Man war an diesem Pfingstsamstag sehr vergnügt in der Löwengasse in Breitenwert, nur der gute Herr Häferlein stand ein wenig betrübt vor seiner Ladentüre. Ein paar Käuferinnen waren noch dagewesen, er hatte ihnen allen gute Feiertage gewünscht, sie ihm auch, und nun wollte er eben seinen Laden schließen. Da kam noch flink Fräulein Laura aus der Rose gelaufen. Über Herrn Amhags Ankunft hatte sie das Einkaufen vergessen, nun wollte sie noch dies und das. Herr Häferlein gab ihr alles, er redete auch freundlich wie sonst, aber Laura sah doch, dass er traurig war. "Was fehlt Ihnen, Herr Nachbar," fragte sie heiter, "fürchten Sie, es regnet morgen?"
"Nein," antwortete der Kaufmann, "es wird wohl nicht regnen, aber ich werde allein spazieren gehen, und das macht mir keine Freude. An Wochentagen tu ich's gern, aber an Feiertagen will ich mit fröhlichen Menschen zusammensein. Meine Schwester wollte mich mit ihren Kindern besuchen, nun hat sie abgeschrieben, und ich bin allein!" Er seufzte und Fräulein Laura seufzte, und dann sagte Herr Häferlein wieder: "Es ist doch traurig, wenn man allein ist!"
"Ja," sagte Fräulein Laura, "das ist sehr schwer; ich wäre auch froh, wenn ich noch zu meinen Eltern fahren könnte." Und dann erzählte sie zum ersten Mal von dem kleinen Laden, der ihrem Vater gehört hatte.
In der Rose dachte Frau Tippelmann ein paarmal, Laura kommt ja gar nicht wieder, na, gewiß hat Herr Häferlein sehr viel zu tun. Endlich aber kam Laura an, und als sie auspackte, fand sich's, dass sie die Hälfte von dem, was sie besorgen wollte, vergessen hatte. "Nein, so etwas!" brummte Frau Tippelmann erstaunt.
"Ja, so etwas!" sagte Laura und fiel ihr lachend um den Hals. "Es ist nämlich so, Herr Häferlein und ich, wir wollen uns heiraten, und darüber habe ich den Kaffee vergessen, das Mehl und die Zitronen, und ich weiß nicht, was noch alles."
"Lieber Himmel, Laura!" rief Frau Tippelmann. "Sie wollen in Breitenwert bleiben und in der krummen, häßlichen Löwengasse wohnen und gar in solch kleinem, dunklem Laden stehen?"
"Frau Tippelmann," schrie Laura empört, "die Löwengasse ist nicht krumm, nicht häßlich, sie ist sehr malerisch und freundlich, und der Laden ist nicht dunkel, der ist, wie meines Vaters Laden war."
"So, ist mir ganz neu!"
"Ach, Frau Tippelmann," rief Laura wieder lachend, "ich weiß ja schon, Sie necken mich nur, und ich habe das einmal gesagt, aber heute sage ich nun doch: über die Löwengasse geht nichts. Und ich will mein Lebenlang hier bleiben; hier werde ich glücklich werden."
Im gleichen Augenblick sagte oben im großen Gartenzimmer Alette auch zu ihrem Vater: "Ich möchte immer, immer in der Löwengasse wohnen!"
"Immer ist viel gesagt," antwortete Herr Amhag; "wir wollen sagen einstweilen."
"Mußt du wieder fort?" fragte Alette erschrocken. "Ach, bleibe hier, hier ist's doch viel, viel schöner als in der ganzen Welt."
"Schöner als in der ganzen Welt, Kind," wiederholte der Vater sinnend, "das ist es immer nur in der Heimat." Er sah in den Garten hinab, der im sanften Schatten des Frühlingsabends träumte, und er dachte an seines Vaters Erzählungen, der hatte die alte Heimat auch über alles geliebt. Wohl dem, der einen Ort auf der Welt hat, an den er mit rechter Heimatsehnsucht denken kann. Auf einmal fühlte Herr Amhag,wie arm seine kleine Alette in allem Reichtum bisher gewesen war, und er strich ihr liebevoll die heißen Wangen. "Das Immer-hierbleiben kann ich dir freilich nicht versprechen, Kind," sagte er, "aber fremd soll uns Breitenwert nie mehr werden. Morgen aber wollen wir ein fröhliches Pfingstfest feiern in der alten Heimat. Und nun geh schlafen, damit du morgen recht feiertagsfroh erwachst."
