Edgar Wallace


Das indische Tuch


Kriminalroman

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-057-5


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Kapitel 26



Chefinspektor Tanner berichtete dem Polizeipräsidenten über die Ereignisse in Marks Priory.

"Zuerst hatte ich den Eindruck, dass es sich um einen gewöhnlichen Racheakt handelte, und ich hatte zwei, vielleicht auch drei Leute in Verdacht, zunächst natürlich Amersham. Er war in der Nähe des Tatortes, als Studd ermordet wurde, und ich hatte auch ein Motiv gefunden: Beide interessierten sich für dieselbe Frau, und Amersham war entsetzlich eifersüchtig. Er stand in schlechtem Ruf, und ich muß gestehen, dass ich mich täuschen ließ, als der junge Lord Lebanon nach Scotland Yard kam und mir erzählte, Amersham hätte eine junge Inderin erwürgt. Als ich dann nach Amershams Tod ein Telegramm aus Indien erhielt, ersah ich daraus alle Einzelheiten des Verbrechens.

Lebanon war allem Anschein nach der Täter gewesen, damals aber schon für geisteskrank erklärt worden. Die indische Regierung war froh, dass er das Land schnell verließ, denn er hatte sich schon vorher merkwürdig benommen und bei der Jagd auf seine eigenen Treiber geschossen. Man beobachtete ihn gerade auf seinen Geisteszustand, als der Mord an dem Mädchen begangen wurde.

Hätte ich Lord Lebanon im Verdacht gehabt, so wäre mir auch sofort klar gewesen, dass er nur einen anderen als Täter hinstellen wollte. Aber Dr. Amersham stand in so schlechtem Ruf, und seine Beziehungen zu Lady Lebanon waren so seltsam, dass ich ihn zuerst für den Schuldigen hielt und alle meine Nachforschungen darauf richtete, ihn zu entlarven. Das änderte sich natürlich, als sein Tod bekannt wurde.

Amersham war ein Dieb und Erpresser; es war sein Glück, dass Lady Lebanon ihn während der Krankheit ihres Mannes zum Hausarzt und Vertrauten wählte. Der Familienarzt, der stets das Geheimnis gewahrt hatte, war gestorben, und sie hatte große Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu finden. Jeder verantwortungsvolle Arzt hätte den Fall sofort der Behörde gemeldet, und dann wäre vom Gericht aus eine Vormundschaftsverwaltung über das Vermögen eingesetzt worden.

Amersham erschien in jeder Beziehung geeignet. Er war sehr klug, besaß auch genügend Kenntnisse über Geisteskrankheiten, und so erhielt er die Stelle, nachdem er sich auf eine Anzeige in der Times hin gemeldet hatte.

Sein Gehalt war sehr groß, und er hatte von der Zeit an keine Sorgen mehr. Aber er war eben ein verbrecherischer Charakter und nützte die Gelegenheit aus. Nach und nach kam die Familie Lebanon immer mehr unter seinen Einfluß, bis er sie schließlich vollkommen in der Gewalt hatte."

Der Polizeipräsident stellte eine Frage, aber Tanner schüttelte den Kopf.

"Nein, es haben sich früher keine Krankheitssymptome bei dem Lord gezeigt. In Indien steht allerdings in seiner Krankengeschichte, dass er einmal einen leichten Sonnenstich hatte. Das wird die erbliche Veranlagung unterstützt und die Krankheit eher zum Ausbruch gebracht haben. Die ersten Anzeichen von Wahnsinn meldeten sich, als er auf seine eigenen Treiber schoß. Seine Vorgesetzten wußten nicht, dass sein Vater auch schon geisteskrank war. Und sein Urgroßvater ist in einem Irrenhaus gestorben. Ich habe übrigens feststellen können, dass Geisteskrankheit in beiden Teilen dieser Familie erblich ist.

Als der alte Lord starb, war Lady Lebanon froh, dass sie Dr. Amersham loswerden konnte, der sich immer mehr Rechte anmaßte. Drei Monate blieb er dem Schloß fern, dann kamen die traurigen Nachrichten aus Indien, und die Frau brauchte seine Hilfe aufs neue.

Er willigte ein, die Behandlung Willies zu übernehmen und den Skandal in Indien zu vertuschen, aber er verlangte dafür von ihr, dass sie sich mit ihm in Petersfield trauen ließ. Zuerst war ich erstaunt, dass die Trauung in dieser kleinen Ortschaft stattfand, aber dann brachte ich in Erfahrung, dass Lady Lebanon viele Ländereien in der Gegend besitzt.

Es ist wohl nur eine Scheinehe gewesen. Liebe hat zwischen den beiden nicht bestanden, und sie haben niemals ein gemeinsames Leben geführt. Sie forderte nur von Amersham, dass er sich nicht zu sehr gehenlassen sollte, aber er kümmerte sich nicht darum. Gilder und Brooks wurden zurückgerufen, und es ereignete sich eigentlich nichts Besonderes bis zur Ermordung Studds, die bis zu einem gewissen Grad ja einem unglücklichen Zufall zuzuschreiben ist.

