Jürgen Kehrer
Das Geheimnis der Tulpenzwiebel
Zum Autor
Jürgen Kehrer, geb. 1956, lebt als freiberuflicher Schriftsteller in Münster. Neben zahlreichen Kriminalromanen, von denen bereits zwei verfilmt wurden, hat er Bücher zur Kriminalitätsgeschichte Münsters geschrieben. „Das Geheimnis der Tulpenzwiebel“ ist sein zweiter historischer Roman.
Bücher von Jürgen Kehrer bei Waxmann: „Mord in Münster – Kriminalfälle aus fünf Jahrhunderten“, „Schande von Münster – die Affäre Weigand“, „Tod im Friedenssaal – Eine Kriminalgeschichte aus der Zeit des Westfälischen Friedens“.
Kriminalromane im grafit Verlag: „Und die Toten läßt man ruhen“, „In alter Freundschaft“, „Gottesgemüse“, „Killer nach Leipzig“, „Kein Fall für Wilsberg“, „Schuß und Gegenschuß“, „Wilsberg und die Wiedertäufer“, „Spinozas Rache“, „Bullen und Bären“, „Das Kappenstein-Projekt“, „Das Schapdetten-Virus“, „Irgendwo da draußen“.
Jürgen Kehrer
Das Geheimnis der
Tulpenzwiebel
Freigraf Kettelers zweiter Fall
Waxmann
Münster · New York · München · Berlin
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Kehrer, Jürgen:
Das Geheimnis der Tulpenzwiebel : Freigraf Kettelers zweiter Fall / Jürgen Kehrer. – Münster ; New York ; München ; Berlin : Waxmann, 1998
ISBN 3-8309-5082-0
ISBN 3-8309-5082-0
© Waxmann Verlag GmbH 1998
http://www.waxman.com
E-Mail: info@waxmann.com
Umschlag: Pleßmann Kommunikationsdesign, Ascheberg
Titelbild: Jacques Callot (1592-1635) „Les Miseres et les
Mal-Heurs de la Guerre“: Die Gehenkten, Paris 1633
Westfälisches Landesmuseum für Kunst
und Kulturgeschichte Münster
Satz: Stoddart Satz und Layout Service, Münster
Druck: Druckwerkstatt Hafen GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Prolog
Es war ein Sommertag im Münsterland, und die Hitze lag wie eine Decke über der Landschaft. Nicht ein leiser Windhauch bewegte die Blätter der Bäume, auch die Gehenkten in der Gerichtseiche hingen still, nachdem sie in einem wilden letzten Kampf ihr Leben ausgehaucht hatten.
Die Äste der Eiche bogen sich unter der menschlichen Last. Zehn, zwanzig, dreißig verurteilte Marodeure reihten sich aneinander, bildeten gräßliche, furchterregende Früchte unter der grünen Krone. Ein monströses Bild, geschaffen von der Hand des Krieges, die nun schon fünfundzwanzig Jahre wütete.
Die Marodeure hatten getan, was ihnen ihr Hunger und ihre Geldgier befahl und die Wertlosigkeit von menschlichem Leben erlaubte: Sie hatten ein Dorf überfallen, die Männer erschlagen, die Frauen geschändet, das Vieh zusammengetrieben und die Verstecke der letzten Geldreserven, so sie noch nicht gestohlen, den gequälten Opfern entlockt.
Doch diesmal war die Rechnung nicht aufgegangen. Kaum hatten die Plünderer ihre blutige Ernte beendet, sahen sie das Dorf von einem ordentlichen Regiment umstellt. Der König, für den auch sie in mehr als eine Schlacht gezogen waren, kannte keine Gnade mit Marodeuren. Soldaten, zufällig auf der Seite des Rechts und nicht auf der der Schurken, präsentierten ihre Piken und Musketen, folgten schneidig gebrüllten Befehlen der Offiziere, wohl wissend, daß jede Verweigerung mit einem Pistolenschuß geahndet würde.