Am nächsten Tag war zwar kein rechtes Pfingstwetter; es war ziemlich grau und sonnenlos, aber sie feierten doch alle in der Löwengasse ein sehr fröhliches Fest. Herr Amhag ging mit Alette durch die Straßen des alten Städtchens, und oft blieb er stehen und sagte: "Davon hat mein Vater erzählt, hier ist er zur Schule gegangen, diesen alten Turm hat er besonders geliebt."
Sie besuchten auch beide die Freunde im Silbernen Stern. Denen gefiel es gut dort, sie sagten, in einem so hübschen alten Gasthaus hätten sie noch nie gewohnt. Die alte Dame war besonders stolz, sie hatte nämlich das Königszimmer. Sie sagte: "So etwas kann man in Amerika doch nicht haben; in einem Königszimmer kann man nicht wohnen, weil es keine Könige gibt, schade!"
Die jungen Damen aber sagten: "Am besten gefallen uns die beiden Boys, die sind so nett; so nette Kinder haben wir noch nie gesehen."
Die netten Sternbübles hörten das Lob nicht; sie saßen mit den Grillschen Kindern auf dem Turm vom Räuberschlößle und überlegten sich, wie sie Herrn Häferlein recht feierlich zu seiner Verlobung Glück wünschen könnten. So einfach bums! hingehen und sagen: "Wir wünschen Glück," wollten sie alle nicht. Herr Häferlein, der nette, gute Herr Häferlein verdiente schon eine Überraschung, eine recht feine Überraschung. Sie überlegten hin, sie überlegten her, viele Köpfe, viele Sinne, auf einmal aber schrien alle: "Das wird fein!"
Und danach hatten sie es alle sehr eilig. Blumen wurden gepflückt, Kränze gewunden. Die Sternbübles liefen zu ihrem Oheim Adam Hinz und gaben dem viele himmelgute Worte, bis er mit ihnen wirklich in seinen Laden ging, ihnen etwas daraus schenkte, dabei aber sagte: "Denkt an den ersten April." Darauf versicherten die Sternbübles hoch und heilig, es würde keine Dummheit, sondern eine feine Überraschung, und die Lindenkinder täten mit.
"Na, dann mag's sein," sagte Onkel Adam Hinz, "wenn's nur gelingt!"
Veit und Steffen hatten unterdessen den schläfrigen Fritz aufgesucht, der noch im Bette lag, denn für ihn war schlafen die schönste Feiertagsfreude. Die Buben weckten ihn, redeten sehr eifrig mit ihm, und der sagte: "Ja, ja, heute Nachmittag geht es schon, da merkt es niemand."
Als am Nachmittag Alette mit ihrem Vater in die Linde kam, stürzte ihr Trinle gleich entgegen und tuschelte: "Sie sind alle im Räuberschlößle, es gibt eine Überraschung."
Im Räuberschlößle wurde Alette ins Geheimnis gezogen, und während die Erwachsenen zusammensaßen, gingen die Kinder alle auf das Gäßle, um dort zu spielen. Die Sternkinder kamen auch, aber merkwürdig, schließlich war doch niemand zu sehen. Herr Häferlein und Fräulein Laura waren zusammen spazieren gegangen, und so hörte niemand, wie es in dem Laden mitunter rumpelte und klopfte, poch, poch, poch! Dann polterte etwas, innen sagte jemand: "Ich roll das Fäßle her, dann kann ich aufsteigen." Irgend jemand kicherte unaufhörlich, jemand schrie: "Prachtvoll wird's! Herr Häferlein wird staunen ..."
"Der freut sich gräßlich," behauptete ein anderer Jemand. Dann ging es wieder poch, poch, poch, es klirrte und kollerte, irgendwo wurde eine Türe zugeklappt, ein Schlüssel rasselte, und danach wurde es still. Ein Weilchen später erschienen alle Kinder im Grillschen Garten, und Frau Grill sagte erstaunt: "Ihr seht ja so erhitzt aus, was habt ihr denn gemacht?"
"Was Feines," antworteten allesamt, und Trinle, die kleine Schwatzsuse, flüsterte noch: "Herr Häferlein wird sich freuen." Aber dies hörte die Mutter glücklicherweise nicht mehr.
Am nächsten Morgen besuchte Herr Baldan Herrn Häferlein, just als der gehen wollte, seinen Laden aufzuschließen. Es war nach der Kirche, und Herr Baldan, der noch etwas Zeit hatte, sagte: "Ich gehe mit hinüber in den Laden."
Der Kaufmann schloß die Hintertüre auf, und die Freunde betraten den halbdunklen Raum. Sie gingen ein paar Schritte vorwärts, da glitschte Herr Baldan auf einmal aus.
"Na, na," rief er, "was ist denn das auf dem Boden?"
"Ich weiß nicht," murmelte Herr Häferlein, "o je!" Er glitschte auch aus, verlor den Halt und fiel um, fiel in etwas Feuchtes, Klebriges hinein. "Sirup," schrie er, "Baldan, das Sirupfaß ist ausgelaufen!"
