Im Süden die Liebe

Heiter - besinnliche Liebesgeschichten von Glück, Liebe, Lust, Eifersucht und Leidenschaft

Friederike Costa


ISBN: 978-3-943838-79-4
2. Auflage 2018, Bremen
© 2012 Klarant GmbH



Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Villa Glücksstern

 

Wahllos warf Betty Klamotten in ihren Koffer. Schuhe, Schminkzeug, ihren Pass. Sie war fest entschlossen, nie wieder zurückzukehren! Tränen liefen über ihre Wangen, als sie mit zittrigen Händen die Verriegelung schloss.

Fritz, der hinter ihr stand, seufzte. "Ist deine Reaktion nicht ein wenig übertrieben?"

Sie fuhr herum, sah ihn bitterböse an. "Du hast etwas mit einer Kollegin, und dann findest du es übertrieben, wenn ich gehe?"

"Ich war ein paarmal mit ihr aus."

"Ja, im Hotel zum Schwan!"

"Dort kann man gut essen."

"Ach, und dazu musstest du ein Zimmer mieten?" Betty nahm ihren Koffer, die Handtasche und ging zur Tür.

Fritz folgte ihr. "Gut. Ein Ausrutscher. Aber der erste nach 18 Jahren Ehe. Lass uns doch vernünftig reden."

"Vernünftig? Dazu würde gehören, dass du dich entschuldigst, statt immer noch weiter zu lügen."

"Gut, ich entschuldige mich."

Betty blieb so plötzlich stehen, dass er sie fast umgerannt hätte. "So nicht!" Wut und Enttäuschung blitzten aus ihren Augen. "Du bist ein verdammter Egoist. Und du hast null Anstand!"

Als Betty die Haustür aufriss hätte sie vor Schreck fast einen Schrei ausgestoßen. Draußen stand Olga, ihre Freundin, und wollte gerade klingeln. Sie sah aus wie Bettys Spiegelbild. Das Gesicht verheult, ein Koffer neben ihr. "Willst du etwa verreisen?", fragte Olga panisch.

"Ja, und zwar für immer! Ich verlasse Fritz."

Diese Nachricht wirkte wie Reizgas auf Olgas Tränendrüsen. Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und schluchzte hinein. "Und ich hatte gedacht, ich könnte bei dir bleiben. Gernod hat ein Verhältnis."

"Na toll, willkommen im Club!" Betty hakte Olga unter, sie gingen zu Bettys Wagen.

"Wo fährst du denn hin, wo kann ich dich erreichen?", rief Fritz ihr nach. Erst jetzt schien er zu begreifen, dass sie tatsächlich ernst machte.

"Versuchs doch mal im Hotel zum Schwan!" Betty startete und fuhr mit einem Affenzahn davon.

"Sie heißt Maxi und ist fünfzehn Jahre jünger als ich", schluchzte Olga, "und Gernod ist total verknallt in sie. Er sagt, endlich 'fühlt' er sich wieder! Bei mir hätte er sich zwar auch gefühlt, aber meistens nur alt und schlecht."

"Midlife-Crisis." Betty lachte bitter auf. "Männliche Wechseljahre! Offensichtlich drehen sie nun alle durch."

"Und jetzt?", fragte Olga.

"Zu Sandra", beschloss Betty. "Und morgen sehen wir weiter."

Sandra war nicht zu Hause. Betty versuchte es auf ihrem Handy. Die Mailbox sprang an. "Hier Betty. Muss dich sprechen. Dringend! Kannst du bitte zurückrufen?"

Zwanzig Minuten später meldete sie sich. "Was gibt's denn?"

"Olga und ich sitzen vor deiner Tür. Wir haben unsere Männer verlassen. Hast Du Platz für uns?"

"Klar, in einer Viertelstunde bin ich da."

Sandra sah erschöpft aus. Blass, eingefallene Wangen, abgemagert.

"Wir dachten, für eine Nacht, dann sehen wir weiter", sagte Betty.

"Ihr könnt gern auch länger bleiben. Philipp ist in Japan, ich selbst muss ständig Überstunden machen. Und wenn ich dann nach Hause komme, ist keine Menschenseele da. Ich habe das alles so satt ..." Sie brach ab, sie schluckte an den aufsteigenden Tränen.

"Hey, was ist denn mit dir los?" Betty drehte Sandra zu sich herum und nahm sie in die Arme. "Betrügt dich Philipp etwa auch?"

Sandra zuckte die Schultern. "Keine Ahnung. Er ist ja nie zu Hause. Jettet als Hoteltester um die Welt, kreuzt zwischendurch mal auf und mimt den Sonnyboy. Wenn ich ihm sage, mein Leben besteht nur noch aus Arbeit, und ich fühle mich einsam, entgegnet er, dass ich schließlich wusste, wie selten er zu Hause sein würde, als ich ihn heiratete. Er hat Recht - und trotzdem! Wenn wir keine Möglichkeit haben, Dinge zu verändern, sind wir doch wie tot. Ich kann so nicht weiter machen. Ich bin 45 Jahre alt. Ich arbeite mindestens zehn Stunden täglich und verdiene viel Geld, das ich nicht ausgeben kann, weil mir keine Zeit dazu bleibt. Ich habe dieses Leben satt!"

"Oje", Olga seufzte, "und ich hatte immer gedacht, die Sandra mit ihrem tollen Mann, ihrem tollen Haus, ihrem tollen Job als Ingenieurin hat das große Los gezogen!"

"Und was würdest du dir für ein Leben wünschen, wenn eine gute Fee käme?", fragte Betty.

"Zeit für mich. Ein paar nette Freunde. Liebe - und ich meine keinen Sex, sondern Nähe und Vertrautheit."

"Ich würde mir mehr Selbstvertrauen wünschen", sagte Olga. "Und wenigstens mal für ein paar Wochen keine Hausfrauenpflichten erfüllen müssen. Einundzwanzig Jahre lang habe ich für meinen Mann und meine Kinder das Aschenputtel gespielt, und jetzt hält er mir vor, er fühlt sich bei mir immer nur alt und schlecht!"

"Ich", sagte Betty, "ich würde gerne mal etwas ganz anderes erleben. Irgendwie raus aus dem ewig gleichen Trott. Etwas Neues erfahren, mich einlassen müssen. Ein Segeltörn um die Welt. Einen Brunnen bauen in Afrika. Irgendetwas meistern, dass ich noch nicht kann."

Sandra hatte nachdenklich zugehört. Einen Brunnen bauen. Selbstvertrauen gewinnen. Zeit für sich haben. Plötzlich strahlte sie. "Da wüsste ich was für uns - wir könnten die 'Villa Glücksstern' auf Vordermann bringen!"