Der junge Lord hatte leider einen geheimen Ausgang aus der Tobsuchtszelle entdeckt, in die er zeitweise eingesperrt werden mußte. Er fand die Treppe, die nach unten in den Park führte. Früher hatte man diesen Weg benützt, um den alten Lord abends in der Dunkelheit in den Park zu bringen. Dies muß noch vor Gilders Zeit gewesen sein, denn weder er noch Brooks wußten etwas von dem geheimen Gang.

Willie war außerordentlich geschickt und gewandt. Innerhalb einer Viertelstunde plante er zum Beispiel einen Anschlag auf den Motorradfahrer, der als Kurier nach Scotland Yard zurückgeschickt wurde. Kurz darauf hatte er sich Zugang zu Tillings Haus verschafft, wo er alles kurz und klein schlug, und wenig später war er wieder im Schloß.

Als er mich in Scotland Yard besuchte, hatte ich noch keine Ahnung, dass ich es mit einem Geisteskranken zu tun hatte. Er schien allerdings ein Schwächling zu sein, ein Muttersöhnchen, wie man es in aristokratischen Kreisen öfters findet.

Warum er damals zu mir kam, ist vollkommen klar. Er hatte Amersham in der Nacht ermordet und wollte sich bei der Polizei melden, bevor die Nachforschungen einsetzten.

Lady Lebanon schickte ihm sofort einen der Wärter nach, als er vermißt wurde. Gilder wußte, dass der Lord nach Scotland Yard gehen wollte, folgte ihm und ließ ihn nicht eher aus den Augen, bis er wieder sicher in Marks Priory landete. Sie kehrten in dem gleichen Auto zurück. Das hat mir Gilder später erzählt.

Lebanons Zerstörungswut nahm mit der Zeit zu. Kurz vorher hatte er erst einen schweren Anfall gehabt, wobei er das Wohnzimmer vollkommen zertrümmerte.

Die Ermordung Amershams hat er mit großer Schlauheit geplant und durchgeführt. Er wartete vor der Tür, und als er sah, dass Amersham abfahren würde, lauerte er ihm bei einer scharfen Kurve auf. Der Doktor mußte dort langsamer fahren, der Lord sprang auf den Wagen und erwürgte den Mann.

Damals ging er nicht sofort ins Haus zurück. Vielleicht verlor er in der Aufregung den Weg; jedenfalls befand er sich plötzlich in einer Baumallee, die parallel zur Straße läuft, und wurde von dem Parkwächter Tilling angehalten. Der Mann muß aber sofort erkannt haben, wer sein Gegner war, denn er hat nicht seine volle Kraft angewandt. Er war stark genug, um Lebanon zu bezwingen. Später sagte er ja selbst aus, dass er sich nur darauf beschränkt hatte, sich gegen den Lord zu verteidigen. Schließlich brachte er Willie zum Haus zurück.

Lady Lebanon befand sich in einer schwierigen Lage. Zum ersten mal war ihr Geheimnis Leuten bekanntgeworden, die nicht zu dem engen Kreis gehörten, auf den sie sich verlassen konnte. Sie wußte außerdem, dass Amersham etwas zugestoßen sein mußte, ja, sie suchte schon nach dem Toten, als Tilling mit Willie Lebanon auf der Bildfläche erschien.

Trotzdem konnte sie die Leiche nicht finden. Zunächst schickte Lady Lebanon nun Gilder mit Amershams Wagen fort; er ließ ihn ein paar Kilometer vom Dorf entfernt stehen.

Darauf mußte sie mit Tilling fertig werden. Sie wußte, dass die Polizei bald erscheinen und auch den Parkwächter einem Verhör unterwerfen würde. Das konnte gefährlich werden. Deshalb faßte sie den Entschluß, ihn zu ihrem Jagdhaus in der Nähe von Aberdeen zu schicken. Sie versorgte ihn reichlich mit Geld und schrieb ihm die Züge vor, mit denen er fahren sollte.

Der junge Lord hatte eine große Abneigung gegen Miss Isla Crane, wie ich später feststellen konnte. Sie selbst hatte keine Ahnung davon, aber er machte drei Versuche, sie zu ermorden. Den letzten an dem Abend, an dem er sich selbst das Leben nahm.

Gilder erzählte er nichts von seinem Plan, da er sehr wohl wußte, dass er seine schützende Hand über Miss Crane hielt. Trotzdem vermutete es der Diener. Er hatte den jungen Lord zu lange betreut, dass er in gewisser Weise voraussagen konnte, was dieser tun würde. Und so war es ihm möglich, Isla zur rechten Zeit in Sicherheit zu bringen.

Damit wäre ich am Ende meines Berichtes über den Fall von Marks Priory. Im Anschluß daran möchte ich übrigens Sergeant Totty zur Beförderung vorschlagen."

Der Polizeipräsident sah ihn erstaunt an.

"Warum denn?"

Tanner fuhr sich nachdenklich über das Kinn.

"Er ist nun schon so lange Sergeant, dass es vielleicht angebracht wäre, ihn zum Inspektor zu machen."


