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Originaltitel: Anthropologie und Nationalsozialismus. Die Rolle der Anthropologie bei der Popularisierung der NS-Ideologie. 1923-35, Arbeit zur Erlangung des Grades Magister Artium, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz 2000

Überarbeitete Fassung. Veröffentlichung mit Genehmigung der Universität.

© 2015 Ruben Philipp Wickenhäuser, www.uhusnest.de

Alle Rechte vorbehalten

Titelgestaltung: Uvbo i Bergslagen / Wickenhäuser, www.uvbo.se

Satz: Uvbo i Bergslagen / Wickenhäuser, www.uvbo.se

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Rohtext verfaßt mit WORD 5.5 für DOS

ISBN 978-3-7386-7304-3

„[Die] neue und biologisch gerichtete Bevölkerungspolitik in
Deutschland stellte

dann den Menschen selbst in seiner rassischen und erbgegeben
andauernden Wesenseigenart in den Mittelpunkt des Staatsinteresses,
wofür in erster Linie
der Führer selbst,

dann besonders Chamberlain [...] Frick, Günther, Groß [...]
Rosenberg [...]
und viele andere eintraten und eintreten.

So wurde der klassischen Erkenntnis von der Bedeutung des
Menschen für Volk,
Staat und Zukunft der Gemeinschaft ein neuer und wesentlicher
Aufschwung gegeben. Aus ihm sind die tätigen Kräfte
für weitere [...] wissenschaftliche Arbeit
[...] zu erwarten.“

Prof. Dr. Egon von Eickstedt
Die Forschung am Menschen, Stuttgart 1940, S. 133

„Feig und lächerlich aber ist es, wenn die, die sie
[die Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus,
insbesondere der Rassenfrage] zu tragen haben,
nun auf andere abwälzen wollen.

Und doppelt verantwortungslos, wenn sie sich ausgerechnet
diejenigen dafür aussuchen,
die die einzigen waren, die arbeiteten und dadurch
hinderten und warnten.

[...] So wurde Ahnungslosigkeit zum Helfer. [...]
[Es] wussten doch damals Lehrer wie Ärzte so gut wie nichts
von der wissenschaftlichen Forschung um Rasse und
Mensch.“

Prof. Dr. Egon von Eickstedt
nach dem Krieg Lehrstuhlinhaber
am Institut für Anthropologie in Mainz,
Herausgeber der Zeitschrift HOMO
zur Erstausgabe 1950, S. 12

Inhalt

Vorwort

Rechtes Gedankengut gewinnt derzeit in ganz Europa an Boden, auch in Deutschland. Tausende gehen bei Demonstrationen wie Pegida auf die Straße, um sich einer angeblichen Islamisierung entgegenzustellen. Populistische Bücher, die den Menschen nach seinem gesellschaftlichen Wert beurteilen und dabei Hypothesen des kulturellen Untergangs als Theorien oder gar Fakten zu verkaufen versuchen, gewinnen Leser und verschleiern oftmals die wahren Herausforderungen der Integrationspolitik. Manches dieser Bücher beruft sich auf Rechenbeispiele, die an die Vergangenheit gemahnen: Hier wird der Nutzen und Schaden von Menschengruppen gegeneinander abgewogen. Während die Religion in Europa an Schärfe als Antrieb für Ausgrenzung und Verfolgung verloren hat, gewinnt die Legitimation durch vermeintliches Wissen an Stärke.

Eine Anekdote aus dem persönlichen Umfeld sei erlaubt. So ereignete sich auf der Feier eines Bekannten der Vorfall, daß ein Student gesagt habe, man müsse doch fragen können, inwieweit die Juden nicht an ihrem Unglück eine Mitschuld trügen. Und der, als seine Forderung auf heftigen Widerspruch seines Gesprächspartners stieß, eingeschränkt habe, daß eine solche Frage doch zumindest Grundlage für eine streng wissenschaftliche Untersuchung sein sollte. Dies wurde laut dem Berichtenden dann wohl auch ohne weiteren Protest so stehengelassen.1 In einem anderen Fall wurde in dem deutschen Forum einer jungen Sportart von einem Sportler geschrieben,

„Faschismus hat nichts mit Rassismus am Hut. [...] Warum muß man sich von Faschismus explizit distanzieren? [...] Wir Deutschen sind durch das 3. Reich ein wenig empfindlich geworden.“2

Es bedarf gar nicht der dramatisierenden Aussage „Der Schoß ist fruchtbar noch“. Es genügt die Annahme von Naivität und gefährlicher Leichtfertigkeit, die Gefahr des Vergessens, die in der Wahrnehmung des Themas durchscheint.

