Die Autorin
Eika Bernauer, geboren 1971 in München, studierte Sozial- und Kulturanthropologie und Tibetologie in Wien und Göttingen. Sie arbeitet als Journalistin und Ghostwriter.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 Eika Bernauer
Illustration und Satz: Kurt Bernauer
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN : 978-3-7386-9735-3
INHALT
Das tibetische Gesar-Epos gehört zu den großen Epen der Weltliteratur. Es steht in einer Reihe mit Erzählungen wie den Nibelungen, dem Gilgamesch-Epos, der Ilias, der Odyssee, des Mahabharata und der Artussage. Im Gegensatz zu diesen ist das tibetische Nationalepos in Europa jedoch kaum bekannt.
In Tibet wird man schwerlich einen Menschen finden, der nicht – zumindest in groben Zügen – von den Heldentaten König Gesars zu berichten wüsste. Und auch in den angrenzenden Ländern wird das Epos gerne und oft erzählt: in der Mongolei, in Ladakh und Sikkim (Indien), in Pakistan, Nepal, Bhutan, China und sogar in Sibirien. Bei uns hingegen beschränkt sich das Wissen über König Gesar fast ausschließlich auf einen kleinen Kreis akademischer Spezialisten, die die Originaltexte und die mit unzähligen Anmerkungen versehenen Übersetzungen lesen können und wollen. Die vorliegende Nacherzählung ermöglicht nun einem größeren Leserkreis, diese fantastische, teils witzige, teils nachdenkliche, immer aber spannende Geschichte mit den oft verblüffenden Wendungen kennenzulernen.
Nun darf man sich das Gesar-Epos aber nicht als ein einmal aufgeschriebenes und damit abgeschlossenes Werk vorstellen; vielmehr handelt es sich um eine offene Komposition aus Episoden, die jeder, der sie erzählt, variieren kann. Barden tun dies in mündlicher Form seit über tausend Jahren, Autoren in schriftlicher Form seit etwa fünfhundert Jahren. Sie alle haben sich zwar stets an eine grobe chronologische Reihenfolge der Ereignisse gehalten, alles andere aber ist immer wieder verändert worden, von Details bis hin zu wesentlichen Aspekten der Geschichte. So sind im Lauf der Jahrhunderte zahlreiche Varianten entstanden, die die jeweiligen zeitlichen und örtlichen Hintergründe widerspiegeln, aber auch die persönlichen Kenntnisse und Vorlieben des Barden oder Autors.
Die vorliegende Nacherzählung basiert auf schriftlichen Versionen aus Osttibet, aus der Gegend um den heiligen Berg Amnje Matschen, wo das Epos entstanden ist. Und um auch in zeitlicher Hinsicht dem Ursprung möglichst nahe zu kommen, habe ich überwiegend Material verwendet, das die Handlung in vorbuddhistischer Zeit spielen lässt, vor dem Hintergrund der alten Volksreligion Tibets. Die wichtigste Quelle war dabei eine Übersetzung von Matthias Hermanns, die unter dem Titel „Das National-Epos der Tibeter: gLing König Gesar“ im Jahr 1965 erschienen ist. Wo die von Hermanns übersetzten Manuskripte lückenhaft waren, vor allem gegen Ende des Ling-Hor-Krieges, habe ich auf Alexandra David-Néels „The Superhuman Life of Gesar of Ling“ von 1934 zurückgegriffen. Und zusätzlich sind eine Reihe von Erkenntnissen aus der modernen Tibet-Forschung in die Geschichte eingeflossen.
Um eine flüssige Leseweise zu ermöglichen, habe ich den sehr blumigen tibetischen Stil etwas abgeschwächt und auf die zahlreichen Wiederholungen ganzer Episoden verzichtet, den Text somit gestrafft und in europäischem Tempo erzählt. Bei den tibetischen Namen habe ich auf eine wissenschaftlich-korrekte Umschrift verzichtet und sie statt dessen so geschrieben, dass sie den Konventionen der deutschen Sprache entsprechen. Ebenso habe ich, wo nötig, kurze Erklärungen zu den Figuren gegeben, jedoch auf längere Einschübe oder Fußnoten verzichtet. Denn Ziel dieses Buches ist es nicht, möglichst viel Fachwissen zu vermitteln, sondern vielmehr, die Heldentaten König Gesars unterhaltsam und allgemein verständlich darzubieten.
Das Königreich Ling war ein kleines Land im Osten Tibets, dort, wo der Fluss Ma, der auch der Gelbe Fluss genannt wird, den heiligen Berg Amnje Matschen in einer großen Schlinge umfließt. Ling war ein gutes Land, es war genau so, wie es in den Augen seiner Bewohner sein sollte: Weiß die Oberwelt, die schneebedeckten Bergspitzen, auf denen die Berggötter wohnten, vergöttlichte Ahnen der Menschen, deren Aufgabe es war, ihre Nachkommen zu beschützen. Rot die mittlere Welt, die Felsen, die sonnenbeschienenen Berghänge, die Ebenen und Täler mit ihren Äckern. Hier lebten die Menschen und Tiere, aber auch Dämonen und Geister. Blau die Unterwelt, die Flüsse und Seen, die Heimat der Wassergeister, die es in unermesslicher Zahl gab. Diese schlangenhaften Wesen hüteten die unterirdischen Schätze, Edelsteine aller Art, am liebsten aber Türkise. Von den Menschen erwarteten sie Ehrfurcht und Opfergaben und ahndeten Versäumnisse mit Krankheit oder Überschwemmung. Hoch über dieser dreistufig aufgebauten Welt erstreckte sich der ewige Himmel, die Wohnstätte der außerweltlichen Götter mit Tsangpa Karpo an der Spitze. Und irgendwo tief unten lag das Reich der Toten, das Schindsche regierte, der Herr des Todes.
Ling schien wahrlich ein vollkommenes Land zu sein, in dem alle Wesen ihrer Natur gemäß lebten, doch es schien nur so. Denn zu der Zeit, da die Geschichte beginnt, litten die Menschen in Ling, die Lingpa, große Not. Langsam, über Generationen, waren ihnen Feinde erwachsen, von denen sie nun aus allen fünf Himmelsrichtungen bedroht wurden: aus dem Norden, dem Osten, dem Süden, dem Westen und aus dem Zentrum.