"Ich merk's," stöhnte Herr Baldan, denn der lag auch auf dem Boden, und er war gerade mit der Nase in eine dicke, süße Tunke gefallen. "Pfui Teufel," schimpfte er, "das ist ja gräßlich! Pff, pff, brrr, wie das schmeckt!"
"Eine dumme Sache, hol's der Kuckuck!" ächzte Herr Häferlein, der sich mühsam erhob. Er versuchte die Ladentüre zu erreichen, da stolperte er über ein Faß, hielt sich an irgend etwas an und schrie: "Potzwetter, was ist denn das, Blumen?"
"Mach doch Licht, August!" rief Herr Baldan. "Au, mein Knie!"
"Gleich, August! Au, meine Nase!" Da endlich hatte Herr Häferlein die Ladentüre erreicht, er zog den Rolladen hoch, und das helle Tageslicht strömte in den Raum. "Ah!" riefen die Freunde unwillkürlich.
Über der Ladentafel prangte ein großes, mit Blumen umkränztes Blatt. Darauf stand in roter und blauer Schrift groß: "Wir gratulieren!" und darunter standen lauter Namen geschrieben. Es waren die der Lindenkinder und der Sternkinder, auch Alette Amhag fehlte nicht. Außerdem gab es noch viele Blumen in dem Lädchen, sogar das Sauerkrautfaß hatte einen grünen Kranz erhalten.
Herr Häferlein vergaß das ausgelaufene Sirupfaß, vergaß seinen beschmierten Feiertagsanzug, er sah nur das große bunte: "Wir gratulieren!" und alle die Namen darunter, und er sagte gerührt: "Die guten Kinder, sie wollten mir eine Überraschung bereiten."
"Ich danke schön für solche Überraschungen!" knurrte Herr Baldan. "Pff, pff, brrr," spuckte er, "potzhundert, so viel Sirup habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht geschluckt!"
Da klopfte es stürmisch an die Ladentüre. Lachende, fröhliche Gesichter drückten sich an der Scheibe platt: "Herr Häferlein, Herr Häferlein, wir sind's!"
Der Kaufmann ging hin und schloß die Türe auf, und acht Stimmen auf einmal riefen: "Gelt, Sie freuen sich sehr?"
"Ganz ungemein, Kinder," sagte Herr Häferlein, "nur, was habt ihr denn mit dem Sirupfaß gemacht?"
"Mit dem Sirupfaß? Ha," schrien die Sternbübles, "das war das Fäßle, auf das wir 'n bißle gestiegen sind, weil wir net so hoch langen konnten."
"Sirup," jauchzte Kasperle, "fein, das ganze Lädle ist voll Sirup!"
Er tippte mit dem Finger an den süßen Brei und leckte, und die Sternbübles leckten, Gundel aber fragte erschrocken: "Herr Häferlein, sind Sie in den Sirup gefallen?"
"Ja, mein Kind," sagte Herr Häferlein gutmütig, "aber es ist nicht schlimm, gefreut habe ich mich doch. Und ihr müßt alle, hört ihr, alle, zu meiner Hochzeit kommen."
"Ich auch" jauchzte Alette, "ich bleibe hier, ein Jahr, nein, vielleicht immer!"
"Es wär' auch dumm, aus dem Löwengäßle wegzugehen," rief Trinle wichtig, "so schön ist's nirgends."
"Nein, so schön ist's nirgends," brummte Herr Baldan, "nur gerade in den Sirup braucht man nicht zu fallen. Brrr, pff, pff! Abscheuliches Zeug!"
"Jetzt müssen wir Fräulein Laura holen, die muß auch die feine Überraschung sehen," rief Steffen stolz. Denn da Herr Häferlein nicht über den Sirup schalt, war es doch nicht schlimm.
"Ach ja, Laura!" Alette lief hinaus, und "Laura, Fräulein Laura!" klang es zur Rose hinauf.
Ein paar Minuten später stand Laura an der Ladentüre und rief erschrocken: "Nein, so etwas, das ist freilich eine Überraschung!"
Von der Löwengasse herein aber tönte das Jubeln und Jauchzen der Kinder, die irgend jemand von der großen Überraschung erzählten.
Herr Häferlein lachte, Fräulein Laura lachte, und zuletzt lachte auch Herr Baldan. "Ja, ja," brummte der, "so etwas kommt auch nur im Löwengäßle vor, ist halt ein ganz besonderes Gäßle. So eins soll man suchen! Brrr, pff, pff, na, Sirup habe ich vorläufig genug geschluckt!"