"Villa Glücksstern?"

"Eine alte Mühle auf Korsika. Sie gehört meinen Eltern, doch seit Papa krank ist, können sie sich nicht mehr darum kümmern."

"Wow!" Olga warf die Arme hoch. "Das wäre ja super! Aber könnt ihr denn weg? Ich meine, bei mir kein Problem, ich habe meinen Job als Aschenputtel ja gerade gekündigt."

"Bei mir auch kein Problem, nächste Woche fangen die Ferien an." Betty arbeitete als Erzieherin.

"Und ich habe meinen Arzt auf meiner Seite. Seit Monaten redet er mir ins Gewissen, dass ich dringend Urlaub machen muss. Ich habe noch vier Wochen vom letzten Jahr, und die nehme ich mir jetzt!"

"Ihr meint also, ab nach Korsika?"

"Bingo!" Sandra hielt ihren Freundinnen die Hand hin, und sie schlugen ein.

 

Am Flughafen wurden sie von Pierre erwartete. Sein strahlendes Lächeln, seine schönen blauen Augen verfehlten ihre Wirkung auf Betty nicht. "Man, sieht der gut aus", flüsterte sie.

Sandra stieß sie lachend in die Seite. "He du, klapp den Mund wieder zu, sonst denkt er noch, du willst ihn verschlingen!"

"Hätte nichts dagegen, immerhin bin ich jetzt vogelfrei, und Fritz soll bloß nicht glauben, dass ich ihm auch nur eine einzige Träne nachweine!"

Zur Begrüßung küsste Pierre Sandra auf die Wangen. "Das Auto habe ich von Jacques überholen lassen und angemeldet, läuft wieder wie geschmiert. Und der Strom in der Mühle ist auch angestellt. Wie lange bleibt ihr?"

"Mindestens vier Wochen."

"Dann, meine Damen, herzlich willkommen auf Korsika!"

Das Auto war ein uralter Benz, Sandras Eltern hatten ihn damals als 'Inselfahrzeug' hier gelassen. Pierre chauffierte, die Frauen sahen sich um. Es war ein Traum! Türkisfarbenes Meer auf der einen, schroffes Gebirge auf der anderen Seite. Dörfer, die wie Schwalbennester in den Felsen hingen, herrlich duftende Macchia, Olivenbäume, Wälder, Bäche, die von steinernen Brücken überspannt waren, und kleine felsige Wasserbecken.

Sandra fasste Olgas Hand. "Ich hatte ganz vergessen, wie wunderschön es hier ist", sagte sie verzaubert.

Irgendwo unterwegs kauften sie Lebensmittel, dann ging es über schmale Straßen und Wege bergan.

Der erste Blick auf die Mühle war für Olga und Betty ernüchternd. Halb hinter Gestrüpp verborgen erschien sie ihnen wie ein großer, formloser Steinhaufen mit einem riesigen Wasserrad daran. Das ganze Anwesen wirkte karg und steinig, und es lag einsam in einem Hang zwischen Olivenbäumen.

Pierre lenkte den Wagen auf eine Parkbucht. Die letzten zwanzig Meter mussten sie zu Fuß über einen steilen Eselspfad gehen. Riesige Kopfsteine waren in den Boden eingelassen, sie kamen sich vor wie im Mittelalter. Oben angekommen betraten sie durch ein Tor eine Art Innenhof. Rechts die Mühle, vorne ein kleines niedriges Wirtschaftsgebäude, von da führte eine mannshohe Mauer in einem Bogen zum Tor zurück.

Sandra sah ihren Freundinnen die Enttäuschung an. "Keine Angst", sagte sie aufmunternd, "schon morgen seht ihr alles mit anderen Augen!" Sie zwinkerte Betty zu. "Und einfacher als Brunnenbauen in Afrika ist das Leben hier allemal."

Während Sandra Türen und Fensterläden öffnete, schleppte Pierre das Gepäck herauf. "Reitet eine von euch?", fragte er, als er die letzten Taschen im oberen Flur niedergesetzt hatte.

"Du meinst auf einem Pferd?", fragte Betty verblüfft.

Er grinste "Klar. Auf Eseln reiten hier höchstens noch die alten Bergbauern."

"Reiten ..." Betty bekam glänzende Augen. "Als Mädchen war ich fast täglich im Reitstall, aber das ist lange her."

"Lange? Das kann doch gerade mal gestern gewesen sein!", entgegnete Pierre charmant und schenkte ihr ein samtweiches Lächeln. "Wenn du möchtest, hole ich dich übermorgen um elf Uhr ab. Ich habe acht Pferde, die ich an Touristen vermiete. Im Moment ist noch wenig los, sie müssen bewegt werden."

"O.K.", sagte Betty mutig.

Die Frauen räumten Tische, Stühle und Liegen in den Hof, hängten Vorhänge vor die Eingangstür, lüfteten Betten und schrubbten die Küche. Bald sah alles schon viel gemütlicher aus. Am Abend aßen sie im Hof korsischen Schinken, Schafs- und Ziegenkäse und tranken roten korsischen Wein dazu, und natürlich konnte es sich Betty nicht verkneifen, nach Pierre zu fragen.

"Er wohnt in Lama, das ist vier Kilometer entfernt. Während der Saison organisiert er Tagesritte für Touristen, nebenbei kümmert er sich um Häuser, die Ausländern gehören."

"Und wie kommt es, dass er so gut deutsch spricht?"

Sandra grinste. "Das hat er von all den Touristinnen gelernt, die ihn so verliebt anhimmeln wie du."

Betty wurde rot, und Sandra und Olga lachten.

Am nächsten Morgen zeigte Sandra ihren Freundinnen die Mühle und das Gelände ringsherum. Es waren zehn Räume, drei davon mussten noch renoviert werden. "Ich besorge uns einen kräftigen Mann als Helfer", schlug sie vor, "dann packen wir's an! Halber Tag Arbeit, halber Tag für uns. Und Olga braucht zwecks Aschenputtel-Syndrom keinen Haushalt zu machen, dafür schuftet sie im Garten."

Betty war einverstanden, was Olga mit einem Jubelschrei quittierte.

Sandra rief Pierre an, der schickte ihnen einen guten Freund vorbei. Gérard konnte von Strom installieren über Verputzen bis hin zu Wasserhähne reparieren alles. Im Gegensatz zu Pierre war er allerdings eher schüchtern, und sein Deutsch war nicht ganz so perfekt. Nachdem Gérard sich alles genau angesehen hatte, versprach er, am nächsten Morgen mit den nötigen Baumaterialien wiederzukommen.

 

In aller Herrgottsfrühe schlug Sandra zum Wecken zwei Topfdeckel aneinander. "Raus aus den Federn!", rief sie.