Im Norden von Ling, im Land Jarkam, lebte das Volk der Dü. Die Dü waren dunkle Dämonen von schrecklichem Aussehen. Sie hüllten sich in schwarze Fellmäntel mit großen Kapuzen und trugen schwarze Stiefel. Das, was die Kapuzen von ihren Gesichtern frei ließen, waren böse funkelnde Augen, krumme Nasen und lange, spitze Zähne in verzerrten Mündern, aus denen zuweilen frisches Blut rann. Aus den Ärmeln der Mäntel ragten nicht Hände, sondern Klauen ähnlich denen von Geiern. Selten gingen die Dü zu Fuß, meist ritten sie auf dunkelbraunen Hirschen oder auf Rappen mit drei schwarzen und einer weißen Fessel. Aber es war nicht die Hässlichkeit, die die Dü für die Lingpa so gefährlich machte, sondern die Art ihrer Beute: Die Dü ernährten sich vornehmlich von Menschenfleisch. Und um sich ihren Opfern leichter nähern zu können, veränderten sie ihr Äußeres. So erschienen sie mal als eine Gruppe junger Frauen, mal als alte, müde Hirten, mal als Reisende auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht, und sie nahmen erst dann ihre wahre Gestalt wieder an, wenn es für eine Flucht der Opfer zu spät war. Immer wieder drangen sie so unversehens in Dörfer und Nomadenlager ein, fingen wahllos Männer, Frauen und Kinder mit ihren schwarzen Lassos, fraßen sie an Ort und Stelle auf oder betäubten sie mit schweren, hölzernen Keulen, um sie als Mundvorrat mit nach Hause zu nehmen. Doch auch Yaks, Pferde, Ziegen, Schafe und Hunde verschmähten sie nicht, und was sie an Schmuck, Stoffen, Töpfen, Sätteln, Messern und anderen Dingen des täglichen Gebrauchs fanden, verschleppten sie ebenfalls nach Jarkam. Derart bedrohlich also war der Norden.
Im Osten von Ling lag das Großreich Hor, das von einem äußerst kriegerischen Volk, den Horpa, bewohnt wurde. Nun unterhielten die Königsfamilien von Hor und Ling zwar seit langem Heiratsbeziehungen miteinander, doch wurden bei weitem nicht in jeder Generation Prinzessinnen ausgetauscht, und wenn es geschah, dann handelte es sich nicht unbedingt um hochrangige Mitglieder der Familien. In Ling gab man sich also diesbezüglich keiner Illusion hin: Die Bande zwischen den beiden Ländern waren in der Tat schwach und zerbrechlich. Zweimal schon war es zu ernsten Auseinandersetzungen gekommen, die nur mit großem diplomatischen Geschick und hohen Tributzahlungen seitens der Lingpa beigelegt werden konnten. Ling aber musste einen Krieg unbedingt verhindern, denn Hor verfügte über ein großes Heer mit besonders wilden Anführer, die in Ling aus gutem Grund „die Schlächter“ genannt wurden. Sollte eines Tages ein Hor-König dieses Heer geschlossen gegen Ling führen, stünde es schlecht um das kleine Königreich.
Und auch die Länder Dschang im Süden und Mön im Westen von Ling, obwohl deutlich kleiner als Hor, waren zu einer schlummernden Gefahr geworden. Zwischen den Grenzbewohnern der drei Länder gab es häufig Streit um den Zugang zu Weiden und Wasser. Wie leicht konnten da die Könige von Dschang und Mön auf den Gedanken kommen, die Probleme ein für alle Mal militärisch zu lösen. Zwar war Ling beiden Ländern, was die Größe der Heere betraf, durchaus ebenbürtig, jedoch hatten sowohl Dschang als auch Mön einen entscheidenden Vorteil: In diesen Ländern herrschten starke Könige ohne Widersacher in den eigenen Reihen. In Ling aber gab es Zwietracht und Missgunst, zwei innere Feinde, die die oft schwachen Ling-Könige nicht auszurotten vermochten.
So befand sich Ling in einem Zustand ständiger Bedrohung, die Gefahren der Zerstörung und des Zerfalls lauerten überall. Und über viele Generationen hinweg gab es keinen Menschen, der fähig gewesen wäre, das Volk aus dieser Not zu befreien.
Dann aber geschah es, dass sich das schreckliche Schicksal Lings, das schon besiegelt schien, doch noch wendete. Es begann zu jener Zeit, als König Dschagpön Drälgän über die sechs Klane herrschte, die die Gesellschaft von Ling bildeten: die vier alten Klane Bumpa, Dänma, Gja, und Dru, die ihre Abstammung bis zu einem gemeinsamen Ahn zurückverfolgen konnten, und die zwei anderen Klane, Tarong und Kjalo, deren Wohngebiete im Laufe der Zeit von Ling erobert und in das Stammland eingegliedert worden waren. Der Klan Bumpa hatte seit alters her das Recht, den König zu stellen, denn er führte sich auf den ältesten der vier Söhne des gemeinsamen Urahns zurück.
Dschagpön Drälgän aus dem Klan Bumpa war ein kluger und gütiger Herrscher, der seinen Untertanen nur zu gerne ein Leben in Glück und Frieden ermöglicht hätte, und so tat er seit seiner Thronbesteigung alles, was in seiner Macht stand, um die Gefahren abzuwehren. Tag und Nacht grübelte er, befragte seine Minister, opferte den Göttern des Himmels und den Göttern der Berge. Aber all das nützte nichts. Und als er spürte, dass seine Lebenszeit zu Ende ging, musste er sich eingestehen, dass auch er, ebenso wie seine Vorgänger, nicht der König war, der dem Land hatte helfen können. Ling brauchte einen neuen König, einen, der die Kraft hatte, die inneren und äußeren Feinde niederzuringen, damit dauerhaft Einigkeit und Frieden herrschten. Woher aber sollte dieser Retter kommen? Unter Dschagpön Drälgäns Söhnen gab es keinen von diesem Format, ebenso wenig unter den Söhnen seiner Brüder. Und selbst wenn man – ein unerhörter, aus der Verzweiflung geborener Gedanke – den Thron von Ling einem der anderen Klane übergäbe, so würde das nichts an der leidvollen Lage ändern, denn auch die Fürsten von Dänma, Gja, Dru, Tarong und Kjalo und ihre Kinder besaßen nicht die nötigen Fähigkeiten. So wurde der König immer hoffnungsloser.
Eines Nachts aber, als der alte Dschagpön Drälgän wieder einmal über seinen bitteren Gedanken eingeschlafen war, erschien ihm plötzlich eine herrliche Gestalt: Eine Göttin, funkelnd wie weißer Kristall im Licht der aufgehenden Sonne, ritt auf einem blauen Maultier auf ihn zu. Große Türkise, Goldplättchen und bunte Blumen zierten ihr langes, weißes Haar. In der rechten Hand hielt sie ein glitzerndes Juwel, während sie in der linken einen silbernen Spiegel trug und einen Bogen, an den bunte Seidenbänder geknüpft waren. Dschagpön Drälgän, der die Überlieferungen seines Volkes gut kannte, wusste, wer sie war: Ane Gungmän, eine Urahnin der Lingpa, eine Göttin voll Güte und Weisheit, Schwester des höchsten Himmelsgottes Tsangpa Karpo und Gemahlin des höchsten Berggottes Amnje Matschen.
Stolz, aber freundlich, blickte die Göttin den alten König an und sprach: „Ehrwürdiger Dschagpön Drälgän, es gibt etwas, das du gegen das Leid deines Volkes tun kannst. Reise in den Himmel hinauf und wende dich an Tsangpa Karpo! Er und seine Gemahlin Bumkjong Gjälmo haben drei Söhne. Berichte dem großen Gott von der Not, die in Ling herrscht und bitte ihn, einen seiner Söhne zur Rettung der Lingpa auf die Erde zu schicken! Er wird dich erhören, und Ling wird erlöst werden.“
Überglücklich, dass er endlich wusste, was zu tun war, machte sich der greise König auf den Weg. Er ging zu Fuß und er ging allein. Als menschlicher Bittsteller konnte er sich nicht anmaßen, hoch zu Ross und von einer großen Dienerschaft begleitet vor den Göttern zu erscheinen, so wie er auf Erden zu reisen pflegte.
