in den Shops rund um Cherry-Creek und South-Plate-Riverstate. Ich glaube kaum, dass du hier einen Jungen antreffen wirst, der aus Denver-Mainshill stammte."
Chrissy Jefferson verzog das Gesicht, lächelte aber sofort wieder als sie bemerkte, dass ein blonder Jüngling versuchte, mit ihr zu flirten. Jessie überließ die Freundin ihrem Spiel und schlenderte an das Büffet, vor dem sich ein paar Leute zu einer aufgeregten Diskussionsrunde zusammengefunden hatten. Es ging um Umwelt- und Naturschutz, für den sich drei Männer in Jeans und Batik-Shirts stark machten. Ihre Kontrahenten, zwei glattrasierte Scheitelträger, die mit Sicherheit später mal Papis Konzern erben und Menschen dann nur noch als flexibles Büromaterial ansehen würden, plädierten für das Wirtschaftswachstum, das ihrer Meinung nach über den Belangen der Natur stand und den Menschen viel mehr Gutes einbrachte als irgendein verschlammtes Biotop.
"Ihr seid echt bescheuert!", stellte einer der Naturburschen ärgerlich fest. "Wahrscheinlich würdet ihr wie unser Expräsident am liebsten sämtliche Wälder abholzen, damit sie nicht mehr brennen können."
Die Antwort der Studenten hörte Jessica nicht mehr, weil genau in dem Moment, als die beiden die Münder aufmachten, jemand den Stecker aus der Musikanlage zog. In die plötzliche Stille brach die laute Stimme eines jungen Mannes, der sich, um gehört zu werden, auf einen Stuhl gestellt hatte.
"Achtung, Achtung, Freunde! And now we are proud to present: Unser Superduo!" Beifallheischend blickte er in die Runde und klatschte dabei in die Hände.
Da anscheinend jeder wusste, welches Duo gemeint war, begann die Horde auch umgehend begeistert zu applaudieren.
"Hey, Jessie, wo steckst du?", schrie der junge Mann noch lauter. "Komm, schnapp dir das Mikro und sing uns was!"
"Ich bin ja schon da." Lachend bahnte Jessica sich einen Weg durch die dicht gedrängten Reihen der Gäste und ging zu dem jungen Mann, der inzwischen vom Stuhl gestiegen war. Statt seiner, saß hier jetzt ein blonder Musiker, dessen Aussehen stark an den verstorbenen Countrysänger John Denver erinnerte. Eine wahrscheinlich gewollte Ähnlichkeit, die durch die runde Brille noch verstärkt wurde.
Er grinste Jessie an, während er an seiner Folkgitarre zupfte. Als sie zu ihm trat, griff er einen volltönenden Akkord, der in das Vorspiel eines bekannten Countrys mündete.
Jessica sang. Ihre Stimme hatte einen warmen, dunklen Klang, der an blauen Samt denken ließ, aber auch einen hellen, zwitschernden Klang annehmen konnte, wenn es die Melodie verlangte. Ohne die geringste Mühe gelang es ihr, ihre Zuhörer einzufangen und in ihren Bann zu ziehen, dass sie ihr mit offenen Mündern und strahlenden Augen lauschten.
Der Gitarrist wechselte zu einem schnellen, fröhlichen, ja fast übermütig klingenden Song, der die Partygäste sofort auf die provisorische Tanzfläche trieb. Jessies Stimme, der rasche Takt des Countrys heizten die Stimmung an und selbst eingefleischte Heavy Metal und Hardrock-Fans ließen sich davon anstecken.
Plötzlich, niemand hätte später zu sagen gewusst, wann er aufgetaucht, noch wie er überhaupt ins Haus gekommen war, schoss ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann über die Tanzfläche, wobei er rücksichtslos die Paare, die ihm im Weg standen, zur Seite stieß. Mit der Miene eines Massenmörders stürmte er zu dem Gesangsduo und fegte Jessica so heftig zur Seite, dass sie gegen einen Massachusetts-Studenten geschleudert wurde und gemeinsam mit ihm zu Boden ging.