Ende

 

 

Inhalt



Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20
 
Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

 

 

 

Kapitel 1



Ein amerikanischer Diener ist an sich ein Widerspruch. Selbst Brooks gab das dem Butler Kelver gegenüber zu, obwohl er dadurch seine eigene Existenzberechtigung verneinte. Seine große, kräftige Gestalt kam in der schmucken Livree gut zur Geltung; sein Haar war grau und dünn. Aus seiner Westentasche schaute stets ein angebrochenes Paket Kaugummi hervor.

Auch sein Kollege Gilder paßte nicht zu dem Haushalt des Schlosses Marks Priory. Die beiden waren für ihren Beruf nicht besonders begabt und lernten anscheinend auch nichts dazu. Trotzdem waren sie nette Leute und benahmen sich den anderen Dienstboten gegenüber immer sehr höflich.

Man hatte sie im allgemeinen gern, wenn man Gilder auch ein wenig fürchtete. Seine hagere Erscheinung mit dem eingefallenen, durchfurchten Gesicht wirkte etwas düster, außerdem besaß er unheimliche Körperkräfte.

John Tilling, einer der Parkwächter, bekam das zu spüren. Auch er war groß und stattlich, aber rotblond und von jähzornigem Temperament. Wilde Eifersucht beherrschte ihn, denn seine hübsche junge Frau ging gern ihre eigenen Wege.

Mrs. Tilling hatte zum Beispiel einen Pferdeknecht aus dem Dorf kennengelernt, der ein rotes, grobes Gesicht hatte, nach Stall und Bier roch und sie auf seine plumpe Art liebte. Aber in ihrer Phantasie wurde er zu einem verwunschenen Prinzen und sie zu einer befreiten Prinzessin. Das war jedoch ein alter Skandal. Später entwickelte sie größeren Ehrgeiz und ließ sich mit höhergestellten Leuten ein; allerdings wußte ihr Mann nichts von alledem.

Eines Nachmittags hielt er Gilder an, der gerade von dem alten Klosterfeld herüberkam.

"Entschuldigen Sie!" sagte Tilling höflich, aber mit einem drohenden Unterton in seiner Stimme. "Sie sind in letzter Zeit einige Male in meinem Haus gewesen, während ich unterwegs in Horseham war."

Er fragte nicht, er stellte eine Tatsache fest.

"Gewiß", erwiderte der Amerikaner langsam. "Mylady gab mir den Auftrag, wegen der letzten Eiersendung nachzufragen, die ihr in Rechnung gestellt wurde. Sie waren damals nicht zu Hause, deshalb kam ich am nächsten Tag noch einmal."

"Und da war ich wieder nicht da", entgegnete Tilling, dessen Gesicht sich rötete.

Gilder sah ihn nur lächelnd an. Er ahnte nichts von den Liebesabenteuern der Mrs. Tilling, denn der Dorfklatsch interessierte ihn nicht.

"Das stimmt. Sie waren irgendwo im Wald."

"Aber meine Frau haben Sie getroffen und mit ihr Tee getrunken!"

Gilder wurde ärgerlich. Er lächelte jetzt nicht mehr, und sein Blick wurde hart.

"Worauf wollen Sie hinaus?"

Plötzlich packte ihn der Parkwächter am Rock.

"Bleiben Sie von meinem Haus fort ..."

Weiter kam Tilling nicht, denn der amerikanische Diener nahm ihn behutsam am Handgelenk, drehte seine Hand und machte sich frei.

Wäre Tilling ein schwaches Kind gewesen, so hätte er nicht weniger Widerstand leisten können.

"Tun Sie das nicht wieder. Ja, ich habe Ihre Frau gesehen und habe auch Tee mit ihr getrunken. Für Sie mag sie eine schöne Frau sein, aber für mich besteht sie nur aus zwei hübschen Augen und einer Nase. Merken Sie sich das!"

Er bog Tillings Unterarm mit einem Jiu-Jitsu-Griff leicht nach hinten.

Der Parkwächter taumelte zurück, und es machte ihm große Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Er war ein langsam denkender Mann, den unmöglich zwei Gemütsbewegungen zu gleicher Zeit beherrschen konnten. Deshalb zeigte er sich in diesem Augenblick nur erstaunt.

"Sie kennen Ihre Frau besser als ich", erklärte Gilder, während er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. "Vielleicht beurteilen Sie ihren Charakter richtig, aber wenn Sie Verdacht auf mich haben, dann täuschen Sie sich gewaltig."

Als er nach einer Besorgung beim Apotheker vom Dorf zurückkam, fand er Tilling beinahe an derselben Stelle, an der er ihn vorher verlassen hatte.

Der Parkwächter war nicht mehr aufsässig und machte Gilder keine weiteren Vorwürfe, in gewisser Weise versuchte er sogar, sich bei dem Amerikaner zu entschuldigen. Man sagte Gilder nach, dass er Einfluß auf die Schloßherrin hätte.