Er erreichte das Schloss, in dem Tsangpa Karpo residierte, und stand eine Weile staunend davor, denn noch nie hatte er etwas Vergleichbares gesehen: Das himmlische Gebäude, in seinem Grundriss vollkommen quadratisch, war nicht aus Stein oder Holz errichtet, wie die Festungen auf der Erde, sondern aus Kristallen, Lapislazuli, Rubinen und Gold. Juwelen bildeten das Dach, und auf seiner höchsten Spitze steckte ein Donnerkeil, das Zeichen der ewigen Wahrheit.
Dschagpön Drälgän betrat den Palast durch das riesige Osttor, das sich ihm wie von selbst öffnete. Innen fand er die Wände über und über mit himmlischen Edelsteinen geschmückt. Andächtig ging er auf die Mitte des Palastes zu, von der ein silbrig glänzendes Licht ausging, und als er näher kam, erblickte er einen Berg, wie mit Schnee bedeckt, ähnlich den Gletscherbergen, die er von der Erde kannte. Dieser Berg im Zentrum des Palastes von Tsangpa Karpo sandte das silbrige Licht aus, das hier alle Räume durchflutete.
Dem alten König blieb jedoch nicht viel Zeit, diese himmlischen Herrlichkeiten näher zu betrachten, denn Tsangpa Karpo selbst kam nun auf ihn zugeschritten. Und auch er, der höchste aller Götter, der Herr des Himmels, strahlte ein überirdisch reines, weißes Licht aus, das zum Erstaunen Dschagpön Drälgäns nicht blendete. Ja der Gott schien regelrecht in dieses Licht gekleidet zu sein, denn Gewänder aus Stoff waren nicht zu sehen, und doch war der göttliche Körper verhüllt. Das schlohweiße, lange Haar trug er in einem Knoten auf dem Scheitel, zusammengehalten von einer großen, weißen Muschel. Und im Gesicht Tsangpa Karpos spiegelte sich unendliche Güte. Mit zwei Augen blickte er seinen Besucher freundlich an, während sein drittes, mitten auf der Stirn befindliches Auge wachsam auf die ganze Welt gerichtet war.
„Willkommen!“, sprach der Gott mit einer dunklen, kräftigen Stimme.
„Was führt dich zu mir, König von Ling?“
„Mein Land ist in großer Gefahr“, antwortete Dschagpön Drälgän, während er in eine tiefe Verbeugung sank. Und dann beschrieb er die schlimmen Zustände, die sein Volk schon so lange quälten. Er sprach von den Nachbarvölkern, die Ling bedrohten, von den Menschen fressenden Dü im Norden, den wilden Horpa im Osten, den streitbaren Mönpa und Dschangpa im Westen und Süden und er sprach von der Zwietracht im eigenen Volk. Schließlich bat er, wie die Göttin Ane Gungmän ihm geraten hatte, um Tsangpa Karpos Hilfe.
„Ohne einen Retter sind wir verloren“, sagte er. „Ich bitte dich, oh großer Himmelsgott, schicke uns einen deiner Söhne! Gib uns den mutigsten, den klügsten, den geschicktesten deiner drei Kinder, denn unsere Feinde sind zahlreich und stark!“
Tsangpa Karpo erkannte, dass sich die Lingpa tatsächlich aus eigener Kraft nicht mehr helfen konnten, und er versicherte dem greisen König, dass er seinen Wunsch erfüllen werde.
„Wenn die rechte Zeit gekommen ist“, sprach er, „wird in Ling ein Kind geboren werden, das eure Feinde besiegen kann, wie zahlreich und stark sie auch sein mögen.“
Mit dieser Botschaft kehrte Dschagpön Drälgän nach Ling zurück. Er verkündete allen, die ihm begegneten, die freudige Nachricht, doch nur wenige glaubten ihm. Und bald darauf starb Dschagpön Drälgän, aber er starb mit Frieden in seinem Herzen.
Im Himmel rief der gewaltige Gott Tsangpa Karpo seine Söhne Dönkar, Dönleg und Döndrub zu sich und sprach:
„Hört, meine Söhne, das Volk von Ling ist in großer Gefahr. Es gibt jetzt und in den kommenden Generationen keinen Lingpa, der die inneren und die äußeren Feinde besiegen kann. Die Aufgabe ist zu groß für einen Menschen. Darum muss einer von euch hinabsteigen, um die Sittenlosen zu unterwerfen und die Tugendhaften zu stützen. Ich will jedoch nicht befehlen, wer von euch gehen soll; es sei euer eigener Entschluss!“
Dönkar, Dönleg und Döndrub berieten sich lange, aber sie konnten zu keiner Einigung gelangen. Da schlug Döndrub, der Jüngste, vor, das Los entscheiden zu lassen, und seine Brüder stimmten zu. So befragten sie zunächst das Steinlos, danach das Würfellos und zuletzt das Pfeillos, und jedes Mal war es Döndrub, der Jüngste, der die höchste Punktezahl erreichte.
„Dreimal ist das Los auf mich gefallen“, sprach Döndrub. „So ist es also entschieden! Ich werde in die Welt der Menschen hinabsteigen und das Volk von Ling aus seiner Not befreien. Ich werde mir den Namen Gesar geben und mit der Hilfe der Götter, der Menschen und der Wassergeister alle leidenden Wesen unter meiner gütigen Herrschaft vereinen.“
Daraufhin begaben sich die drei Brüder zu ihren Eltern, um ihnen die Entscheidung mitzuteilen. Sie traten vor das göttliche Paar, das auf juwelengeschmückten Thronen saß, verneigten sich, und Döndrub verkündete seinen Entschluss. Tsangpa Karpo nickte zufrieden, aber seine Frau, die türkis leuchtende Göttin Bumkjong Gjälmo, bangte um ihren jüngsten Sohn.
„Lasst uns zunächst feststellen, was für ein Leben Döndrub in Ling erwartet“, sprach sie. „Ist es eines, in dem er auf Verbündete zählen kann, so mag er gehen. Ist es aber eines, in dem er allein steht gegen alle Feinde, dann will ich selbst seine Aufgabe übernehmen.“
Döndrub versprach, den Wunsch seiner Mutter zu erfüllen und zunächst die Lage in Ling zu erkunden. Er verwandelte sich in einen prächtigen Vogel mit einer Brust aus purem Gold, einem Schwanz aus Türkis, Flügeln aus weißen Muscheln, Klauen aus schwarzem Eisen und Augen aus buntem Achat. Dergestalt schwebte er auf die Erde hinab, fand Tibet und im Osten das kleine Königreich Ling.
Bald entdeckte er ein Zeltlager. Dorthin flog er und setzte sich auf das Zelt eines Mannes, den er mit seiner himmlischen Hellsichtigkeit als seinen zukünftigen Onkel erkannte.