Betty erschien zuerst. "Das ist gemein! Mitten in der Nacht, und wo wir doch Urlaub haben!"

"Wieso Urlaub? Brunnen bauen!"

Betty seufzte. Hätte sie das bloß nie gesagt.

Olga erschien nun auch.

"Dann geh ich mal duschen", brummte Betty.

Sandra hielt sie zurück. "Duschen könnt ihr euch sparen. Kommt mit!"

Sie nahm einen Stoß Badetücher, die sie zurechtgelegt hatte, und führte die Frauen ein Stück am Bach entlang. Plötzlich standen sie vor einem kleinen Wasserfall, der sich in ein natürliches Wasserbecken ergoss. "Voilà!", sagte sie mit großer Geste. "Das ist unser Swimmingpool!"

"Wow!" Betty und Olga sahen sich begeistert um. "Das ist ja super romantisch hier!"

Sandra, zog sich aus und sprang beherzt ins Wasser, Betty hechtete ihr nach, kreischte und lachte, als sie wieder auftauchte. "Puh, ist das kalt! Na los, Olga, komm rein!"

"Kann man da stehen?"

"Nö."

Olga setzte sich am Rand hin. "Ich kann nicht schwimmen", gab sie verlegen zu.

"Wie - du kannst nicht schwimmen?"

"Na, ich kann eben nicht schwimmen! Als Kind hatte ich keine Gelegenheit, es zu lernen, und später ..." Sie zuckte die Schultern. "Später war nie Zeit dazu. Sissi in die Ballettschule bringen, Moritz zum Musikunterricht, Theaterspielen hier, Sport da. Wer fragt da schon danach, ob ich vielleicht schwimmen lernen will."

Betty und Sandra stiegen aus dem Wasser und setzen sich zu Olga, die plötzlich wieder Tränen in den Augen hatte. "Maxi, Gernods neue große Liebe, kann bestimmt schwimmen! Die kann wahrscheinlich alles, was ich nicht kann!"

"He", Sandra stieß sie in die Seite. "Hör endlich auf, die Schuld für Gernods Fehler bei dir zu suchen."

"Und vor allem hör auf darüber nachzudenken, was du können solltest. Es geht ausschließlich darum, was du können willst - willst du schwimmen können?"

Olga wischte sich die Tränen ab. "Ja, klar. Scheint doch Spaß zu machen, wenn man euch so zusieht!"

"Also, dann lernst du jetzt Schwimmen." Entschlossen stand Betty auf, suchte nach einem Stück Holz, das für ihren Zweck groß genug war und genügend Auftrieb hatte, warf es ins Wasser und sprang nach. "Daran hältst du dich mit den Händen fest, und mit den Füßen übst du Schwimmbewegungen. Wir helfen dir und passen auf dich auf."

Olga zögerte, aber dann nahm sie all ihren Mut zusammen, ließ sich ins Wasser gleiten und fasste das Holz. Sie fing an, panisch mit den Beinen zu rudern, bis Betty sie um die Taille nahm. "He, ganz ruhig! Lass dich einfach mal treiben, das Wasser trägt dich." Eine Viertelstunde später ging es schon bedeutend besser, aber dann wurde ihnen kalt, und sie gingen wieder an Land.

"Und?", fragte Sandra. "Wie fühlst du dich?"

Betty strahlte. "Super! Ich hätte nie von mir gedacht, dass ich Mut zu so was habe!"

"Siehst du!", riefen Betty und Sandra wie aus einem Mund.

 

Pierre und Gérard kamen gegen Mittag. Gérard mit einem Transporter, der voll beladen war mit Zementsäcken, Farbkübel, Rohren und Werkzeug. Pierre kam auf seinem Motorrad. Zu zweit luden sie das Baumaterial ab, tranken anschließend Kaffee mit den Frauen. Als Bettys Handy klingelte, sah sie nur kurz drauf, schaltete es entschlossen aus und versenkte es in der Tischschublade.

"Wer war's denn?", fragte Olga im Flüsterton.

"Na wer wohl - Fritz! Pah, meinetwegen kann er bleiben wo der Pfeffer wächst!"

Olga seufzte. "Er ruft dich wenigstens an. Gernod hat sich überhaupt noch nicht gemeldet. Und blöderweise habe ich mein Ladegerät vergessen, spätestens heute Abend ist der Akku leer."

"Was hättest du von seinem Anruf? Er würde dich nur wieder kränken, und darauf kannst du gut verzichten. Genieße die Zeit auf Korsika, der Ärger kehrt von ganz alleine zurück, spätestens bei der Scheidung."

Das Wort Scheidung trieb Olga Tränen in die Augen. "Sag doch so was nicht!"

Betty fuhr mit Pierre zum Pferdestall. Umgeben von Bäumen, blühenden Sträuchern und Koppeln, lag er an der Küste in der Nähe eines Hotels. "Du bekommst Dixie", sagte er, drückte Betty Putzzeug in die Hand und führte sie zu einer Box, aus der ihnen eine Fuchsstute entgegensah. "Sie ist unser Schmuse-Schaukelpferd, genau das Richtige, um wieder anzufangen."

Erstaunt stellte Betty fest, dass sie nichts verlernt hatte. Sie wusste noch wie man putzte, wie man sattelte und wie man aufstieg. Und während sie im Schritt zum Strand ritten, hatte sie das Gefühl, als sei sie erst gestern zum letzten Mal auf einem Pferd gesessen.

"Traust du dir einen Trab zu?", fragte Pierre.

"Klar", antwortete sie.

Zufrieden nickte Pierre, als er sah, wie sicher sie ritt. "Ich sag's ja immer - Radfahren und Reiten verlernt man nicht!" Er grinste. "Und jetzt ein Galopp!"

Schon ging es los. Das Wasser spritzte unter den Hufen der Pferde, und Betty lachte vor Glück. Das war Freiheit! Himmel, warum hatte sie sich bloß all die letzten Jahre nichts mehr gegönnt als Arbeit und die schlechte Laune ihres Mannes! Ach, ja richtig - weil sie das Haus abbezahlen mussten! Und das neue Auto für Fritz. Und Jonathans Studium in England. Aber damit war jetzt Schluss, ab jetzt war sie an der Reihe!

Als sie zwei Stunden später wieder in die Villa Glücksstern kam, glänzten ihre Augen wie schon lange nicht mehr.

Sandra nahm sie zur Seite. "Was ist denn mit dir passiert?"

Betty grinste. "Ich bin total verknallt!"

"In Pierre?"

"In den auch ein kleines bisschen, aber vor allem in die Pferde, in das Leben, in das Gefühl, endlich wieder ich selbst zu sein!"