"Es wäre mir lieb, Mr. Gilder, wenn Sie die Geschichte vergessen wollten. Ich habe eine kleine Auseinandersetzung mit meiner Frau gehabt und bin sehr aufgeregt. Es kommen so viele Leute in mein Haus, aber ich glaube, dass Sie als verheirateter Mann ..."

"Das stimmt schon wieder nicht. Ich bin nicht verheiratet, aber ich bin häuslich veranlagt. Und jetzt wollen wir nicht mehr über die Sache reden."

Später erzählte er Brooks den Vorfall, und der korpulente Mann hörte ruhig zu, während er seinen Kaugummi bearbeitete.

"Haben Sie schon einmal von Messalina gehört, Gilder?" fragte er dann. "Sie war eine Italienerin, die Frau von Julius Cäsar oder so einem ähnlichen Kerl."

Brooks las viel, und er hatte auch ein Gedächtnis für Namen.

Kapitel 2



Der Herrensitz Marks Priory war schon zur Zeit der Sachsen gegründet worden, und der Westturm hatte ein hohes Alter. Die anderen Teile des Gebäudes stammten aus den verschiedensten Zeiten. Lord Willie Lebanon, der Herr von Marks Priory, ärgerte sich über das Haus, obwohl ihn der Aufenthalt hier in gewisser Weise beruhigte. Dr. Amersham hielt es für ein Gefängnis, in dem er eine unangenehme Pflicht zu erfüllen hatte, und nur Lady Lebanon sah darin den Stammsitz ihres uralten Geschlechts.

Lady Lebanon war schlank und nicht allzu groß, aber ihre tadellose Figur wirkte weder klein noch unbedeutend. Das reiche, schwarze Haar, das dem feingeschnittenen Gesicht einen reizvollen Rahmen gab, trug sie in der Mitte gescheitelt. Von Zeit zu Zeit leuchteten ihre dunklen Augen auf und verrieten einen fanatischen Charakter, obwohl sie sonst in ihrem Wesen fest, kühl und klar war. Immer schien sie sich bewußt zu sein, dass sie als Aristokratin die Pflicht hatte, zu repräsentieren; der Geist der neuen Zeit hatte sie nicht berührt. Sie hatte einen Vetter geheiratet und war erfüllt von der Bedeutung des alten Geschlechts der Lebanon.

Ihr Sohn Willie fand wenig Freude an dem Leben, das er auf Marks Priory führen mußte, und langweilte sich. Obwohl er verhältnismäßig schwächlich war, hatte er mit Erfolg die Militärakademie in Sandhurst besucht. Darauf tat er als Leutnant zwei Jahre Dienst in Indien, was einen sehr guten Einfluß auf seinen Gesundheitszustand hatte. Schließlich bekam er jedoch einen schweren Fieberanfall und wurde dadurch etwas nervös und unruhig. Lady Lebanon erzählte das ihren Gästen, wenn sie sich überhaupt zu einer Erklärung herbeiließ. Unvoreingenommene Beobachter hätten vielleicht einen anderen Grund für die Nervosität des Lords finden können.

Langsam stieg er eben die große Wendeltreppe in dem runden Turm von Marks Priory hinunter, die in die große Halle führte. Er war fest entschlossen, endlich mit seiner Mutter ins reine zu kommen. Schon oft hatte er diesen Entschluß gefaßt, aber bisher niemals den Mut und die Energie aufgebracht, seine Absicht tatsächlich auszuführen.

Sie saß gerade an ihrem Schreibtisch und las ihre Briefe. Als er in die Halle trat, sah sie ihn lange und durchdringend an und brachte ihn allein dadurch schon in Verlegenheit.

"Guten Morgen, Willie."

Ihre Stimme klang angenehm, aber es lag eine gewisse Härte darin, die auf den jungen Lord einen unangenehmen Eindruck machte.

"Kann ich einmal mit dir sprechen?" fragte er schließlich.

Er versuchte, sich zu vergegenwärtigen, was er ihr sagen wollte. Er war das Haupt der Familie... er war der Herr von Marks Priory in der Grafschaft Sussex... er hatte zu befehlen und anzuordnen!

"Ja, was wünschst du, Willie?"

Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück und faltete die schön geformten Hände.

"Ich habe Gilder entlassen", erwiderte er unsicher. "Er benimmt sich geradezu unverschämt... es ist überhaupt lächerlich, dass man Amerikaner im Schloß duldet, die nicht wissen, wie sie sich zu betragen haben. Es gibt doch genug englische Dienstboten, die du engagieren könntest. Brooks ist mindestens ebenso schlimm..."

Hier ging ihm der Atem aus, aber sie wartete geduldig. Wenn sie doch nur etwas gesagt hätte oder ärgerlich geworden wäre! Er war doch tatsächlich Herr im Hause! Unglaublich, dass er nicht einmal einen Dienstboten entlassen konnte, wenn er wollte. Er hatte doch eine ganze Schwadron kommandiert, allerdings nur in Vertretung des Rittmeisters, der auf Urlaub war. Aber der Regimentskommandeur hatte lobend anerkannt, dass Willie trotz seiner Jugend seine Aufgabe ausgezeichnet durchgeführt hatte und mit den Leuten fertig geworden war.