Kaum hatte Döndrub sich niedergelassen, da trat der Mann auch schon aus seinem Zelt. Er bemerkte den eigenartigen Vogel und wurde zornig. Wild klatschte er in die Hände, stampfte mit den Füßen, rief und schimpfte, doch der Vogel ließ sich nicht verscheuchen. Da holte der Mann Pfeil und Bogen, legte auf Döndrub an und schoss. Gerade noch rechtzeitig flatterte der Vogel auf, sonst wäre er getroffen worden. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen brachte er sich in Sicherheit. Der Mann aber schüttelte wütend die Faust und schrie:
„Warte nur! Das nächste Mal erwische ich dich, du seltsamer Vogel!“
Und Döndrub ahnte, dass dieser Mann ihm tatsächlich noch so manche Schwierigkeit bereiten würde.
Das nächste Zelt, auf dem er landete, gehörte dem Bruder des boshaften Jägers, der einst, so wusste Döndrub, sein menschlicher Vater sein würde. Der Charakter dieses Mannes unterschied sich sehr von dem seines Bruders. Als er den Vogel erblickte, spürte er eine große Freude, die ihn die wahre Natur des Tieres erkennen ließ. Er rief seine Frau, zeigte ihr den Vogel und sagte:
„Sieh, Frau! Ein Vogel ist gekommen, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Aus Gold, Türkis, Muscheln, Eisen und Achat ist sein Körper. Ich hoffe, dass er einst als König zu uns kommen wird. Ihm könnte es gelingen, die Streitenden zu versöhnen und die Verfeindeten wieder zusammenzuführen, die Hochmütigen zu unterwerfen und die Schwachen zu stützen, ja, er könnte sogar über die gefährlichsten Gegner des Volkes von Ling siegen und Frieden schaffen. Ich bin ganz sicher, dass er als König nach Ling kommen wird!“
Nachdem Döndrub diese Worte gehört hatte, kehrte er zufrieden in den Himmel zurück. Dort trat er erneut vor seine Eltern und sprach:
„Ehrwürdige Eltern, es gibt Menschen in Ling, die ein reines Herz haben. Diese werden meine Verbündeten sein. Meinem Abstieg auf die Erde steht also nichts mehr im Weg. Ich bin bereit, die große Aufgabe zu übernehmen, doch habe ich noch eine Bitte: Gebt mir in meinem neuen Leben eine Familie, deren Abstammung auf den mächtigen Berggott Amnje Matschen zurückgeht und gebt mir eine passende Ehefrau. Gebt mir ein Reitpferd, das klug ist und schnell wie der Wind. Gebt mir Waffen, mit denen ich alle Feinde niederringen kann und eine Rüstung, die mein Leben schützt. Haltet eure liebenden Augen auf mich gerichtet und steht mir mit eurem göttlichen Rat zur Seite!
Dann wird es mir gelingen, die Feinde zu unterwerfen und dem Volk von Ling den Frieden wiederzugeben.“
Gerührt von dem Mut und der Klugheit ihres jüngsten Sohnes versprachen Tsangpa Karpo und Bumkjong Gjälmo, seine Wünsche zu erfüllen. Dann segneten sie ihn und wünschten ihm Glück.
Als schließlich die Zeit gekommen war, da Döndrubs Tod herbeigeführt werden musste, sprach Tsangpa Karpo zu seinen beiden älteren Söhnen: „Die Milch in Döndrubs Schüssel ist der Sitz seiner göttlichen Seele. Nehmt die Schüssel und gießt die Milch aus! Wenn das geschehen ist, wird der Körper des Döndrub sein Leben im Himmel beenden.“ Dönkar und Dönleg taten, was der Vater ihnen gesagt hatte: Sie gossen die Milch aus, und kurz darauf starb Döndrub, der Göttersohn, damit er als Mensch wiedergeboren werden konnte.
Seit König Dschagpön Drälgäns Tod waren viele Jahre vergangen. Nun saß König Senglön auf dem Thron von Ling. Senglön war an die sechzig Jahre alt, er war sanftmütig, leichtgläubig und ein recht schwacher Herrscher. Zudem war er nicht gerne König. Viel lieber hätte er sich der Pferdezucht gewidmet als dem Regieren, viel lieber seinen klugen älteren Bruder Dragän auf dem Thron gesehen als sich selbst. Doch Dragän hatte, wie es für den ältesten Sohn einer adeligen Familie üblich war, das Leben eines Gelehrten gewählt, und Senglöns Pflicht als Zweitgeborener war es gewesen, die Verantwortung für seine Familie, den Klan Bumpa und das ganze Volk von Ling zu übernehmen.
Zwar gab es da noch einen dritten Bruder, Drotung, der den Königsthron nur zu gerne für sich gehabt hätte, doch dieser war ein Unruhestifter, der vor keiner noch so sündhaften Tat zurückschreckte, um seine Ziele zu erreichen. Viele hielten ihn sogar eines Verrats für fähig. Ihm konnte Senglön die Herrschaft nicht überlassen.
König Senglöns Stammsitz Sengdrug Taggzong, die Löwen-Drachen-Tiger-Festung, lag an den Ausläufern einer Hügelkette im Zentrum von Ling. Die Burg selbst, errichtet aus großen, behauenen Steinen, bestand aus einem mächtigen Hauptgebäude, das von mehreren siebenstöckigen Wehrtürmen überragt und von einer soliden Mauer umfasst wurde. Doch dorthin zog sich die königliche Familie mit ihren Ministern, Dienern und Soldaten nur bei Gefahr zurück. Meist lebte der ganze Hofstaat in einer prachtvollen Zeltstadt, die auf der großen Ebene am Fuß der Hügelkette stand.
Verheiratet war König Senglön mit drei Frauen. Seine erste Frau, Königin Gogtsa Lhamo, hatte er als junger Mann auf einem Jagdausflug entdeckt und mit sich genommen. Sie war die Tochter eines Fürsten der unterweltlichen Wassergeister, hatte aber menschliche Gestalt angenommen. Die zweite Frau, Gjatsa Lhakar, stammte aus China, und die dritte, Rongtsa Schedrön, hatte Senglön von dem unabhängigen Fürstentum Rong als Geschenk erhalten. Doch obwohl Senglön nun schon viele Jahre mit seinen drei Frauen zusammenlebte, hatte keine ihm je ein Kind geboren – der König hatte keinen Erben. Viele Lingpa fürchteten daher, dass der lasterhafte Fürst Drotung, der Vater mehrerer Söhne, doch noch die Herrschaft erlangen und das Land endgültig zerstören könnte. Niemand indess ahnte, dass die Rettung schon sehr nahe war.
Eines Morgens gingen Gogtsa Lhamo und Rongtsa Schedrön, die erste und die dritte Frau des Königs, auf die Weide hinaus, um die Kühe zu melken, wie es zu ihren täglichen Pflichten gehörte. Jede von ihnen fing sich eine Kuh, fesselten ihr die Füße, band deren Kalb daneben an, schob den Holzkübel unter das pralle Euter und begann zu melken. Während aber Rongtsa Schedrön eifrig bei der Sache war, schweiften Gogtsa Lhamos Gedanken bald ab. Ihre Hände führten die vertrauten Bewegungen des Melkens ganz wie von selbst aus, die Augen der Königin aber wanderten zu jenen Kühen, die noch trächtig waren. Mit dicken, runden Bäuchen standen sie da. Bald würden auch sie ihre Kälber werfen und damit den Reichtum des Königs mehren. Gogts Lhamo seufzte schwer. Wie oft hatte sie für sich selbst, aber auch für Gjatsa Lhakar und Rongtsa Schedrön um Fruchtbarkeit gebetet! Wie oft hatte sie Pilgerreisen unternommen, heilige Orte aufgesucht und Heilmittel getrunken, von denen es hieß, sie würden Kindersegen bringen! Doch die Götter hatten ihren sehnlichsten Wunsch nicht erfüllt. Jetzt fühlte sie sich alt und müde und bar jeder Hoffnung. Nur noch Wehmut konnte sie empfinden, wenn sie junges Leben sah.