"Schön guten Morgen, Frau Tippelmann, auch schon fleißig? Heute kommen wohl Ihre neuen Hausbewohner an?"
Der Kaufmann Häferlein in der Löwengasse von Breitenwert, der soeben seinen Laden aufgeschlossen hatte, nickte freundlich zu seiner Nachbarin hinüber, und da diese keine Antwort gab, redete er weiter: "Ein schöner Morgen heute, nur etwas kühl!"
"Hm," knurrte Frau Tippelmann, mehr sagte sie nicht, aber ihren Nachbar verdroß das auch nicht weiter; der war an diese Schweigsamkeit schon gewöhnt. Er zog den Rolladen seines kleinen Schaufensters hoch, wischte mit einem großen Tuch die Scheiben ab und sprach dabei vergnügt, als wäre es für ihn eine besondere Freude: "Sie werden recht froh sein, Frau Nachbarin, dass Sie nun nicht mehr den lieben langen Tag allein in dem großen Hause sitzen müssen; gelt, gut ist das Alleinsein nicht?"
"Hm, hm." Frau Tippelmann putzte den dicken Messingknauf an der schön geschnitzten alten Haustüre blanker als blank, dabei tat sie einen kellertiefen Seufzer, der gar nicht nach Freude klang.
"O du lieber Himmel," rief Herr Häferlein mitleidig, "Frau Tippelmann, Sie freuen sich wohl nicht einmal? Dabei sind's doch Verwandte von Ihnen!"
"Von Adam und Eva her, freilich!" Die große, stattliche Frau sah so griesgrämig drein, als sie dies sagte, dass der freundliche Herr Häferlein, der mit jedem Pfennigkunden sich etwas erzählte, die Lust zu weiterer Unterhaltung verlor. "Ich muß nun hineingehen," erklärte er, "es ist arg kalt, und warmer Kaffee wird mir gut tun. Sie sollten auch eine Tasse trinken, Frau Nachbarin, frieren Sie nicht?"
"Bewahre, aber Märzenluft und Aprilenwind schaden manchem Mutterkind!"
Der Kaufmann ärgerte sich über das Spottwort; er klappte laut seine Ladentüre zu, und Frau Tippelmann stand allein auf der Gasse. Die Frau ließ ihren Putzlappen sinken. Der Knauf war wirklich blank genug, und nachdenklich sah sie das Sträßlein entlang. Das verband den Ober- und Untermarkt miteinander und hatte kaum ein Dutzend Häuser. Die standen schon alle hundert Jahre und mehr an ihrem Platz, aber nicht in Reih und Glied wie Soldaten; eins stand bescheiden zurück, eins hatte sich vorgedrängt, eins hatte einen hohen, spitzen Giebel, das andere wieder ein breites Dach mit lustigen Dachaugen, kurz jedes Haus sah anders aus. Das schönste aber war das, an dem Frau Tippelmann soeben den Türknauf geputzt hatte. Die Rose wurde es genannt. Steinerne Rosen zierten die Fenstersimse; davon trug das Haus seit etlichen hundert Jahren seinen Namen. Frau Tippelmann war in dem Hause geboren, sie hatte immer darin gewohnt, ihr Mann war mit hineingezogen, er war darin gestorben, und nun lebte sie schon zwölf Jahre mutterseelenallein in dem alten Hause. Einst hatte es ihren Urgroßeltern gehört, doch die waren arm geworden in der Franzosenzeit, ihre Kinder hatten das Familienhaus der Amhags verkaufen müssen, und sie waren allmählich von Breitenwert weggezogen in die weite Welt hinaus, eins hierhin, das andere dahin. Nur Frau Tippelmanns Großvater war in der Heimat geblieben. Im alten Familienhaus hatte er zuletzt im Erdgeschoß als Mieter gewohnt, ein stiller, fleißiger Mann, freilich nur ein Schreiber, und sein Sohn war auch nur ein Schreiber gewesen, und dessen einzige Tochter hatte wieder einen Schreiber geheiratet, und so war aus Rose Amhag Frau Rosalie Tippelmann geworden.
Im Laufe der Zeit hatte das alte Haus zur Rose mehrfach die Besitzer gewechselt. Zuletzt, vor etwa zehn Jahren, hatte es wieder ein Amhag gekauft, einer, der im fernen Indien zu großem Reichtum gelangt war. Die Leute in Breitenwert meinten, wenn einer ein Haus kauft, dann muß er auch kommen und darin wohnen, aber der neue Rosenbesitzer tat das nicht. Der ließ durch ein hauptstädtisches Geschäft ein paar Zimmer mit schönem Hausrat füllen. Frau Tippelmann übernahm die Sorge dafür, und dann warteten sie und Breitenwert von Jahr zu Jahr auf Herrn Amhag, bis sie ihn fast vergaßen.