Ein weiterer Umstand ist ebenfalls bedeutsam: So forderte der genannte Gesprächspartner eine wissenschaftliche Untersuchung, um seine Fragestellung zu legitimieren. Er begnügte sich also nicht mit einem „das wird man doch noch fragen dürfen“, also mit dem Glauben daran, daß hier etwas sozusagen nicht stimme. Dabei ist der Glaube stets ein starker Antrieb gewesen: Menschen töten für ihren Glauben, das heißt, sie stellen ausdrücklich fest, daß sie nicht wissen, wofür sie töten; für etwas, das man weiß, braucht es keinen Glauben mehr. Man mag an die heilende Wirkung des Vollmonds glauben, weiß aber um die Existenz des Mondes an sich. Glaubenslegitimation von Gewalt gilt in unserer Zeit insbesondere für extreme islamistische Bewegungen und findet historisch (und bei genauerem Besehen hier und da durchaus auch noch heutzutage) seine Entsprechung auch im Christentum. Aber reine Phantasievorstellungen scheinen für Europa kein ausreichender Grund mehr zu sein, den Ausschluß und die Verfolgung von Mitmenschen in größerem Maßstab zu rechtfertigen. Stattdessen wird dies durch die Behauptung erreicht, daß sie im Wissen um den durch die Verfolgten verursachten oder besser: künftig noch zu verursachenden Schaden geschehe. Der Nimbus der Wissenschaftlichkeit wird gefordert.

Diese Art der Selbstrechtfertigung hat historische Vorbilder. So entwickelte sich bereits um die vorletzte Jahrhundertwende ein starker Drang, die Ausgrenzung definierter Menschengruppen wissenschaftlich zu begründen. Wo zunächst eher untergeordnet eine Forschung betrieben wurde, bildete sich daraus dank des wachsenden Interesses in akademischen Kreisen eine anerkannte, eben wissenschaftliche Kunde heraus; und als diese reichhaltig Anhaltspunkte bot, wurde sie dankbar in die entsprechende Ideologie integriert. Zwar gibt es heutzutage keine dezidierte Rassenforschung mehr, und sie gilt als überholt und insgesamt bereits in ihrem Kern als unzulässig, wie noch dargestellt werden wird. Sehr wohl aber erreichen wieder Aufrechnungen nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip die Öffentlichkeit, gekleidet in das Gewand angeblicher wissenschaftlicher Erkenntnis, die stark an die Schaubilder und Propagandainstrumente der Rassenideologie erinnern. Hier tut sich leider wieder ein Feld auf, daß die Bedeutung der Historiker für die Zukunft unterstreicht.

Der vorliegende Band ist die leicht überarbeitete Fassung3 einer im Jahr 2000 verfaßten Magisterarbeit in der Wissenschaftsgeschichte. Sie speiste sich neben dem Studium der Geschichtswissenschaft auch aus dem Nebenfachstudium der physischen Anthropologie; kein beliebiges Wortgeschöpf, wie es beispielsweise in der Pädagogik populär ist oder dank seinem englischen Pendant gern als Ethnologie mißdeutet wird, sondern der genuine Zweig der Biologie zur Stammeskunde des Menschen. Physische Anthropologie ist im Übrigen auch dahingehend bemerkenswert, als ihre moderne Ausprägung – sofern sie nicht bereits wirtschaftlich optimiert und des Humboldtschen Gedankens entkleidet allein einer technisierten Naturwissenschaft geopfert wird – eine einmalige Kombination aus Geistes- und Naturwissenschaften darstellt: Eben das, was allenthalben vollmundig gefordert wird, während die Taten mit Nachdruck vom genauen Gegenteil sprechen. Und die physische Anthropologie ist nun eben jenes Thema, um das sich der vorliegende Band aus historischer Perspektive dreht.