Da durchbrach plötzlich ein heller Strahl ihre trüben Gedanken. Verwundert blickte sie auf und sah den ganzen Himmel von einem reinen, weißen Licht erleuchtet, und in seiner Mitte, direkt über ihr, schwebten die himmlischen Götter. Gogtsa Lhamo konnte sie alle klar erkennen, denn das Licht blendete sie nicht. Sie sah Tsangpa Karpo, den höchsten der Götter, und seine Gemahlin Bumkjong Gjälmo in ihrer ganzen Herrlichkeit. Das göttliche Paar trug ein kleines Kind bei sich, das sie nun behutsam einer Schar Feen übergaben. Und während die schönste Musik den Luftraum erfüllte, die Gogtsa Lhamo je gehört hatte, lösten sich die Feen aus dem Kreis der Götter und schwebten langsam vom Himmel herab, das Kind sicher in ihren Armen haltend.
Zu Gogtsa Lhamos größtem Erstaunen kamen die Feen direkt auf sie zu. Gebannt starrte sie zu ihnen hinauf. Immer näher und näher kamen die himmlischen Wesen. Sie kamen so nahe, dass Gogtsa Lhamo glaubte, sie im nächsten Moment berühren zu können. Schon streckte sie ihre Hände aus, doch da wurde ihr schwarz vor Augen und sie verlor die Besinnung.
Als die Königin wieder zu sich kam, lag sie auf dem Boden, und Rongtsa Schedrön hielt ihre Hand.
„Was ist geschehen, liebe Schwester?“, fragte Rongtsa Schedrön. „Ich hörte einen dumpfen Knall und kam sofort herbeigelaufen. Da sah ich, dass die Kuh den Milchkübel umgestoßen hatte und du besinnungslos dalagst.“
„Die Götter des Himmels sind mir erschienen, liebe Schwester“, antwortete Gogtsa Lhamo. Und sie berichtete ausführlich, was sie gesehen hatte.
Rongtsa Schedrön erschrak, als sie von dem Kind erfuhr. Sie verstand sofort, was das bedeutete: Gogtsa Lhamo war mit einem göttlichen Kind schwanger geworden! Augenblicklich erwachte der Neid in ihr. Wie konnten die Götter für ihre Pläne nur diese alte Frau auswählen, wo sie, Rongtsa Schedrön, jünger, kräftiger und schöner, doch ganz in der Nähe gewesen war? Warum hatten die Feen nicht ihr das Kind gebracht?
Doch sie ließ sich von diesen Gedanken nichts anmerken. Mit betonter Liebenswürdigkeit half sie Gogtsa Lhamo auf die Beine und brachte sie nach Hause. Vom Geschehen auf der Weide erzählten beide Frauen niemandem etwas.
Während nun in Gogtsa Lhamos Leib ein Kind heranwuchs, wucherte in Rongtsa Schedrön die Eifersucht. Als Mutter des Thronerben hätte sie die Position der ersten Frau gewinnen und die beiden anderen Frauen verdrängen können. Jetzt aber, da es Gogtsa Lhamo war, die einen Sohn erwartete – Rongtsa Schedrön zweifelte keinen Augenblick daran, dass es ein Sohn sein würde – war diese Möglichkeit für sie selbst vertan. Vielmehr stand zu erwarten, dass König Senglön sie gar nicht mehr beachtete, ja vielleicht würde er sie sogar verstoßen!
Je länger sie darüber nachdachte, desto dunkler erschien ihr ihre Zukunft. Immer schlechter wurde ihre Gesinnung, und schließlich entwarf sie einen Plan.
Einige Wochen später, als sie wieder einmal mit vollen Kübeln vom Melken ins Zeltlager zurückkehrte und König Senglön liebevoll mit Gogtsa Lhamo sprechen sah, fand Rongtsa Schedrön, dass es an der Zeit war, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Sie stellte die Milchkübel ab, ging mit freundlichem Gesicht auf die beiden zu und sagte zu Gogtsa Lhamo:
„Du siehst großartig aus, liebe Schwester, rund und schön! Ich denke, es besteht kein Zweifel mehr, dass du ein Kind erwartest!“
Und zu Senglön gewandt fuhr sie fort:
„Wir von der engsten Familie sollten ab jetzt gut für Gogtsa Lhamo sorgen, ihr die schwere Arbeit abnehmen und sie mit den besten Speisen versorgen. Vor allem aber sollten wir ein Fest ausrichten, damit alle erfahren, dass du einen Erben bekommst.“
„Das ist nicht nötig, liebe Schwester“, antwortete Gogtsa Lhamo. „Als ich noch jung war, wünschte ich mir sehnlichst, Mutter zu werden. Jetzt aber, da ich alt bin, schäme ich mich des Kindes, das seit Monaten in mir wächst. Bitte mach kein Aufhebens um mich. Mir ist es lieber, wenn alles im Verborgenen geschieht.“
Doch dem König gefiel die Idee, ein Fest zu feiern.
„Du brauchst dich unseres Kindes wahrlich nicht zu schämen!“, sagte er. „Rongtsa Schedrön hat Recht. An der Freude, dass ich Vater werde, sollen alle teilhaben! Gebetsfahnen sollen auf den Höhen wehen und am Fuß der Berge sollen Brandopfer dargebracht werden. So werden wir dem Volk von Ling die freudige Nachricht verkünden. Es ist nicht nötig, sie noch länger zu verschweigen.“
Rongtsa Schedrön bekräftigte sogleich Senglöns Entschluss.
„Ich werde dieses Geburtsfest so schön gestalten, als ob ich selbst das Kind erwartete“, sagte sie. „Es soll nicht nur Gerstenbrei zu essen geben, sondern auch Fleisch. Ich werde die adeligen Männer auf die Jagd nach Wildyaks schicken!“
So sorgte Rongtsa Schedrön dafür, dass alle Lingpa von der Schwangerschaft der Königin Gogtsa Lhamo erfuhren. Und sie kümmerte sich, gemäß ihrem Versprechen, hingebungsvoll um die werdende Mutter.
Die Vorbereitungen für das Fest waren schon sehr weit gediehen, als Rongtsa Schedrön den nächsten Schritt ihres Plans in die Tat umsetzte.
Sie suchte König Senglöns jüngeren Bruder Drotung auf.
Fürst Drotung hatte seine eigenen Gründe, das ungeborene Kind zu fürchten, das wusste Rongtsa Schedrön. Denn bliebe Senglön kinderlos, dann wäre Drotung nach dem Tod des Königs der legitime Nachfolger und wie sehr wollte er die Macht über Ling! Sollte Senglön nun aber tatsächlich einen Sohn bekommen, dann müsste dieser schon von Dämonen besessen sein, um den Thron nicht zu erben. In Fürst Drotung hatte Rongtsa Schedrön daher einen idealen Verbündeten, sie musste ihn nur noch auf den richtigen, auf ihren Weg führen.