Jetzt auf einmal hatte er geschrieben, seine Schwägerin und seine Tochter würden kommen und einen Sommer lang in der Rose wohnen. Obgleich nirgends ein Stäubchen lag, hatte Frau Tippelmann geschwind das Haus von oben bis unten gefegt und gescheuert, und an diesem Märzmorgen hatte sie zum allerletzten Male den Türknauf geputzt. Heute sollten die neuen Bewohner kommen.
An das alles dachte Frau Tippelmann, als sie so auf der Löwengasse stand, und sie merkte es wirklich nicht, dass es trotz des blauen Himmels recht kalt war. Ja, sie hätte wohl noch eine Weile so vor sich hingeträumt, wenn nicht im gegenüberliegenden Hause die Türe jäh aufgerissen worden wäre. Krach, ging es, bums, und drei Kinder, zwei Buben und ein Mädel, stürzten, sprangen, hopsten und purzelten auf die Gasse; sie taten das eigentlich alles auf einmal, und ein paar Augenblicke gab es ein solches Durcheinander von Armen und Beinen, dass selbst Frau Tippelmann, die den Auszug der Nachbarkinder schon oft gesehen hatte, erschrak.
"Die Grillschen," brummte sie. "Weiß der Himmel, die gehen auch am Nimmermehrstag einmal ordentlich zur Schule!"
"Hallo, hallo!" kreischten die drei drüben. In dem Haus öffnete sich schon ein Fenster, und eine sanfte Stimme rief: "Buben, Gundele, seid net so laut, ihr treibt's auch gar so arg!"
"Hallo, hallo!" schrie es plötzlich am unteren Gassenende.
"Die Sternbuben!"
"Die Lindenaffen!"
"Hallo, hallo!"
Zwei Büblein kamen die Gasse herauf, die Grillschen stürzten ihnen entgegen, und, klitsch, klatsch, ritsch, ratsch, lagen sich alle fünf in den Haaren. Die Gasse widerhallte von Lärm und Geschrei.
Da und dort guckte jemand zum Fenster heraus. Frau Tippelmann schalt, der freundliche Herr Häferlein trat mit seiner Kaffeetasse in der Hand erschrocken vor seinen Laden, und aus der Lindenapotheke, nach der das Grillsche Haus den Namen "Zur Linde" führte, stürzte ein kleiner Herr heraus. Der nahm geschwind zwei Buben bei den Kragen, und auf einmal waren die feindlichen Parteien getrennt. "Wollt ihr wohl Ruhe halten, marsch in die Schule miteinander, marsch, marsch!"
"Die Sternbuben haben angefangen!"
"Die Lindenaffen ..."
"Hoho, so frech!"
"Tutututut!"
Ein Auto! Aller Streit verstummte jäh, und im höchsten Erstaunen starrten alle miteinander dem seltenen Gefährt entgegen, denn das war um diese Morgenstunde in der Löwengasse von Breitenwert ein so ungewöhnliches Ding, wie es ein Papagei im Sperlingsnest ist.
Stopp, hielt das Gefährt an.
"Heda, Jungens, in der Gasse hier soll ein Haus zur Rose stehen, wo ist das denn?" rief der Wagenlenker den Kindern zu.
Die Buben, die sich soeben noch wütend gestritten hatten, lachten hell auf, denn dass einer nach einem Hause fragt, vor dem er steht, erschien ihnen höchst sonderbar. Nur der höfliche Herr Häferlein zeigte, dass gute Lebensart auch in der Löwengasse zu finden war; er verneigte sich tief, trat an den Wagen und sagte lächelnd: "Mit Verlaub, da steht Ihnen die Rose vor der Nase, und vor der Rose steht Frau Tippelmann, und gewiß sind die Herrschaften die neuen Bewohner. Ich hoffe auf die allerwerteste Kundschaft, habe gerade frische Heringe bekommen, und mein Kaffee ist ausgezeichnet und ..."
"Quatschkopf!" schrie von innen eine raue Stimme.
"O du lieber Himmel!" Der höfliche Kaufmann prallte entsetzt zurück. "Frau Tippelmann," stöhnte er, "da drinnen sitzt 'ne Schwarze!"
"Wer sitzt da drinnen, wie nennt man mich?" Die Wagentür flog auf, und heraus stieg eine sehr stattlich angetane, sehr dicke Dame. In ihren Ohren, an ihrer Brust und ihren Händen funkelten und blitzten große Diamanten, ein von Federn umwallter Hut saß ihr auf dem Kopf, und bei jeder Bewegung knisterte und rauschte die Seide ihrer Gewänder.