Die Marodeure wurden allesamt gefangengenommen, diejenigen, die zu fliehen versuchten, starben unter den Stichen der Piken, den Schlägen der Bajonette, den Schüssen der einläufigen Musketen.
Noch am selben Tag wurde Gericht gehalten. Der Regimentskommandeur, ein einäugiger, von vielen Verwundungen lahmer Obrist, hatte zum Spaß der Soldaten, der den Troß begleitenden Frauen und Kinder und der überlebenden Dorfbewohner ein grausames Spiel angeordnet. Jeweils zu zweit traten die Gefangenen an eine Trommel, die als Würfeltisch diente. Jedes Pärchen würfelte um Leben oder Tod. Der Gewinner des makabren Wettbewerbs wurde begnadigt, der Verlierer kam an den Baum.
Wehklagen und Freudenschreie wechselten sich ab. Ein Dominikanermönch, der die Truppe als Feldprediger begleitete, sprach den Verlierern Trost zu. Einige stiegen freiwillig und mit einem Fluch auf den Lippen die Leiter hinauf, andere mußten geschoben und gezogen werden. Aber aufgeknüpft wurden sie alle.
Und wieder trat ein Paar an den Würfeltisch.
„Auf ein Wort, Herr Leutnant“, sagte der Jüngere der beiden.
Der Leutnant, der das Spiel und die Hinrichtungen überwachte, nickte.
„Ich bitte nicht um Gnade für mich“, fuhr der junge Marodeur fort. „Das einzige, worum ich Euch bitte, ist, nicht gegen diesen Mann würfeln zu müssen. Er ist mein Freund, ja, mehr als das. Er hat mir während der Schlacht bei Breitenfeld das Leben gerettet. Ihr wißt, von welcher Schlacht ich rede?“
Der Leutnant nickte.
„Wir gehörten zu den Truppen von Torstensson und belagerten Leipzig. Da wurde, Anfang November, Erzherzog Leopold gesichtet. Er und Piccolomini hatten eine kaiserliche Streitmacht gesammelt, die der unsrigen an Zahl weit überlegen war. Torstensson wollte der Schlacht ausweichen und zog sich nach Norden, gegen Breitenfeld, zurück. Doch der Sohn des Kaisers war begierig auf einen Sieg. Unweit von Breitenfeld griff er uns mit einer fürchterlichen Kanonade an. Wäre Torstensson nicht so ein großartiger Feldherr gewesen, der Tag hätte mit unserem Untergang geendet.“
„Komm zur Sache, Mann!“ sagte der Leutnant. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
„Sofort, Herr Leutnant, sofort. Torstensson erkannte, daß er die überlegenen feindlichen Truppen in einen Kampf verwickeln mußte, bevor sich ihre Reihen ausgerichtet hatten. Unsere Reiterei griff den linken Flügel der Kaiserlichen an, wie Hasen stoben die Papisten auseinander. Da konnte der Erzherzog fluchen und toben, sein gesamter linker Flügel befand sich in Auflösung.“
„Ich weiß, was in Breitenfeld passiert ist“, sagte der Leutnant.
„Aber auf dem rechten Flügel der Kaiserlichen sah es weit schlechter für uns aus“, redete der Marodeur unbeirrt weiter. „Die Reiterei des Erzherzogs nahm uns in die Zange, und sein Fußvolk ging gegen unser Zentrum vor. Hier standen wir, mein Freund und ich. Er war Pikenier, und ich gehörte als Musketier zu der Schützenhecke, die das Carré der Pikeniere umgab. Schüsse fielen, Kugeln flogen uns um die Ohren, links und rechts von mir starben die Kameraden.“
„So, wie einer von euch beiden bald sterben wird“, sagte der Leutnant mürrisch.