 

Es war noch sehr früh am Morgen. Sandra machte auf der Terrasse Yogaübungen, Betty schlief noch, und Olga saß unter einem Olivenbaum und hörte den Vögeln zu. Das 'Ppupupupu-pui-qui, qui, qui' kam von einem Koriskakleiber, das 'Chilipp' von einem Spatz.

Zwei Wochen waren inzwischen vergangen. Olga war viel ruhiger geworden. Gérard hatte ihr das Verputzen beigebracht, und sie hatte Spaß bei der Arbeit. Als er dann auf eine der frisch verputzten Wände mit wenigen rotbraunen Pinselstrichen drei Schafe und einen Schäfer malte, nahm sie ihm den Pinsel aus der Hand und machte es nach. "He, du kannst ja malen!", war er begeistert. Am nächsten Tag brachte er ihr einen Aquarellkasten und Papier mit und schlug vor, am Sonntag gemeinsam über Land zu fahren, um nach Motiven zu suchen - darauf freute sie sich schon!

Als Sandra plötzlich neben ihr stand, schreckte Olga aus ihren Gedanken.

"Na, du - wie geht es dir?"

Olga sah sie glücklich an. "Ich fühle mich wahnsinnig gut. Stark, weißt du, so voller Energie, so zufrieden. Ich hatte ganz vergessen, dass ich vor meiner Ehe auf der Kunsthochschule war und malen kann. Einfach vergessen! Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich schwimmen oder verputzen lernen könnte." Sie schüttelte den Kopf, hatte plötzlich Tränen in den Augen. "Ich habe mich in den letzten zwanzig Jahren selbst verloren. Das zu sehen tut so weh."

Sandra nickte. "Ich verstehe, was du meinst. Ich habe früher regelmäßig Yoga gemacht und sogar eine Ausbildung zur Yogalehrerin in der Tasche. Das hatte ich auch irgendwie 'vergessen'."

"Du bist Yogalehrerin?"

Sandra nickte. "Damals, nach meinem Autounfall, konnte ich die Übungen nicht mehr machen. Später, als es sogar gut gewesen wäre für meine Gesundheit, konnte ich mich einfach nicht aufraffen, und dann kommt irgendwann der Punkt, wo du nicht mehr an dich glaubst, also lässt du es bleiben. Hier habe ich den Mut wiedergefunden, und weißt du, erst jetzt ist mir bewusst, wie sehr ich mein Yoga vermisst habe. Ich meine nicht nur die Übungen, sondern alles was dazu gehört. Die Ruhe, ganz bei sich sein, nicht denken, nur fühlen ... "

Olga umarmte Sandra. "Ach du!" Sie drückten sich herzlich. "Ich danke dir jedenfalls, dass du mich mit hierher genommen hast. Es ist ein ganz besonderer Ort, schon lange war ich nicht mehr so glücklich."

Plötzlich stand Betty neben ihnen. "Kann ich bei eurer Schmuserei auch mitmachen?", fragte sie frech.

"Nö", antwortete Sandra im selben Ton, "du hast für so was ja deinen Pierre!" Aber dann öffneten sie die Arme, damit Betty hinein sinken konnte, und sie balgten sich und lachten.

 

Auf Pierres Motorrad fuhren Gérard und Olga ein Stück den Berg hinauf. Von dort aus hatte man einen weiten Blick bis hin zu Cap Corse. Unter ihnen lag das türkisfarbene Meer, aus dem schroffe dunkelgraue, von grüner Macchia befleckte Felsen aufstiegen, in einiger Entfernung thronte eine kleine weiße Kapelle auf einem Berggrat, und am Himmel tummelten sich die Möwen. Es war traumhaft, genau das richtige Motiv zum Malen.

Sie holten ihre Utensilien aus dem Rucksack und machten sich schweigend an die Arbeit. Hin und wieder wechselten sie den Standort und damit den Blick, aquarellierten Felsen, Macchia, Meer und die Kapelle, schickten sich zwischendurch ein Lächeln, aber sprachen kein Wort, bis Gérard plötzlich Brot, Salsiccia - korsische Würste - und Rotwein aus seinem Rucksack holte und Olga zur einer Mittagspause einlud.

"Zeigst du mir deine Bilder?", fragte er.

"Ich weiß nicht ... sie sind nicht besonders gut. Habe schon ewig nicht mehr gemalt."

Er nahm sie und blätterte sie durch. "Nicht besonders gut?" Stirnrunzelnd sah er sie an. "Sie sind phantastisch! Wie kommt es, dass jemand mit deiner Begabung 'schon ewig' nicht mehr gemalt hat?"

"Familie ging vor", sagte Olga knapp.

"Du hast Kinder?"

"Ja, zwei. Zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt. Sie leben aber seit einem halben Jahr nicht mehr zu Hause."

"Und sie hatten keine Lust, mit ihrer Mutter zu malen?"

"Diesbezüglich kommen sie eher nach ihrem Vater. Er ist Techniker. Und du?", wechselte Olga schnell das Thema. "Warum verputzt du mit deiner Begabung bei fremden Leuten Häuser?"

Er zuckte die Schultern. "Man muss sehen, wo man bleibt. Im Sommer verkaufe ich meine Aquarelle auf der Straße, im Winter nehme ich jede Arbeit an, die ich bekommen kann. Wann immer ich Zeit habe male ich in Öl und stelle hin und wieder in einer Galerie in Bastia aus. Als Kunstmaler hat man es nicht leicht auf unserer Insel."

Olga schob ihre Aquarelle in die Mappe, nahm Brot und ein Würstchen und aß. "Ich danke dir", sagte sie nach einer Weile und nahm Gérards Hand.

"Wofür?"

"Dass du mir einen Malkasten mitgebracht und an mich geglaubt hast. Dass du mich hier hergebracht hast, und dass dir meine Aquarelle gefallen. Das tut mir gut und gibt mir Mut, wieder anzufangen."

Gérard legte seinen Arm um sie, schweigend sahen sie zu Cap Corse hinüber.

 

Als Sandra den Topf auf den Tisch im Hof stellte, ging ein A und O von Mund zu Mund. "Stufatu!", rief Pierre begeistert. "Das riecht ja wie bei meiner Mutter!"

"Was ist Stufatu?", fragte Olga.

"Ein korsisches Gericht aus Rind und Lammfleisch mit Nudeln und Käse."

Sandra teilte aus, Gérard goss Wein ein, und sie prosteten sich zu. "Ein Hoch auf die Köchin!"

Sie aßen, lachten und redeten, öffneten gerade eine zweite Flasche Wein, als plötzlich Scheinwerfer den Weg herauf tanzten.