Der Mann achtete nicht darauf. Er hatte dem Gitarristen das Instrument entrissen, sich den Steg übers Knie gelegt und diesen zerbrochen wie einen morschen Ast. Der Rest ging zu Bruch, als der Mann den Gitarrenkörper zweimal mit aller Kraft auf den Boden schlug und zuletzt noch mit dem Fuß darauf trat. Glas splitterte, als das zertrümmerte Instrument durch das Panoramafenster in den gepflegten Garten flog.
Der Gitarrenspieler war viel zu geschockt, um sich zu wehren. Mit weitaufgerissenen Augen sah er dem Wüten des Mannes zu. Er wehrte sich auch nicht, als ihn besagter Wüterich am Kragen seines Hemdes packte und wie ein junges Bäumchen schüttelte.
Unter den entsetzten Blicken der Umstehenden wurde der Junge dann am Kragen seiner Jeansjacke aus dem Wohnzimmer gezerrt. Sekunden später fiel die Haustür hinter den beiden zu, gleich darauf heulte draußen in der Einfahrt der Motor eines schweren Geländewagens empört auf. Es folgten ein paar dumpfe Schläge, das typische Kreischen, wenn Blech an Blech reibt, dann Splittern und Knirschen und dann entfernte sich das heulende Geräusch eines übertourten Motors.
Stille folgte dem Inferno. Plötzlich der Aufschrei "Oh Gott, meine Maschine!"
Der Ausruf holte die Partygäste aus ihrer Starre. Plötzlich schrien und redeten alle durcheinander.
"Hast du das gesehen?" – "Ich glaub's nicht!" – "Was war denn das?" – "Doktor, meine Tropfen!"
Die Anwesenden waren total überrumpelt worden. Alles hatte sich derart rasant abgespielt, dass niemand auf die Idee gekommen war, einzugreifen. Wie in einem Krimi, wo die Gangster ohne Vorwarnung ein Kaffeekränzchen sprengen, so war dieser fremde Mann in die Party geplatzt und hatte den jungen Gitarristen aus dem Kreis der Gäste entführt. Bevor auch nur ein einziger Mensch hatte "Paff" sagen können, hatte der junge Mann schon im Auto des Irren gesessen.
Jetzt löste sich der Schock in völlig wirres Agieren. Aufgeregt durcheinander schwatzend stolperten die Gäste auf den Vorplatz hinaus, auf dem die meisten ihre fahrbaren Untersätze angestellt hatten.
"Mein Cityroller!", kreischte eine weibliche Stimme, gleich darauf warf sich eine junge Frau aufschluchzend neben einem knallroten Roller in den Staub. "Mein schöner, schöner Citysprinter. Der ist totaler Schrott."
"Dann sieh dir mal mein Auto an!", kam es aus einer anderen Ecke. "Verdammt, mein Alter kriegt die Krise, wenn er sein frisch importiertes Examensgeschenk sieht!"
"Und meiner erst!" Tränen schwangen in der hellen Stimme. "Meine Eltern haben mir ihren Wagen nur geliehen."
"Geht zu Jonas Carpenter", empfahl eine dunkle, spöttisch klingende Männerstimme. "Der hat genug Kohle. Er muss den ganzen Shitkram hier bezahlen."
"Und ob ich das machen werde", versprach ein Raphuntertyp in dreimal zu weiten Hosen und Basecap auf den Rastazöpfen. Er kramte ein Handy aus den unendlichen Tiefen seiner Hosen und tippte auf das Display. "Hätt' nie geglaubt, dass ich das mal tun würde. Aber ich mach's, ich rufe die Cops. Sollen die sich den Shit hier ansehen."
Alle nickten ihm zustimmend zu, worauf der Raphunter verlegen sein Handy wieder eintütete. Die Polizei war das Letzte, was sie hier im Haus sehen wollten. Cops hatten nämlich die unangenehme Angewohnheit (neben der, dämliche Fragen zu stellen), überall herumzuschnüffeln. Der Geruch nach Shit und anderem Funny-Stuff würde ihnen ganz bestimmt sofort in die Cop-Nasen steigen. Und wenn sie dann noch die diversen Tütchen "White Dreams" entdeckten, die hier überall herumlagen, dann würde die ganze Partygesellschaft ruckzuck im Knast landen. Jedenfalls so lange, bis ihre reichen Dads und Moms sie da wieder rauskauften. Also verzichtete man lieber auf die Anzeige und vertraute darauf, dass die Familienanwälte die Sache mit Carpenters Anwälten regelten.