Der Marodeur holte Luft. „Dichter Pulverdampf nahm uns die Sicht. Bald wußten wir nicht mehr, wo Freund oder Feind standen. Und dann tauchte ein Reiter aus dem Nebel auf, die Klinge in der Hand. Ich hatte gerade geschossen und war dabei, meine Muskete zu laden. Ich war vollkommen wehrlos, die Klinge sauste durch die Luft, um mir den Kopf vom Hals zu trennen. Da sprang dieser Mann, mein Freund, herbei und stieß den Reiter vom Pferd. Er hat mir das Leben gerettet, einen Moment später wäre ich verloren gewesen.“
„Was für eine rührende Geschichte“, spottete der Leutnant. „Glaubst du wirklich, daß sie dir noch einmal das Leben rettet?“
„Laßt mich gegen einen anderen würfeln!“ bat der Marodeur. „Ich gewinne immer beim Würfeln. Doch gegen diesen Mann will ich nicht gewinnen.“
„Dann verlier!“ grinste der Leutnant. „Es liegt in deiner Hand.“
Der ältere Marodeur, der schweigend zugehört hatte, blickte sich um. Ein Stück entfernt von der gaffenden Menge, die das Schauspiel verfolgte, klammerten sich eine Frau und ein halbwüchsiger Knabe aneinander. Entsetzen stand in ihren bleichen Gesichtern.
„Laß uns anfangen!“ sagte der Alte heiser.
Der Jüngere warf zuerst den Würfel. Eine Zwei. Die zweitschlechteste Zahl. Vier Würfelseiten, um ihn zu schlagen, vier Möglichkeiten, um am Leben zu bleiben.
Der Alte nahm den Würfel und schüttelte ihn lange in der Hand. Dann warf er ihn mit abgewandtem Gesicht. Der Würfel knallte gegen den Rand der Trommel und rollte zurück. Eine Eins. Verloren.
Als alles vorüber war, näherte sich der Überlebende der Frau und dem Knaben. Er mied den Blick der Witwe und schaute beschämt zu Boden.
„Geh weg!“ fauchte der Knabe. „Wir wollen mit dir nichts zu schaffen haben.“
„Ich habe mich bemüht, eine niedrige Zahl zu werfen“, stammelte der Angesprochene. „Ich wollte nicht gewinnen, das kannst du mir glauben. Ich ...“, er hob die Hand, doch die Frau wich vor seiner Berührung zurück, „... gebe dir alles, was ich habe.“
„Wieviel wird das wohl sein?“
Beim Klang ihrer Stimme sträubten sich die Nackenhaare des Mannes. Haß und Enttäuschung hatten ihr einen unmenschlichen Ton verliehen.
„Es ist mehr, als du denkst. Es gibt einen Schatz ...“
Erstes Kapitel
Zuerst sollte ich drei Schritte zurücktreten, Gott und allen seinen Heiligen und allem, was Gott geschaffen hat an Kreaturen, abschwören und nur noch dem bösen Feind dienen.“
Die brennenden Holzscheite im Kamin tauchten die Gestalt in ein gespenstisches Licht. Ein gedrungener Körper mit breiten Schultern wurde schemenhaft sichtbar, über dem aufgerissenen Mund glühte ein einziges, schwarzes Auge.
„Mamme, nein!“
Schon bei seinem Eintritt hatte der Junge die Veränderung bemerkt. Das Zimmer war schwärzer gewesen, als er es in Erinnerung hatte, die bunten Heiligenfiguren waren verschwunden und es roch streng nach einem Kraut, das er noch nie bemerkt hatte. Das Schlimmste aber war der Anblick des Kruzifixes. Es war verkehrt herum aufgehängt. Christus streckte seine Füße zur Decke, das dornengekrönte Haupt der Wand zugekehrt. Eine Blasphemie, die den Jungen getroffen hatte wie ein Blitzschlag.