Der junge Lord räusperte sich.

"Es macht mich doch vor den Leuten lächerlich", fuhr er fort. "Ich meine, die Lage, in der ich mich hier befinde. Im Wirtshaus reden die Bauern darüber, und man hat mir gesagt, dass im Dorf alle darüber sprechen."

"Wer hat dir das gesagt?"

Seine Mutter sprach sehr energisch, und bei dem metallischen Klang ihrer Stimme fuhr er erschrocken zusammen.

"Nun, die Leute erzählen, dass ich mich wie ein kleiner Junge benehme, der immer an der Schürze seiner Mutter hängt, und so weiter."

"Wer hat das gesagt?" fragte sie wieder. "Etwa Studd?"

Er wurde rot, denn sie hatte das Richtige getroffen. Aber er mußte dem Chauffeur gegenüber sein Wort halten und durfte ihn nicht verraten.

"Studd? Um Himmels willen, nein! Ich würde doch dergleichen nicht mit einem Angestellten besprechen. Nein, ich habe es hintenherum gehört, und auf jeden Fall habe ich Gilder entlassen."

"Es tut mir leid, dass ich ohne Gilder nicht auskommen kann. Außerdem ist es nicht angebracht, dass du einen Dienstboten entläßt, ohne dich vorher mit mir in Verbindung zu setzen."

Er zog einen Sessel an die andere Seite des Schreibtisches und ließ sich ihr gegenüber nieder. Dann machte er einen energischen Versuch, ihr in die Augen zu schauen, aber er starrte doch nur den silbernen Leuchter an, der etwas seitwärts in gleicher Höhe mit ihrem Kopf stand.

"Allen Leuten ist es aufgefallen, wie sich diese beiden benehmen", sagte er hartnäckig. "Sie denken gar nicht daran, mich mit Mylord anzureden. Daran liegt mir allerdings auch nicht viel, denn wir leben in einer demokratischen Zeit. Aber sie tun nichts im Hause, sie sind vollkommen unnütz und stehen nur herum. Ich habe doch recht, Mutter!"

Sie lehnte sich etwas vor.

"Du hast unrecht, Willie. Ich brauche die beiden hier, und du hast keine Ursache, voreingenommen gegen sie zu sein, nur weil sie Amerikaner sind."

"Ich habe keine Vorurteile gegen sie ..."

"Bitte, unterbrich mich nicht, wenn ich spreche, mein lieber Junge. Du mußt nicht auf die Geschichten hören, die Studd dir erzählt. Er ist ein netter, umgänglicher Mensch, aber ich weiß nicht, ob er der richtige Chauffeur für Marks Priory ist."

"Du willst ihn doch nicht etwa entlassen?" protestierte er. "Verdammt noch mal, ich habe drei gute Kammerdiener gehabt, und jedes mal sagtest du, sie wären nicht die richtigen Leute für mich, obwohl ich sehr gut mit ihnen auskam!" Er nahm allen Mut zusammen. "Ich glaube, dass sie nur Amersham nicht paßten!"

Sie warf den Kopf leicht zurück.

"Ich richte mich nie nach Dr. Amershams Ansicht, ich frage ihn nicht um Rat und lasse mich auch nicht durch ihn leiten", erwiderte sie scharf.

Er gab sich die größte Mühe, ihren Blick auszuhalten.

"Was macht der Doktor überhaupt im Schloß?" fragte er. "Er lebt hier in Marks Priory, obwohl er mir unausstehlich ist. Wenn ich dir erzählte, was ich alles von ihm gehört habe ..."

Er brach plötzlich ab, denn die beiden abgezirkelten, roten Flecke auf ihren Wangen waren ein Sturmsignal, das er nur zu gut kannte.

Zu seiner größten Erleichterung kam Isla Crane in die Halle. Sie hielt einige Briefe in der Hand, als sie aber Mutter und Sohn im Gespräch sah, zögerte sie. Dann wollte sie sich schnell zurückziehen, aber Lady Lebanon rief sie herbei.

Isla war vierundzwanzig Jahre alt. Sie hatte dunkle Haare, dunkle Augen und eine schlanke, anmutige Gestalt.

Willie Lebanon grüßte sie mit einem Lächeln, denn Isla gefiel ihm. Einmal hatte er über sie mit seiner Mutter gesprochen, und zu seinem größten Erstaunen hatte sie ihm keine Vorhaltungen gemacht. Isla war eine entfernte Kusine von ihm und arbeitete als Sekretärin bei Lady Lebanon. Auch auf Dr. Amersham machte sie tiefen Eindruck. Aber davon wußte Lady Lebanon nichts.

Isla legte die Briefe auf den Tisch und war zufrieden, als Mylady sie nicht zurückhielt.

"Findest du nicht, dass sie sehr schön ist?" fragte Lady Lebanon, als die Sekretärin gegangen war.

Eine sonderbare Frage, denn seine Mutter lobte nur selten andere Menschen. Er glaubte daher, dass sie der Unterhaltung eine andere Wendung geben wollte, und das war ihm nur recht, da sein Mut und seine Energie erschöpft waren.