"Fein," sagte eine Magd, die eigentlich zu Herrn Häferlein wollte, aber nun auf der Gasse stehen geblieben war, "fein, aber schwarz ist sie wirklich!"
"Eine Schwarze!" brüllten die Sternbuben, "wirklich, eine Schwarze!"
Das schien die Dame sehr übel zu nehmen, sie fauchte die arme Frau Tippelmann, die noch kein Wort gesagt hatte, zornig an: "Was ist das für ein Empfang, und was will dieser Mann da?" Sie deutete mit einem Schirm auf Herrn Häferlein, der sich vor Schreck gleich dreimal verbeugte. Die Fremde achtete nicht darauf, sie musterte das Haus von oben bis unten und sagte verächtlich: "Dieser alte Ziegenstall da soll doch nicht etwa Herrn Amhags Villa sein?"
Ein Ziegenstall, das schöne alte Rosenhaus!
Herr Häferlein, der schon manchem Fremden über das schöne Haus Auskunft gegeben hatte, blickte entsetzt zu der schwärzlichen Dame empor. "Das wird ja eine angenehme Nachbarin werden!" murmelte er.
"Starren Sie mich nicht so an, Sie da!" rief diese. "Ich bin nicht schwarz, ich bin weiß, weiß!"
"Alle Wetter, wenn sie weiß ist, dann ist mein Kakao gewiß Weizenmehl!" flüsterte der Kaufmann. Er wollte gerade die Flucht ergreifen, denn die Dame wurde ihm ungemütlich, als ihm ziemlich unsanft eine Hutschachtel an den Magen sauste. "Sie da, guter Mann, helfen Sie mir mal!" rief aus dem Wagen heraus eine hohe, dünne Stimme. "Ich steig jetzt aus. Das Haus wird es schon sein, wenn es auch eine alte Rumpelbude ist."
Schwuppdiwupp! kam eine zweite Hutschachtel aus dem Wagen, eine Schirmrolle folgte, ein Handkoffer rasselte nach, und Herr Häferlein wußte nicht, wo er zuerst anfassen sollte. Zuletzt hüpfte ein sehr zierlich gekleidetes Fräulein aus dem Wagen, das nun wirklich weiß und, wie Herr Häferlein fand, sehr hübsch war. Ihr nach sprang ein kleines schwarzbraunes Tier, das von der Löwengasse, soweit sie nämlich zweibeinig den Kraftwagen umstand, mit dem lauten Zuruf begrüßt wurde: "Ein Affe, ein Affe!"
"Narren und Affen alles begaffen," brummte Frau Tippelmann, der zur rechten Zeit eins ihrer geliebten Sprichwörter einfiel. Damit hatte sie sogleich ihre Verwirrung über die unerwartete Ankunft der seltsamen Gäste überwunden. Sie knickste höflich vor der schwärzlichen Dame und sagte: "Das ist wirklich Herrn Amhags Haus, und die gnädige Frau ist gewiß Herrn Amhags Schwägerin mit Fräulein Tochter."
"Das bin ich gewiß nicht! Ich bin Frau van Bachhoven, und wenn hier in dem jämmerlichen Nest jemand ein Fünkchen Verstand hätte, dann wüßte er, was das bedeutet. Bachhoven, Kaffeegroßhandlung; den Kaffee von Bachhoven kennt die ganze Welt."
"Herrjemine, die Schwarze heißt Backofen!" brüllte eine sehr, sehr unnütz klingende Bubenstimme, und "Backofen, Backofen!" schrie eine zweite.
"Die Sternbuben sind frech," sagten die Grillschen Kinder, aber sie lachten doch, und in das Lachen stimmten noch etliche Zuschauer ein, und von irgendwoher lachte ein harfenzartes Stimmchen mit.
Da stand die reiche Frau Juana van Bachhoven auf der Löwengasse und wurde ausgelacht, sie, die man sonst wie eine Fürstin behandelte um des goldenen Reichtums willen. Unerhört, ganz unerhört!
"Steig aus, Alette!" rief sie böse in den Wagen hinein. "Wenn du aber nicht hierbleiben willst, nehme ich dich gleich wieder mit. So ein abscheuliches Nest!"
"Ich bleibe hier," klang es zurück. Und hurtig, flink und zierlich kletterte ein Mädelchen aus dem Wagen, ein schlankes, feines Dinglein, das sich halb froh, halb scheu umsah. Sie blickte zu dem Hause hinauf, sah Frau Tippelmann an und streckte ihr zutraulich das Händchen hin. "Ich heiße Alette Amhag, und mein Papa hat gesagt, ich soll hierbleiben, bis er zu mir kommt. Und Laura bleibt auch und August ... ach, wo ist denn August?"