*
Während die Freunde draußen die Schäden an ihren Wagen betrachteten, sah Jessie sich im Badezimmerspiegel die dicke Beule an, die ihr an der Stirn gewachsen war. Es sah aus, als ob sie sich ein Hühnerei der Güteklasse XXL unter die Haut geschoben hätte. Und das Ding schwoll immer noch an, obwohl Jessie bereits mehrfach einen, in kaltes Wasser getauchten, Lappen darauf gepresst hatte.
Sie wäre am liebsten geplatzt vor Zorn, aber das nützte leider weder ihr noch ihrem Freund. Oh ja, sie wusste genau, wer dieser Berserker gewesen war, der ihn mitgeschleift hatte. Jonas Jonathan Carpenter, kurz J.J. Carpenter genannt, ein Choleriker und Diktator, vor dem wahrscheinlich sogar der Saddam Hussein gekuscht hätte. Ein Kotzbrocken, dem das Geld nur so aus den Taschen quoll und der nichts Besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste, als seinen einzigen Sohn J.J. Daniel tagein tagaus zu tyrannisieren.
Daniel Carpenter sollte einmal den mächtigen Konzern übernehmen, den seine Urväter auf- und sein Vater ausgebaut hatte. Ein harter, ehrgeiziger Geschäftsmann sollte aus Danny werden, immer den Firmengewinn und die Vermehrung des Firmen- und Privatvermögens im Blick. Da passten so schöngeistige Interessen wie Musik, Lyrik und Malerei überhaupt nicht ins Konzept.
Okay, als High-Society-Mitglied musste man über solche Dinge reden können. Aber sie betreiben, das sollte man in den Kreisen, in denen sich Papa und Sohn Carpenter bewegten, besser nicht. Man hätte sie rasch für schwule Waschlappen halten können. Etwas, was nicht nur dem Ruf sondern vor allem dem Unternehmen schaden konnte. Und das würde J.J. Carpenter niemals dulden!
Jessica hatte Daniel Carpenter in der Mensa der University of Denver kennen gelernt, wo sie sich stundenweise als Küchenhilfe ihr Geld für Miete und Essen verdiente. Ihr waren sofort seine dunklen schwermütigen Augen hinter den runden Brillengläsern aufgefallen, Daniel an ihr die rotblonden Haare, die sie während der Arbeit unter einer weißen Haube verstecken musste. Aber eine Strähne rutschte immer darunter hervor und hing ihr in die Stirn.
Sie hatten sich angefreundet, wie sich junge Leute eben anfreunden und Daniel hatte Jessica stundenlang seine neuesten Kompositionen vorgespielt, die er nachts in seiner Studentenbude schrieb.
Eigentlich studierte Daniel Betriebswirtschaftslehre und Arbeitspsychologie. Er war todunglücklich unter all den fantasielosen Wirtschaftstypen, die alle nur eins im Sinn hatten: Möglichst schnell ihren Abschluss machen und in Papas Fußstapfen treten.
Daniel wollte nicht in den ausgelatschten Pfaden seiner Vorväter wandeln. Er wollte Musik machen, weshalb er meistens in seine Gitarre träumte, statt an den Vorlesungen teilzunehmen und in Jessica hatte er eine Freundin gefunden, die ihn in seinem Bestreben unterstützte, sein Talent auszubauen und zu vervollkommnen.
Ihrer Meinung nach war Daniel bei den Betriebswirtschaftlern völlig fehl am Platze. Er hatte weder den rationalen Verstand noch das Verständnis für Mathematik oder das Talent für stures Paragraphenpauken, das für dieses Studium nun mal unerlässlich war. Seine Art, sich auszudrücken, war die Musik und wenn man ihm die Möglichkeiten dazu verschloss, dann ging er ein wie eine Pflanze, der man Licht und Wasser verwehrte.
Leider war sein Vater davon nicht zu überzeugen. Zwischen den beiden war es deshalb bereits mehrfach zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Aber Daniel war, was den Starrsinn anging, ganz der Sohn seines Vaters. Er ging trotzdem weiterhin seiner Berufung nach, während J.J. Carpenter ihn im Hörsaal der University of Denver wähnte, aufmerksam einer Vorlesung lauschend, die von der ökonomischen Entwicklung eines Landes mit oder ohne industrielle Struktur im Jahr irgendwann handelte.