"Ja, sie ist fabelhaft", entgegnete er nicht sehr begeistert, war aber gespannt, was sie nun sagen würde.

"Es ist mein Wunsch, dass du sie heiratest", erklärte sie ganz ruhig.

Er starrte sie an.

"Warum soll ich denn Isla heiraten?" fragte er bestürzt.

"Sie ist doch ein Mitglied unserer Familie. Ihr Urgroßvater war der jüngere Bruder deines Urgroßvaters."

"Aber ich will doch gar nicht heiraten ..."

"Rede nicht so albern, Willie. Du mußt heiraten, und Isla ist in jeder Beziehung eine gute Partie. Geld hat sie zwar nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Sie ist aus guter Familie, das ist die Hauptsache."

Er sah sie immer noch entsetzt an.

"Heiraten? Ich habe doch nie daran gedacht. Nein, der Gedanke ist mir schrecklich. Sie ist zwar sehr nett, aber ..."

"Ich wünsche, dass du deinen eigenen Haushalt führst."

Er dachte bei sich, dass er das schon längst tun würde, wenn sie ihn nur schalten und walten ließe.

"Wenn die Leute darüber reden, dass du dich an die Schürze deiner Mutter hängst, muß dir dieser Vorschlag doch willkommen sein. Ich möchte nicht deinetwegen mein ganzes Leben hier in Marks Priory verbringen."

Das war allerdings eine verlockende Aussicht. Willie Lebanon atmete tief auf, dann erhob er sich.

"Natürlich muß ich einmal heiraten, aber es ist furchtbar schwer..." Er zögerte, bevor er weitersprach. Wie würde sie sein Geständnis aufnehmen? "Ich habe versucht, mich ein wenig mit ihr anzufreunden, ja, ich habe sie vor etwa vier Wochen sogar einmal geküßt, aber sie war entsetzlich widerspenstig!"

"Das war auch nicht recht von dir, sie einfach zu küssen!"

Gilder kam in Sicht, und Willie war froh, dass die Unterhaltung unterbrochen wurde.

Gilders Livree war von einem guten Londoner Schneider angefertigt worden, aber der Amerikaner hatte eine unglückliche Figur.

Lord Lebanon wartete auf die Vorwürfe seiner Mutter, die seiner Erfahrung nach nicht ausbleiben konnten, aber sie sagte nichts über das vernachlässigte Aussehen des Dieners, sie fragte nicht einmal, wie er dazu käme, sie ohne weiteres zu stören.

"Wünschen Sie etwas, Mylady?" erkundigte sich Gilder.

Als sie den Kopf schüttelte, verließ er langsam die Halle.

"Wenn du ihn nur gefragt hättest, was, zum Teufel, er eigentlich wollte ..."

"Denke an das, was ich dir über Isla gesagt habe", unterbrach sie ihn, ohne sich um seinen Protest zu kümmern. "Sie ist entzückend und sie stammt aus unserer Familie. Ich werde ihr mitteilen, dass ich eine Heirat zwischen euch beiden wünsche!"

Er schaute sie verblüfft an.

"Weiß sie denn noch nichts davon?"

"Und was nun Studd angeht", sie runzelte die Stirn.

"Du wirst ihn doch nicht entlassen? Er ist wirklich ein sehr guter Kerl, und er hat mir auch gar nichts erzählt."

Später traf Lord Lebanon den Chauffeur in der Garage.

"Ich fürchte, dass ich Ihnen keinen guten Dienst erwiesen habe", erklärte er schuldbewußt. "Ich sagte heute zu meiner Mutter, dass die Leute über mich klatschen..."

Studd richtete sich grinsend auf.

"Ach, darauf kommt es mir nicht an, Mylord."

Der etwa fünfunddreißigjährige Mann hatte ein frisches, gesundes Aussehen. Früher war er Soldat gewesen und hatte in Indien gedient.

"Ich gebe die Stellung hier nicht gern auf, aber ich glaube nicht, dass ich noch lange bleiben kann. Gegen Mylady habe ich nichts, sie ist immer sehr höflich und wohlwollend zu mir. Dagegen werden Sie wie ein Sklave von ihr behandelt. Ich gehe nur wegen dieses gemeinen Kerls."

Lord Lebanon seufzte. Er brauchte nicht erst zu fragen, wer dieser gemeine Kerl wäre.

"Wenn Mylady ebenso viel von ihm wüßte wie ich", sagte Studd geheimnisvoll, "dann würde sie ihm das Haus verbieten!"

"Was wissen Sie denn?" erwiderte Lebanon neugierig.

Er hatte diese Frage schon früher gestellt, aber nie eine genaue Antwort darauf erhalten.

"Wenn die Zeit kommt, werde ich auch ein paar Worte zu reden haben. Er war doch in Indien?"

"Selbstverständlich. Er fuhr hin, um mich nach Hause zu bringen, und in früheren Jahren war er drüben Regierungsarzt. Wissen Sie etwas über ihn, ich meine über seine Affären in Indien?"