"Zu dienen, hier bin ich!" Herzlich verdutzt über die vertrauliche Anrede verbeugte sich Herr August Häferlein; er glaubte, der Ruf hätte ihm gegolten.
"Sie meint den Affen," rief der Fahrer grinsend.
"Der Affe heißt August? Das ist eine Beleidigung!" schrie Herr Häferlein entrüstet.
Jubelndes Lachen brauste ringsum auf, und selbst Frau Juana van Bachhoven lächelte ein ganz, ganz klein wenig. Alette Amhag aber lachte; wie hundert Schellenglöckchen zusammen klang es.
Turm- und Schuluhren sind manchmal entschieden boshaft, das ist schon wahr. Sie erheben ihre Stimmen oft zu sehr unpassender Zeit, und die Breitenwerter Uhren waren nicht besser als ihre Schwestern rings im Lande.
Bimbam! schlugen sie los, und alle Kinderherzen auf der Löwengasse erschraken, in alle Kinderbeine fuhr die Eile. Sogar die Schulranzen fingen an zu zittern und zu zappeln. Himmel, schon acht Uhr! Die Schule begann, und sie standen noch hier auf der Gasse! Zum Überfluß schalten auch noch die Erwachsenen: "Schulzeit! Geschwinde, geschwinde, heute kommt ihr aber zu spät!"
Die drei Grillschen rasten jetzt davon. Die Sternbuben zögerten noch einen Augenblick; sie hätten zu gern gesehen, was nun weiter wurde mit dem Affen und der schwarzen Dame. Aber das Bimbam dröhnte ihnen zu hart in die Ohren, sie rannten auch davon. Klippklapp, klippklapp! Ihre Schultaschen flogen, ihre Beine schlugen beinahe am eigenen Rücken an, und den Eiligen nach tönte wieder das Glöckchenlachen. Alette Amhag fand in diesem Augenblick die Löwengasse wunderhübsch.
Sonderbar, sehr sonderbar! Frau Juana van Bachhoven schüttelte erstaunt den Kopf. "Verrückt, so eine kleine deutsche Stadt!" sagte sie. "Alette, willst du wirklich hierbleiben? Komm mit mir nach Paris, ich schreibe es deinem Vater; hier gefällt es dir doch nicht!"
"Doch, hier gefällt es mir!" Das kleine Mädchen sah ernsthaft zu dem alten Rosenhaus empor, in dem schon so viele Amhags gewohnt hatten. Der Großvater hatte ihr davon erzählt, der immer so viel Sehnsucht nach der deutschen Heimat gehabt hatte, die er nur als Knabe gesehen. "Ich will hierbleiben," sagte sie noch einmal und legte ihre kleine Hand zutraulich in Frau Tippelmanns raue Rechte. Der war dies ungewohnt, aber sie hielt doch die kleine Hand ganz fest, und ihre Stimme klang seltsam milde, als sie sagte, so leise freilich, dass nur Alette es hörte: "Gott segne deinen Eingang in deiner Vorfahren Haus!"
Sie traten ein, und hinter ihnen her trug Laura, die Zofe, ein paar Schachteln ins Haus. "Gibt's denn hier keinen Diener, der hilft?" stöhnte sie. "Reisten wir nur erst wieder ab, in Paris war's viel, viel besser!"
Von der Abreise sprach auch Frau van Bachhoven. Sie unterhandelte mit dem Fahrer, er solle sie in einer Stunde abholen, länger bliebe sie nicht. Sie sah mit bösen Augen die Gasse entlang, und den allerbösesten Blick bekam der arme Herr Häferlein, der doch nur vor seinem Laden stand. "Schrecklich ist das hier," murrte die schwärzliche Dame, und innen im Haus sagte sie erst recht: "Schrecklich!" Der weißgetünchte gewölbte Flur, von dem aus eine gewundene Treppe in die oberen Stockwerke führte, mißfiel ihr gründlich, ebenso mißfielen ihr die Zimmer, und am allermeisten schien ihr Frau Tippelmann zu mißfallen, obgleich die kaum ein Wort redete. Sie herrschte die an: "Ist denn kein Diener, kein Mädchen da?"
"Ich bin da!" Frau Tippelmann sah grenzenlos erstaunt drein. "Für die Kleine genügt es doch, wenn ich da bin und das Mädchen!"
"Schnippschnapp, ich bin kein Mädchen, ich bin ein Fräulein!" unterbrach sie Fräulein Laura. "Für ein paar Tage mag es gehen, aber sonst, ein Fräulein Amhag braucht Dienerschaft."
"Ein Fräulein Amhag kann überhaupt nicht lange in diesem Hause wohnen," erklärte Frau van Bachhoven. "Unmöglich, ganz unmöglich ist's!"