Auch wenn ich den Text zeitbedingt nicht auf den aktuellen akade -mischen Stand bringen kann, habe ich mich angesichts der anhaltenden Brisanz des Themas dazu entschlossen, ihn einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen; die Einarbeitung von Kapiteln speziell zur Zeitschriftenreihe „Volk und Rasse“, zu GÜNTHER und SCHWIDETZKY ist für einen späteren Zeitpunkt angepeilt.

Daher soll dieses Buch keine Nischenanalyse liefern. Es ist die vornehmste Aufgabe des Historikers, neben der Verdrehung auch dem Vergessen der Geschichte, und damit der Erleichterung ihrer Wiederholung, entgegenzuwirken. Ziel ist daher, auch für interessierte Laien lesbar zu sein, ohne zugleich populärwissenschaftlich zu werden.

Durch die Beleuchtung verschiedener Fachbücher und Beiträge, sowie populärwissenschaftlicher Abhandlungen von Zeitgenossen soll die Dynamik verdeutlicht werden, mit der sich die Wissenschaft der Rassenkunde auch gesellschaftlich etablierte und wie sie sich im Gewande einer neutralen und objektiven Wissenschaft zum willigen Diener der nationalsozialistischen Rassenideologie machte. Denn eine Wissenschaft war die Rassenkunde, im Gegensatz zu manchen Erklärungen, in ihrer Zeit durchaus: Sie genoß das dafür erforderliche Ansehen, sie genoß die notwendige Akzeptanz in Fachkreisen, und ihre Erkenntnisse hatten einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die gesamte damalige Gesellschaft, eben auch auf die akademische. Ihr diesen Wissenschaftsstatus abzusprechen, bedeutet nur, einen historischen Umstand zu verkennen, was weder im Sinne der Geschichtswissenschaft, noch einer aufgeklärten und gegenüber dem stets drohenden Gespenst des Nationalismus und Rassismus wachsamen Gesellschaft sein kann. Manche Argumentation der damaligen Wissenschaftler, sowie der in ihrem Kielwasser schwimmenden Populisten und Hobbyforscher, mag uns auf unheimliche Weise bekannt vorkommen. Auch nur bedingt akademische Publikationen werden, durchaus auch in Hinblick auf ihren gelegentlich eher ideologischen oder quasi-hysterischen Umgang mit dem Thema, gelegentlich thematisiert. Die bestehenden Erkenntnisse kritisch einander gegenüberzustellen, mit den historischen Quellen abzugleichen und letztlich also ihr Verständnis zu fördern, ist bereits ein vollwertiges, nur zu selten tatsächlich erreichtes Ziel, dem bunte Fernseh-Shows im Gewande der Hitler-diesunddas oder freilich beliebte grelle Aufmacher gleichen Tenors in populären Magazinen jedenfalls nicht gerecht werden.

Zusammenfassend wird dieses Buch also in der Hoffnung vorgelegt, für den Leser mehr Licht in die historische Bedeutung einer Wissenschaft für die katastrophale Entwicklung einer ganzen Nation zu bringen, und damit durchaus auch das Verständnis für die Wichtigkeit der Geschichtswissenschaft für unsere Zukunft zu stärken. Eine Warnung soll es zudem sein vor dem immer wieder aufkeimenden Vertrauen in eine vermeintlich objektive Wissenschaft, die ein besseres Werkzeug als Moral und Politik für das Wohl der Gesellschaft sei.

Besonders danken möchte ich meinem Vorbild und Lehrer apl. Professor Dr. rer. nat. habil. Dr. med. h.c. Winfried Henke, bis 2010 akademischer Direktor des Instituts, der das Studium dieses aus verschiedener Sicht höchst spannenden Faches stets hilfreich, inspirierend und kritisch begleitet hat. Hervorzuheben ist auch der historische Schriftenbestand des Instituts für Anthropologie Mainz, der mir freundlicherweise für diese Arbeit zur Verfügung gestellt wurde. Der geisteswissenschaftliche Aspekt der physischen Anthropologie wurde dort spürbar geschätzt.