Die Frau lachte. „Was hat der feine Herr? Haben ihm die Betbrüder das Gehirn verkleistert? Schaut Euch doch um in der Welt! Krieg und Leid, Mord und Totschlag allüberall, wohin Ihr blickt. Begreift endlich, daß es mit der Herrlichkeit Gottes zu Ende ist. Ein Anderer hat die Macht übernommen, Er herrscht über dem Erdenkreis, über Könige und Mägde und alles, was da kreucht und fleucht, und wer nicht mit ihm ist, ist gegen ihn - Satanas.“
„Bitte, nicht!“ flehte der Junge. „Hüte deine Zunge! Du redest dich um dein Seelenheil, wenn nicht um dein Leben.“
Die Frau schüttelte den feisten, halslosen Kopf. „Mein Leben? Es liegt längst in Seiner Hand. Ihr sollt die ganze Wahrheit wissen, junger Herr. Ihr habt ein Recht darauf zu erfahren, was in der Welt vor sich geht.“
Tränen rannen dem Jungen über die Wangen. Was war mit der Frau geschehen, die ihn aufgezogen hatte? Welcher Dämon hatte sich ihrer bemächtigt?
„Schaut auf meine Stirn!“ redete die Frau unbeirrt weiter. „Dort seht Ihr das Zeichen des Paktes, den ich eingegangen bin. Beelzebub hat versprochen, für mich zu sorgen und mir ein besseres Leben zu verschaffen, wenn ich mich ihm unterwerfe.“
Der Junge blinzelte. Seine tränenfeuchten Augen konnten kein Zeichen entdecken.
„Ich sehe nichts.“
„Weil Ihr verblendet seid“, behauptete die Frau. „Das ewige Herumrutschen auf den Kirchenbänken hat Eure Augen verdorben. Er war hier und hat mich aufgenommen in seine Gemeinschaft. Mit dem Zeichen und einem Kuß hat er den Pakt besiegelt.“
„Ein Kuß? Hast du etwa auch ...“
„Nein, gebuhlt hat er nicht mit mir. Ich sei ihm zu alt, hat er gesagt. Nicht einmal der Teufel will sich mit einer alten, häßlichen Vettel vermählen. Aber er hat mich zum Tanz eingeladen. Und einen Topf mit Salbe hat er mir dagelassen, damit ich dorthin fliegen konnte.“
„Du bist geflogen?“ fragte der Junge mit zitternder Stimme.
„Ja, ich habe mir die Salbe unter die Arme gerieben, und schon war ich dort. Der Tanzplatz ist weit entfernt, wißt Ihr. Es ist ein Kreuzweg, auf halber Strecke zwischen Münster und Roxel. In jeder Nacht von Donnerstag auf Freitag treffen sich dort die Jünger Beelzebubs. Teilweise kommen sie von weither, aus Dülmen, Buldern und Greven. Viele schöne Männer und Frauen saßen an einer langen Tafel. Ich durfte mich zu ihnen setzen, und sie behandelten mich wie ihresgleichen. Es gab Wein und köstliche Gerichte, es wurde gescherzt und gelacht. Niemand mußte Mangel leiden, jede Krankheit war verflogen. Und dann kam Er, der Meister. Er erschien in der Gestalt eines großen schwarzen Mannes mit feurigen Augen und einem Pferdehuf. Auf dem Kopf trug er einen Hut mit einer roten Feder. Sofort verstummten alle Gespräche. Der Meister lachte, und sein Atem verwandelte die Speisen auf dem Tisch in Schweine- und Pferdekot.“
Der Junge hatte mehr als genug gehört. Voller Verzweiflung preßte er seine Hände an die Ohren.