"Nanu?" Sandra schob ihren Stuhl zurück und stand auf. "Da will jemand zu uns?" Sie ging zum Tor, sah von dort zum Parkplatz hinunter. Es war längst dunkel, sie konnte nur drei Schemen erkennen. Aber dann hörte sie die Stimmen und wusste Bescheid. Es waren Philipp, Fritz und Gernod!

Sandra drehte sich um und betrachtete die vielen Fackeln und Kerzen, die sie im Hof aufgestellt hatten, den Tisch, an dem ihre Freunde bei einem guten Essen saßen, und über ihnen der korsische Sternenhimmel. Bei dem Gedanken, das alles hier würde nun bald ein Ende nehmen, machte sich plötzlich tiefe Traurigkeit in ihr breit.

Sie drehte sich wieder um und sah den Männern entgegen, die jetzt in den Schein des Hoflichtes traten. "Welch hochherrschaftlicher Besuch!", sagte sie und ließ sich nur widerwillig von Philipp küssen.

Als Betty und Olga ihre Männer erkannten, riss das Gespräch mitten im Satz ab. "Wie kommt ihr denn hier her!"

"Mit dem Flugzeug und einem Leihwagen", antwortete Gernod spitz. Er sah Pierre und Gérard an, als wären sie lästige Insekten, die er gleich unter seinem Absatz zertreten würde. "Deine Tochter ist schwanger", wandte er sich wieder an seine Frau, "und du treibst dich hier auf Korsika herum, und kein Mensch weiß wo du bist."

Olga erschrak. Sissi war schwanger? Und das mit zwanzig! Aber dann fasste sie sich und bot Gernod Parole. "Erstens treibe ich mich nicht herum, zweitens ist Sissi unsere Tochter und bereits seit zwei Jahren volljährig, und drittens habe ich dich nicht gebeten, mir nachzureisen."

"Du kannst doch nicht einfach abhauen, ohne uns zu sagen wohin!"

"Ach? Ich wusste nicht, dass es dich interessiert, wohin ich verschwinde. Du hast ja jetzt deine Maxi, bei der du dich endlich wieder 'fühlst'!"

Pierre und Gérard waren inzwischen aufgestanden. "Wir gehen dann wohl besser. War ein schöner Abend, und danke für das wunderbare Essen!" Sie küssten die Frauen auf die Wangen und verschwanden im Dunkeln.

"Wie habt ihr überhaupt herausgefunden, wo wir sind?", fragte Sandra ihren Mann.

"War nicht schwer. Nachdem Gernod und Fritz mich mit SMS' bombardiert hatten, rief ich deine Eltern an, und sie sagten mir, dass du den Hausschlüssel von der Mühle geholt hast. Als ich dann aus Japan zurück war, haben wir beschlossen, gemeinsam herzufliegen."

"Wozu?", fauchte Olga.

"Um euch zurückzuholen!", sagte Gernod in einem Ton, als wäre sie seine dreizehnjährige Tochter, die von zu Hause durchgebrannt ist. Er warf die Arme hoch und sah sich mit abschätzigem Blick um. "Ich meine, du kannst doch nicht ewig hier in dieser Bruchbude bleiben!"

"Warum nicht? Die Kinder sind erwachsen und brauchen meine Hilfe nicht mehr, das haben sie mir ausdrücklich erklärt, und du hast deine Maxi!"

"Mit Maxi ist Schluss", gab er kleinlaut zu.

"Ach." Verblüfft lachte Olga auf. "Und jetzt soll ich nach Hause kommen und deine Tränen trocknen? Vergiss es!" Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, ging sie ins Haus und schloss sich in ihrem Zimmer ein.

Betty wollte ihr folgen, aber Fritz hielt sie zurück. "He, du", sagte er, "ich habe mir das überlegt."

"Was hast du dir überlegt?"

"Was du zu mir gesagt hast. Du hast Recht, ich bin ... ich war ein Egoist, und ich sollte mich entschuldigen. Deshalb bin ich hier. Es tut mir leid, wirklich und von ganzem Herzen. Ohne dich ist es zu Hause so ... leer. Niemand zum küssen und niemand zum Streiten da. Du fehlst mir."

Einen Moment hielt Betty den Atem an, dann entzog sie Fritz ihre Hand. "Ich wünsche allseits eine gute Nacht." Damit verschwand auch sie im Haus.

Zimmer gab es genug in der Mühle. Sandra zeigte den Männer, wo sie Bettzeug finden konnten und zog sich ebenfalls zurück.

 

Als Olga am Morgen mit ihrem Badetuch bewaffnet in die Küche kam, saßen Betty und Sandra bereits mit einer Tasse Tee am Tisch.

"Na du?" Sandra nahm Olga in die Arme. "Siehst aus, als hättest du die ganze Nacht geheult."

Betty schob ihr eine Tasse Tee hin, sie nahm einen Schluck und sagte: "Gestern Abend ... das war so, als würde ich eine dunkle, dunkle Brille absetzen und mein Leben zum ersten Mal bei Licht betrachten! Wie konnte ich diesen Mann nur zwanzig Jahre ertragen? Er behandelt mich wie ein Kind! Als ob ich seine Marionette wäre!"

Plötzlich waren Schritte zu hören, die Tür ging auf, und Gernod und Fritz standen vor ihnen. Olga sprang sofort auf, schnappte sich ihr Badetuch und ging davon.

"Wo willst du denn schon wieder hin!", rief Gernod ihr nach.

"Schwimmen."

"Aber du kannst doch gar nicht schwimmen!"

Unvermittelte blieb Olga stehen, drehte sich zu ihm um und sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. "Du hast eine ganze Menge Fehler, mein Lieber, aber das ist dein allergrößter: du unterschätzt mich! Und damit du es gleich weißt, mich zurückholen kannst du vergessen, wenn schon, dann höchstens zurückgewinnen. Doch auch da hast du schlechte Karten, denn weißt du, ich habe hier etwas ganz Wichtiges wiedergefunden - mein Selbstvertrauen und meinen Stolz!"

"Ach, Selbstvertrauen heißt der Typ von gestern also?"

Olga ließ ihn einfach stehen.

Betty nahm sich einen Apfel aus der Schale und ging in den Garten, Fritz folgte ihr. "So wie Gernod war ich wohl auch?", fragte er kleinlaut.

Sie sagte nichts, sah ihn nur bedeutungsschwanger an.

"Hast du hier auch etwas wiedergefunden?"

"Ja, meine Lebensfreude."

Fritz schob seine Hände in die Hosentasche und presste die Lippen aufeinander. "Darf ich dir ehrlich etwas sage?"

"Hm", machte Betty, "meinetwegen."