Jessica hatte nicht vor, sich in den Streit zwischen Vater und Sohn einzumischen. Sie war für ein Jahr nach Denver gekommen, um ein kleines Stück Amerika kennenzulernen, nicht um sich um fremde Familienangelegenheiten zu kümmern.
Zwar war ihr die Freundschaft mit Daniel ungemein wichtig, sie unterstützte ihn in seinen Plänen und machte ihm Mut, wenn er mal wieder von irgendeinem Plattenlabel eine Absage erhalten hatte, aber mit seinem Vater wollte sie lieber nichts zu tun haben.
Heute war J.J. Carpenter allerdings so brachial in ihr Leben getreten, dass sie sich ernsthaft überlegte, ob sie ihm nicht einmal die Meinung sagen sollte.
"Du siehst aus, als wolltest du auf eine Halloweenparty gehen", meldete sich Chrissy, die an die Badezimmertür gelehnt, zusah, wie Jessica ihre Beule kühlte. Sie drehte sich herum und maß die Freundin mit einem langen, nachdenklichen Blick.
"Dieser Mensch ist die reinste Naturkatastrophe", murrte Jessica ärgerlich. "Ich würde ihm am liebsten den Hals umdrehen."
"Tu das, du hast allen Grund dazu", erwiderte Chrissy grinsend. "Während du nämlich hier deine Blessuren gezählt hast, war ich draußen an deinem Wagen. Daniels Vater hat ihn mit einer schicken Beule verziert."
"Was?" Mit einem Satz stand Jessica neben der Freundin. "Mein süßer, kleiner Mini hat eine Beule? Wenn das stimmt, dann sind J.J. Carpenters Tage gezählt."
"Es ist wahr", bestätigte Chrissy fröhlich. "Der Rüpel hat deinen Kleinen genau am Kotflügel erwischt. Jetzt sieht er aus, als würde er schielen. Es tut mir richtig weh, wenn ich ihn ansehe."
Jessica hatte die Beule an ihrer Stirn vergessen. Mit vorgerecktem Kinn kam sie auf Chrissy zu, die vor dem Anblick ihrer zornfunkelnden Augen respektvoll zurückwich.
"Warte nur, diesem cholerischen Wichtigtuer wird auch einiges weh tun, wenn ich mit ihm fertig bin", drohte Jessica finster. "Oh, ich schwöre dir, Chrissy, dieser J.J. Carpenter wird mir den Schaden bezahlen. Ich lasse mir seine Ausbrüche nicht gefallen. Ich nicht!"
"Okay, okay!" Abwehrend streckte Chrissy die Hände aus. "Du wirst ihm die Goldzähne schon ziehen. Aber jetzt müssen wir erst mal das Bad räumen. Die Leute stehen schon Schlange."
"Gut." Jessica fuhr herum, zupfte vor dem Spiegel das Haar so zurecht, dass es die Beule verdeckte und verließ dann hinter ihrer Freundin das Badezimmer, vor dem sich tatsächlich mehrere Leute eingefunden hatten.
"Wurde auch Zeit", murrte jemand, als Jessie an den Wartenden vorbeilief. Sie warf dem Murrer einen zornigen Blick zu und ging in den Wohnraum.
"Jessie, Jessie!", klang es aus allen Ecken. "Was sagst du dazu?" – "Hast du gesehen, was der fürchterliche Mensch mit Daniels Gitarre gemacht hat?" – "Lässt du dir das gefallen? – "Der Mann muss verrückt sein!"
Alle sprachen durcheinander und auf Jessica ein. Sie blieb stehen, hörte sich die Kommentare an und dachte sich ihren Teil zu der Geschichte.
Diese jungen Leute waren allesamt reich und verwöhnt. Von ihnen würde keiner ernsthaft einen Finger rühren, um Daniel zu helfen. Zugegeben, Jessica hatte das auch nicht geplant gehabt. Aber die Beulen an ihrem Kopf und im Kotflügel ihres Autos, das waren genau zwei Beulen zu viel. Mit dieser Tat hatte sich Jonas Carpenter ungebeten in ihr Leben gedrängt und musste nun die Konsequenzen tragen.