Ruben Philipp Wickenhäuser, im Januar 2015


1 Abgesehen davon, daß eine solche Frage angesichts der antisemitisch begründeten Ermordung von über sechs Millionen Menschen allein in Deutschland grotesk ist, ist auch die Forderung nach einer „wissenschaftlichen Untersuchung“ naiv, da es reichlich sowohl wissenschaftliche wie populärwissenschaftliche Werke zur Rolle jüdischer Menschen in der Weltgeschichte gibt; hier offenbart sich ein erschreckendes Unwissen, wohlgemerkt selbst unter Studenten.

2 Eintrag eines Mitglieds der Turnierorganisation zur Diskussion um den Ausschluß eines sich ehemals als Falang, nun als Tercios betitelnden spanischen Teams: http://forum.jugger.org/viewtopic.php?f=4&t=4167&start=189

3 Auf ein „Gendern“ wird ausdrücklich verzichtet. Die gängigeren Genderformen, teilweise im Tonfall eines Dogmas eingefordert, sind unausgereifte und bisweilen kindisch anmutende Provisorien, unbrauchbar insbesondere für akademische Texte. Für eine ausführlichere Stellungsnahme siehe Wickenhäuser, Genderus phalliculosus ssp. Das linguale Kuriositätenkabinett, in: Telepolis, 30. 12. 2011, http://www.heise.de/tp/artikel/36/36029

Einführung

„Es gibt doch Menschenrassen, das kann man doch sehen. Wenn dies nicht angesprochen wird, obwohl es doch ganz offensichtlich ist, dann ist dies doch nur einer weichen politischen Korrektheit geschuldet, oder etwa nicht?“

Diese Art von Gedankengang scheint geradezu unauslöschbar. Für das Dritte Reich war sie von besonderer Bedeutung: Popularität war der Schlüssel zur Macht, den HITLER im Schloß der angeschlagenen Weimarer Republik drehte. Zwei Strömungen, aus denen er schöpfen konnte, waren zum einen die des gerade in der Krisenzeit nach Kriegsende gedeihenden Heilsbildes einer besonders befähigten Ras -se und zum anderen die der Angst vor dem Überhandnehmen sogenannter „minderwertiger“ Bevölkerungsschichten. Welche Rolle die Anthropologie bei der Bestärkung dieser gesellschaftlichen Strömungen vor und während dem Nationalsozialismus spielte, ist das Thema dieses Buches.

Denn die Wissenschaften trugen nicht nur Bedeutung in Hinblick auf den technischen Fortschritt. Sondern ebenso, daß sie, oftmals als jenseits der Politik stehend betrachtet, zum einen starke internationale Verbindungen besaßen, zum anderen als Maß für die Zulässigkeit bei der Durchführung sozialer wie gesellschaftlicher Maßnahmen genommen wurden, wie am Beispiel der Rassenhygiene gezeigt werden wird. Dieser Umstand wurde besonders dann deutlich, wenn die Meinung der Öffentlichkeit durch Aussagen der Wissenschaften beruhigt, aufgewühlt oder bestätigt wurde, oder wenn man sich Erkenntnisse der Wissenschaften zu Nutze machte, um politische Ziele zu erreichen.

Obwohl nicht zentrales Thema dieser Arbeit, ist die Schuldfrage Einzelner unmittelbar damit verknüpft und muß daher begleitend thematisiert werden.4 Dagegen soll hier aber weniger die Presse der Zeit nach Bezügen auf die Anthropologie durchforstet werden. Vielmehr soll untersucht werden, in wieweit die Vertreter der anthropologischen Wissenschaft selbst die nationalsozialistische Ideologie und ihre Verbreitung in der Öffentlichkeit gestützt hatten, und ebenso, in wieweit sie mithalfen, schon vor der Machtergreifung den Weg für die breite Akzeptanz der Ideologie zu ebnen. Dazu sind Aussage und Breitenwirkung von Publikationen führender Anthropologen von besonderem Interesse. Untersucht werden muß dabei das Verhältnis von anthropologischer Wissenschaft zu nationalsozialistischer Politik ebenso wie die Frage, wie sie menschliche Rassen definierten, wie die Gewichtung von Rasse und Rassenhygiene aussah und welche Auswirkungen dies alles auf die Öffentlichkeit hatte.