"Ich bleibe, ich bleibe, ich bleibe," sang Alette Amhag leise vor sich hin und lief froh die Treppe empor.
Die Löwengäßler, wie die Kinder der Löwengasse nach Breitenwerter Sprachgebrauch genannt wurden, erlebten an diesem Vormittag wenig Freude in der Schule. Aber freilich, ihre Lehrer erlebten auch keine Freude an ihnen. Schon das Zuspätkommen! Mit einem Tadel fängt es sich nicht gut an, und einen Tadel erhielten sie alle. Den Fleißigen wie den Faulen entwischten immerzu die Gedanken; die Fremden in der Löwengasse, die schwärzliche Dame, der Affe August und nicht zuletzt Alette Amhag drängten sich in alle Stunden hinein. Ob sie noch da waren, wenn sie heimkamen, oder wirklich wieder abreisten?
Wenn sie nur August daließen! dachte Mathes Hinz, der älteste der Sternbuben, und gerade da sollte er eine Antwort geben und wußte sie nicht.
Die Sternbuben, sie wurden so nach dem Wirtshaus ihrer Mutter, dem Silbernen Stern, genannt, grämten sich nicht viel um den schlechten Schultag; sie waren ausgemachte Faulpelze. Aber den drei Grills, Veit, Trinle und Steffen, denen tat es leid, denn sie waren drei Fleißlinge, und ihre Wildheit, ihre Lust an Lärm und dummen Streichen, die ließen sie meist zu Hause, wenn sie in die Schule gingen.
An diesem Vormittag aber traf die Grillschen und die Sternbuben fast alle das gleiche Schicksal: sie mußten nachsitzen.
Die Sternbuben nahmen das gelassen hin; sie waren daran gewöhnt, und zu Hause merkte es kaum jemand. Die Grillschen aber grämten sich, und alle drei kamen sie wie die begossenen Pudelchen heim. Am heftigsten bekümmerte sich Trinle um das Nachsitzen, und sie war es auch, die unter bitterlichem Schluchzen der Mutter das schlimme Geschehen beichtete.
In der Wohnstube geschah es. Das war ein großes, helles Zimmer mit einem weit vorspringenden Erker, von dem aus man die ganze Löwengasse hinauf- und hinabsehen konnte. In dem Zimmer stand noch viel Hausrat aus Großmutterszeiten, denn die Grills, die nun schon über hundert Jahre in dem Hause wohnten, wußten das Alte wohl zu schätzen.
Frau Grill war eine sehr sanfte, stille Frau, sie schalt nie viel, aber ihre Kinder folgten ihr gut. Wenn die Mutter sie traurig, vorwurfsvoll ansah, dann bekümmerte sie das sehr, und als in dieser Beichtstunde die Mutter betrübt fragte: "Nachsitzen mußtet ihr, aber warum?" wären sie alle drei am liebsten in ein Mauseloch geschlüpft vor Scham.
Trinle heulte herzzerreißend. "Sei nicht böse, sei nicht böse," flehte sie.
Veit und Steffen standen mit gesenkten Köpfen da, und der Jüngste im Hause, Kasperle, zog auch schon einen bedenklich schiefen Mund, obgleich er mit dem Nachsitzen noch nichts zu tun hatte; er war erst fünf Jahre alt.
"Nun erzählt mal; wie war es?"
"Ja, das möchte ich auch hören!"
In der Türe stand Herr Apotheker Grill, der unvermutet eingetreten war. Er sah aus, als wäre er bitterböse, in seinen blauen Augen lag aber doch so ein lustiges Blinken, dass Trinle ein wenig aufatmete und stockend berichtete: "Es sind alle so spät gekommen, weil ... weil ..."
"Sie drüben eingezogen sind," vollendete Veit.
"Ja, so war's! Und dann hat Veitle im Latein nichts gewußt und ... und ..."
"Aus Versehen in der Geschichte das Tintengläsle umgeschmissen," sagte der Bruder dumpf.
"Ja, so war's!" schluchzte Trinle schmerzlich. "Und Steffle hat in der Geographie bloß ... Asien ... Asien ..."
"Mit Amerika verwechselt," murmelte Steffen. "Und dann, sag's weiter, Trinle."
"An der Wandtafel drei, vier Rechnungen falsch gerechnet. Darum!!"
"Na und du?" fragte der Vater.
Trinle heulte laut, schier verzweifelt klang's: "Ich ... ich hab draußen gesessen auf dem Kirchtrepple, bis sie rausgekommen sind."
"Ja, hast du denn nicht nachgesessen, Trinle?"
"Nein," jammerte Trinle, "ich ... ich bin auch net zu spät gekommen, bei uns, hat's später angefangen!"