"Dein Wagen hat auch was abbekommen", rief ein junger Mann, der so klein war, dass er sich recken musste, um über die Schultern der beiden Zwillingsschwestern sehen zu können, die vor ihm standen.
"Und meine Honda muss in die Werkstatt", meldete sich Molly Johnson, die bereits einen Schwips hatte.
"Ich gebe die ganze Angelegenheit unserem Familienanwalt", verkündete ihre Freundin Alberta, deren Daddy sein Geld mit Erdnüssen verdiente. "Wozu sich persönlich mit einem Mann wie Carpenter anlegen? Er zahlt sowieso. Für ihn ist das nur ein Klacks."
Jessica hatte plötzlich keine Lust mehr, sich das Gerede der feinen Dollarprinzessinnen und -prinzen anzuhören. Da die Party sowieso wieder zu ihrer alten Hochform auflief, brauchte sie sich auch nicht die Mühe zu machen, erst nach einem Abschiedsgrund zu suchen. Jessie ging einfach hinaus und lief zu ihrem Minicooper, der in der Auffahrt zu der schicken Villa geparkt war.
Ihre Freundin Chrissy hatte nicht übertrieben. Die Beule des Kleinwagens ließ das ganze Auto grotesk zerknittert aussehen. Jessica fühlte einen heftigen Stich in der Herzgegend, als sie die schielenden Scheinwerfer ihres Lieblings erblickte.
Traurig sah er aus. Traurig und hilflos. Dieser Jonas Jonathan Carpenter war ein gewissenloser Autoschänder!
Um sich diese rollende Einkaufstasche, wie Chrissy den Mini spöttisch bezeichnete, leisten zu können, hatte Jessica einen nicht unerheblichen Teil ihrer Ersparnisse opfern müssen. Immerhin weilte sie nur als Gast in diesem Land und hatte zu Hause im guten alten England ihre ganzen Habseligkeiten verkauft, den Sparstrumpf geplündert und ihren Aussteuerfonds aufgelöst (Großmutter glaubte immer noch, dass die Ehe für eine Frau die höchste Stufe der Karriereleiter war), um sich diesen einjährigen Aufenthalt in den USA leisten zu können.
Jessie musste sich jeden Cent genau überlegen, bevor sie ihn ausgab, und da kam dieser scheußliche Mr. J.J.Capenter und fuhr ihr das Auto einfach zu Schrott!
Aber das würde er bezahlen! Und wenn sie gerade dabei war, ihm die Meinung zu geigen, dann konnte sie ihm auch gleich sagen, was sie von seiner Erziehung hielt.
Oh ja, Jonas Jonathan Carpenter würde eine sehr unangenehme Stunde erleben, wenn Jessica ihn in seinem gewiss feudal eingerichteten Chefbüro aufsuchte! Sie war nicht bereit, auch nur einen Fingerbreit von ihren Forderungen abzuweichen.
Joanna und ihr frischangetrauter Ehemann George schliefen bereits, als Jessica gegen ein Uhr nachts nach Hause kam. Leise, die Schuhe in der Hand, schlich sie die Stufen zum Obergeschoss hinauf und huschte auf Zehenspitzen zu ihrem Zimmer, das am Ende des Ganges lag.
Es wird höchste Zeit, dass ich eine eigene Bleibe finde, dachte Jessie, während sie sich im Gästebad nur rasch die Zähne putzte und auf ihre abendliche Dusche verzichtete, um das Ehepaar Lampster nicht zu wecken.
Die beiden waren seit genau drei Monaten, zehn Tagen und dreizehn Stunden verheiratet. Seit drei Monaten, vier Tagen und neunzehn Stunden lebten sie hier in Denver-Mainshill und waren immer noch "verliebt wie am ersten Tag" wie Joanna, kurz Joan genannt, immer wieder betonte.
Jessica und sie waren seit ihrer Kindergartenzeit miteinander befreundet. Als sich die schüchterne, ängstliche Joanna endlich bereit erklärt hatte, den eher stürmischen, poltrigen George Lampster zu heiraten und ihm in die Staaten zu folgen, hatte Jessica spontan beschlossen, die Freundin zu begleiten.