Zuvorderst verpflichtet die Beschäftigung mit anthropologischer Wissenschaft in Hinblick auf die NS-Ideologie zu einer Diskussion über das Verständnis des Begriffs „Rasse“ und seiner Formen während der zwanziger und dreißiger Jahre. Denn es war durchaus nicht eindeutig, was menschliche „Rassen“ genau sein sollten. Ebenso essentiell ist das Durchleuchten der Begriffe Rassenhygiene und Eugenik, die eine tragende Rolle bei der Öffentlichkeitsarbeit der Anthropologen im Hinblick auf die NS-Ideologie spielen sollten. Für die Rassenhygiene ist hier die Verknüpfung von Rasse und Persönlichkeit von besonderem Gewicht.

Im Anschluß wird die Geschichte der Anthropologie vor 1923 kurz beleuchtet und der Nährboden untersucht, auf dem sie ihre öffentliche Wirkung entfalten konnte. Erst dann kann zum Kern des Themas vorgestoßen werden: Nach der kurzen Darstellung der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft von 1923 bis über die Machtergreifung hinaus stellt sich die Frage konkret nach den Bestrebungen der Anthropologen, mit ihren Theorien an die Öffentlichkeit zu treten, sowie nach ihrer bereitwilligen Unterstützung der NS-Ideologie und damit auch nach dem Widerhall auf ihre Arbeit. Aufgrund ihrer Bedeutung im Ideologiegefüge des Nationalsozialismus und den grauenhaften Folgen wird ein eigener Abschnitt den als Juden bezeichneten Menschen und ihrer „Beschreibung“ und „Erforschung“ durch die Anthropologie gewidmet.

In diesem Buch wird verstärkt mit Zitaten von Wissenschaftlern aus ihren Lehr-, Fach- und Sachbüchern sowie aus Zeitungen und Fachbeiträgen gearbeitet: Die eigenen Worte sprechen aus, was eine Umschreibung kaum deutlicher zu sagen vermag. Ihre Aussagen sind eine unanfechtbare Tatsache – ein wichtiger Faktor, wenn es um die Rolle Einzelner geht. Zur Interpretation der Aussagen aber, sowie zur weiteren Analyse dieses interdisziplinären Themas bietet sich neben reichhaltigem Quellenmaterial eine vor allem seit den achtziger Jahren wachsende Zahl an Untersuchungen über die Rolle der Anthropologie im Nationalsozialismus an. Die meisten Abhandlungen setzen sich mit der Schuld der Anthropologie während des NS-Regimes auseinander, und hier auch insbesondere mit der persönlichen Schuld führender Wissenschaftler.

Besonders ist hier das Buch von SALLER zu nennen, der mit „Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda“5 die erste kritische Aufarbeitung der Anthropologie im Nationalsozialismus von Seiten eines Anthropologen lieferte. Besonders hervorgehoben sei aber auch das von KRÖNER veröffentlichte Buch „Von der Rassenhygiene zur Humangenetik. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach dem Kriege“,6 das den Leser mit einer überwältigenden Fülle von Informationen und Recherchen belohnt. Auch „Rasse, Blut und Gene“7 von WEINGART und KROLL ist, trotz des reißerisch anmutenden Titels, sehr lesenswert und informationsreich. Nach 2000 sind einige aufschlußreiche Titel beispielsweise zur Geschichte der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, zu Otto Reche und zum Verleger Julius Friedrich Lehmann erschienen.