Erregt wie nie zuvor, begeisterte sich die Frau an ihrer Erzählung: „Der Meister setzte sich an das Kopfende der Tafel. Eine schwarze Fidel lag in seinen Händen, und er spielte auf zum Tanz. Paarweise drehten wir uns zu den Klängen der wundersamen Musik. Ein Junker, edel an Gestalt, forderte mich auf, als sei ich ein holdes Mädchen. Ich spürte weder meine alten Knochen, noch fehlte mir der Atem für die wilde Hatz. Und plötzlich tanzten wir auf einer Leine, hoch über dem Kreuzweg. Da bin ich abgerutscht, und der Meister hat mich gescholten und gesagt, ich solle nicht so plump sein und das Tanzen besser lernen. Dann hat Er an der Tafel die Messe gelesen.“
„Aufhören!“ jammerte der Junge.
„Anschließend hat der Meister uns die Zauberei gelehrt. Unter Seiner Anleitung haben wir aus Mehl und Wasser Tiere geschaffen und ihnen Leben eingehaucht. Hasen, Ratten, Katzen, Böcke und Ziegen liefen quicklebendig davon. Hei, war das ein Spaß, auf den Böcken und Ziegen zu reiten.“
Ein Blitz erhellte das Zimmer und verzerrte das Gesicht der alten Frau zu einer grauenvollen Maske. Ein Donner, so laut wie der Weltuntergang, ließ den Jungen zusammenzucken. Unmittelbar darauf setzte prasselnder Regen ein.
„Und das Fest war noch nicht zu Ende“, schrie die Frau gegen das Gewitter an. „Der Meister verwandelte sich in eine Kröte. Neue, köstlich duftende Gerichte standen auf dem Tisch. Zartes Kinderfleisch ...“
Der Junge sprang auf und lief hinaus. Er sprang die Treppe hinunter und rannte durch die engen Gassen Münsters, als wäre der Leibhaftige höchstselbst hinter ihm her. Der Regen durchnäßte ihn bald bis auf die Haut. Doch der Junge spürte weder Kälte noch Nässe. Er rannte, bis er vor Erschöpfung innehalten mußte. Unbewußt hatte er den Heimweg eingeschlagen. Vor ihm lag das große, mächtige Gebäude, in dem er ein Zuhause gefunden hatte. Vom ersten Moment an, als er es betrat, hatte er sich dort wohlgefühlt. Aber wie lange würde man ihn jetzt noch dulden?
Zweites Kapitel
Ein kalter Herbstwind fegte über die Galgheide, dem Gerichtsort vor dem Ludgeritor, wo die Verurteilten aufgehängt, gerädert oder enthauptet wurden, je nach Art und Schwere ihres Verbrechens. Freigraf Bernd Ketteler, der Untersuchungsrichter und Polizeichef der Stadt Münster, blickte mürrisch über das unwirtliche Gelände. Raben stießen ihre spitzen Schnäbel in die Leiche eines Geräderten, und Ratten huschten durch das Skelett eines vor längerer Zeit Hingerichteten. Ketteler zog den Mantel enger um seine fülligen Hüften. Ihn fröstelte und er spürte einen Gichtanfall heraufziehen. Viel lieber würde er jetzt am wärmenden Kaminfeuer sitzen, einen Becher vom köstlichen französischen Wein in der Hand, als sich auf dieser trostlosen Wiese herumzutreiben. Aber die Pflicht ging vor. Seufzend wandte sich der Freigraf der Leiche eines Mannes zu, der nicht der städtischen Gerichtsbarkeit zum Opfer gefallen war. Der Tote war etwa fünfzig Jahre alt und hatte lange, sorgfältig frisierte graue Haare.
„Er ist ermordet worden“, sagte der Korporal.
„Das sehe ich selbst“, knurrte Ketteler. „Oder glaubst du, er hat sich mit seinem eigenen Degen in den Rücken gestochen und diesen dann, nachdem er glücklich gestorben war, wieder in die Scheide gesteckt?“
Der Korporal schwieg beleidigt.
„Hast du festgestellt, um wen es sich handelt?“ fragte Ketteler in einem etwas freundlicheren Ton.