"Im rechten Augenblick melde ich mich schon und sage, was ich über ihn denke", erwiderte Studd düster.

Er zeigte auf einen Anbau an der Garage. Dort stand ein neuer Wagen, den Willie noch nie gesehen hatte.

"Die Karre gehört ihm. Wo kriegt er nur das Geld her, dass er sich so einen Wagen anschaffen kann? Der kostet doch ein paar tausend Pfund. Und als ich den Mann damals kannte, war er pleite. Ich möchte nur wissen, woher er das Geld nimmt."

Willie Lebanon hatte seiner Mutter schon oft dieselbe Frage vorgelegt, ohne eine Antwort darauf zu erhalten.

Der junge Lord haßte Dr. Amersham; alle Leute mit Ausnahme seiner Mutter und der beiden amerikanischen Diener haßten den kleinen, energischen Herrn, der sich etwas zu auffällig kleidete und zu viel Parfüm gebrauchte. Überall versuchte Dr. Amersham sich Geltung zu verschaffen, und wenn man dem Dorfklatsch trauen konnte, war er auch ein Schürzenjäger. Aus unbekannten Gründen flossen ihm plötzlich reichliche Mittel zu; er besaß eine schöne Wohnung in der Devonshire Street in London, hatte drei Rennpferde und lebte auch sonst auf großem Fuß. Häufig war er in Marks Priory; er kam zu jeder Tageszeit mit seinem Auto von London und brachte dann ein bis zwei Stunden im Herrenhause zu. Und sobald er erschien, war es, als ob er nur zu befehlen hätte.


* * *


Der Arzt stieg die Treppe herunter, auf der er schon einige Zeit gestanden und gelauscht hatte. Eine Sekunde, nachdem Willie gegangen war, kam er näher und zog einen Stuhl an den Schreibtisch, an dem Lady Lebanon saß. Er nahm eine Zigarette aus seinem goldenen Etui und steckte sie an, ohne um Erlaubnis zu fragen.

Dr. Amersham blies einen Rauchring in die Luft und sah Lady Lebanon an.

"Was ist das für eine neue Idee, dass Willie Isla heiraten soll?"

"Sie haben wohl auf der Treppe gelauscht?"

"Ja. Da ich nichts erfahre, muß ich alles selbst herausfinden. Isla soll also den Jungen heiraten?"

"Warum nicht?" fragte sie scharf.

Seine Augen waren rot und entzündet, und seine Hand zitterte, als er die Zigarette aus dem Mund nahm. Er hatte eine Gesellschaft in seiner Wohnung gegeben und nur wenig geschlafen.

"Haben Sie mich deshalb gerufen? Beinahe wäre ich überhaupt nicht gekommen. Ich hatte eine schlaflose Nacht, ein Patient ..."

"Sie haben keinen Patienten gehabt", erklärte sie ruhig. "Ich bezweifle, dass jemand in London so unvernünftig ist, Sie als Arzt zu nehmen!"

Er lächelte.

"Sie selbst haben mich doch engagiert, das genügt vollkommen. Einen so guten Patienten findet man so bald nicht wieder."

Er lachte über diesen Scherz, aber Lady Lebanons Gesichtsausdruck blieb starr.

"Ihr Chauffeur ist wirklich nicht viel wert. Der Kerl ist ziemlich unverschämt; er hatte doch die Frechheit, mich zu fragen, warum ich mir nicht meinen eigenen Chauffeur mitbringe! Außerdem steht er auch auf etwas zu vertrautem Fuß mit Willie!"

"Wer hat Ihnen das gesagt?" fragte sie schnell.

"Das habe ich gehört. Es gibt genug Leute in der Nähe, die mir mitteilen, was hier passiert." Er lächelte befriedigt, denn er hatte wirklich zwei sehr gute Freunde in Marks Priory; außerdem war da die hübsche Mrs. Tilling. Andererseits verehrte die Frau des Parkwächters auch den Chauffeur Studd, was Dr. Amersham zu seinem größten Mißvergnügen entdeckt hatte.

"Und was sagt Isla zu der Heirat?"

"Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen."

"Keine schlechte Idee. Merkwürdigerweise ist mir der Gedanke noch nie gekommen. Isla... ja, eine außerordentlich gute Idee."

Wenn sie über seine Worte erstaunt war, so zeigte sie es jedenfalls nicht.

"Außerdem ist sie eine Blutsverwandte der Lebanons. Ist es nicht schon einmal in der Geschichte der Familie vorgekommen, dass Vetter und Kusine einander unter ähnlichen Umständen geheiratet haben?" Er sah zu den dunklen Bildern auf, die an den hohen Wänden hingen. "Ich habe ein gutes Gedächtnis und kenne die Geschichte der Lebanons fast ebenso gut wie Sie." Umständlich zog er seine Uhr heraus. "Ich wollte bald wieder zurückfahren nach London ..."

"Ich möchte aber, dass Sie bleiben", erklärte sie kurz.

"Ich habe eine Konferenz heute Nachmittag ..."