"Genau das war es, was mir in letzter Zeit bei dir gefehlt hat. Deine Lebensfreude. In die habe ich mich schließlich irgendwann einmal verliebt. Du warst so griesgrämig, so unzufrieden."

"Ja", gab Betty zu. "Du aber auch."

Fritz nahm sie um die Taille und zog sie an sich. "Jetzt wo unser Sohnemann in England ist, hätten wir doch wieder Zeit füreinander."

Als Fritz ihr so tief in die Augen sah, fühlte sie plötzlich ihr Herz klopfen. "Ich war verdammt sauer auf dich!", zischte sie. Doch dann wurde ihre Stimme plötzlich weich, sie legte ihre Arme um seinen Nacken und gab lächelnd zu, "aber irgendwie ... irgendwie liebe ich dich noch immer."

"Heißt das ja?"

"Ja", sagte Betty und ließ sich küssen.

Draußen auf der Terrasse saßen Sandra und Philipp. "Willst du mich etwa auch 'zurückholen'?", fragte sie ihn.

Philipp sah sie erstaunt an. "Hattest du denn vor, hier zu bleiben? Ich meine, Urlaub ja, aber ..." Er brach ab.

"Nein, ich hatte eigentlich nicht vor, hier zu bleiben. Nur weißt du, als ihr gestern hier aufgekreuzt seid, war ich auf einmal schrecklich traurig. Ich dachte: Jetzt ist das schöne Leben wieder vorbei. Noch fünf Tage, und dann geht der Flieger nach Hause. Aber nach Hause will ich doch gar nicht! Was erwartet mich dort? Arbeit, Stress, Einsamkeit."

"Und was hast du hier?"

"Mich", sagte sie, nachdem sie eine Weile nachgedacht hatte. "Hier habe ich mich."

 

Sandra hatte den Tisch schön gedeckt und 'Aziminu' gekocht, korsische Fischsuppe a là Bouillabaisse. Zu sechst saßen sie nun da und aßen schweigend. Nach einiger Zeit hob Sandra ihr Glas. "Lasst uns anstoßen!" Sie prostete allen zu, trank und setzte ihr Glas wieder ab. "Ich möchte euch etwas sagen. Ich werde hier bleiben. Das heißt, natürlich fliege ich noch einmal nach Deutschland zurück, um dort alles zu regeln und meine Kündigungsfrist einzuhalten. Aber dann komme ich zurück, richte die Mühle fertig her und eröffne ein Seminarhaus für Yoga. Ich habe sechs Zimmer, die ich nicht brauche, die kann ich vermieten. Und ob mein Mann von Tokio, Bali oder Timbuktu aus nach München oder Korsika fliegt, ist schließlich egal."

"Das machst du wirklich?" Betty sah ihre Freundin ehrfurchtsvoll an. "Sandra, ich bewundere dich!" Sie blickte in die Runde, dann mit einem Lächeln ihren Mann an. "Ich möchte euch ebenfalls etwas sagen. Ich habe mich mit Fritz versöhnt, wir versuchen es noch einmal."

Sandra umarmte Betty. "Das freut mich für euch!"

Alle Blicke richteten sich nun auf Olga. Die knallte ihre Serviette hin und lief auf ihr Zimmer.

Sandra und Betty folgten ihr, fanden sie weinend auf dem Bett. "He, du, was ist denn los?"

"Ich beneide euch. Ihr wisst, wie es weitergeht, ich nicht. Ich will jedenfalls nicht wieder so leben wie früher! Und das mit Maxi kann ich Gernod noch lange nicht verzeihen."

"Dann lass dir Zeit. Bleib einfach hier bei mir, bis du dir im Klaren bist. Ich hätte sogar einen Job für dich. Du könntest für meine Yogaschüler kochen und den Haushalt führen."

"Wow!" Olgas Tränen versiegten plötzlich, lachend fiel sie Sandra um den Hals. "Das Angebot nehme ich gerne an."

 

Die Männer waren bereits am Donnerstag nach Hause geflogen, die Frauen folgten ihnen am Sonntag. Sandra würde ihren Job kündigen, Olga ihre Kinder besuchen und ihre Dinge ordnen, Betty in die Arme ihres Mannes zurückkehren.

Pierre küsste Sandra und Olga zum Abschied auf die Wangen, nur Betty hauchte er einen Kuss auf die Lippen.

"Kommst du einmal wieder?", fragte er.

Zärtlich sah sie ihn an und schüttelte den Kopf. "Ciao, mein schöner Corse, es war wunderbar, ein wenig mit dir zu träumen, aber dabei muss es bleiben."

An der Rolltreppe drehte sie sich ein letztes Mal nach ihm um und schickte ihm einen Handkuss. Zu Hause wurde sie von Fritz erwartet, und sie freute sich schon auf ihn.

Nach Ischia, der Liebe wegen

 

Es klopfte leise, Karin trat ein. "Du hängst ja schon wieder vor dem Computer!", schimpfte sie Melanie, ihre Freundin und Mitbewohnerin.

"Weißt du, wo die Insel Ischia liegt?", fragte Melanie, ohne auf die Rüge einzugehen.

"Ja, irgendwo an der italienischen Westküste."

Melanie schob sich die blonden Haare aus der Stirn. "Das weiß ich auch. Aber wo genau? Italiens Westküste ist lang."

"Keine Ahnung."

Melanie wandte sich wieder ihrem Computer zu und klickte ein paarmal hin und her. Auf dem Bildschirm erschien eine Karte von Italien. "Da ist es ja! Ischia liegt im Golf von Neapel."

"Und warum interessiert dich das?"

"Hab' gerade eine Anzeige im Internet entdeckt. Ein Ischitaner sucht eine Brieffreundschaft, per Email natürlich. Ich habe vor, ihm zu schreiben."

Schon lange träumte Melanie von einem Leben im Süden - Sonne, Meer und heitere Gelassenheit, da musste man doch glücklich sein! Und in letzter Zeit fühlte sie sich von ihrem Wunsch richtig getrieben. Karin verstand das nicht. Sie selbst schätzte die Geborgenheit der Heimat, die eigene Sprache, die Familie, die Freunde - für nichts in der Welt würde sie ins Ausland ziehen. "Kommst du noch mit in die Kneipe?", fragte sie. "Fritzie und Jutta sind auch dort. Später wollen wir vielleicht ins Kino."

"Nein, geh mal alleine, ich suche mir lieber noch ein paar Infos über Ischia aus dem Netz."