„Nun, wenn ich eine Vermutung anstellen darf ...“, begann der Korporal zögernd.
„Solange sie Hand und Fuß hat“, beschied ihn Ketteler gnädig.
„Er ist, ich meine, war ein schwedischer Offizier.“
„So?“
„Ja. Betrachtet die Uniform, Herr Freigraf! Dieses Blau wird von den Schweden bevorzugt. Der edel geschnittene Rock, der Degen und die gefärbte Feder am Hut sprechen dafür, daß er kein einfacher Reiter oder Unteroffizier war. Außerdem haben wir das hier in seiner Tasche gefunden.“ Der Korporal präsentierte einen Brief, der mit rotem Siegellack verschlossen war. „Anscheinend ein wichtiges Schreiben.“
Mit zusammengekniffenen Augen studierte der Freigraf die krakelige Handschrift auf der Vorderseite.
„Ich vermag zwar nicht alles zu entziffern“, fuhr der Korporal beflissen fort, „aber könnte dieses Wort“, sein Finger tippte auf die unterste Zeile, „nicht Oxenstjerna bedeuten? Soviel ich weiß, ist Graf Johan Oxenstjerna, der Sohn des Reichskanzlers, schwedischer Gesandter in Osnabrück.“
„Zu dem Schluß bin ich auch gerade gekommen“, brummte Ketteler. Seine Miene hellte sich auf, als er zum ersten Mal den jungen, rotbackigen Korporal näher betrachtete. Zweifellos ein aufgeweckter Bursche. „Ich mag Polizisten, die nicht nur lesen, sondern auch denken können. Wo hast du das gelernt?“
Der Korporal nahm Haltung an. „Ich habe drei Jahre lang die Stiftsschule von St. Ludgeri besucht. Seitdem lese ich, soweit es mir mein Dienst erlaubt, alle angeschlagenen Zeitungen.“
„Wie ist dein Name?“
„Heinrich Tombrink.“
„Ich werde mir dein Gesicht merken“, sagte der Freigraf jovial. „Wer weiß, vielleicht bekommst du bald einen höheren Posten.“
Der Korporal schlug die Hacken zusammen.
„Und hör auf mit dem militärischen Getue! Wir führen keine Kriege, sondern Ermittlungen.“
„Jawohl, Herr Freigraf.“
Kopfschüttelnd und ächzend ging Ketteler in die Hocke. Er legte seine rechte Hand an den Hals des Toten, in der Hoffnung, von der Körperwärme auf den Zeitpunkt des Todes schließen zu können. Die Leiche war kalt wie ein Fisch.
„Hast du noch etwas gefunden, das uns Aufschluß über den Toten gibt?“
„Ein Beutel, prall gefüllt mit Talern“, meldete der Korporal.
„Also kein Raubmord“, murmelte Ketteler. „Was war es dann? Vielleicht ein Duell?“
Der Korporal, mutiger geworden, äußerte Widerspruch: „Ein Stich in den Rücken spricht nicht für ein Duell, Herr Freigraf.“
„Ach, Junge.“ Ketteler richtete sich mühsam und unter Stöhnen auf. „Die Vorstellung vom ritterlichen Zweikampf ist ein Märchen. Mancher Duellant beseitigt seinen Gegner hinterrücks und vorzeitig. Besonders, wenn der Gegner der bessere Fechter ist.“
„Beinahe hätte ich es vergessen“, rief der Korporal. „Da ist noch etwas sehr Merkwürdiges. Das muß ich Euch unbedingt zeigen.“ Er führte den Freigrafen auf die andere Seite der Leiche. „Seht Ihr die Zwiebel dort? Wie es scheint, hat sie jemand dort hingelegt, oder sie ist dem Schweden aus der Tasche gefallen.“
Ketteler bückte sich und hob die kleine braune Zwiebel auf. „Eine Blumenzwiebel“, sagte er nachdenklich. „Was macht ein schwedischer Offizier mit einer Blumenzwiebel?“