"Trotzdem bleiben Sie. Ich habe ein Zimmer für Sie richten lassen. Studd muß natürlich entlassen werden; er hat Willie von dem Dorfklatsch erzählt."

Er richtete sich plötzlich auf. Hatte am Ende Mrs. Tilling etwas gesagt?

"War es etwas über mich?" fragte er schnell.

"Was sollten die Leute im Dorf denn über Sie reden?"

Er lachte ein wenig verwirrt.

Sie wußte, dass seine Heiterkeit nur vorgetäuscht war, aber sie machte keine Bemerkung darüber.

Dr. Amersham fügte sich. Er murrte zwar noch etwas, fand aber keine weitere Ausrede.

Er hatte auch gar nicht die Absicht, zur Stadt zurückzukehren; er wollte die Nacht in einem kleinen Haus in der Nähe verbringen, das er sich von einem jungen Londoner Innenarchitekten hatte ausstatten lassen. Dort hatte er eine Verabredung. Aber von alledem ahnte Lady Lebanon natürlich nichts.

"Haben Sie übrigens Studd einmal in Indien getroffen?" fragte sie unvermittelt, als er sich zum Gehen wandte. "Er hat in Puna gedient."

Er drehte sich rasch um; sein Gesichtsausdruck hatte sich vollständig verändert.

"In Puna?" fragte er scharf. "Wann war das?"

"Das weiß ich nicht. Aber er hat anderen Leuten erzählt, dass er Sie dort kannte. Das wäre eine weitere Veranlassung, ihm zu kündigen."

Dr. Amersham wollte Studd noch aus einem anderen Grund von Marks Priory entfernen, aber darüber schwieg er selbstverständlich.

Kapitel 3



Mr. Kelver, der Butler von Marks Priory, verbrachte abends gern eine Stunde vor dem Nebeneingang und betrachtete von dort aus die Gegend. Wie schon oft überlegte er gerade wieder, ob es mit seiner Würde vereinbar wäre, jeden Abend schon um neun Uhr von seiner Herrschaft getrennt zu werden. Genau um diese Stunde schloß Lady nebenan nämlich die große Eichentür zu, die den Nordostflügel des Herrenhauses von den anderen Räumen abgrenzte.

Die Quartiere der Dienerschaft waren sehr geräumig und behaglich eingerichtet, und mit Erlaubnis Mr. Kelvers konnten die Angestellten ein- und ausgehen, wann und wie sie wollten. Sie benutzten dann den Fußweg, der am Wald entlang zum Dorf hinunterführte. Aber er empfand es doch als starke Zurücksetzung, fast als Beleidigung, dass er selbst, der in hochadligen Häusern gedient hatte, auch mit den anderen Dienstboten vom Herrenhaus ausgeschlossen wurde.

Die Tür, vor der er stand, lag im Nordostflügel und war in gewisser Weise ein Privateingang für ihn selbst. Die anderen Angestellten gingen wie die Kaufleute und Lieferanten durch die kleine Eingangshalle.

Studd gegenüber sprach er sich manchmal aus, wenn er auch diesem höflichen und erfahrenen Mann niemals sein volles Vertrauen schenkte.

Der Chauffeur war gerade auf dem Weg zur Garage, bog um einen der beiden großen Ecktürme des Schlosses und blieb bei Kelver stehen. Da er etwas erhitzt aussah, dachte Kelver zuerst, Studd hätte zu viel getrunken.

"Ich habe diesem Dr. Amersham endlich einmal die Meinung gesagt", begann Studd und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. "Das will nun ein großer Herr und ein Doktor sein! Wenn Mylady wüßte, was ich weiß, bliebe der Kerl keine fünf Minuten länger im Haus! Der war bei der indischen Armee! Na, ich könnte etwas erzählen, wenn man mich fragte!"

"Um was handelt es sich denn?" erkundigte sich Mr. Kelver höflich. Er tat immer so, als ob er Klatsch nicht hören wollte, obwohl er sehr begierig darauf war, das Neueste zu erfahren.

"Es ist merkwürdig. Ich habe im Dorf einen komischen Mann getroffen, der mir erzählte, dass er früher in Indien gewesen wäre. Darauf lud ich ihn zu einem Glas Bier ins Wirtshaus ein. Bei der Unterhaltung habe ich nicht viel gesagt, sondern nur zugehört, aber es ist ganz klar, dass er tatsächlich dort war."

Kelver hob den ergrauten Kopf und sah den kleinen Chauffeur von oben herab an.

"Hat Dr. Amersham sich über etwas beklagt?" fragte er.

Studd wurde dadurch wieder an seinen Ärger erinnert.

"Es ist etwas an seiner Karre passiert, und ich sollte die Sache in fünf Minuten reparieren. Dazu braucht man aber mindestens zwei Tage. Er meint, er hätte hier alles zu sagen, aber wir wissen doch genau, dass er nicht der Herr im Schloß ist. Was meinen Sie?"

Der Butler lachte geheimnisvoll.

"Es gibt allerhand Leute auf der Welt", entgegnete er.