 

Melanie hatte den Frühstückstisch gedeckt. Eier, Melone mit Schinken, Brötchen und selbstgekochte Marmelade - sonntags ließen sie es sich gut gehen. Als Karin erschien, goss Melanie Kaffee ein. "Stell dir vor, er hat schon geantwortet!", erzählte sie dabei. "Enrico heißt er, ist 36 Jahre alt und führt zusammen mit seinem Bruder ein Restaurant. Sie schließen gegen Mitternacht. Als er nach Hause kam, fand er meine Mail in seiner Mailbox."

Karins Begeisterung hielt sich in Grenzen. "Wenn er so viel Arbeit hat, warum tut er sich dann auch noch eine Brieffreundschaft an?"

"Um sein Deutsch zu verbessern, für seine deutschen Gäste."

"Mhm", machte Karin und strich sich ein Brötchen.

Melanie schickte Enrico mit der nächsten Mail ein Foto und bat ihn, ihr ebenfalls eines zu schicken. Seine Antwort kam prompt.

Liebe Melanie,
hier das Foto von mich, ich der linke Seite, der andere Seite mein Bruder Sebastiano. Er nur ein Jahr jünger, wir gewachsen wie Zwilligse. Die Restaurante haben wir von Papa genommen. Leider ist verunglückt mit Mama und beide unsere Frauen vor acht Jahre auf Festland in Auto. Es war große Drama. Aber jetzt langsam wird wieder gut für Sebastiano und ich.
Viele Grußen von Enrico

Melanie rief Karin. "Schau, das ist er. Der links, der Hübschere von beiden."

Karin betrachtete ihn. Er war groß, schlank, hatte dunkles Haar und ein fröhliches, unbekümmertes Lachen. Sein Bruder, etwas kleiner und gedrungener, wirkte verschlossener. "Sieht ja gar nicht übel aus, dein Enrico", gab sie zu. "Aber was sein Deutsch betrifft, da braucht er tatsächlich ein bisschen Nachhilfe."

"Mein Italienisch ist auch nicht besser", entgegnete Melanie.

Fünf Monate gingen ins Land. Es wurde Winter, es wurde Frühling, und längst schrieben sich Melanie und Enrico nicht mehr nur, sondern telefonierten auch regelmäßig. Einmal hatte Melanie Karin den Hörer ans Ohr gehalten. "Ist seine Stimme nicht himmlisch?", hatte sie geflüstert. "Der reinste Schmusebariton! Und sein Deutsch ist inzwischen schon richtig gut."

Mitte April hatte Melanie Geburtstag. Als Karin von der Arbeit nach Hause kam, stand ein großer bunter Blumenstrauß auf dem Tisch.

"Von Enrico!", erzählte Melanie aufgeregt. "Süß, nicht wahr! Er hat mir außerdem ein Gedicht aus dem Italienischen übersetzt. Da hat er sich wirklich viel Mühe gegeben. Und wenn ich ihn einmal besuchen komme", hat er geschrieben, "dann wird er mir beibringen, wie man 'Scorpaena - scorfa' zubereitet. Das ist Drachenkopf, ein Fisch, der in seiner Familie zu Festtagen gegessen wird."

Karin drehte Blicke zur Decke. "Du hast dich ja richtig verknallt in diesen Enrico! Alles was er macht ist super, himmlisch, umwerfend!"

"Ja", gab Melanie lachend zu.

Karin sah sie stirnrunzelnd an. "Und wie geht das jetzt weiter mit euch?"

Melanie wurde plötzlich ernst. "Darüber wollte ich ohnehin mit dir reden." Verlegen wich sie Karins Blick aus. "Enrico hatte da eine Idee. Er braucht für die Sommersaison in seinem Restaurant eine Bedienung und bot mir an, den Job zu übernehmen. Ein Zimmer würde er mir auch besorgen. Von Mai bis September. Fünf Monate, das würde reichen, um sich kennenzulernen."

Karin riss die Augen auf. "Du willst tatsächlich nach Ischia auswandern?"

"Na ja, vorerst nur zur Probe."

"Du bist verrückt!"

"Ach Karin, schon seit ich als Kind zum ersten Mal in Italien war, wollte ich dort leben. Italien ist für mich das Traumland! Jetzt habe ich eine Gelegenheit, es auszuprobieren. Ich bin 34 Jahre alt. Wenn ich das jetzt nicht anpacke, dann wird es ewig nur ein Traum bleiben."

"Und das hier alles?" Karin deutete um sich.

"Meinen Job muss ich aufgeben, das ist klar. Und was unsere gemeinsame Wohnung betrifft ... also, ich habe Geld gespart. Ich bezahle meinen Anteil, bis ich weiß, ob ich ganz nach Ischia gehe oder zurückkehre, und bis du eventuell eine neue Mitbewohnerin gefunden hast."

"O Mann!" Karin schossen Tränen in die Augen. "Das kommt jetzt aber verdammt plötzlich."

Melanie nahm sie in die Arme. "Na ja, so plötzlich doch auch wieder nicht."

 

Melanie hatte eine Nacht in Neapel verbracht. Nach der langen und anstrengenden Zugfahrt war sie todmüde ins Bett gefallen, war jedoch früh aufgestanden und hatte sich zum Hafen Beverello durchgefragt. Die Fähre lag schon bereit. Sie ging an Bord und suchte sich einen Platz, von dem aus sie einen guten Blick hatte.

Als sie ablegten und sich vom Land entfernten, wurde die imposante Silhouette Neapels in ihrer ganzen Schönheit sichtbar. Die strahlende Morgensonne ließ das Castel di Sant'Elmo und das Kloster San Martino majestätisch aus dem Häusergewirr hervortreten. Das Castel dell'Ovo und das malerische Viertel Santa Lucia lagen etwas tiefer, und noch weiter unten, direkt am Ufer, drängten sich zahllose Cafés, Restaurants und kleine Bars, vor denen weißbeschürzte Ober Tische wuschen, Kissen auf Stühle verteilten und Sonnenschirme aufstellten. Der Tag konnte beginnen.

 

Trotz der vielen Menschen, die lachten und erzählten, trotz der Kinder, die auf der Fähre herumtobten und nach Herzenslust lachten, schlief Melanie bald ein und wurde erst wach, als sie beinahe schon auf Ischia angekommen waren. Gerade passierten sie die Hafeneinfahrt. An der rechten Mole des runden Beckens lagen große Yachten und Schiffe, zur linken Hand eine lange Reihe weißer Häuser, deren Scheiben im Sonnenlicht funkelten und glitzerten, und über ihnen, am azurblauen Himmel, zogen kreischend die Möwen ihre Kreise. "Ischia, die grüne Insel Italiens!", flüsterte Melanie. Insel der ewigen Jugend, Perle im Tyrrhenischen Meer - sie war angekommen!