Um sich in den zwölf Monaten ihres Besuches wenigstens ein paar Dollar hinzuverdienen zu können, hatte Jessie sich ein Studentenvisum ausstellen lassen. Schon zwei Wochen nach ihrer Ankunft in Colorado hatte sie die Anstellung in der Mensa bekommen.
Vier Wochen danach war der kleine BMW-Mini ihr Eigentum geworden, mit dem Jessie in ihrer Freizeit durch die Gegend brauste. Bis dahin war alles superglatt gelaufen, nur mit der eigenen Wohnung hatte es bisher noch nicht geklappt.
Alle Appartements, die Jessie sich bisher angesehen hatte (und das waren einige!), kosteten eine Miete, für die sie in England den ganzen Westflügel des Buckingham Palace hätte bewohnen können. Mietwohnungen waren enorm teuer, egal ob auf dem Land oder in der Stadt und Jessica begann sich mit dem Gedanken anzufreunden, eventuell in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, wie es hier viele junge Leute taten.
Ihre Freundin Chrissy, die wie sie aus England stammte, wohnte mit fünf Studentinnen in einem Haus am Rande der Stadt. Dort ging es immer wild und unkoordiniert zu, aber Chrissy hatte ihren Spaß dabei und genoss ihren Aufenthalt in den Staaten in vollen Zügen.
Jessica hatte sie in einer Wohnungsagentur kennen gelernt, in der Chris als Aushilfssekretärin arbeitete. Die Freundinnen verbrachten fast ihre gesamte Freizeit miteinander. Chrissy hatte Jessie bereits mehrfach angeboten, doch auch in das Haus am Stadtrand einzuziehen, aber bisher gefiel Jessica diese Idee überhaupt nicht.
Mit fünf Frauen in einem Haushalt zu leben, das hatte für sie etwas von Asylantendasein oder Heimsituation an sich und das mochte Jessica sich nicht unbedingt antun.
Andererseits wurde es Zeit, dass sie die Lampsters mit ihrem jungen Glück allein ließ. Zwar betonte Joanna immer wieder, dass sie sehr froh sei, Jessie bei sich zu haben, aber Jessie argwöhnte, dass Joanna ebenfalls ganz froh sein würde, wenn sie die Freundin nicht tagtäglich in ihrer unmittelbaren Nähe wusste.
Wie aufs Stichwort wurde in diesem Moment an die Tür geklopft und Jessie rief "Herein!".
Joanna kam auf Zehenspitzen ins Zimmer gehuscht.
"Ich habe gesehen, dass bei dir noch Licht brennt", flüsterte sie, während sie sich dem Bett näherte. "Erzähl mal, wie war die Party?"
Jessie rutschte tiefer unter die Decke und klopfte neben sich auf die Matratze.
"Es war so eine richtige Nobelfete von reichen Kids", berichtete sie bereitwillig. "Das Ganze fand in einer stinkfeinen Villa in Witchpad statt, mit allem Drum und Dran, einschließlich Alkohol und Drogen. Und es waren ein Haufen Leute da, die ich nicht kannte. Aber das war egal. Auf solchen Feten kommt man rasch ins Gespräch. Kurz und gut, es war laut, wild und lustig, bis dieser Jonas Jonathan Carpenter auftauchte. Ab dann ging's rund."
"Carpenter?" Joanna schlüpfte zu Jessie unter die Bettdecke. "Du meinst den Nudelkönig Carpenter? Sag nur, du hast endlich Daniels Dad kennen gelernt?"
"Und wie!" Jessies Lächeln fiel etwas schief aus. "Gleich von seiner besten Seite. Er hat Daniel am Kragen gepackt, aus dem Haus geschleift und beim Wegfahren mehrere Fahrzeuge gerammt. Mein Paulchen hat er auch erwischt."
"Moment, Augenblick mal!" Joanna hob Einhalt gebietend die Hand. "Habe ich das richtig verstanden? Carpenter hat seinen Sohn aus dem Haus gezerrt und Autos demoliert?"
"Ja, genauso war es." Jessie unterdrückte ein Gähnen. So langsam wurde sie müde. "Carpenter war wütend wie ein Stier mit mindestens fünf Piken im Hals. Er kam ins Wohnzimmer gestürmt wie ein Naturereignis. Bevor irgendjemand reagieren konnte, hatte er sich Daniel geschnappt und war wieder draußen. Wir sind erst zu uns gekommen, als es draußen schepperte und klirrte."