„Lieber Schwager, du weißt, dass Gogtsa Lhamo ein Kind erwartet“, sprach sie also zu ihm.
„Das weiß ich wohl“, antwortete Drotung. „Man kann nur hoffen, dass es ein Mädchen ist.“
Rongtsa Schedrön schüttelte den Kopf.
„Es ist ein Junge!“, sagte sie bestimmt und sah, wie Drotung zusammenzuckte.
„Und er ist noch mehr als nur das“, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. „Er ist ein Sohn des Himmels. Ich war dabei, als die Königin das Kind von einer Schar Feen empfing. Er ist ein göttliches Kind, und gleichzeitig ist er ein Sohn der Unterwelt, denn seine Mutter Gogtsa Lhamo ist ja die Tochter eines Fürsten der Wassergeister.“
Drotung stöhnte unwillkürlich, als er die volle Bedeutung der Worte seiner Schwägerin erfasste: König Senglöns Sohn würde Ling unter dem Schutz der Götter und der Wassergeister regieren! Damit hatte er, Drotung, keine Aussicht mehr darauf, den Thron zu erobern! Er spürte eine große Enttäuschung, die schnell in stummen Zorn umschlug.
Rongtsa Schedrön ihrerseits beobachtete zufrieden das Mienenspiel des Schwagers. Er reagierte genau so, wie sie es vorhergesehen hatte. Sie wartete eine Weile, dann trat sie dicht an ihn heran und offenbarte ihm den Teil ihres Plans, in dem er eine Rolle spielen sollte: „Wir müssen erreichen, dass der König Gogtsa Lhamo mit ihrem Kind verstößt!“, raunte sie ihm zu. „Und ich weiß auch, was dafür zu tun ist.“
Wenige Tage vor dem großen Freudenfest gab Rongtsa Schedrön Gogtsa Lhamo eine dunkle, zähe Flüssigkeit zu trinken.
„Diese Medizin habe ich von dem erfahrensten Arzt meiner Heimat Rong erhalten“, sagte sie. „Sie bewirkt die Kräftigung von Mutter und Kind.“ Gogtsa Lhamo hatte keine Veranlassung, ihr zu misstrauen. Bisher hatte sie sich rührend um sie gekümmert. Daher dankte sie ihr und leerte gehorsam die Schale.
Bald aber zeigte sich die wahre Wirkung des Tranks, einer Mischung aus bitteren Kräutern und dem Herzblut eines Wolfs: Gogtsa Lhamos Sinne verwirrten sich. Auf einmal hörte sie Stimmen, die ihr Angst machten. Sie sah den Boden ansteigen, wo er eben war, und flach, wo er anstieg, so dass sie immer wieder stürzte. Und sie schmeckte nicht mehr den Unterschied zwischen frischen und verdorbenen Speisen, sondern schlang alles wahllos in sich hinein.
Als Rongtsa Schedrön sah, dass Gogtsa Lhamo ihr ausgeliefert war wie eine Geisteskranke, badete sie sie in heißem Wasser und massierte ihr den Leib in der Hoffnung, dass das Kind abging. Sie zog Gogtsa Lhamo zerrissene Kleider an und gab ihr verdorbenes Fleisch zu essen. Dann rief sie ihren Verbündeten herbei.
„Sieh, lieber Schwager, was mit der Königin geschehen ist“, sprach sie zu Fürst Drotung und zwinkerte ihm zu. „Sie ist von einem Dämon besessen! Ihre Sinne sind verwirrt, sie zerreißt ihr Gewand und sie nimmt verdorbene Speisen zu sich.“
Drotung hatte Mühe, seine Freude zu verbergen.
„Geh zum König“, fuhr Rongtsa Schedrön fort „und berichte ihm von dem schrecklichen Schicksal, das seine erste Frau getroffen hat!“
Das tat Drotung. Ausführlich schilderte er seinem Bruder, wie es um die Königin stand.
„Du lügst!“, fuhr Senglön seinen Bruder an.
„Komm und sieh selbst!“, erwiderte Drotung und begleitete Senglön sogleich zum Zelt der Königin.
Als Gogtsa Lhamo den König eintreten sah, schob sie die Schüssel mit dem übel riechendem Fleisch zur Seite, aus der sie gerade gegessen hatte. Sie erhob sich und wollte ihm entgegengehen, um ihn zu begrüßen, aber nach wenigen Schritten strauchelte sie und wäre gestürzt, hätte Rongtsa Schedrön sie nicht aufgefangen.
„Was ist mit dir geschehen, Frau?“, fragte Senglön, noch immer ungläubig. „Geht es dir nicht gut?“
Gogtsa Lhamo versuchte zu antworten, doch es kam nur ein unverständliches Stammeln aus ihrem Mund.
„Wahrlich, ein Dämon hat von meiner Frau Besitz ergriffen!“, rief Senglön entsetzt. „Was sollen wir nur tun?“
Er sank auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Holt die besten Ärzte und die besten Wahrsager von Ling!“, rief er dann in einem derart barschem Ton, wie man ihn noch nie von diesem sanftmütigen König gehört hatte. „Es muss eine Heilung für meine Frau geben!“
„Lieber Bruder“, sprach Drotung und bemühte sich, mitleidsvoll zu klingen, „wenn ein so mächtiger Dämon von einer Mutter und ihrem ungeborenen Kind Besitz ergriffen hat, kann niemand mehr helfen.
Ich wünschte wahrlich, es wäre eher mein Herz entzweigebrochen, als dass Gogtsa Lhamo dieses schlimme Schicksal getroffen hätte! Es ist schrecklich, aber da es so ist, bleibt nur eines zu tun: Wir müssen sie aus Sengdrug Taggzong entfernen, um niemanden hier zu gefährden.“
„Was sagst du da?“, rief Senglön verzweifelt.
„Verstehe doch, lieber Bruder, die Frau und das Kind befinden sich in der Macht eines Dämons, gegen den kein Mensch etwas ausrichten kann. Die Frau ist keine Gefährtin mehr für dich, und das Kind wird von seinem ersten Tag an eine Bedrohung für uns alle sein. Wir können den Dämon nicht hier, mitten unter uns, dulden!“
Der König sank vollends in sich zusammen.
„Ich werde ihre Verbannung in die Wege leiten und dafür sorgen, dass sie keinen Hunger leiden muss“, fuhr Drotung fort. „Mehr können wir nicht mehr für sie tun.“
„Warum ist das geschehen? Welche Verfehlung wurde begangen, dass solch schreckliches Los meine Familie trifft?“, klagte Senglön und raufte sich die Haare.
Drotung und Rongtsa Schedrön wechselten bedeutsame Blicke. Sie waren auf dem richtigen Weg! Wie sie vorausgesehen hatten, zweifelte der leichtgläubige Senglön nicht an ihren Worten. Er würde sich zuverlässig in sein Schicksal fügen.
Rongtsa Schedrön trat zu ihm und nahm zärtlich seine Hände in die ihren.