Eine kleine Brücke wurde angelegt, ungeduldig strebten die Menschen dem Ausgang zu. Doch Melanie ließ sich Zeit. Sie wollte sich nicht in ihr neues Leben drängen, sie wollte hinein schreiten wie eine Königin, wollte ihre Ankunft genießen.

Ihr Herz klopfte heftig, die Aufregung prickelte in all ihren Gliedern. Fast ein halbes Jahr hatte sie Enrico geschrieben, mit ihm telefoniert, sein Bild geküsst und von ihm geträumt. Jetzt endlich würde er als Mensch aus Fleisch und Blut vor ihr stehen. Sie würde seine Wange an ihrer fühlen, ihn riechen, ihn lachen hören. Sie würden Hand in Hand spazieren gehen, am Ufer sitzen und Sonnenuntergänge betrachten, gemeinsam arbeiten und bestimmt auch einmal streiten. Das gehörte dazu, das machte das Leben aus.

Sie war eine der letzten, die auf die Mole traten. Von der Sonne geblendet blieb sie stehen, beschirmte die Augen mit der Hand und blickte sich um. Und dann entdeckte sie ihn. Er war mit seinem Bruder da. Sie lachten und winkten und kamen auf sie zu. Melanie ließ ihr Gepäck einfach stehen, lief los, auf die beiden zu. Sebastiano ging zwei Schritte vor Enrico. Er breitete die Arme aus, doch sie drängte sich an ihm vorbei und fiel Enrico um den Hals. "Wie schön! Ich freue mich ja so, endlich bei dir zu sein!"

Er fasste sie an der Taille, schob sie von sich. Sein Blick war ernst und ein wenig verwirrt. "Schönen guten Tag", sagte er förmlich, "und willkommen auf Ischia."

Melanie runzelte die Stirn. Sie hatte sich den Empfang etwas herzlicher vorgestellt. Ein Kuss vielleicht, ein Lachen und sie hoch heben.

Enttäuscht reichte sie auch Sebastiano die Hand. "Hallo, ich bin Melanie."

Ihr fiel auf, dass sein Gesicht plötzlich rot angelaufen war, er seine Lippen zusammenpresste. Ratlos sah er sie an.

Melanie wandte sich wieder an Enrico. "Da bin ich also - freust du dich denn gar nicht?"

Langsam schüttelte er den Kopf. "Du glaubst, ich bin Enrico?"

"Bist du nicht?"

"Ich bin Sebastiano!" Er deutete auf seinen Bruder. "Das ist Enrico."

Melanie bekam große Augen. "Ja aber ... auf dem Foto ... du hast doch geschrieben, der links steht, das bist du!" Fassungslos blickte sie von einem zum anderen - Sebastiano war Enrico und Enrico war Sebastiano?

"Wenn ich wirklich links geschrieben habe, dann war das eine Verwechslung. Ich habe die Wörter vertauscht", erklärte Enrico. "Bitte entschuldige." Traurig wandte er sich ab, holte Melanies Gepäck und ging ohne ein weiteres Wort voraus zum Wagen.

Schweigend fuhren sie nach Forio, in das Haus, in dem die Brüder wohnten und in dem sich auch das Restaurant befand. Nebenan, bei Maria Marconi, hatten sie ein Zimmer für Melanie gemietet.

"Möchtest du zuerst sehen, wo du schlafen wirst?", fragte Enrico.

Melanie nickte. "Ja ich würde mich gerne ein bisschen hinlegen und ausruhen."

Maria war etwa sechzig Jahre alt, klein und untersetzt, hatte dunkles, graumeliertes Haar und einen riesigen Busen. Mit einem herzlichen Lachen öffnete sie die Arme, um Melanie an denselben zu drücken. "Benvenuto! - Willkommen!" Sie ging voraus, ein Stockwerk höher. Das Zimmer hatte Meerblick und Balkon, ein Waschbecken, einen Kühlschrank, ein Fernsehgerät. Es war liebevoll eingerichtet, aber all das nahm Melanie in diesem Moment nicht wahr. "Ich bin nicht Enrico - das ist Enrico!", hallten Sebastianos Worte in ihren Gedanken immer wieder nach.

"Sei nostalgia?", fragte Maria und zwickte sie bekümmert in die Wange. "Heimweh, jetzt schon?"

"Nein, nein, ich bin nur müde."

"Dann schlafen Sie ein bisschen. Und später trinken wir zusammen einen guten italienischen Kaffee!"

Als Melanie endlich alleine war, sank sie aufs Bett und heulte verzweifelt in die Kissen. Sie fühlte sich, als wäre in ihr alles durcheinander gefallen. In wen hatte sie sich denn nun eigentlich verliebt? In den, dessen Bild sie tausendmal geküsst, oder in den, dessen Emails sie beantwortet und dessen Stimme sie im Ohr hatte?

Sie weinte sich in den Schlaf und wurde zwei Stunden später von leisem Klopfen geweckt. Es war Maria. "Bald gibt es Mittagessen!" Sie setzte sich zu Melanie aufs Bett und nahm ihre Hand. "Ich habe gehört, was passiert ist", sagte sie auf Italienisch, sprach langsam, damit Melanie sie verstehen konnte. "Jetzt bist du wohl traurig?"

Melanie schüttelte den Kopf. "Ich bin einfach verwirrt, weiß nicht mehr, was ich fühle. Immer hatte ich Sebastianos Gesicht vor mir, und jetzt ..."

"Die beiden Männer sind auch verwirrt. Alles tut ihnen sehr leid. Möchtest du denn wieder nach Hause zurückkehren?"

"Nein. Ich habe dort ja keine Arbeit mehr. Jetzt bin ich hier, und ich will versuchen, das Beste daraus zu machen."

Maria lächelte. "Das finde ich gut. Nimm dir die Zeit, die du brauchst und sei guter Dinge." Sie ging, aber an der Tür drehte sie sich noch einmal um. "Seit keine Frau mehr im Haus ist, putze ich das Restaurant, und mein Mann hilft hin und wieder als Kellner aus. Enrico und Sebastiano sind fast wie Kinder für uns. Sie sind so verschieden, wie sie aussehen, aber eines kann ich dir sagen, sie sind beide gute und ehrliche Männer."

 

Das Restaurant hieß 'La Fontana' und lag am Hafen. Sebastiano kümmerte sich zusammen mit Carina und Melanie um das Restaurant und die Gäste, Enrico war für das Kochen zuständig. Um ihren Fang zu begutachten und zu kaufen, was er brauchte, ging er jeden Morgen sehr früh zum Hafen und wartete auf die Fischer. Danach fuhr er zum Markt, und gegen zehn Uhr fing er mit den Vorbereitungen in der Küche an.