"Meine Güte!" Joanna verdrehte die Augen. "Du erlebst vielleicht Sachen. Sie musterte Jessie nachdenklich und auch ein bisschen neidisch. "Da bist du gerade mal zwölf Wochen hier und kennst schon halb Denver, Mainshill und die Leute von der Uni. Wie machst du das nur?"
"Ganz einfach, ich gehe vor die Tür." Jessie schenkte der Freundin einen bedeutungsschwangeren Blick. Ihre Freundin vergrub sich seit ihrer Ankunft regelrecht in ihrem Haus, traute sich so gut wie nie auf die Straße und wartete Abend für Abend auf ihren Mann, der dann mit ihr zum Einkaufen fuhr.
Am Anfang hatte Jessie versucht, die Freundin auf ihren Streifzügen mitzunehmen, aber Joanna hatte sich so vehement dagegen gewehrt, dass Jessie es inzwischen aufgegeben hatte, sie um ihre Begleitung zu bitten.
"Auf die Bekanntschaft mit Carpenter hätte ich gut und gerne verzichten können", fuhr Jessica mit düsterer Miene fort. "Dieser Mann ist wirklich ein Ekel! Daniel tut mir richtig Leid, dass das Schicksal ihn mit so einem Vater bestraft hat."
Joanna nickte.
"George hat mal für ihn gearbeitet. Da hat er so einiges mitbekommen. Anscheinend will Carpenter aus seinem Sohn so eine Art Rechenmaschine machen, die nichts fühlt und nur an den Familienkonzern denkt." Sie unterbrach sich, dachte kurz nach und fügte dann hinzu: "Aber als Chef soll Carpenter ganz annehmbar sein."
"Kann ich mir nicht vorstellen." Jessica gähnte jetzt unverblümt, um Joanna zu verstehen zu geben, dass sie müde war. "Als Mensch ist er jedenfalls ein Arschloch."
Sie rutschte noch etwas tiefer unter die Decke und kuschelte den Kopf ins Kissen. Eine Geste, die Joanna sofort verstand. Sie schlüpfte aus dem Bett und lief auf Zehenspitzen zur Tür. Dort blieb sie noch einmal stehen und sah zu Jessica zurück, von der nur noch der kupferrote Schopf zu sehen war.
"Wenn du möchtest, kümmert sich Georges Anwalt um die Sache mit deinem Auto", bot sie zaghaft an. „Christopher Leroy ist ein guter Anwalt. Er regelt seit Jahren alle rechtlichen Dinge in Georges Firma."
"Danke, nein", kam es aus den Kissen. "Dein Angebot ist lieb gemeint, aber ich hole mir mein Geld für die Reparatur persönlich bei Mr. Carpenter ab."
"Du tust was?" Joanna ließ den Türknauf los und kam zurück.
Jessie seufzte. "Ich gehe morgen früh zu J.J.Carpenter", erklärte sie mürrisch. "Und versuche erst gar nicht, mir das auszureden. Ich tu's doch, egal, was du dazu sagst. Dieser Mensch hat es verdient, einmal ordentlich den Kopf gewaschen zu bekommen."
"Von dir?" Joannas Stimme klang skeptisch. "Nach allem, was ich bisher über Mr. Carpenter gehört habe, stehst du schneller vor seiner Tür, als du hindurch gegangen bist. Wahrscheinlich lässt man dich gar nicht bis zu ihm vordringen. Und wenn es dir doch gelingt, in sein Heiligtum vorzudringen, wird er dich sofort von seinen Security-Mitarbeitern rauswerfen lassen. Nein, Jessie, gib die Idee auf. Ich sage Mr. Leroy Bescheid und dann..."
"Wehe!" Jetzt klang Jessies Stimme ärgerlich, weshalb Joanna vorsichtshalber den Kopf einzog. "Ich mache es auf meine Weise, verstanden? Und jetzt geh schlafen, morgen früh um acht steht dein George auf der Matte und will sein Frühstücksrührei haben. Gute Nacht."
"Gute Nacht", murmelte Joanna eingeschüchtert. Sie warf noch einen letzten, zweifelnden Blick auf das Bett, dann drehte sie sich um und verließ auf leisen Sohlen das Gästezimmer.