„Fürst Drotung wird sich gut um Gogtsa Lhamo kümmern“, säuselte sie. „Komm jetzt, lass uns gehen. Wir müssen allen sagen, dass das große Fest nicht stattfinden kann.“
Senglön erhob sich folgsam und ließ sich von Rongtsa Schedrön zum Ausgang führen. Dort aber drehte er sich noch einmal um, sah zuerst Gogtsa Lhamo an und wandte sich dann an seinen Bruder.
„Es ist nicht nötig, dass du dich um ihre Verbannung kümmerst“, sagte er nachdrücklich. „Ich selbst werde für alles sorgen.“
Und dann erfuhr das ganze Volk von Ling, welches Unglück Gogtsa Lhamo getroffen hatte.
Schon am folgenden Tag wurde die schwangere Königin aus dem prunkvollen Zeltlager von Sengdrug Taggzong fortgebracht. Mitnehmen durfte sie nur eine Stute, eine Kuh, ein Schaf, eine Hündin und Vorräte an Getreide, Butter, Käse, Teeziegel und Salz. Einen guten Tagesmarsch entfernt, auf einer kleinen Hochebene nahe dem mächtigen Berg Amnje Matschen, errichteten Diener ein kleines Zelt für sie und machten sich dann schnell wieder auf den Rückweg, weg von der besessenen Frau.
Doch Gogtsa Lhamo war nicht ganz allein. Die zweite Frau Senglöns, Gjatsa Lhakar, hatte sich als Pflegerin angeboten, und der König war gerne darauf eingegangen, denn er wollte Gogtsa Lhamo gut umsorgt wissen. Er kannte aber nicht den wahren Grund für Gjatsa Lhakars Entschluss, er wusste nicht, dass auch sie ein Kind erwartete.
Gjatsa Lhakar war es gelungen, ihre Schwangerschaft vor allen Leuten zu verbergen. Sie hatte die Eifersucht Rongtsa Schedröns auf Gogtsa Lhamo gespürt und sich daher nichts von ihrem Zustand anmerken lassen, denn ihrer Ansicht nach war Gogtsa Lhamo das Opfer des bösen Blicks geworden, der durch Eifersucht hervorgerufen werden kann, und sie wollte sich selbst dieses Schicksal ersparen. So nahm sie jetzt lieber das unbequeme Leben einer Verbannten auf sich, als sich dem krankmachenden Neid der dritten Frau ihres Mannes auszusetzen.
Die alltäglichen Arbeiten musste Gjatsa Lhakar zunächst ganz alleine verrichten. Sie bereitete das Essen zu, sammelte Dung für das Feuer, sah nach den Tieren und achtete darauf, dass sich Gogtsa Lhamo in ihrer Verwirrtheit nicht selbst Schaden zufügte. Mit der Zeit aber verlor das Gebräu aus Wolfsherzblut und Kräutern seine Wirkkraft. Die Sinne der Königin klärten sich, langsam wurde sie wieder gesund. Bald konnte Gjatsa Lhakar ihr einfache Arbeiten zuteilen. Mitunter aber wünschte sie, die Königin wäre nicht genesen, denn nun, da diese sich ihrer Lage immer deutlicher bewusst wurde, haderte sie sehr mit ihrem Schicksal.
„Was habe ich nur getan, dass es uns so schlecht geht?“, jammerte sie.
„Stets war ich meinem Vater eine gute Tochter und meinem Mann eine gute Ehefrau! Warum hat man uns in die Verbannung geschickt?
Warum müssen wir so harte Arbeit tun? Warum führen wir ein so armseliges Leben?“
Geduldig erklärte Gjatsa Lhakar, wie es zu der Verbannung gekommen war.
„Aber jetzt bin ich wieder gesund!“, rief Gogtsa Lhamo. „Lass uns nach Sengdrug Taggzong zurückkehren!“
„Die Eifersucht unserer Schwester Rongtsa Schedrön wird wieder aufkeimen, wenn sie uns sieht“, widersprach Gjatsa Lhakar bestimmt.
„Wir müssen hier bleiben, wenn wir uns und unsere Kinder schützen wollen.“
Es war eine entbehrungsreiche Zeit für die beiden Frauen. Die Versorgung mit Lebensmitteln wurde immer spärlicher, je länger sie in ihrem kleinen Zelt lebten. Oft hatten sie schon alles aufgegessen und mussten hungern, bis sie wieder Nachschub erhielten. Es schien, als ob der König seine Frauen allmählich vergaß.
Die Tiere, die ihnen mitgegeben worden waren, lieferten lediglich den Dung, der als Brennstoff für ein kleines Feuer diente. Darüber hinaus hatten sie vorerst keinen Nutzen von ihnen, denn alle, die Stute, die Kuh, das Schaf und die Hündin, waren trächtig.
Eines Nachts schließlich brachte Gjatsa Lhakar ihr Kind zur Welt. Das Kind war ein Junge, und seine Mutter gab ihm den Namen Gjatsa Schälkar. Gogtsa Lhamo half der Gebärenden, so gut sie konnte. Sie band die Nabelschnur mit einem Faden aus Schafwolle ab und durchschnitt sie anschließend. Dann wickelte sie das Kind in ein Ziegenfell, vergrub die Nachgeburt zwischen den Wurzeln eines Baumes, reinigte das Lager, auf dem Gjatsa Lhakar geboren hatte, und kochte ihr Tee.
Als Gogtsa Lhamo aber auch noch einen nahrhaften Brei für Gjatsa Lhakar zubereiten wollte, so wie ihn Wöchnerinnen üblicherweise bekamen, musste sie feststellen, dass sie kein Mehl mehr hatten. Da brach sie in Tränen aus, sank auf den Boden nieder und klagte laut über die Pflichtvergessenheit König Senglöns. Die geduldige Gjatsa Lhakar aber erhob sich von ihrem Lager. Mit einem breiten Tuch band sie sich das neugeborene Kind auf den Rücken, goss Tee in Gogtsa Lhamos Schale, reichte sie ihr und sprach:
„Beruhige sich, liebe Schwester! König Senglön lässt uns sicher nicht aus Achtlosigkeit oder Niedertracht leiden. Es müssen böse Kräfte sein, die dafür sorgen, dass er uns vergisst. Doch wir können etwas tun, um unser Schicksal zu erleichtern: Lass uns in die bewaldeten Schluchten gehen, um Feuerholz zu sammeln. Dieses verkaufen wir dann an die Bewohner der baumlosen Ebenen. So können wir selbst unseren Lebensunterhalt verdienen.“
Gogtsa Lhamo wischte sich die Tränen ab. Vorsichtig schlürfte sie ein wenig von dem heißen Tee und dachte nach. Dann stimmte sie zu.
Von nun an ging die hochschwangere Gogtsa Lhamo Tag für Tag in die dunklen Schluchten zwischen den Bergen der Amnje Matschen-Kette, sammelte Holz und trug es auf langen Wegen hinunter in die Ebene.
Dort tauschte sie es gegen Nahrung und Kleidung ein. Gjatsa Lhakar verrichtete unterdessen die Arbeiten im Lager.