Die Marotte des Freigrafen, laute Selbstgespräche zu führen, war dem Korporal noch unbekannt. Deshalb antwortete er eifrig: „Die Zwiebel könnte von einem Blumenhändler stammen. Das ist möglicherweise eine vielversprechende Spur.“
Gerade wollte Ketteler zu einer hämischen Bemerkung ansetzen, da fiel ihm ein, daß er seinen forschen Untergebenen erst vor wenigen Minuten gelobt hatte. In seltener Großzügigkeit schluckte er den bissigen Kommentar hinunter und nickte nur. „Apropos Spuren. Wo ist eigentlich das Pferd?“
„Verzeihung, Herr Freigraf: Welches Pferd meint Ihr?“
„Das Pferd, auf dem der Schwede geritten ist, du Spurensucher. Schau dir seine Stiefelsohlen an, sie sind so sauber wie geleckt. Hätte der Mann den beschwerlichen Weg vom Ludgeritor hierher zu Fuß zurückgelegt, wären seine Stiefel von einer Kruste aus Morast bedeckt. Und da vorne sieht man noch frische Abdrücke von Pferdehufen.“
„Meine Männer haben kein Pferd gefunden“, gab der Korporal zu.
verständigt. Nachdem ich mit meinen Männern hier angekommen war, mußte ich von einem Verbrechen ausgehen. Daraufhin habe ich zwei Botmeister damit beauftragt, die Soldaten des fraglichen Abschnitts zu verhören. Leider ohne Erfolg.“
Ketteler runzelte die Stirn. Sosehr er denkende Polizisten schätzte, die Selbständigkeit des jungen Korporals ging ihm ein wenig zu weit. „Noch führe ich in Münster die Morduntersuchungen“, raunzte er mißmutig. „Warte beim nächsten Mal gefälligst auf meine Befehle!“
Der Korporal zuckte zusammen. „Ich habe nach Euch suchen lassen, aber Ihr wart nirgendwo aufzufinden.“
„Papperlapapp“, knurrte der Freigraf. „Um diese Tageszeit sitze ich immer in der Schänke neben der Ludgerikirche, das weiß doch jedes Kind, sogar die Bürgermeister.“
„Ich war für längere Zeit nach Senden abkommandiert“, verteidigte sich der Korporal. „Es tut mir leid, daß ich mit Euren Gewohnheiten nicht vertraut bin.“
„Na schön“, lenkte Ketteler ein, „du hast ja das Richtige getan. Deshalb will ich für heute darüber hinwegsehen.“ Er wandte sich um. „He, du!“ rief er einem der herumstehenden Botmeister zu.
Der Mann näherte sich unterwürfig.
„Du reitest sofort zum Stadtarzt Doktor Rottendorff und bittest ihn, hierher zu kommen. Sag ihm, es sei dringend!“
Der Botmeister verschwand, und Ketteler versank in tiefes Grübeln, während er die Blumenzwiebel in seiner Hand wog. Trotz seiner Neugierde traute sich der Korporal nicht, die Frage zu stellen, die ihm auf der Zunge lag. An der Todesursache des Mannes, der auf der Galgheide sein Leben ausgehaucht hatte, gab es keine Zweifel, was sollte ein Arzt da an neuen Erkenntnissen bringen?
„Du möchtest gern wissen, warum ich Doktor Rottendorff herbestellt habe“, sagte der Freigraf, die Gedanken des Korporals erahnend. „Ich will es dir sagen. Der schwedische Resident Rosenhane wohnt im Haus von Doktor Rottendorff. Außerdem ist unser Stadtarzt ein vielseitig gebildeter Mann. Er hat sogar ein Buch über Blumen veröffentlicht, in einem Amsterdamer Verlag. Es würde mich nicht wundern, wenn er das Geheimnis dieser kleinen Zwiebel lüften könnte.“