Gleichfalls bietet die Aufsatzsammlung „Wissenschaftlicher Rassismus“8 einen guten und thematisch recht umfassenden Überblick über den Forschungsstand. Insbesondere der Beitrag MASSINS, „Anthropologie und Humangenetik im Nationalsozialismus oder: Wie schreiben deutsche Wissenschaftler ihre eigene Wissenschaftsgeschichte?“, ist sehr lesenswert, da er viele aufschlussreiche Details über die Selbstdarstellung der Anthropologie nach dem Kriege liefert. Hier finden sich auch Anmerkungen zu dem Buch von BECKER, „Wege ins Dritte Reich“, das anhand einer sehr knappen Auswahl von Biographien die Rolle der Anthropologie in der NS-Zeit darstellen will. Es muß an dieser Stelle ausdrücklich vor einer unkritischen Akzeptanz von BECKERS Aussagen gewarnt werden: BECKER war in der untersuchten Zeit selbst wissenschaftlich tätig, seine Laufbahn ist aufgrund verschollener Akten nicht lückenlos nachvollziehbar.9 Wenn BECKERS Publikationen in diesem Buch benutzt werden, so ist seine Nennung auch hier Anlaß zu einer kritischen Betrachtung der mit ihm verbundenen Aussage, da seine Aussagen einen auffällig relativierenden Tenor besitzen. Fast nur als Quelle verwendet wurde das Werk der Anthropologin SCHWIDETZKY, „Maus und Schlange“. Denn sie, die sie angeblich „zur Haupthistorikerin der Anthropologie des 20. Jahrhunderts avancierte“,10 besaß ein ganz eigenes Geschichtsverständnis, bei dem sie üblicherweise die NS-Zeit ganz überging oder nur äußerst knapp streifte.

Ein Wort zur Nomenklatur. In einigen neueren Büchern trifft man die Verwendung von Anführungszeichen im Zusammenhang mit bestimmen Begriffen wie Rasse oder Rassenhygiene an. Hier wird bewußt darauf verzichtet, wenn es um die Wissenschaft der Rassenkunde oder der Rassenhygiene, um den nordischen Gedanken oder dergleichen geht: Die Rassenforschung als „Pseudowissenschaft“ zu bezeichnen, wie es gelegentlich geschieht, hat rückblickend seine Berechtigung. Einige Methoden der damaligen Wissenschaftler waren selbst zu ihrer Zeit bereits tatsächlich eindeutig unwissenschaftlich. Die Rassenkunde bediente sich beispielsweise verschwommener Klischees bei der Definition des Charakters der Rassen. SHELDONS „Somatotyping“ bietet ein gutes Beispiel für unwissenschaftliche Arbeit in einem an die Anthropologie angrenzenden Gebiet, der Konstitutionsforschung: Er hatte in seinem Buch „Atlas of Men“ die Daten kurzerhand manipuliert, wenn sie sich nicht in seine Theorien einfügten.11

In einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit müssen die betroffenen Forschungszweige als das angesehen werden, was sie zu jener Zeit gewesen sind: Vollwertige, beachtete und gültige Wissenschaft. Anderes würde bedeuten, die Bedeutung der Forschung zu ignorieren oder abzuschwächen – das hieße jedoch, ihre gravierenden Auswirkungen zu verkennen.

Vor der Zuwendung zum Thema eine Klarstellung.

Der Begriff „Rasse“ ist ein Taxon, das in der Biologie zur systematischen Ordnung von Lebewesen verwendet wird. Eine einheitliche Zuordnung ist oft Grundvoraussetzung für weitere Erforschung. Wie aber verhält es sich in diesem Zusammenhang mit dem Menschen?