Eines Tages, als Gogtsa Lhamo in einer Schlucht am Fuß des heiligen Berges Amnje Matschen unterwegs war, stolperte sie über eine Wurzel und fiel zu Boden. Ein stechender Schmerz jagte durch ihren mächtigen Leib. Unwillkührlich krümmte sie sich, und ihre Finger gruben sich tief in die feuchte Erde. Dann ließ der Schmerz langsam nach, doch die Verzweiflung stieg wieder in ihr hoch.
„Einst war ich in Seide gekleidet und mit Türkisen geschmückt“, jammerte sie. „Jetzt trage ich Lumpen und liege im Schmutz!“
Heiße Tränen rannen über ihr Gesicht. Da hörte sie auf einmal ein zartes Stimmchen, das zweifellos aus ihrem Inneren kam:
„Bleib nicht liegen, liebe Mutter!“, sprach das Stimmchen. „Erhebe dich und klage nicht mehr! In wenigen Tagen werde ich kommen, und die schlechten Zeiten werden ein Ende haben. Steh auf und kehre nach Hause zurück!“
Augenblicklich verwandelte sich Gogtsa Lhamos Verzweiflung in eine große Freude. Sie stand auf, ließ das Bündel mit den Ästen liegen, die sie bereits gesammelt hatte, und ging so schnell sie konnte zu dem kleinen Zelt zurück. Strahlend berichtete sie Gjatsa Lhakar von der wunderbaren Begebenheit, doch diese teilte ihre Freude nicht.
„Es scheint kein gewöhnliches Kind zu sein, das du in dir trägst“, sagte sie. „Wir können nur hoffen, dass es unsere Sorgen nicht noch vergrößert.“
Wenige Tage später fiel eine so gewaltige Menge Schnee, dass sich auch die ältesten Menschen in Ling nicht erinnern konnten, etwas Derartiges schon einmal erlebt zu haben. Kaum jemand wagte sich ins Freie.
Es war der Tag des Sterns des Sieges im weiblichen Jahr des Wassers und der Schlange, und seit dem Morgengrauen lag Gogtsa Lhamo in den Wehen. Doch erst als die Abenddämmerung bereits heraufzog, konnte sie endlich einem kleinen Wesen das Leben schenken: Sie gebar eine schwarze Schlange. Die Schlange blickte Gogtsa Lhamo an und sprach zu ihr:
„Dein Sohn wird im Tierzeichen der Schlange geboren. Er steht unter meinem besonderen Schutz.“
Dann verschwand sie aus dem Zelt.
Kurz darauf brachte Gogtsa Lhamo einen kleinen, goldenen Mann zur Welt, einen kleinen, türkisfarbenen Mann und einen eisernen Vogel.
„Wir sind die edlen Substanzen Gold, Türkis und Eisen, die deinem Sohn dienen werden“, sprachen die drei zu Gogtsa Lhamo und verschwanden ebenfalls.
Dann gebar sie einen kleinen, hutzeligen Alten.
„Ich bin der Geist des langen Lebens. Mein Name ist ‚Herr des unendlichen Glücks‘. Ich werde deinen Sohn beschützen“, sprach der Alte zu Gogtsa Lhamo und verschwand.
Als nächstes gebar die Königin eine rote Hündin.
„Ich bin die Himmelshündin, die deinen Sohn gegen alle Feinde verteidigen wird“, sprach sie zu Gogtsa Lhamo und verschwand.
In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages brachte Gogtsa Lhamo schließlich einen häutigen Sack zur Welt. Dann war sie so erschöpft, dass sie ohnmächtig wurde.
Gjatsa Lhakar aber, die ihr in all den Stunden beigestanden hatte, besprengte sie mit kaltem Wasser, bis sie wieder zu sich kam.
„Sieh, du hast den vollständigen Fruchtsack geboren“, sagte Gjatsa Lhakar. „Das verheißt großes Glück.“
„Wir müssen den Fruchtsack öffnen, damit das Kind herauskommen kann“, flüsterte Gogtsa Lhamo kraftlos.
Gjatsa Lhakar reichte Gogtsa Lhamo einen Pfeil. Mit dessen Spitze riss die Königin ein Loch in den Fruchtsack. Da begann das Kind, das darinnen war, heftig zu zappeln und befreite sich selbst vollends aus der häutigen Umhüllung. Zum Vorschein kam ein magerer Junge mit einem roten Gesichtchen voller Runzeln. Aus wachen Augen blickte er sich um, streckte das rechte Ärmchen aus und drehte den Daumen nach unten. Dann tat er so, als spanne er einen Bogen und schieße einen Pfeil ab.
Gjatsa Lhakar sah dies und war entsetzt.
„Dein Sohn deutet an, dass er seine Feinde unterdrücken und die ganze Welt erobern will“, sagte sie zu Gogtsa Lhamo. „Da werden große Schwierigkeiten auf uns zukommen. Die Feinde werden sich an uns rächen.“
Gogtsa Lhamo schwieg. Sie zog ihr Kind zu sich heran und gab ihm die Brust. Nach einer Weile aber wandte sie sich wieder an Gjatsa Lhakar: „Wovon sollen wir uns jetzt ernähren? In dem tiefen Schnee können wir kein Holz mehr sammeln!“
Gjatsa Lhakar überlegte lange. Schließlich aber fiel ihr nichts anderes ein, als zu König Senglön zu gehen, ihm von der genesenen Königin und den beiden gesunden Söhnen zu berichten und um seine Hilfe zu bitten.
Als sie das Zelt verließ, um sich auf den Weg zu machen, stieg gerade die Sonne über den Horizont herauf. Der Sturm war vorüber, und der Schnee hatte sich schon etwas gesetzt. Gjatsa Lhakar blickte in eine reine, weiße, strahlende Welt. Und dann glaubte sie, ihren Augen nicht trauen zu können: Die Stute, die Kuh, das Schaf und die Hündin hatten in dieser Nacht, in der Gogtsa Lhamo ihren Sohn geboren hatte, jeweils ein Junges geworfen. Neben der Stute stand ein Fohlen, neben der Kuh ein Kalb, neben dem Schaf ein Lamm und neben der Hündin ein Welpe. Gierig saugten die Jungen an den Eutern ihrer Mütter.
„Welch wundersames Zeichen!“, dachte Gjatsa Lhakar. „Was aber mag das alles bedeuten?“
Dann riss sie sich los von dem friedlichen Anblick und beeilte sich, nach Sengdrug Taggzong zu kommen. Während sie ging, schmolz der Schnee in der Sonne so schnell dahin, wie es noch nie zuvor geschehen war, und bald spross saftiges Gras und blüten bunte Blumen so weit ihr Auge reichte. Auch das war ein nie zuvor gesehenes Wunder, das mit der Geburt von Gogtsa Lhamos Sohn zusammenhängen musste.
Gjatsa Lhakar spürte ein bisschen Hoffnung in sich aufkeimen, doch ihre Sorgen waren noch immer groß.
Gegen Abend erreichte sie das königlichen Zeltlager und begegnete als Erstes ihrem Schwager Drotung, der sie nicht erkannte.
„Was willst du hier, Frau?“, herrschte er sie an.
Gjatsa Lhakar wandte ihm ihr Gesicht zu. Da erkannte er sie und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
„Was willst du hier?“, wiederholte er, und seine Stimme zitterte vor Erregung. „Hat die Besessene etwa schon ihr Kind geboren? Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“