Einerseits hätte der Begriff „Rasse“ nach streng zoologischen Gesichtspunkten durch seine Definition als geographische Variabilität für Populationen eine gewisse Berechtigung, wie ein Professor der Zoologie an der FAU Erlangen in einem Gespräch bestätigte.12 Andererseits jedoch ist jede systematische Definition unterhalb der Art grundsätzlich schwierig und mindestens sehr unscharf. Zumal selbst in der Gattungszuordnung Unklarheiten auftreten, wie schon ein Blick in die Zoologie offenbart: So wurde beispielsweise die Schneeule bisher als eigene Gattung Nyctea, inzwischen jedoch als Art der Gattung Uhu, nämlich Bubo scandiacus, verordnet. Im Falle des Menschen hat man sich auf die wissenschaftliche Bezeichnung des rezenten Menschen als Homo sapiens sapiens festgelegt.13 Dies bedeutet, daß alle Menschen einer gemeinsamen Rasse angehören: Nach der Taxonomie von LINNÉ und den in der Biologie gültigen systematischen Regeln bezeichnet die trinominale Nomenklatur Gattung (Genus, also hier Homo), Art (Species, hier sapiens [1]) und eben Rasse (Subspecies, hier sapiens [2]).

Die Anthropologie ist ein Teilgebiet der Biologie und klassifiziert auch nach den Regeln LINNÉS, abgesehen von Abweichungen in der Prähistorischen Anthropologie, die durch einen Mangel an erhaltenen Merkmalen bei fossilen Funden erzwungen werden. So ist es folgerichtig, daß die Anthropologie sich nach der biologischen Nomenklatur richtet und keine begriffsgleichen Taxa mit anderer Bedeutung erstellt. Daher ist es unzulässig, „Rasse“ zur Differenzierung von menschlichen Populationen heranzuziehen: Sie gilt bereits für die Menschheit als Gesamtheit. Und dies ist auch nur vernünftig, hat die Geschichte doch gezeigt, daß bei der Einteilung der Menscheit in Rassen der Schaden solcher Differenzierung jeden Nutzen überwiegt: Die Geschichte des Rassebegriffs, bezogen auf den Menschen, war von Anfang an durch soziologisch-gesellschaftliche Bewertungen und Mißbrauch geprägt und verlor so den Charakter einer akadmischen, wertfreien Systematisierung nach Merkmalen.

Dies ist eine Tatsache, mit der sich wider besseres Wissen nicht alle Wissenschaftler abfinden wollten. KNUSSMANN bestand zwar noch 1996 in seinem überarbeiteten Lehrbuch „Vergleichende Biologie des Menschen“ 14 auf dem Rassebegriff, aber er gehört auch zu jenen Wissenschaftlern, die in ihren (wohlgemerkt Lehr-) Büchern noch immer Kapitel über „Rassenkunde“ und „Rassenpsychologie“ mit einschließen (2000). Abrundend verwendete er auch Rassetafeln, bei denen sich Abbildungen der zwanziger und dreißiger Jahre finden, unter anderem auch ein von EICKSTEDT verwendetes Bild aus dem Jahre 1934.15 Seine Behauptung, die Rasse sei „folglich ein systematischer Begriff unterhalb der Subspecies, also niedrigster taxonomischer Rang“,16 widerspricht sich selbst, da die Subspecies wie gesagt laut gängiger biologischer Konvention bereits nichts anderes als die fachliche Übersetzung für Rasse ist.

Zur Zeit der Weimarer Republik jedoch gab es an der Einteilung der Menschheit nach Rassen international kaum Zweifel. In wieweit die deutschen Anthropologen daran beteiligt waren, dieses Rasseverständniß mit all seinen negativen Auswirkungen zu vertiefen und bis zur letzten Konsequenz durch die NS-Ideologie weiterzuführen, soll hier untersucht werden.


4 Es muß, um eine sinnvolle Untersuchung zu ermöglichen, auch festgestellt werden, daß ein sich mit Rassenforschung beschäftigender Wissenschaftler nicht allein deshalb zum „Rassisten“ wurde. Der Rassebegriff wurde tatsächlich manchmal als wertfreier taxonomischer Begriff angewandt. Und die Euphorie des Rassebegriffs als solchem hatte in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Menschen verschiedenster Überzeugungen, politischer Einstellungen und vor allem positiver wie negativer Motivation erfaßt, die alle gemeinsam in die Schublade der „Rassisten“ zu stecken wenig nutzbringend wäre.

5 Darmstadt 1961

6 Ulm 1988

7 Frankfurt 1988

8 Frankfurt 1999

9